56

Stu verbrachte den nächsten Tag im Kraftwerk, wickelte Motoren und fuhr nach der Arbeit mit dem Motorrad nach Hause. Er war bei dem kleinen Park gegenüber der First National Bank, als Ralph ihn zu sich winkte. Er stellte das Motorrad ab und ging zum Musikpavillon, wo Ralph saß.

»Ich habe auf dich gewartet, Stu. Hast du eine Minute Zeit?«

»Aber nur eine. Ich komme zu spät zum Abendessen. Frannie wird sich Sorgen machen.«

»Ja. Warst wieder im Kraftwerk und hast Kupfer gewickelt, wie deine Hände aussehen?« Ralph sah zerstreut und besorgt aus.

»Ja. Da helfen nicht einmal Arbeitshandschuhe. Meine Hände sind kaputt.«

Ralph nickte. Im Park waren vielleicht noch ein halbes Dutzend andere Leute; einige sahen sich die Schmalspureisenbahn an, die früher zwischen Boulder und Denver gefahren war. Ein Trio junger Frauen hatte ein Picknick gerichtet. Stu fand es sehr angenehm, einfach mit den zerschundenen Händen im Schoß hier zu sitzen. Vielleicht ist es doch nicht so schlimm, Marshal zu sein, dachte er. Wenigstens brauche ich dann nicht mehr an dem verdammten Fließband zu stehen.

»Wie läuft es da draußen?« fragte Ralph.

»Das kann ich dir nicht sagen - ich bin nur Hilfsarbeiter, wie alle anderen. Brad Kitchner sagt, es wird losgehen wie ein brennendes Haus. Er sagt, Ende der ersten Septemberwoche sind die Lichter wieder an, möglicherweise früher, Mitte des Monats haben wir wieder Heizung. Er ist natürlich ziemlich jung und seine Vorhersagen vielleicht nicht...«

»Ich würde mein Geld auf Brad setzen«, sagte Ralph. »Ich vertraue ihm. Er hat jede Menge Praxisausbildung bekommen.« Ralph versuchte zu lachen; aber das Lachen wurde zu einem Seufzer, der von den Schuhsohlen des großen Mannes heraufzukommen schien.

»Warum bist du so niedergeschlagen, Ralph?«

»Ich habe Neuigkeiten über Funk bekommen«, sagte Ralph.

»Manche sind gut, manche sind... nun, manche sind nicht so gut, Stu. Ich möchte, daß du es weißt, weil man es nicht geheimhalten kann. Viele Leute in der Zone haben CB. Ich denke mir, sie haben zugehört, als ich mit den Neuen gesprochen habe, die unterwegs sind.«

»Wie viele?«

»Über vierzig. Einer ist Arzt und heißt George Richardson. Klingt nach einem guten Mann. Auf dem Boden der Tatsachen.«

»Das ist ja eine gute Nachricht!«

»Er stammt aus Derbyshire, Tennessee. Die meisten Leute in seiner Gruppe kommen aus dem Süden. Sie hatten eine schwangere Frau bei sich, die vor zehn Tagen niedergekommen ist, am dreizehnten. Der Arzt hat sie entbunden - es waren Zwillinge -, und die Kinder waren gesund. Zuerst waren sie gesund.« Ralph verfiel wieder in sein Schweigen, seine Kiefer mahlten.

Stu packte ihn an den Schultern. »Sind sie gestorben? Sind die Babys gestorben? Willst du mir das sagen? Daß sie gestorben sind? Sprich, verdammt noch mal!«

»Sie sind gestorben«, sagte Ralph mit leiser Stimme. »Eins nach zwölf Stunden. Einfach erstickt. Das andere starb zwei Tage später. Richardson konnte sie nicht retten. Die Frau wurde verrückt. Sie schrie von Tod und Vernichtung und keine Kinder mehr. Du solltest darauf achten, daß Frannie nicht dabei ist, wenn sie ankommen, Stu. Das wollte ich dir nur sagen. Und du solltest sie es gleich wissen lassen. Denn wenn du es nicht machst, macht es ein anderer.«

Stu ließ langsam Ralphs Hemd los.

»Dieser Richardson wollte wissen, wie viele schwangere Frauen wir haben, und ich sagte, unseres Wissens nur eine. Er wollte wissen, in welchem Monat sie sei, und ich sagte im vierten. Stimmt das?«

»Sie ist im fünften Monat. Aber Ralph, ist er sicher, daß die Babys an der Supergrippe gestorben sind. Ist er sicher

»Nein, ist er nicht, und das mußt du Frannie auch sagen, damit sie es weiß. Er sagt, es hätte alles mögliche sein können... was die Mutter gegessen hat... etwas Erbliches... eine Infektion der Atemwege... oder vielleicht waren es einfach, du weißt schon, lebensunfähige Babys. Er sagte, es könnte der Rhesus-Faktor gewesen sein, was immer das ist. Er wußte es einfach nicht, schließlich wurden sie auf einem Acker neben der verdammten Interstate 70 geboren. Er sagte, daß er und drei andere, die die Gruppe leiteten, bis spät in die Nacht zusammen gesessen und den Vorfall diskutiert hätten. Richardson hat den anderen erklärt, was es bedeutet, wenn Captain Trips die Babys getötet hat, und wie wichtig es wäre, das eindeutig festzustellen.«

»Glen und ich haben uns darüber unterhalten«, sagte Stu tonlos.

»An dem Tag, als wir uns kennengelernt haben. Wenn wirklich die Supergrippe die Babys umgebracht hat, bedeutet das wahrscheinlich, wir können in vierzig oder fünfzig Jahren die ganze Meschpoke den Ratten und Stubenfliegen und Spatzen überlassen.«

»Ich glaube, das ist so ziemlich das, was Richardson ihnen gesagt hat. Jedenfalls waren sie zu der Zeit etwa vierzig Meilen westlich von Chicago, und er überredete sie, am nächsten Tag zurückzufahren, um die Leichen in ein großes Krankenhaus zu bringen, wo er eine Autopsie machen konnte. Er sagte, dann würde er genau wissen, ob es die Supergrippe war. Die hat er ja Ende Juni zur Genüge erlebt. Wie alle anderen Ärzte wahrscheinlich auch.«

»Ja.«

»Aber am nächsten Morgen waren die Babys verschwunden. Diese Frau hatte sie beerdigt, wollte aber nicht sagen wo. Sie haben zwei Tage gegraben, weil sie glaubten, so kurz nach der Niederkunft hätte die Frau sie weder sehr weit entfernt noch sehr tief vergraben können. Aber sie fanden sie nicht, und obwohl sie der Frau immer wieder beteuerten, wie wichtig es sei, hat sie die Stelle nicht verraten. Die arme Frau war vollkommen außer sich.«

»Das kann ich gut verstehen«, sagte Stu und dachte daran, wie sehr Fran sich ihr Baby wünschte.

»Der Doktor sagte, auch wenn die Babys an der Supergrippe gestorben sind, könnten zwei immune Leute möglicherweise ein immunes Kind zeugen«, sagte Ralph hoffnungsvoll.

»Die Chancen, daß der leibliche Vater von Frans Baby immun war, stehen etwa eins zu einer Milliarde«, sagte Stu. »Jedenfalls ist er nicht hier.«

»Ja, das ist kaum möglich, was? Tut mir leid, daß ich dir das sagen mußte, Stu. Aber ich fand, du mußt es wissen. Damit du sie darauf vorbereiten kannst.«

»Darauf freue ich mich wirklich nicht«, sagte Stu. Aber als er nach Hause kam, mußte er erfahren, daß ihm schon jemand zuvorgekommen war.

»Frannie?«

Keine Antwort. Das Essen stand auf dem Kocher - das meiste davon angebrannt -, aber die Wohnung war dunkel und still. Stu ging ins Wohnzimmer und sah sich um. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher mit zwei Zigarettenkippen, aber Fran rauchte nicht, und seine Marke war es nicht.

»Baby?«

Er ging ins Schlafzimmer, und da fand er sie; sie lag im Halbdunkel auf dem Bett und starrte zur Decke hinauf. Ihr Gesicht war verquollen und tränenfeucht. »Hi, Stu«, sagte sie leise.

»Wer hat es dir gesagt?« fragte er wütend. »Wer konnte es nicht abwarten, die gute Nachricht zu verbreiten? Wer immer es war, ich breche ihm den verdammten Arm.«

»Es war Sue Stern. Sie weiß es von Jack Jackson. Er hat ein CB und konnte mithören, als Ralph mit dem Arzt gesprochen hat. Sie wollte es mir sagen, bevor jemand anders ungeschickt damit herausplatzt. Arme kleine Frannie. Vorsicht, zerbrechlich. Erst zu Weihnachten öffnen!« Sie lachte kurz. Es klang so verzweifelt, dass Stu zum Weinen zumute war.

Er ging durch das Zimmer, legte sich neben sie auf das Bett und strich ihr das Haar aus der Stirn. »Liebes, es ist nicht sicher. Es ist überhaupt nicht sicher.«

»Das weiß ich. Und vielleicht können wir trotzdem eigene Kinder haben.« Sie sah ihn mit blutunterlaufenen, unglücklichen Augen an.

»Aber ich will dieses Kind. Ist das so schlimm?«

»Nein. Natürlich nicht.«

»Ich habe die ganze Zeit gelegen und darauf gewartet, daß er sich bewegt. Er hat sich nicht mehr bewegt, seit Larry hier war und nach Harold gefragt hat. Weißt du noch?«

»Ja.«

»Ich habe gespürt, wie sich das Baby bewegte, und wollte dich nicht wecken. Jetzt wünschte ich, ich hätte es getan.« Sie fing wieder an zu weinen und hielt einen Arm übers Gesicht, damit er es nicht sah.

Stu nahm den Arm weg, streckte sich neben ihr aus, küßte sie. Sie umarmte ihn wild und lag dann reglos neben ihm. Als sie sprach, klangen die Worte gedämpft an seinem Hals.

»Nichts zu wissen macht es viel schlimmer. Ich kann nur abwarten. Und das Warten dauert so lange, wenn man damit rechnen muß, daß das Baby stirbt, bevor es noch einen Tag alt ist.«

»Du wartest nicht allein«, sagte er.

Sie umarmte ihn dankbar, und sie blieben lange still nebeneinander liegen.




Nadine Cross war fast fünfzehn Minuten im Wohnzimmer ihrer alten Wohnung und sammelte ihre Sachen ein, als sie ihn im Sessel in der Ecke sitzen sah; nackt bis auf die Unterhose und mit dem Daumen im Mund betrachtete er sie mit seinen seltsam grau-grünen Chinesenaugen. Sie erschrak so sehr sowohl über die Erkenntnis, daß er die ganze Zeit da gesessen haben mußte, wie über seinen tatsächlichen Anblick -, daß ihr Herz einen furchtsamen Sprung in der Brust machte und sie aufschrie. Die Taschenbücher, die sie gerade in den Rucksack stopfen wollte, fielen mit Papierrascheln zu Boden.

»Joe... ich meine, Leo...«

Sie legte eine Hand zwischen Brust und Hals, als wollte sie das irre Pochen ihres Herzens beruhigen. Aber ihr Herz wollte sich noch nicht beruhigen lassen, mit oder ohne Hand. Ihn plötzlich zu sehen war schlimm; ihn halbnackt und so zu sehen, wie er sich benommen hatte, als sie ihn in New Hampshire kennenlernte, war noch schlimmer. Es glich zu sehr einer Rückkehr, als hätte ein irrationaler Gott sie plötzlich in der Zeit zurückversetzt und dazu verdammt, die letzten sechs Wochen noch einmal zu durchleben.

»Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt«, sagte sie leise. Joe sagte nichts.

Sie ging langsam zu ihm und rechnete halb damit, ein langes Küchenmesser in seiner Hand zu sehen, wie in alten Zeiten, aber die Hand, die er nicht am Mund hatte, lag unschuldig in seinem Schoß. Sie sah, daß das Kaffeebraun seiner Haut milchig geworden war. Die alten Narben und Kratzer waren nicht mehr da. Aber die Augen waren dieselben... Augen, die einen verfolgten. Was in ihnen gewesen war, jeden Tag ein bißchen mehr, seit er Larry am Feuer Gitarre spielen gehört hatte, war jetzt vollkommen verschwunden. Seine Augen waren wie bei ihrer ersten Begegnung, und das erfüllte sie mit einer Art schleichendem Entsetzen.

»Was machst du hier?«

Joe sagte nichts.

»Warum bist du nicht bei Larry und Lucy-Mom?«

Keine Antwort.

»Du kannst hier nicht bleiben«, sagte sie und versuchte, vernünftig mit ihm zu reden, aber bevor sie weitersprechen konnte, überlegte sie, wie lange er tatsächlich schon hier war.

Es war der Morgen des 24. August. Sie hatte die beiden letzten Nächte bei Harold verbracht. Der Gedanke kam ihr, daß er seit vierzig Stunden mit dem Daumen im Mund hier sitzen mochte. Das war natürlich eine lächerliche Vorstellung, er mußte essen und trinken (oder nicht?), aber als Gedanke und Bild erst einmal da waren, ließen sie sich nicht mehr abschütteln. Das schleichende Grauen kam wieder über sie, und ihr wurde mit einem Anflug von Verzweiflung klar, wie sehr sie sich verändert hatte: früher hatte sie ohne Furcht neben diesem kleinen Wilden geschlafen, als er noch bewaffnet und gefährlich war. Jetzt hatte er keine Waffen mehr, aber sie empfand ihm gegenüber Todesangst.

Sie hatte gedacht, (Joe? Leo?) seine frühere Persönlichkeit wäre ein für allemal abgetötet worden. Jetzt war sie wieder da. Und er war hier.

»Du kannst hier nicht bleiben«, sagte sie. »Ich bin nur gekommen, um ein paar Sachen zu holen. Ich ziehe aus. Ich ziehe zu... zu einem Mann.«

Ach ist Harold das, spöttelte eine innere Stimme. Ich dachte, er wäre nur ein Werkzeug, um etwas zu erreichen.

»Leo, hör mal...«

Er schüttelte sacht aber wahrnehmbar den Kopf. Seine ernsten, glitzernden Augen waren auf ihr Gesicht gerichtet.

»Du bist nicht Leo?«

Wieder das sachte Kopfschütteln.

»Bist du Joe?«

Ein ebenso schwaches Nicken.

»Na gut. Aber du mußt einsehen, daß es keine Rolle spielt, wer du bist«, sagte sie und versuchte, geduldig zu sein. Das irre Gefühl, dass sie eine Zeitreise hinter sich hatte, daß sie wieder auf dem Ausgangsfeld stand, ging nicht weg. Sie fühlte sich unwirklich und ängstlich. »Dieser Teil unseres Lebens der Teil, als wir allein und nur auf uns gestellt waren - ist vorbei. Du hast dich verändert, ich habe mich verändert, wir können uns nicht zurückverwandeln.«

Aber seine seltsamen Augen blickten weiterhin starr in die ihren und schienen das zu bestreiten.

»Hör auf, mich so anzusehen«, schnappte sie. »Es ist sehr unhöflich, Leute so anzustarren.«

Nun schienen seine Augen leicht vorwurfsvoll zu werden. Sie schienen anzudeuten, daß es auch unhöflich war, Menschen im Stich zu lassen, und noch unhöflicher, Menschen seine Liebe zu entziehen, die sie noch brauchten und darauf angewiesen waren.

»Es ist nicht so, daß du auf dich allein gestellt wärest«, sagte sie, drehte sich um und hob die Bücher auf, die sie fallen gelassen hatte. Sie kniete linkisch und ohne Anmut, und ihre Knie knackten dabei wie Holzscheite im Feuer. Sie stopfte die Bücher kunterbunt in den Rucksack zu den Monatsbinden und dem Aspirin und ihrer Unterwäsche - schlichte Baumwollunterwäsche, ganz anders als die Sachen, die sie trug, um Harolds ungestüme Lust anzustacheln.

»Du hast Larry und Lucy. Du magst sie, und sie mögen dich. Nun, Larry mag dich, und darauf kommt es an, weil sie alles will, was er auch will. Sie ist wie ein Blatt Blaupapier. Für mich ist jetzt alles anders, Joe, und das ist nicht meine Schuld. Überhaupt nicht meine Schuld. Also hör gefälligst auf zu versuchen, mir Schuldgefühle zu machen.«

Sie versuchte, die Riemen des Rucksacks zuzuschnüren, aber ihre Finger zitterten unbeherrscht, und es fiel ihr schwer. Das Schweigen um sie herum wurde immer schwerer und schwerer.

Schließlich stand sie auf und schnallte den Rucksack auf die Schultern.

»Leo.« Sie versuchte, ruhig und vernünftig zu sprechen wie mit den Problemkindern in ihrer Klasse, wenn sie Anfälle gehabt hatten. Es war einfach unmöglich. Ihre Stimme klang kieksig und zittrig, und sein schwaches Kopfschütteln angesichts des Wortes Leo machte es noch schlimmer.

»Es ist nicht wegen Larry und Lucy«, sagte sie nachdrücklich. »Das hätte ich verstehen können, wenn es nur das gewesen wäre. In Wirklichkeit war es die alte Schlampe, für die du mich aufgegeben hast, oder nicht? Diese dumme alte Frau in ihrem Schaukelstuhl, die mit ihren falschen Zähnen in die Welt gegrinst hat. Jetzt ist sie fort, und du kommst wieder zu mir gerannt. Aber ich spiele nicht mit, hast du verstanden? Ich spiele nicht mit

Joe sagte nichts.

»Und als ich Larry angefleht habe... als ich auf die Knie gefallen bin und ihn angefleht habe... wollte er nicht belästigt werden. Er war zu sehr damit beschäftigt, den großen Mann zu spielen. Du siehst also, es ist nicht meine Schuld. Nichts ist meine Schuld!«

Der Junge sah sie nur gleichgültig an.

Ihr Entsetzen kam zurück und begrub ihre unschuldige Wut unter sich. Sie wich vor ihm zur Tür zurück und tastete hinter ihrem Rücken nach der Klinke. Schließlich fand sie sie, drückte sie nieder und riß die Tür auf. Der kalte Luftstrom von draußen an ihren Schultern war mehr als angenehm.

»Geh zu Larry«, murmelte sie. »Lebwohl, Junge.«

Sie ging linkisch hinaus, blieb einen Augenblick auf der obersten Stufe stehen und versuchte, den Kopf wieder klar zu bekommen. Plötzlich fiel ihr ein, das Ganze könnte eine Halluzination gewesen sein, hervorgerufen durch ihre eigenen Schuldgefühle...

Schuldgefühle, weil sie den Jungen im Stich ließ, weil sie Larry zu lange hatte warten lassen, Schuldgefühle wegen dem, was sie und Harold miteinander trieben, und dem viel Schlimmeren, was ihnen noch bevorstand. Vielleicht war gar kein echter Junge in dem Haus gewesen. Er war ebenso wenig real wie die Hirngespinste von Poe - der Herzschlag des alten Mannes, der sich wie eine in Watte verpackte Uhr anhörte, oder der Rabe, der auf der Büste von Pallas Athene kauerte.

»Als klopfe - klopfe jemand sacht ans Tor«, flüsterte sie laut und ohne nachzudenken, und darauf stieß sie ein entsetztes, krächzendes Lachen aus, das sich wahrscheinlich nicht sehr von den Schreien eines Raben unterschied.

Aber sie mußte es wissen.

Sie ging zum Fenster neben der Eingangstreppe und sah ins Wohnzimmer ihres ehemaligen Hauses. Nicht, daß es jemals wirklich ihres gewesen wäre. Wenn man irgendwo wohnte und auszog und alles, was man mitnehmen wollte, in einen Rucksack paßte, war es im Grunde nie wirklich ein Zuhause gewesen. Als sie hineinsah, erblickte sie Teppiche, Vorhänge und Tapeten einer toten Frau, die Pfeife eines toten Mannes und Ausgaben von Sports Illustrated, die achtlos auf dem Kaffeetischchen lagen. Bilder von toten Kindern auf dem Kaminsims. Und im Sessel in der Ecke der kleine Junge einer toten Frau, der nur eine Unterhose trug und immer noch saß, immer noch saß, saß wie zuvor...

Nadine floh stolpernd und wäre beinahe über den niedrigen Drahtzaun gefallen, der das Blumenbeet rechts von dem Fenster umgab, wo sie hineingesehen hatte. Sie warf sich auf die Vespa und ließ sie an. Die ersten paar Blocks fuhr sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, fuhr Slalom zwischen den liegengebliebenen Fahrzeugen, die immer noch die Nebenstraßen unsicher machten, aber allmählich beruhigte sie sich wieder.

Als sie wieder vor Harolds Haus war, hatte sie sich einigermaßen unter Kontrolle. Aber sie wußte, ihres Bleibens hier in der Zone ward nicht mehr lange. Wenn sie nicht den Verstand verlieren wollte, mußte sie sich, so schnell es ging, auf den Weg machen.




Die Versammlung im Munzinger Auditorium nahm einen guten Verlauf. Sie fingen wieder damit an, daß sie die Nationalhymne sangen, aber diesmal blieben die meisten Augen trocken; es wurde einfach zum Teil eines Rituals. Die Wahl des Volkszählungskomitees wurde routinemäßig durchgezogen und Sandy DuChiens zur Vorsitzenden ernannt. Sie und ihre vier Helfer gingen gleich durchs Publikum, zählten Köpfe und schrieben Namen auf. Am Ende der Versammlung verkündete sie unter anhaltenden Jubelrufen, dass mittlerweile 814 Seelen in der Freien Zone lebten, und versprach (vorschnell, wie sich herausstellen sollte), sie würde bis zur nächsten Versammlung der Zone ein vollständiges Bevölkerungsverzeichnis zusammengestellt haben - ein Verzeichnis, das sie Woche für Woche aktualisieren wollte, welches die Namen in alphabetischer Folge enthielt, ebenso Alter, Anschrift in Boulder, vorherige Anschrift und den ehemaligen Beruf. Wie sich herausstellte, erfolgte der Zustrom in die Zone so stark und unregelmäßig, daß sie ständig zwei oder drei Wochen hinterherhinkte.

Dann kam die Dauer der Amtsperiode des Komitees der Freien Zone zur Sprache, und nach einigen extravaganten Vorschlägen (einer lautete auf zehn Jahre, ein anderer auf lebenslänglich, und Larry brachte das ganze Haus zum Lachen, als er sagte, das würde sich eher nach Gefängnisstrafen als nach Amtsperioden anhören) wurde die Dauer der Amtsperiode auf ein Jahr festgesetzt. Hinten im Saal winkte Harry Dunbarton mit der Hand, und Stu erteilte ihm das Wort.

Harry brüllte, um verstanden zu werden: »Selbst ein Jahr mag zu lange sein. Ich habe nichts gegen die Damen und Herren vom Komitee, ich glaube, sie haben hervorragende Arbeit geleistet« - Beifall und Pfiffe - »aber wenn die Bevölkerung weiter zunimmt, wächst uns bald alles über den Kopf.«

Glen hob die Hand. Stu erteilte ihm das Wort.

»Herr Vorsitzender, das steht zwar nicht auf der Tagesordnung, aber ich glaube, Mr. Dunbarton hat recht.«

Ich wette, daß du das glaubst, Platte, dachte Stu, du hast es schließlich selbst vor einer Woche zur Sprache gebracht.

»Ich beantrage, ein repräsentatives Regierungs-Komitee einzusetzen, damit wir die Verfassung wirklich wieder einführen können. Ich finde, Harry Dunbarton sollte Vorsitzender dieses Komitees werden, und ich selbst werde mitarbeiten, es sei denn, jemand würde einen Interessenkonflikt vermuten.«

Wieder Beifall.

In der letzten Reihe drehte Harold sich zu Nadine und flüsterte ihr ins Ohr: »Ladies and Gentlemen, das öffentliche Liebesritual der Freien Zone nimmt seinen demokratischen Lauf.«

Stu wurde durch donnernden Zuruf zum Marshal der Freien Zone gewählt.

»Ich werde mein Bestes tun«, sagte er. »Einige von Ihnen, die mir heute Beifall spenden, werden das vielleicht noch bereuen, wenn ich sie bei etwas Verbotenem erwische. Verstanden, Rieh Moffat?«

Brüllendes Gelächter. Rieh, der voll wie eine Haubitze war, lachte fröhlich mit.

»Aber ich sehe keinen Grund, warum wir hier ernsthafte Schwierigkeiten bekommen sollten. Wie ich es sehe, besteht die Hauptaufgabe eines Marshals darin, zu verhindern, daß die Leute sich etwas antun. Und keiner von uns will das. Es sind schon genügend Leute zu Schaden gekommen. Mehr habe ich nicht zu sagen.«

Die Menge applaudierte anhaltend.

»Jetzt zum nächsten Punkt«, sagte Stu, »es hat gewissermaßen mit meinem Amt als Marshal zu tun. Wir brauchen ein Justiz-Komitee mit etwa fünf Leuten, denn wenn es soweit kommt, daß ich jemand einsperren muß, muß es rechtens geschehen. Höre ich Nominierungen?«

»Was ist mit dem Richter?« schrie jemand.

»Ja, genau, der Richter!« brüllte ein zweiter.

Hälse wurden gereckt, die Leute wollten sehen, daß der Richter irgendwo im Saal aufstand, um die Verantwortung in seinem üblichen Rokoko-Stil zu übernehmen; ein Murmeln ging durch den Saal, als die Leute noch einmal die Geschichte erzählten, wie der Richter den Verrückten mit seinen fliegenden Untertassen lächerlich gemacht hatte. Sie legten schon die Tagesordnung aus der Hand, um zu applaudieren. Stu und Glen sahen einander mit beiderseitigem Mißbehagen an: Jemand im Komitee hätte das voraussehen müssen.

»Nicht da«, sagte jemand.

»Wer hat ihn gesehen?« fragte Lucy Swann erschrocken. Larry sah sie unbehaglich an, aber sie sah sich immer noch im Saal nach dem Richter um.

»Ich habe ihn gesehen.«

Ein interessiertes Raunen, als Teddy Weizak im hinteren Viertel aufstand und sich mit dem Taschentuch nervös und zwanghaft die Nickelbrille putzte.

»Wo?«

»Wo ist er, Teddy?«

»War er in der Stadt?«

»Was hat er gemacht?«

Teddy Weizak zuckte unter dem Bombardement der Fragen sichtlich zusammen.

Stu schlug mit dem Hammer auf. »Kommt schon, Leute. Ruhe.«

»Ich habe ihn vor zwei Tagen gesehen«, sagte Teddy. »Er fuhr einen Landrover. Sagte, er wollte nach Denver. Warum, hat er nicht gesagt. Wir haben Witze gemacht. Er schien bester Laune zu sein. Mehr weiß ich nicht.« Er setzte sich wieder, putzte weiter seine Brille und wurde krebsrot.

Wieder bat Stu um Ruhe. »Ich bedaure, daß der Richter nicht hier ist. Er wäre der geeignete Mann für den Job gewesen. Aber da er nun einmal nicht hier ist, bitte ich um weitere Nominierungen...«

»Nein, lassen wir es nicht dabei bewenden!« protestierte Lucy und stand auf. Sie trug einen engen blauen Overall, der die interessierten Blicke der meisten Männer im Saal auf sich zog. »Richter Farris ist ein alter Mann. Wenn er nun in Denver krank geworden ist und nicht mehr zurückfahren kann?«

»Lucy«, sagte Stu. »Denver ist groß.«

Eine seltsame Stille senkte sich über den Saal, als die Leute darüber nachdachten. Lucy setzte sich wieder; sie sah blaß aus, und Larry legte seinen Arm um sie. Er sah Stu an, aber Stu wich seinem Blick aus.

Ein halbherziger Antrag wurde gestellt, die Frage des JustizKomitees erst nach der Rückkehr des Richters zu behandeln, und nach einer Diskussion von zwanzig Minuten abgelehnt. Unter den Anwesenden war ein Anwalt, ein junger Mann um die sechsundzwanzig namens AI Bundell, der am Spätnachmittag mit Dr. Richardsons Gruppe angekommen war; er übernahm den Vorsitz, als er ihm angeboten wurde, gab jedoch der Hoffnung Ausdruck, daß in den nächsten vier Wochen niemand schreckliche Missetaten begehen würde, da es mindestens so lange dauern würde, eine Art rotierendes Gerichtssystem einzurichten. Richter Farris wurde in Abwesenheit in das Komitee gewählt. Brad Kitchner, der blaß, nervös und mit Anzug und Krawatte ein bißchen albern aussah, trat ans Rednerpult, verlor seine Notizen, sammelte sie in verkehrter Reihenfolge wieder auf und begnügte sich dann damit, zu sagen, sie hofften und erwarteten, den Strom am zweiten oder dritten September wieder einschalten zu können. Diese Bemerkung erntete so viel Beifall, daß er mit Stil zum Ende kam und sich sogar ein wenig in die Brust warf, als er das Podium verließ.

Der nächste war Chad Nords, und Stu sagte später zu Frannie, dass er die Sache genau richtig angegangen war: Sie begruben die Toten aus Anstand; bis das geschehen war und das Leben wieder seinen gewohnten Gang nahm, würde sich keiner richtig wohl fühlen, und wenn sie vor der Regenzeit fertig waren, würde es allen besser gehen. Er bat um ein paar Freiwillige und hätte gut drei Dutzend haben können, wenn er gewollt hätte. Dann bat er die Mitglieder der Spatenschwadron (wie er sie nannte), sich zu erheben und zu verbeugen.

Harold Lauder stand nur kurz auf und setzte sich wieder, und als die Versammlung sich auflöste, sagte der eine oder andere, was für ein intelligenter und so bescheidener junger Mann er doch sei. In Wirklichkeit hatte Nadine ihm einiges ins Ohr geflüstert, und er hatte Angst, mehr zu tun, als eine Verbeugung anzudeuten. Er hatte unter der Hose ein ziemlich großes Zelt am Unterleib gebaut. Als Norris das Rednerpult verließ, trat Ralph Brentner an seine Stelle. Er sagte ihnen, daß sie endlich einen Arzt hatten. George Richardson stand auf (unter gewaltigem Applaus; Richardson machte mit beiden Händen das Peace-Zeichen, da wurde der Applaus zu Jubel) und sagte, daß seines Wissens weitere sechzig Leute in den nächsten Tagen eintreffen würden.

»Soweit die Tagesordnung«, sagte Stu. Er sah über die Versammlung. »Ich werde Sandy DuChiens bitten, noch einmal heraufzukommen und uns zu sagen, wie viele wir sind, aber vorher möchte ich fragen, ob es heute abend noch etwas zu besprechen gibt?«

Er wartete. Er sah Glens Gesicht in der Menge und das von Sue Stern und Larry und Nick und natürlich von Frannie. Sie wirkten alle ein wenig abgespannt. Wenn jemand die Sprache auf Flagg bringen wollte, um zu fragen, was das Komitee seinetwegen unternommen hatte, wäre dies der Zeitpunkt gewesen. Aber es herrschte Schweigen. Nach fünfzehn Sekunden erteilte Stu Sandy das Wort, die für ein gelungenes Ende sorgte. Als die Leute den Saal verließen, dachte Stu: Das hätten wir wieder geschafft.

Mehrere Leute gratulierten ihm nach der Versammlung, darunter der neue Arzt. »Das haben Sie gut gemacht, Marshal«, sagte er, und Stu hätte fast hinter sich gesehen, wen Richardson meinte. Dann fiel es ihm ein, und er hatte plötzlich Angst. Ein Mann des Gesetzes? Er war ein Hochstapler.

Ein Jahr, sagte er sich. Ein Jahr, nicht länger. Aber er hatte immer noch Angst.

Stu, Fran, Sue Stern und Nick gingen gemeinsam Richtung Innenstadt; ihre Schritte klangen hohl auf dem Betonweg, als sie den Campus der Universität Richtung Broadway überquerten. Unter leisen Gesprächen strömten um sie herum auch die anderen Leute nach Hause. Es war fast elf Uhr dreißig.

»Es ist kühl«, sagte Fran. »Wenn ich bloß eine Jacke angezogen hätte, nicht nur den Pullover.«

Nick nickte. Er fror auch. Die Abende in Boulder waren immer kühl, aber heute hatte es höchstens zehn Grad. Das zeigte, daß dieser seltsame und schreckliche Sommer sich dem Ende zuneigte. Nicht zum erstenmal wünschte er, Mutter Abagails Gott oder Muse oder was es auch sei hätte Miami oder New Orleans den Vorzug gegeben. Aber dann fiel ihm ein, daß das vielleicht auch nicht besonders gut gewesen wäre. Hohe Luftfeuchtigkeit, viel Regen... und viele Leichen. Wenigstens war Boulder trocken.

»Sie haben mich total aus der Fassung gebracht, als sie den Richter für das Justiz-Komitee wollten«, sagte Stu. »Damit hätten wir rechnen müssen.«

Frannie nickte, und Nick kritzelte hastig auf seinen Block: »Klar. Sie werden auch Tom & Dayna vermissen, gebt 8.«

»Glaubst du, die Leute schöpfen Verdacht, Nick?« fragte Stu. Nick nickte. »Sie werden sich fragen, ob sie nach Westen sind. Für immer. «

Sie dachten alle darüber nach, und Nick holte sein Gasfeuerzeug aus der Tasche und verbrannte den Zettel.

»Das ist schlimm«, sagte Stu schließlich. »Glaubst du wirklich?«

»Klar, er hat recht«, sagte Sue finster. »Was sollten sie sonst denken? Daß Richter Farris zum Far-Rockaway-Rummelplatz ist, um Achterbahn zu fahren?«

»Wir können von Glück sagen, daß wir heute abend keine große Diskussion bekommen haben, was im Westen los ist«, sagte Fran. Nick schrieb: »Unbedingt. Ich glaube, nächstes Mal müssen wir es dreist selber ansprechen. Darum will ich die nächste Versammlung so lange wie möglich rauszögern. Vielleicht drei Wochen. 15.September?«

Sue sagte: »So lange halten wir durch, wenn Brad den Strom einschalten kann.«

»Ich glaube, das schafft er«, sagte Stu.

»Ich geh' nach Hause«, sagte Sue zu ihnen. »Morgen ist ein großer Tag. Dayna bricht auf. Ich begleite sie bis Colorado Springs.«

»Glaubst du, das ist sicher, Sue?«

Sie zuckte die Achseln. »Für sie sicherer als für mich.«

»Wie hat sie es aufgenommen?« fragte Fran sie.

»Sie ist ein komisches Mädchen. Am College war sie die Wucht, wißt ihr. Besonders gut war sie im Tennis und Schwimmen, obwohl sie alle Sportarten gemacht hat. Sie besuchte ein kleines College in Georgia, aber die ersten beiden Jahre war sie noch mit ihrem Freund von der High School zusammen. Er war ein großer Lederjackentyp, ich Tarzan, du Jane, also ab in die Küche und laß Töpfe und Pfanne klappern. Dann hat ihre Zimmergenossin, eine große Emanze, sie mit zu verschiedenen Frauentreffen geschleppt.«

»Und als Reingeschmeckte war sie am Ende eine noch größere Emanze als ihre Zimmergenossin«, vermutete Fran.

»Erst Emanze, dann Lesbierin«, sagte Sue.

Stu blieb wie vom Donner gerührt stehen, und Fran sah ihn verhalten amüsiert an. »Komm, du schöne Blume im Gras«, sagte sie.

»Versuch mal, das Scharnier an deinem Mund zu reparieren.«

Stu klappte hörbar den Mund zu.

Sue fuhr fort: »Sie hat ihrem Höhlenmenschen beides zusammen vor den Latz geknallt. Er ist total ausgerastet und mit einem Gewehr wiedergekommen. Sie hat ihn entwaffnet. Sie sagt, das sei der wichtigste Wendepunkt in ihrem Leben gewesen. Sie erzählte mir, sie hätte immer gewußt, daß sie stärker und wendiger war als er - das hätte sie intellektuell gewußt. Es hat aber lange gedauert, bis sie den Mut dazu fand.«

»Willst du sagen, sie haßt Männer?« fragte Stu und sah sie eindringlich an.

Sue schüttelte den Kopf. »Sie is' bi.«

»Sisbi?« fragte Stu zweifelnd.

»Sie ist mit beiden Geschlechtern glücklich, Stuart. Und ich hoffe, du wirst jetzt nicht im Komitee einbringen, daß zusammen mit >Du sollst nicht töten< auch wieder die alten Moralgesetze eingeführt werden.«

»Ich habe genug zu tun, auch ohne mich darum zu kümmern, wer mit wem schläft«, murmelte er, und alle lachten. »Ich habe nur gefragt, weil ich nicht will, daß jemand diese Sache als Kreuzzug betrachtet. Wir brauchen Beobachter da drüben, keine Guerillakämpfer. Es ist eine Aufgabe für ein Wiesel, nicht für einen Löwen.«

»Das weiß sie«, sagte Susan. »Fran hat mich gefragt, wie sie es aufgenommen hat, als ich sie gefragt habe, ob sie für uns da rüber gehen würde. Sie hat es ziemlich gut aufgenommen. Zunächst einmal hat sie mich daran erinnert, wenn wir bei diesen Männern geblieben wären... weißt du noch, wie ihr uns gefunden habt, Stu?«

Er nickte.

»Wenn wir bei ihnen geblieben wären, wären wir entweder tot oder letztendlich doch im Westen gelandet, denn in diese Richtung sind sie gefahren... jedenfalls wenn sie nüchtern genug waren, daß sie die Schilder lesen konnten. Sie sagte, sie hätte sich schon gefragt, wo ihr Platz in der Zone sei, und dieser Platz war offensichtlich außerhalb. Und sie hat gesagt...«

»Was?« fragte Fran.

»Daß sie versuchen würde zurückzukommen«, sagte Sue brüsk und schwieg danach. Was Dayna Jürgens sonst noch gesagt hatte, ging nur sie beide etwas an, nicht einmal die Mitglieder des Komitees sollten es wissen. Dayna ging nach Westen und hatte ein zehn Zoll langes Klappmesser an den Unterarm geschnallt. Wenn sie das Handgelenk heftig abknickte, schnappte die Feder, und presto hatte sie plötzlich einen sechsten Finger, der zehn Zoll lang war und eine zweischneidige Klinge hatte. Sie dachte, die meisten - die Männer - würden das nicht verstehen.

Wenn er wirklich der große Diktator ist, dann band vielleicht nur er sie zusammen. Wenn er nicht mehr ist, fangen sie vielleicht an, untereinander zu streiten und zu kämpfen. Das könnte ihr Ende sein, wenn er stirbt. Und wenn ich in seine Nähe komme, Susie, sollte er besser seinen Schutzteufel bei sich haben.

Sie werden dich töten, Dayna.

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht rechtfertigt allein der Anblick, seine Eingeweide auf den Boden fallen zu sehen, ja alles.

Susan hätte sie vielleicht daran hindern können, aber sie hatte es nicht versucht. Sie hatte sich damit begnügt, Dayna das Versprechen zu entlocken, daß sie sich an den ursprünglichen Plan halten würde, wenn sich keine absolut perfekte Gelegenheit bot. Dem hatte Dayna zugestimmt, und Sue glaubte nicht, daß ihre Freundin die Chance bekommen würde. Flagg hielt sich sicher gut bedeckt. Trotzdem hatte Sue Stern in den drei Tagen, seit sie ihrer Freundin den Vorschlag unterbreitet hatte, als Spionin nach Westen zu gehen, nur ziemlich schlecht geschlafen.

»Nun«, sagte sie jetzt zu den ändern, »ich muß heim ins Bett. Nacht, Leute.«

Sie ging mit den Händen in den Jackentaschen davon.

»Sie sieht älter aus«, sagte Stu.

Nick schrieb etwas und zeigte den beiden den Block.

Wir alle, stand dort.




Am nächsten Morgen war Stu auf dem Weg zum Kraftwerk, als er Susan und Dayna auf Motorrädern den Canyon Boulevard entlangkommen sah. Er winkte, und sie hielten an. Er fand, dass Dayna nie hübscher ausgesehen hatte. Sie hatte sich das Haar mit einem grünen Seidenschal nach hinten gebunden; über Jeans und einem karierten Baumwollhemd trug sie einen Wildledermantel. Auf den Gepäckträger hatte sie einen zusammengerollten Schlafsack geschnallt.

»Stuart!« rief sie und winkte ihm lächelnd zu.

Lesbisch? dachte er ungläubig.

»Du machst einen kleinen Ausflug, soweit ich weiß«, sagte er.

»Klar. Und du hast mich nicht gesehen.«

»Nein«, sagte Stu. »Nie. Zigarette?«

Dayna nahm eine Marlboro und hielt die Hände über sein Streichholz.

»Sei vorsichtig, Mädchen.«

»Mach ich.«

»Und komm heil zurück.«

»Hoffentlich.«

Sie sahen einander im hellen Spätsommermorgen an.

»Paß auf Frannie auf, Großer.«

»Mach ich.«

»Und sei als Marshal nicht so streng.«

»Darauf kannst du dich verlassen.«

Sie warf die Zigarette weg. »Was meinst du, Suze?«

Susan nickte, legte den Gang ein und lächelte ein wenig gequält. Sie sah ihn an, und Stu hauchte ihr einen Kuß auf den Mund.

»Viel Glück.«

Sie lächelte. »Du mußt es zweimal machen, wenn es wirklich Glück bringen soll. Hast du das nicht gewußt?«

Er küßte sie noch einmal, diesmal länger und gründlicher. Lesbisch? fragte er sich erneut.

»Frannie kann sich glücklich schätzen«, sagte Dayna. »Das kannst du ihr sagen.«

Stu trat lächelnd einen Schritt zurück und wußte nicht recht, was er sagen sollte, daher sagte er überhaupt nichts. Zwei Blocks weiter rumpelte einer der großen orangefarbenen Lastwagen des Beerdigungskomitees wie ein Omen über die Kreuzung, und der Augenblick war vorüber.

»Gehen wir, Mädchen«, sagte Dayna. »Auf und davon.«

Sie fuhren los, und Stu stand am Bordstein und sah ihnen nach.




Sue Stern kam zwei Tage später zurück. Sie hatte Dayna von Colorado Springs aus nach Westen fahren sehen, sagte sie, und ihr nachgesehen, bis sie als winziger Fleck in der großen, schweigenden Landschaft verschwunden war. Dann hatte sie ein bißchen geweint. In der ersten Nacht hatte Sue in der Nähe von Monument ihr Lager aufgeschlagen und war in den frühen Morgenstunden voller Angst durch ein tiefes, heulendes Geräusch aufgewacht, das aus einem Abwasserkanal unter der Straße zu kommen schien, an der sie kampiert hatte.

Schließlich hatte sie allen Mut zusammengenommen, mit ihrer Taschenlampe in das Wellblechrohr hineingeleuchtet und einen abgemagerten, zitternden Welpen entdeckt. Ungefähr sechs Monate alt. Er scheute vor ihrer Berührung zurück, und sie war zu groß, um in das Rohr zu kriechen. So war sie schlußendlich in die Stadt Monument gefahren, in den dortigen Supermarkt eingebrochen und im kalten Licht einer falschen Dämmerung mit einem Rucksack voll Hundefutterkonserven Marke Alpo und Cycle One zurückgekommen. Der Trick funktionierte. Der Welpe fuhr in einer der BSA-Satteltaschen mit ihr zurück.




Dick Ellis geriet in Verzückung über den Welpen. Es war ein Irish Setter, eine Hündin, und entweder reinrassig oder so nahe dran, dass es keinen Unterschied machte. Wenn sie älter war, würde Kojak ihr sicher gern seine Aufwartung machen. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile in der Freien Zone, und in der Aufregung über Adam und Eva in Hundegestalt war das Thema Mutter Abagail für diesen Tag vergessen. Susan Stern wurde zu einer Art Heldin, und soweit die Mitglieder des Komitees wußten, hatte sich keiner gefragt, was Susan in dieser Nacht in Monument zu suchen gehabt hatte, das weit südlich von Boulder lag.

Aber Stu erinnerte sich noch lange an den Morgen, als die beiden Boulder verlassen hatten und er sie zur Autobahn Denver-Boulder fahren sah. Denn niemand in der Freien Zone sollte Dayna Jürgens wiedersehen.




27. August; kurz vor der Dämmerung; Venus am Himmel. Nick, Ralph, Larry und Stu saßen auf der Treppe von Tom Cullens Haus. Tom stand auf dem Rasen, frohlockte und schlug Krocketbälle durch verschiedene Tore.

Es ist Zeit, schrieb Nick.

Stu fragte leise, ob sie ihn wieder hypnotisieren müßten, und Nick schüttelte den Kopf.

»Gut«, sagte Ralph. »Ich glaube nicht, daß ich das aushalten würde.« Dann rief er mit lauterer Stimme: »Tom! He, Tommy! Komm mal rüber!«

Tom kam grinsend herübergelaufen.

»Tommy, es ist Zeit zu gehen«, sagte Ralph.

Toms Lächeln verschwand. Er schien zum ersten Mal zu bemerken, daß es dunkel wurde.

»Gehen? Jetzt? Meine Fresse, nein! Wenn es dunkel wird, geht Tom ins Bett. M-O-N-D und das buchstabiert man Bett. Tom mag nicht im Dunkeln draußen sein. Wegen den Gespenstern. Tom... Tom...«

Er verstummte, und die anderen sahen ihn unruhig an. Tom war in dumpfes Schweigen verfallen. Er kam wieder zu sich... aber nicht auf die übliche Weise. Es war kein plötzliches Wiedererwachen, bei dem alles Leben auf einen Schlag zurückkehrte, sondern eine langsame Angelegenheit, widerwillig, fast traurig.

»Nach Westen gehen?« sagte er. »Ihr meint, es ist die Zeit?«

Stu legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ja, Tom. Wenn du kannst.«

»Auf die Straße.«

Ralph gab einen erstickten, murmelnden Laut von sich und ging hinter das Haus. Tom schien es nicht zu bemerken. Er sah abwechselnd Stu und Nick an.

»Nachts gehen. Am Tag schlafen.« Tom fügte langsam in der Dämmerung hinzu: »Und den Elefanten sehen.«

Nick nickte.

Larry brachte Toms Rucksack, der neben der Treppe gestanden hatte. Tom streifte ihn langsam und verträumt über.

»Du mußt vorsichtig sein, Tom«, sagte Larry mit belegter Stimme, »Vorsichtig. Meine Fresse, ja.«

Stu fragte sich ein wenig zu spät, ob sie Tom nicht noch ein Einmannzelt geben sollten, aber er verwarf den Gedanken. Tom hätte auch das einfachste Zelt nicht aufschlagen können.

»Nick«, flüsterte Tom. »Muß ich das wirklich?«

Nick legte einen Arm um Tom und nickte langsam.

»Gut.«

»Du mußt immer auf der breiten vierspurigen Straße bleiben, Tom«, sagte Larry. »Die 70 heißt. Ralph fährt dich mit dem Motorrad dorthin, wo sie anfängt. «

»Ja, Ralph.« Pause. Ralph war hinter dem Haus hervorgekommen. Er wischte sich mit einem Taschentuch die Augen.

»Bist du fertig, Tom?« fragte er rauh.

»Nicky? Ist es noch mein Haus, wenn ich zurückkomme?«

Nick nickte heftig.

»Tom liebt sein Haus. Meine Fresse, ja.«

»Das wissen wir, Tommy.« Stu konnte jetzt auch warme Tränen tief in der Kehle spüren.

»Gut. Ich bin fertig. Mit wem fahre ich?«

»Mit mir, Tom«, sagte Ralph. »Zur Route 70, erinnerst du dich?«

Tom nickte und ging zu Ralphs Motorrad. Nach einem Augenblick folgte ihm Ralph mit hängenden Schultern. Selbst die Feder in seinem Hutband schien traurig herabzuhängen. Er stieg auf das Motorrad und trat den Starter durch. Einen Augenblick später fuhr er auf den Broadway und bog nach Osten ab. Sie standen beisammen und sahen, wie das Motorrad in der purpurnen Dämmerung zu einer Silhouette vor dem Scheinwerferlicht wurde. Dann verschwand das Eicht hinter dem Holiday Twin Autokino und war nicht mehr zu sehen.

Mit hängendem Kopf und den Händen in den Taschen ging Nick davon. Stu wollte sich ihm anschließen, aber Nick schüttelte fast wütend den Kopf und winkte ihn fort. Stu ging zu Larry zurück.

»Das war's«, sagte Larry, und Stu nickte düster.

»Glaubst du, daß wir ihn je wiedersehen, Larry?«

»Wenn nicht, dann werden wir sieben - nun, vielleicht nicht Fran, sie war nie dafür, ihn zu schicken - den Rest unseres Lebens mit der Entscheidung, ihn zu schicken, leben müssen. Ich wünsche manchmal, ich hätte nie von dem elenden Komitee der Freien Zone gehört.«

»Nick mehr als jeder andere«, sagte Larry.

»Ja, Nick mehr als jeder andere.« Sie sahen Nick nach, der langsam den Broadway hinabschritt und in den Schatten unterging, die um ihn herum wuchsen. Dann betrachteten sie eine Zeitlang schweigend Toms dunkles Haus.

»Verschwinden wir von hier«, sagte Larry plötzlich. »Der Gedanke an all die ausgestopften Tiere... ich habe plötzlich einen Eins-A Gruselanfall.«




George Richardson, der neue Arzt, hatte sich im Dakota Ridge Medical Center eingenistet, denn es lag in der Nähe des Boulder City Hospital mit seiner medizinischen Ausrüstung, seinen großen Medikamentenvorräten und seinen Operationssälen.

Am 28. August war er bereits voll im Geschäft, unterstützt von Laurie Constable und Dick Ellis. Dick hatte gebeten, die Welt der Medizin verlassen zu dürfen, die Erlaubnis dazu aber nicht erhalten. »Du leistest hier hervorragende Arbeit«, sagte Richardson. »Du hast eine Menge gelernt, und du wirst noch mehr lernen. Außerdem haben wir so viel zu tun, daß ich es nicht alleine schaffe. Wir werden sowieso den Verstand verlieren, wenn wir nicht in ein oder zwei Monaten einen weiteren Arzt bekommen. Gratuliere, Dick, du bist der erste Assistenzarzt der Freien Zone. Gib ihm einen Kuß, Laurie.«

Laurie gehorchte.

Gegen elf an diesem Vormittag Ende August kam Fran ins Wartezimmer und sah sich neugierig und ein wenig nervös um. Laurie saß am Schreibtisch und las eine alte Ausgabe des Ladies Home Journal.

»Hi, Fran«, sagte sie und sprang auf. »Ich habe mir schon gedacht, daß wir dich früher oder später zu sehen bekommen würden. George kümmert sich gerade um Candy Jones, aber er kommt gleich zu dir. Wie geht es dir?«

»Ziemlich gut, danke«, sagte Fran. »Ich glaube...«

Die Tür eines Sprechzimmers ging auf, und Candy Jones kam heraus, gefolgt von einem großen, gebückten Mann in Kordhosen und einem Freizeithemd mit dem Izod-Alligator auf der Brust. Candy betrachtete zweifelnd eine Flasche rosa Substanz, die sie in einer Hand hielt.

»Sind Sie sicher, daß es das ist?« fragte sie Richardson zweifelnd.

»Das habe ich noch nie gehabt. Ich habe gedacht, ich wäre immun.«

»Das sind Sie nicht, und jetzt haben Sie es«, sagte George grinsend.

»Vergessen Sie nicht die Stärkebäder, und bleiben Sie in Zukunft aus dem hohen Gras raus.«

Sie lächelte kläglich. »Jack hat es auch. Soll er herkommen?«

»Nein, aber Sie können aus den Stärkebädern eine Familienangelegenheit machen.«

Candy nickte kläglich, dann sah sie Fran. »Hallo, Frannie, wie geht's dir, Mädchen?«

»Okay. Und dir?«

»Schrecklich.« Candy hielt die Flasche hoch, so daß Fran die Aufschrift CALADRYL auf dem Etikett lesen konnte. »Giftefeu. Und du wirst nie erraten, wo ich es mir geholt habe.« Sie strahlte. »Aber ich wette, du kannst erraten, wo Jack es sich geholt hat.«

Als sie ging, sahen sie ihr amüsiert nach, dann sagte George: »Miss Goldsmith, nicht wahr? Komitee der Freien Zone. Es ist mir ein Vergnügen.«

Sie gab ihm die Hand. »Nur Fran, bitte. Oder Frannie.«

»Okay, Frannie. Was haben Sie für ein Problem?«

»Ich bin schwanger«, sagte Fran. »Und habe eine Heidenangst.«

Dann brach sie ohne Vorwarnung in Tränen aus.

George legte ihr einen Arm um die Schultern. »Laurie, ich brauche Sie in etwa fünf Minuten.«

»Gut, Doktor.«

Er führte sie in das Behandlungszimmer, wo sie sich auf den schwarzen Tisch setzen mußte.

»Aber warum die Tränen? Wegen Mrs. Wentworths Zwillingen?«

Frannie nickte kläglich.

»Es war eine schwierige Geburt, Fran. Die Mutter war Kettenraucherin. Die Babys waren zu leicht, selbst für Zwillinge. Sie kamen ganz plötzlich am späten Abend. Ich hatte keine Möglichkeit zu einer Obduktion. Regina Wentworth wird jetzt von einigen Frauen gepflegt, die mit unserer Gruppe gekommen sind. Ich glaube - ich hoffe -, daß sie aus dem seelischen Tief herauskommt, in dem sie sich momentan befindet. Vorläufig kann ich nur sagen, daß die Babys es von Anfang an mit zwei Handicaps zu tun hatten. Die Todesursache kann alles mögliche gewesen sein.«

»Auch die Supergrippe?«

»Ja. Auch die.«

»Also müssen wir einfach abwarten.«

»Nein, verdammt. Sie bekommen sofort die komplette Schwangerschaftsfürsorge. Ich werde Sie ständig überwachen, genau wie jede andere Frau, die schwanger wird oder schwanger ist. General Electric hatte einen Slogan: Fortschritt ist unser wichtigstes Produkte In der Zone sind die Babys unser wichtigstes Produkt, und sie werden entsprechend behandelt.«

»Aber wir wissen wirklich nichts.«

»Nein, leider. Aber trotzdem Kopf hoch, Fran.«

»Ja, gut. Ich will's versuchen.«

Es klopfte kurz an der Tür, und Laurie kam herein. Sie reichte George ein Formular, und George fing an, Frannie Fragen nach ihrer Krankengeschichte zu stellen.




Als die Untersuchung vorbei war, ließ George sie eine Weile allein und erledigte etwas im Nebenzimmer. Laurie blieb bei ihr, während Fran sich anzog.

Als sie die Bluse zuknöpfte, sagte Laurie leise: »Ich beneide dich, weißt du. Trotz Unsicherheit und so. Dick und ich haben wie verrückt versucht, ein Baby zu machen. Wirklich komisch - ich war diejenige, die einen ZEROPOPULATION-Button zur Arbeit getragen hat. Ich meinte natürlich >Zero Population Growth< - Bevölkerungs-Nullwachstum -, aber wenn ich heute an diesen Button denke, wird mir echt unheimlich zumute. O Frannie, deins wird das erste. Und ich weiß, es wird alles gut. Es muß

Fran lächelte nur und nickte, weil sie Laurie nicht daran erinnern wollte, daß ihres nicht das erste sein würde.

Mrs. Wentworths Zwillinge waren die ersten gewesen.




»Fein«, sagte George eine halbe Stunde später.

Fran zog die Brauen hoch. Sie dachte zuerst, er habe ihren Namen falsch ausgesprochen. Sie erinnerte sich ohne guten Grund daran, daß der kleine Mickey Post, der unten in der Straße gewohnt hatte, sie bis zur dritten Klasse Fan genannt hatte.

»Das Baby. Es geht ihm gut.«

Fran nahm ein Kleenex-Tuch und hielt es krampfhaft fest. »Ich habe gespürt, wie es sich bewegt... aber das ist schon eine Weile her. Seitdem nichts mehr. Ich hatte Angst...«

»Es lebt, aber ich bezweifle, daß Sie gespürt haben, wie es sich bewegte. Das waren wahrscheinlich Blähungen.«

»Es war das Baby«, sagte Fran leise.

»Nun, ob oder ob nicht, es wird sich in Zukunft oft bewegen. Sie werden Anfang bis Mitte Januar niederkommen. Wie hört sich das an?«

»Gut.«

»Essen Sie richtig?«

»Ich glaube - ich gebe mir alle Mühe.«

»Gut. Keine Übelkeit?«

»Am Anfang hin und wieder, aber das ist vorbei.«

»Wunderbar. Haben Sie genug Bewegung?«

Einen alptraumhaften Augenblick mußte sie daran denken, wie sie das Grab ihres Vaters ausgehoben hatte. Sie blinzelte die Vision fort. Das war ein anderes Leben gewesen. »Ja, viel.«

»Haben Sie zugenommen?«

»Ungefähr fünf Pfund.«

»Sie dürfen noch zwölf Pfund zunehmen; ich bin heute großzügig.«

Sie grinste. »Sie sind der Arzt.«

»Ja, und ich war Geburtshelfer, Sie sind also in den richtigen Händen. Befolgen Sie den Rat Ihres Arztes, und alles wird gut. Übrigens, was Fahrräder, Motorräder und Mopeds anbetrifft, etwa ab, sagen wir 15. November, nein nein. Um die Zeit fährt sowieso niemand mehr damit. Zu kalt. Sie rauchen oder trinken nicht übermäßig, oder?«

»Nein.«

»Hin und wieder einen Schlummertrunk, dagegen ist nichts einzuwenden. Ich werde Ihnen Vitamintabletten verschreiben, die können Sie in jedem Drugstore in der Stadt holen...«

Frannie brach in Gelächter aus, und George lächelte unsicher.

»Habe ich etwas Komisches gesagt?«

»Nein. Unter den Umständen hat es sich nur komisch angehört.«

»Oh! Ja, ich verstehe. Jedenfalls kann sich niemand mehr über zu hohe Arzneimittelpreise beschweren, richtig? Noch etwas, Fran. Haben Sie sich schon mal ein Pessar einsetzen lassen... eine Spirale?«

»Nein, warum?« fragte Frannie und mußte wieder an ihren Traum denken: an den dunklen Mann mit dem Kleiderbügel. Sie schauderte.

»Nein«, sagte sie noch einmal.

»Gut. Das war's.« Erstand auf. »Ich werde Ihnen nicht sagen, dass Sie sich keine Sorgen machen sollen...«

»Nein«, stimmte sie zu. Das Lachen war aus ihren Augen verschwunden. »Lieber nicht.«

»Aber ich möchte Sie bitten, sich möglichst wenig Sorgen zu machen. Übermäßige Aufregung der Mutter kann die Drüsenfunktion durcheinanderbringen. Und das ist nicht gut für das Baby. Schwangeren Frauen verschreibe ich nicht gern Beruhigungsmittel, aber wenn Sie meinen...«

»Nein, nicht nötig«, sagte Fran, aber als sie in die heiße Mittagssonne hinaustrat, wußte sie, daß sie die ganze zweite Hälfte ihrer Schwangerschaft Gedanken an Mrs. Wentworths gestorbene Zwillinge quälen würden.




Am neunundzwanzigsten August trafen drei Gruppen ein, eine mit zweiundzwanzig Mitgliedern, eine mit sechzehn und eine mit fünfundzwanzig. Sandy DuChiens besuchte alle sieben Mitglieder des Komitees und teilte ihnen mit, daß die Freie Zone jetzt über tausend Einwohner hatte.

Boulder glich nicht mehr so sehr einer Geisterstadt.




Am Abend des dreißigsten stand Nadine in Harolds Keller, beobachtete ihn und hatte ein ungutes Gefühl.

Wenn Harold etwas tat, was nichts mit irgendwelchen seltsamen Sexspielen mit ihr zu tun hatte, schien er sich an einen privaten Ort zurückzuziehen, wo sie keinen Einfluß auf ihn hatte. Wenn das der Fall war, wirkte er kalt; mehr noch, er schien sie zu verachten und auch sich selbst. Das einzige, was sich nicht änderte, war sein Hass auf Stuart Redman und die anderen im Komitee.

Im Keller stand ein altes Tischhockeyspiel, und Harold arbeitete auf dessen durchlöcherter Oberfläche. Neben ihm lag ein aufgeschlagenes Buch. Auf der aufgeschlagenen Seite war ein Diagramm zu sehen. Er betrachtete das Diagramm eine Weile, dann den Apparat, an dem er arbeitete, und dann machte er etwas damit. Neben seiner rechten Hand lag der Werkzeugsatz seines TriumphMotorrads. Auf dem Hockeytisch lagen kleine Stücke Draht.

»Weißt du«, sagte er abwesend, »du solltest Spazierengehen.«

»Warum?« Sie war ein wenig gekränkt. Harolds Gesicht war angespannt; er lächelte nicht. Nadine begriff, warum Harold immer lächelte: Wenn er aufhörte zu lächeln, sah er wie ein Verrückter aus. Sie vermutete, daß er verrückt war, oder fast.

»Weil ich nicht weiß, wie alt dieses Dynamit ist«, sagte Harold.

»Was meinst du damit?«

»Altes Dynamit schwitzt, Herzblatt«, sagte er und sah zu ihr hoch. Sie bemerkte, daß der Schweiß ihm nur so über das Gesicht lief, als wollte er seine Aussage bestätigen. »Es transpiriert, um taktvoll zu sein. Und was es transpiriert, ist reines Nitroglyzerin, eine der instabilsten Substanzen der Welt. Wenn es alt ist, kann dieses kleine wissenschaftliche Projekt uns über den Gipfel des Flagstaff Mountain und den ganzen Weg bis ins Land Oz pusten.«

»Deshalb mußt du nicht gleich so patzig sein«, sagte Nadine.

»Nadine? Ma chère

»Was?«

Harold sah sie ruhig und ohne zu lächeln an. »Halt dein verdammtes Maul.«

Sie gehorchte, aber sie machte keinen Spaziergang, obwohl sie es gern getan hätte. Wenn es Flaggs Wille war (und das Spiritistenbrett hatte ihr gesagt, daß Harold Flaggs Instrument war, mit dem Komitee zu Rande zu kommen), konnte das Dynamit nicht alt sein. Und selbst wenn es alt war, würde es erst explodieren, wenn es sollte... oder? Wieviel Einfluß hatte Flagg überhaupt auf die Ereignisse?

Genug, sagte sie sich, er hat genug. Aber sie war nicht sicher, und sie wurde zunehmend unruhig. Sie war noch einmal in ihr Haus zurückgegangen, und Joe war verschwunden gewesen - diesmal endgültig. Sie hatte Lucy aufgesucht und den kühlen Empfang lange genug ertragen, um zu erfahren, daß Joe (Lucy nannte ihn natürlich Leo), seit sie zu Harold gezogen war, »einen leichten Rückfall« gehabt hatte. Auch dafür machte Lucy sie offenbar verantwortlich... aber wenn eine Lawine vom Flagstaff Mountain herabkommen oder ein Erdbeben die Pearl Street aufreißen würde, würde Lucy ihr wahrscheinlich auch das zur Last legen. Nicht, daß es nicht bald genug geben würde, für das man sie und Harold verantwortlich machen konnte. Aber sie war bitter enttäuscht gewesen, daß sie Joe nicht mehr gesehen hatte... um ihm einen Abschiedskuß zu geben. Sie und Harold würden nicht mehr lange in der Freien Zone Boulder bleiben.

Vergiß es, am besten läßt du ihn völlig in Ruhe, nachdem du dich auf diese Obszönität eingelassen hast. Du würdest ihm nur schaden... und dir wahrscheinlich auch, weil Joe... sieht, weiß. Laß ihn aufhören, Joe zu sein, laß mich aufhören, Nadine-Mom zu sein. Lass ihn wieder Leo sein, für immer.

Aber das Paradoxon war unerbittlich. Sie glaubte nicht, daß auch nur einer der Zone länger als ein Jahr zu leben hatte, und dazu gehörte auch der Junge. Es war nicht sein Wille, daß sie lebten...

... also die Wahrheit, nicht nur Harold ist sein Instrument. Du bist es auch. Du, die einst Moral als die unverzeihlichste Sünde der Welt nach der Seuche definiert hat...

Plötzlich wünschte sie sich, das Dynamit würde alt sein und sie beide in die Luft sprengen und ihnen ein Ende bereiten. Ein gnädiges Ende. Und dann dachte sie wieder an das, was geschehen würde, wenn sie über die Berge gegangen waren, und spürte wieder die alte schlüpfrige Wärme in ihrem Bauch.

»So«, sagte Harold sanft. Er hatte den Apparat in einem HushPuppiesSchuhkarton verstaut und beiseite gestellt.

»Ist es fertig?«

»Ja. Fertig.«

»Wird es funktionieren?«

»Willst du es ausprobieren?« Seine Worte klangen bitter sarkastisch, aber jetzt machte ihr das nichts aus. Er betrachtete sie wieder mit diesem gierigen, tastenden Schuljungenblick, den sie schon kannte. Er war von seinem fernen Ort zurückgekehrt - dem Ort, von dem er geschrieben hatte, was in seinem Hauptbuch stand, welches sie gelesen und anschließend wieder achtlos unter den losen Kaminstein gelegt hatte, wo es ursprünglich gewesen war. Jetzt wurde sie mit ihm fertig. Jetzt war sein Gerede nur Gerede.

»Möchtest du mir vorher wieder zusehen, wie ich an mir herumspiele?« fragte sie. »Wie gestern nacht?«

»Ja«, sagte er. »Gut. Okay.«

»Dann gehen wir hoch.« Sie klimperte mit den Wimpern. »Ich gehe vor.«

»Ja«, sagte er heiser. Kleine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, aber diesmal hatte nicht Angst sie dorthin gezaubert. »Geh du vor.«

Also ging sie vor, und sie konnte spüren, wie er unter den Rock des mädchenhaften Matrosenkleids sah, das sie trug. Darunter hatte sie nichts an.

Die Tür ging zu, und das Ding, das Harold gebastelt hatte, stand im Dämmerlicht in dem offenen Schuhkarton. Es war ein batteriebetriebenes Walkietalkie Marke Realistic aus dem Radio Shack. Die Rückplatte war abgeschraubt. Harold hatte acht Stangen Dynamit durch Drähte damit ve rbunden. Das Buch lag noch aufgeschlagen da. Es stammte aus Boulders öffentlicher Bibliothek, der Titel lautete: 65 Preisträger der Nationalen Wissenschaftsausstellung. Die Konstruktionszeichnung zeigte eine Türklingel, die mit einem Walkie-talkie ähnlich dem in der Schuhschachtel verbunden war. Die Bildunterschrift besagte: Dritter Preis, Nationale Wissenschaftsausstellung 1977, konstruiert von Brian Ball, Rutland, Vermont. Sagen Sie das richtige Wort und klingeln Sie über eine Entfernung bis zu zwölf Meilen!

Ein paar Stunden später kam Harold wieder nach unten, legte den Deckel auf den Schuhkarton und trug ihn vorsichtig nach oben. Er stellte ihn auf das oberste Regal im Küchenschrank. Ralph Brentner hatte ihm am Nachmittag erzählt, daß das Komitee der Freien Zone Chad Norris eingeladen hatte, bei der nächsten Sitzung zu sprechen. Wann würde das sein, hatte Harold sich beiläufig erkundigt. 2. September, hatte Ralph gesagt.

2. September.

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