72

»Wißt ihr«, sagte Glen Bateman und blickte im Licht des frühen Morgens nach Grand Junction hinüber, »ich habe oft den Ausdruck >Es kotzt mich an< gehört, ohne recht zu wissen, was er bedeutet. Ich glaube, jetzt weiß ich es.« Er betrachtete sein Frühstück, das aus synthetischen Morning-Star-FarmsWürstchen bestand, und verzog das Gesicht.

»Nein, die sind lecker«, sagte Ralph ganz ernsthaft. »Du hättest den Fraß sehen sollen, den man uns bei der Armee vorgesetzt hat.«

Die Gruppe saß um das Lagerfeuer herum, das Larry vor einer halben Stunde neu angezündet hatte. Sie alle trugen warme Mäntel und Handschuhe und tranken gerade ihre zweite Tasse Kaffee. Die Temperatur betrug etwa zwei Grad über Null, und der Himmel war bedeckt und fahl. Kojak schlief so nahe am Feuer, wie es nur möglich war, ohne sich das Fell zu verbrennen.

»So, ich hab' mein Innenleben zufriedengestellt«, sagte Glen und stand auf. »Gebt mir die Reste für die Armen und Gottlosen. Genauer gesagt, gebt mir euren Abfall. Ich werde ihn vergraben.«

Stu gab ihm Pappteller und -becher. »Feine Sache, so ein kleiner Spaziergang, findest du nicht auch, Platte? Ich wette, du bist nicht mehr in so guter Verfassung gewesen, seit du zwanzig warst.«

»Und das ist siebzig Jahre her«, sagte Larry und lachte.

»Stu, ich war nie in einer solchen Verfassung«, sagte Glen finster, während er die Abfälle aufsammelte und in die Plastiktüte stopfte, in der er sie vergraben wollte. »Ich wollte nie in einer solchen Verfassung sein. Aber es macht mir nichts aus. Nach fünfzig Jahren als überzeugter Atheist scheint es mein Schicksal zu sein, dem Gott einer alten schwarzen Frau in den Rachen des Todes zu folgen. Und wenn das mein Schicksal ist, dann ist es eben mein Schicksal. Schluß. Aus. Aber ehrlich gesagt, ziehe ich das Gehen dem Fahren vor. Wenn ich gehe, dauert es länger, folglich lebe ich länger... wenigstens ein paar Tage. Entschuldigen Sie mich, Gentlemen, ich will diesem Unrat ein anständiges Begräbnis zuteil werden lassen.«

Sie schauten ihm nach, als er mit einer kleinen Schaufel ein Stück abseits ging. Diese »Wanderung durch Colorado auf der Spur nach Westen«, wie Glen sich ausdrückte, war für Glen selbst am beschwerlichsten. Er war der älteste, zwölf Jahre älter als Ralph Brentner. Aber irgendwie hatte er es für die anderen leichter gemacht. Er legte eine beständige, aber gutmütige Ironie an den Tag und schien seinen Frieden mit sich gemacht zu haben. Die Tatsache, daß er dies jeden Tag erneut schaffte, beeindruckte die anderen, wenn es sie auch nicht gerade inspirierte. Er war siebenundfünfzig, und Stu hatte an den letzten drei oder vier kalten Vormittagen wiederholt beobachtet, wie er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Finger rieb.

»Tut es sehr weh?« hatte Stu ihn gestern gefragt, als sie schon etwa eine Stunde unterwegs waren.

»Ich nehm' ein Aspirin, dann geht's. Es ist Arthritis, aber es ist noch nicht so schlimm, wie es in fünf oder sieben Jahren sein wird, und ehrlich gesagt, Ost-Texaner, so lange denke ich nicht mehr im voraus.«

»Glaubst du wirklich, er kriegt uns zu fassen?«

Und darauf hatte Glen Bateman eine seltsame Antwort gegeben:

»Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen.« Und das war das Ende des Gesprächs gewesen.

Jetzt hörten sie ihn im gefrorenen Boden stochern und fluchen.

»Er ist ein feiner Bursche, was?« sagte Ralph.

Larry nickte. »Ja. Glaub' schon.«

»Ich hab' diese Professoren immer für Waschlappen gehalten, für Schwächlinge, aber Glen ist ein ganzer Kerl. Wißt ihr, was er gesagt hat, als ich ihn fragte, warum er den Mist nicht einfach neben die Straße schmeißt? Er sagte, es wäre nicht nötig, wieder mit dieser Scheiße anzufangen. Wir hätten schon viel zuviel von der alten Scheiße einreißen lassen.«

Kojak stand auf und trabte hinüber, um zu sehen, was Glen dort machte. »Da bist du ja, du großes faules Miststück. Ich hab' mich so langsam schon gefragt, wo du bleibst. Soll ich dich gleich mit vergraben?«

Larry grinste und nahm den Meilenzähler ab, den er am Gürtel hängen hatte. Er hatte ihn in einem Sportartikelgeschäft gefunden. Man stellte ihn auf die eigene Schrittlänge ein und hängte ihn wie einen Zollstock an den Gürtel. Auf einen immer wieder gefalteten Zettel mit Eselsohren trug Larry jeden Abend die zurückgelegte Strecke ein.

»Darf ich diesen Mogelzettel mal sehen?« fragte Stu.

»Gern«, sagte Larry und gab ihm das Stück Papier.

Auf den oberen Blattrand hatte Larry in Druckbuchstaben geschrieben: Boulder-Vegas: 771 Meilen. Darunter stand:

Datum Meilen Gesamtstrecke

6.September 2.8,1 28,1

7.September 27,0 55,1

8.September 26,5 81,6

9.September 28,2 109,8

10.September 27,9 137,7

11.September 29,1 166,8

12.September 28,8 195,6

13.September 29,5 225,1

14.September 32,0 257,1

15.September 32,6 289,7

16.September 35,5 325,2

17.September 37,2 362,4

Stu zog einen kleinen Zettel aus seiner Brieftasche und führte ein paar Subtraktionen durch. »Na ja, wir kommen in den letzten Tagen schneller voran als zu Anfang, aber wir haben immer noch vierhundert Meilen vor uns. Wir haben noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Scheiße.«

Larry nickte. »Wir kommen schneller voran, stimmt. Weil es immer mehr Gefällstrecken gibt. Und Glen hat recht, weißt du. Warum sollten wir Dampf machen? Sobald wir am Ziel sind, knipsen uns die Burschen dort das Licht aus.«

»Nein, das glaub' ich einfach nicht«, sagte Ralph. »Sicher, vielleicht müssen wir ins Gras beißen. Aber es ist doch nicht so, als wenn es schon beschlossene Sache wäre. So einfach werden die es mit uns nicht haben. Da steckt mehr dahinter. Mutter Abagail hätte uns bestimmt nicht losgeschickt, damit man uns abmurkst und fertig, aus. Das hätte sie niemals getan.«

»Ich glaube nicht, daß sie es war, die uns losgeschickt hat«, sagte Stu leise.

Larrys Meilenzähler klickte viermal vernehmlich, als er ihn für den Tag einstellte: 000,0. Stu warf Sand auf die Reste des Lagerfeuers. Die kleinen allmorgendlichen Rituale. Sie waren jetzt zwölf Tage unterwegs. Es schien Stu, als sollte es immer so weitergehen: Glens scherzhaft gemeinte Meckerei über das Essen, Larry, der die zurückgelegte Strecke auf seinen Zettel schrieb, die beiden Tassen Kaffee, jemand, der die Abfälle vergrub, ein anderer, der das Feuer löschte. Es war Routine, angenehme Routine. Man vergaß, worauf das alles hinauslief, und das war gut so. Morgens kam es ihm vor, als sei Fran unendlich weit fort - sehr klar, aber sehr weit entfernt, wie ein Foto in einem Medaillon. Aber abends, wenn es dunkel wurde und der Mond durch die Nacht zog, war sie ihm sehr nahe. Fast so nahe, daß er sie berühren konnte... und darin lag natürlich sein ganzer Schmerz. In solchen Augenblicken verwandelte sich sein Glaube an Mutter Abagail in bittere Zweifel, und er hatte das Bedürfnis, die anderen zu wecken und ihnen zu sagen, daß man sie in den April geschickt habe, daß sie mit Gummilanzen gegen tödliche Windmühlenflügel kämpfen wollten, daß sie lieber in der nächsten Stadt anhalten sollten, um sich Motorräder zu besorgen und wieder zurückzufahren. Daß sie besser daran täten, ein wenig Licht und ein wenig Liebe zu genießen, solange es noch möglich war - denn viel Zeit würde Flagg ihnen nicht mehr lassen.

Aber das war nachts. Morgens erschien es ihm dann wieder richtig, den Marsch fortzusetzen. Nachdenklich sah er Larry an und fragte sich, ob Larry spät in der Nacht an seine Lucy dachte. Von ihr träumte und sich wünschte...

Glen kam mit Kojak ins Lager zurück und zuckte beim Gehen hin und wieder leicht zusammen. »Wir werden es schon schaffen«, sagte Glen. »Nicht wahr, Kojak?«

Kojak wedelte mit dem Schwanz.

»Er sagt Las Vegas oder nie«, meinte Glen. »Gehen wir.«

Sie stiegen über die Böschung zur I-70 hoch, die nach Grand Junction hinunterführte, und nahmen ihre heutige Etappe in Angriff.




Am späten Nachmittag fiel ein kalter Regen, der sie unangenehm abkühlte und die Unterhaltung dämpfte. Larry hatte die Hände in den Taschen und ging allein. Zuerst dachte er an Harold Lauder, dessen Leiche sie vor zwei Tagen gefunden hatten - es schien eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen zu bestehen, nicht über Harold zu sprechen -, aber dann wandten sich seine Gedanken dem Mann zu, den er den Wolfsmann genannt hatte. Sie hatten den Wolfsmann östlich des Eisenhower-Tunnels gefunden. Dort hatte es einen gewaltigen Verkehrsstau gegeben, und es hatte intensiv nach Tod und Verwesung gestunken. Der Wolfsmann hatte halb in einem Austin gelegen. Er trug Nietenjeans und ein mit Ziermünzen benähtes Westernhemd aus Seide. Die Leichen mehrerer Wölfe lagen um den Austin herum. Der Wolfsmann hing halb im Beifahrersitz des Wagens, und ein toter Wolf lag auf seiner Brust. Die Hände des Wolfsmannes umklammerten den Hals des Tieres, dessen blutiges Maul am Hals des Mannes lag. Sie hatten versucht, die Situation zu rekonstruieren. Ein Rudel Wölfe mußte aus den Bergen gekommen sein, den einsamen Mann bemerkt und ihn angefallen haben. Der Wolfsmann hatte ein Gewehr mit sich geführt und mehrere der Tiere erschossen, bevor er sich in den Austin zurückzog.

Wie lange mochte es gedauert haben, bis der Hunger ihn gezwungen hatte, seinen Zufluchtsort wieder zu verlassen? Larry wußte es nicht, und er wollte es auch gar nicht wissen. Aber er hatte gesehen, wie mager der Wolfsmann gewesen war. Eine Woche vielleicht. Wer immer er sein mochte, er war auf dem Weg in den Westen gewesen, um sich dem dunklen Mann anzuschließen, aber Larry hätte niemandem ein so entsetzliches Schicksal gewünscht. Zwei Tage nachdem sie aus dem Tunnel herausgekommen waren und den Wolfsmann weit hinter sich gelassen hatten, hatte er Stu darauf angesprochen.

»Warum sollte ein Rudel Wölfe sich dort so lange aufgehalten haben, Stu?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ich meine, wenn sie was zu fressen gesucht haben, hätten sie es doch leicht finden können.«

»Ja, das meine ich auch.«

Die ganze Sache war für ihn ein schreckliches dunkles Rätsel, und er dachte immer wieder darüber nach, wenn er auch wußte, daß er die Lösung nie finden würde. Wer immer der Wolfsmann war, an Mumm hatte es ihm nicht gefehlt. Zuletzt hatte er, von Hunger und Durst getrieben, die Beifahrertür geöffnet. Einer der Wölfe hatte ihn angesprungen und ihm die Kehle aufgerissen, aber im Sterben hatte er das Tier noch erwürgt.

Sie waren alle vier angeseilt durch den Tunnel gegangen, und in der entsetzlichen Dunkelheit hatte Larry an seinen Weg durch den Lincoln Tunnel denken müssen. Aber jetzt verfolgte ihn nicht mehr Rita Blakemoores Bild, sondern das Gesicht des Wolfsmannes, zu einem letzten Schrei verzerrt, als der Wolf und er sich gegenseitig töteten.

Waren die Wölfe geschickt worden, um den Mann umzubringen?

Aber dieser Gedanke war zu beunruhigend, als daß er ihn auch nur in Erwägung ziehen mochte. Er versuchte, die ganze Geschichte zu verdrängen und einfach weiterzugehen, immer weiter. Aber es war verdammt schwer.

An diesem Abend schlugen sie kurz hinter Loma, ziemlich nahe an der Grenze zu Utah, ihr Lager auf. Das Abendbrot bestand aus eßbaren Pflanzen und abgekochtem Wasser, wie alle ihre Mahlzeiten - sie befolgten Mutter Abagails Anweisungen aufs Wort.

»In Utah wird es schlimm werden«, meinte Ralph. »Dort werden wir feststellen, ob Gott tatsächlich über uns wacht. Auf einer Strecke von mehr als hundert Meilen liegt keine einzige Stadt. Dort gibt es nicht mal ein Cafe oder eine Tankstelle.« Diese Aussichten schienen ihn jedoch nicht sonderlich zu beunruhigen.

»Und Wasser?« fragte Stu.

Ralph zuckte die Achseln. »Damit sieht's auch beschissen aus. Ich glaube, ich leg' mich jetzt aufs Ohr.«

Larry tat es ihm gleich. Glen blieb noch wach und rauchte eine Pfeife. Stu hatte noch ein paar Zigaretten und beschloß, sich eine davon anzuzünden. Schweigend rauchten sie eine Weile.

»Wir sind weit weg von New Hampshire, Platte«, sagte Stu endlich.

»Auch Texas ist nicht gerade in Rufweite.«

Stu lächelte. »Nein. Nein, wirklich nicht.«

»Du vermißt Fran sehr, nehme ich an.«

»Ja. Ich vermiss' sie, mach' mir Sorgen um sie. Mach' mir Sorgen um das Baby. Nachts ist es besonders schlimm.«

Glen zog an seiner Pfeife. »Du kannst nichts daran ändern, Stuart.«

»Das weiß ich. Aber ich mache mir Sorgen.«

»Natürlich.« Glen klopfte seine Pfeife an einem Stein aus. »Gestern nacht ist was Komisches passiert, Stu. Ich habe mir den ganzen Tag überlegt, ob es Traum oder Wirklichkeit war.«

»Was war es denn?«

»Na ja, ich wachte nachts auf, und Kojak knurrte irgend etwas an. Es muß nach Mitternacht gewesen sein, denn das Feuer war schon fast aus. Kojak stand auf der anderen Seite, knurrte wie verrückt, und seine Nackenhaare sträubten sich. Ich sagte ihm, er solle ruhig sein, aber er hat mich nicht mal angeguckt, hat rechts an mir vorbeigeschaut. Ich dachte: Wenn es nun Wölfe sind? Seit ich den Mann gesehen habe, den Larry den Wolfsmann nennt...«

»Ja, war 'ne schlimme Sache.«

»Aber da war nichts. Ich hatte gute Sicht. Kojak knurrte nichts an.«

»Er hat irgend etwas gewittert, das ist alles.«

»Ja, aber das Verrückte kommt erst noch. Nach ein paar Minuten hatte ich so ein Gefühl... es war unheimlich, kann ich dir sagen. Ich hatte das Gefühl, da ist irgend etwas auf der gegenüberliegenden Seite der Straßenböschung und beobachtet mich. Beobachtet uns alle. Ich hatte fast das Gefühl, es sehen zu können. Daß ich es sehen würde, wenn ich nur genau hinschaute. Aber das wollte ich nicht. Weil ich das Gefühl hatte, daß er es war.«

»Weil du das Gefühl hattest, daß es Flagg war, Glen. Wahrscheinlich war es nichts«, sagte Stu nach einer Weile.

»Es hat sich jedenfalls nach etwas angefühlt. Auch Kojak hat es gespürt.«

»Gut, nehmen wir an, er hat uns irgendwie beobachtet. Was hätten wir tun können?«

»Nichts. Aber es gefällt mir nicht. Mir gefällt der Gedanke nicht, dass er uns beobachten kann... wenn es so gewesen ist. Er macht mich krank.«

Stu rauchte seine Zigarette zu Ende und drückte sie sorgfältig an einem Felsbrocken aus, machte aber noch keine Anstalten, zu seinem Schlafsack zu gehen. Er blickte zu Kojak hinüber, der am Feuer lag und sie beäugte, den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet.

»Harold ist also tot«, sagte Stu schließlich.

»Ja.«

»Ein sinnloses Scheißspiel, der Tod von Sue und Nick. Und auch Harolds Tod, würde ich sagen.«

»Da hast du recht.«

Es gab nichts mehr zu sagen. Am Tag, nachdem sie durch den Eisenhower Tunnel gekommen waren, hatten sie Harold und seine jämmerlichen letzten Aufzeichnungen gefunden. Er und Nadine mußten über den Loveland Paß gefahren sein, denn Harold hatte sein Triumph-Motorrad bei sich - oder das, was von ihm übriggeblieben war -, und wie Ralph gesagt hatte, es wäre unmöglich gewesen, etwas Größeres als ein Kinderauto durch den Tunnel zu schaffen. Die Bussarde hatten sich schon ausgiebig mit Harold beschäftigt, aber das Notizbuch lag noch fest in seiner verkrampften Hand. Die Pistole Kaliber 3 8 steckte in seinem Mund wie ein grotesker Dauerlutscher. Sie hatten Harold nicht begraben, aber Stu hatte ihm vorsichtig die Pistole aus dem Mund gezogen. Als Stu sah, wie endgültig der dunkle Mann Harold vernichtet und wie achtlos er ihn beiseite geworfen hatte, nachdem Harold die ihm zugedachte Rolle gespielt hatte, haßte er Flagg nur noch mehr. Er hatte das Gefühl, als würden sie alle sich auf einer Art sinnlosem Kinderkreuzzug opfern. Harolds Leiche mit dem zerschmetterten Bein verfolgte ihn genauso, wie das verzerrte Gesicht des Wolfsmannes Larry verfolgte. Jetzt wollte er es Flagg nicht nur für Nick und Susan, sondern auch für Harold heimzahlen... aber er kam immer mehr zu der Überzeugung, daß er nie die Gelegenheit dazu bekommen würde.

Aber paß nur auf, dachte er zornig. Paß nur auf, wenn ich so nahe an dich herankomme, daß ich dich erwürgen kann, du Ungeheuer.

Mit einem leisen Seufzer stand Glen auf. »Ich gehe schlafen, OstTexaner. Sag bloß nicht, daß ich noch aufbleiben soll. Es ist wirklich eine langweilige Party.«

»Was macht die Arthritis?«

Glen lächelte. »Es geht einigermaßen«, sagte er, aber als er zu seinem zusammengerollten Bettzeug hinüberging, humpelte er. Stu gedachte, keine weitere Zigarette mehr zu rauchen - selbst wenn er nur zwei oder drei am Tag rauchte, würden seine Vorräte Ende der Woche erschöpft sein -, aber dann zündete er sich doch noch eine an. Der Abend war nicht übermäßig kalt, aber dennoch war zu erkennen, daß in diesem hochgelegenen Landstrich der Sommer endgültig vorbei war. Das machte ihn traurig, denn er hatte das starke Gefühl, daß er nie wieder einen Sommer erleben würde. Als dieser Sommer anfing, war er Gelegenheitsarbeiter in einer Fabrik gewesen, die Taschenrechner herstellte. Er hatte in einem kleinen Kaff namens Arnette gelebt und einen großen Teil seiner Freizeit damit verbracht, in Bill Hapscombs Texaco-Tankstelle herumzuhängen und den anderen zuzuhören, wenn sie ihren Blödsinn über die Regierung und die Wirtschaft und die schlechten Zeiten von sich gaben. Stu glaubte nicht, daß nur einer von ihnen gewußt hatte, was wirklich schlechte Zeiten waren. Er rauchte seine Zigarette zu Ende und warf sie ins Feuer.

»Laß es dir gutgehen, Frannie, altes Mädchen«, sagte er und kroch in seinen Schlafsack. Und er träumte davon, daß irgend etwas in der Nähe war, das voller Bosheit über sie wachte. Es hätte ein Wolf mit dem Verstand eines Menschen sein können. Oder eine Krähe. Oder ein Wiesel, das auf dem Bauch durch das Gebüsch schlich. Oder irgendein körperliches Wesen, ein Auge, das sie beobachtete.

Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen, murmelte er im Traum. Ja, und wenn ich auch wandle im Tal des Todes, so fürchte ich mich nicht vor dem Bösen. Nicht vor dem Bösen.

Zuletzt verblaßte der Traum, und er schlief tief und fest.

Am nächsten Morgen waren sie schon früh wieder unterwegs. Larrys Meilenzähler zählte klickend Meile um Meile auf der Straße, die sich die westlichen Hänge hinabwand, um dann nach Utah zu führen. Kurz nach Mittag ließen sie Colorado hinter sich. An diesem Abend kampierten sie westlich von Harley Dome, Utah. Zum ersten Mal kam Larry die tiefe Stille bedrückend und bösartig vor. Als Ralph Brentner an diesem Abend einschlief, dachte er: Wir sind jetzt im Westen. Wir sind von unserem Baseballplatz auf seinen gekommen.

Und in dieser Nacht träumte Ralph von einem Wolf mit einem einzigen roten Auge, der aus der Wüste gekommen war, um sie zu beobachten. Hau ab, sagte Ralph zu dem Wolf. Wir haben keine Angst. Nicht vor dir.







Am 21. September, nachmittags um zwei Uhr, hatten sie Sego passiert. Laut Stus Straßenkarte war die nächste größere Stadt Green River. Danach kamen lange, lange Zeit keine Städte mehr. Dann würden sie wahrscheinlich, wie Ralph es ausgedrückt hatte, herausfinden, ob Gott auf ihrer Seite stand oder nicht.

»Eigentlich«, sagte Larry zu Glen, »mache ich mir um Nahrung viel weniger Sorgen als um Wasser. Fast jeder, der unterwegs ist, hat irgend etwas zu essen im Auto, Erdnüsse oder Trockenfeigen oder etwas von dieser Art.« Glen lächelte. »Vielleicht gießt der Herr seinen Segen auf uns herab.« Larry schaute zum wolkenlosen Himmel hinauf und verzog das Gesicht bei dem Gedanken.

»Manchmal glaube ich, daß Mutter Abagail zum Schluß nicht mehr ganz normal war.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte Glen freundlich. »Wenn du deine Theologie gelesen hast, dann wirst du wissen, daß Gott oft durch Sterbende und Verrückte spricht. Mir scheint - und hier kommt der Jesuit zum Vorschein -, daß es dafür gute psychologische Gründe gibt. Verrückte oder Menschen auf dem Totenbett sind Wesen mit drastisch veränderter Psyche. Ein gesunder, normaler Mensch könnte die göttliche Botschaft vielleicht entsprechend der eigenen Persönlichkeit interpretieren. Mit anderen Worten, ein gesunder Mensch dürfte einen beschissenen Propheten abgeben.«

»Die Wege Gottes«, sagte Larry. »Ich weiß. Wir sehen nur wie in einem dunklen Spiegel. Mir erscheint dieser Spiegel ziemlich dunkel. Warum wir die ganze Strecke laufen, wo wir unser Ziel mit einem Wagen in einer Woche erreicht hätten, übersteigt meinen Horizont. Aber wenn wir schon so was Verrücktes tun, ist es wohl in Ordnung, wenn wir's auch auf verrückte Art und Weise tun.«

»Was wir tun, hat alle möglichen historischen Präzedenzfälle«, sagte Glen. »Außerdem sehe ich für diesen Spaziergang völlig vernünftige psychologische und soziologische Gründe. Ich weiß nicht, ob es Gottes Gründe sind oder nicht, aber mir erscheinen sie sinnvoll.«

»Welche Gründe zum Beispiel?« Stu und Ralph waren zu ihnen getreten, um es auch zu hören.

»Es hat verschiedene Indianerstämme gegeben, bei denen >Visionen zu haben< zum Mannbarkeitsritus gehörte. Wenn es an der Zeit war, daß jemand zum Mann wurde, mußte er unbewaffnet in die Wildnis gehen. Er mußte irgend etwas töten, und er mußte sich zwei Lieder ausdenken - eines über den Großen Geist und eines über die eigenen Qualitäten als Jäger und Reiter und Krieger und Ficker -, und er mußte eben diese Vision haben. Er durfte nichts essen. Er sollte eine höhere Stufe erreichen - sowohl geistig als auch körperlich - und mußte auf diese Vision warten. Und natürlich kam sie früher oder später.« Glen kicherte. »Hunger fördert Halluzinationen.«

»Glaubst du, daß Mutter Abagail uns in die Wüste geschickt hat, damit wir hier Visionen haben?« fragte Ralph.

»Vielleicht, um durch einen Reinigungsprozeß Kraft und Frömmigkeit zu erlangen«, sagte Glen. »Ihr müßt wissen, daß es hier symbolisch darum geht, Dinge abzuwerfen. Es ist eine Art Magie. Wenn man Dinge abwirft, wirft man auch andere Dinge ab, die symbolisch mit ihnen verbunden sind. Man beginnt einen Reinigungsprozeß. Man beginnt, das Gefäß zu entleeren.«

Larry schüttelte langsam den Kopf. »Das ist mir zu hoch.«

»Stellt euch doch einmal einen intelligenten Menschen aus der Zeit vor der Seuche vor. Schlag ihm das Fernsehgerät kaputt. Was tut er dann abends?«

»Er liest ein Buch«, sagte Ralph.

»Er besucht seine Freunde«, sagte Stu.

»Er beschäftigt sich mit seiner Stereo-Anlage«, sagte Larry und grinste.

»Genau. Irgend etwas in dieser Richtung«, sagte Glen. »Aber er wird auch sein Fernsehgerät vermissen. Wo das Fernsehgerät früher war, ist jetzt ein Loch in seinem Leben. Immer noch denkt er: Um neun Uhr trinke ich ein paar Flaschen Bier und sehe mir in der Glotze die Boston Red Sox an. Und wenn er dann das leere Gehäuse sieht, ist er fürchterlich enttäuscht. Ein Teil des Lebens, wie er es gewohnt war, ist verschwunden. Ist es nicht so?«

»Stimmt schon«, sagte Ralph. »Als unser Fernsehgerät mal zwei Wochen lang kaputt war, hatte ich keine Ruhe, bis es wiederkam.«

»Wenn er viel ferngesehen hat, reißt es natürlich ein größeres Loch«, sagte Glen. »Ein kleineres, wenn er das Gerät wenig benutzt hat. Aber etwas fehlt. Jetzt nehmt ihm auch noch seine Bücher, seine Freunde und seine Stereo-Anlage. Und nehmt ihm sein Essen weg. Er soll nur essen, was er am Wege findet. Das ist ein Prozess der Ausleerung und der Verkleinerung des Ego. Euer Selbst, Gentlemen - es verwandelt sich in Fensterglas. Oder besser noch, in leere Gläser. «

»Aber was hat das alles zu bedeuten?« fragte Ralph. »Was soll das ganze Geschwätz?«

»Wenn du deine Bibel gelesen hast«, sagte Glen, »dann wirst du wissen, daß es für die Propheten Tradition war, von Zeit zu Zeit in die Wildnis zu gehen - die Magical Mystery Tour des Alten Testaments. Die Zeitspanne für solche Vergnügungsreisen wird gewöhnlich mit vierzig Tagen und vierzig Nächten angegeben. Damit meinten die Hebräer: >Kein Mensch weiß, wie lange er weg war, aber es muß sehr lange gewesen sein.< Erinnert dich das an jemanden?«

»Ja, an Mutter«, sagte Ralph.

»Jetzt stell dir mal vor, du wärst eine Batterie. Du bist nämlich in Wirklichkeit eine. Dein Gehirn funktioniert auf der Basis chemisch umgewandelter elektrischer Ströme. Übrigens funktionieren deine Muskeln ähnlich - eine Acetylcholin genannte Chemikalie läßt diese winzigen elektrischen Aufladungen frei, wenn du dich bewegen mußt, und wenn du die Bewegung steuern willst, wird eine weitere Chemikalie hergestellt, die sogenannte Cholinesterase. Sie zerstört das Acetylcholin, und deine Nerven leiten dann nicht mehr richtig. Das ist auch gut so, denn sonst würdest du dir einmal die Nase reiben und könntest nie mehr damit aufhören. Okay, es geht darum: Alles, was du denkst, und alles, was du tust, wird von deiner Batterie gespeist. Wie das Zubehör in einem Auto.«

Alle hörten aufmerksam zu.

»Ob man fernsieht, Bücher liest, sich mit Freunden unterhält oder ein gutes Essen zu sich nimmt... alles geht von dieser Batterie aus. Ein normales Leben - wenigstens in dem, was früher die westliche Zivilisation war - glich der Fahrt in einem Wagen mit elektrisch verstellbaren Fenstern und Sitzen, mit Servobremsen und Servolenkung und wie alle diese schönen Dinge heißen. Aber je mehr von diesen schönen Dingen man hat, um so weniger kann die Batterie aufladen. Stimmt's?«

»Ja«, sagte Ralph. »Selbst eine große Delco-Batterie wird nie überladen, wenn sie in einem Cadillac steckt.«

»Okay. Wir haben uns also sozusagen des Zubehörs entledigt, um unsere Batterien zu entlasten. Jetzt werden wir wieder aufgeladen.«

»Wenn man eine Autobatterie zu lange auflädt«, sagte Ralph besorgt, »kann sie explodieren.«

»Ja«, stimmte Glen zu. »Und so ist es auch bei den Menschen. Man wirft die Dinge ab, bis nichts mehr da ist. Die Bibel berichtet uns von Jesaja und Hiob und den anderen, aber sie sagt nicht, wie viele Propheten geistesgestört aus der Wildnis zurückgekehrt sind, weil sie Visionen hatten. Es muß einige gegeben haben. Aber ich habe einen gesunden Respekt vor menschlicher Intelligenz und der menschlichen Psyche, wenn es auch gelegentlich geistig Zurückgebliebene gibt wie diesen Ost-Texaner hier...«

»Laß mich aus dem Spiel, Platte«, knurrte Stu.

»Wie dem auch sei, die Kapazität des menschlichen Verstands ist weitaus größer als die der größten Delco-Batterie. Er läßt sich fast unendlich stark aufladen. In einigen Fällen vielleicht noch darüber hinaus.«

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her und dachten darüber nach.

»Verändern wir uns?« fragte Stu leise.

»Ja«, antwortete Glen. »Ja, ich glaube schon.«

»Wir haben Gewicht verloren«, sagte Ralph. »Das sehe ich schon, wenn ich euch nur anschaue. Und ich, ich hatte früher einen gewaltigen Bierbauch. Jetzt kann ich wieder meine Zehen sehen. Ja, ich sehe fast den ganzen Fuß.«

»Es hat mit der Geistesverfassung zu tun«, sagte Larry plötzlich und wirkte für einen Augenblick ein wenig verlegen, aber er fuhr fort: »Ich habe dieses Gefühl schon seit einer Woche, ich habe es nur nicht verstanden. Vielleicht verstehe ich es jetzt besser. Es ist, als hätte ich einen Joint mit superstarkem Shit geraucht oder als hätte ich Kokain geschnupft. Ich fühle mich high. Aber ich habe nicht dieses Gefühl der Desorientierung, das man bei Rauschgift hat. Wenn man Stoff nimmt, hat man das Gefühl, daß man nicht mehr normal denken kann, aber jetzt kann ich besser denken als je zuvor. Aber ich fühle mich noch immer high.« Larry lachte. »Vielleicht liegt es auch nur am Hunger.«

»Der Hunger gehört dazu«, sagte Glen. »Aber er ist es nicht allein.«

»Ich habe immer Hunger«, sagte Ralph, »aber das scheint nicht mehr so wichtig zu sein. Ich fühle mich gut.«

»Ich auch«, sagte Stu. »Körperlich habe ich mich schon seit Jahren nicht mehr so gut gefühlt.«

»Wenn man das Gefäß ausleert, wird man gleichzeitig die ganze Scheiße los, die darin herumschwimmt«, sagte Glen. »Die Zusätze.

Die Verunreinigungen. Dann fühlt man sich natürlich gut. Es ist ein Klistier für den ganzen Körper und für den ganzen Geist.«

»Du hast so eine ausgefallene Art, die Dinge auszudrücken, Glatzkopf.«

»Es mag nicht elegant sein, aber es stimmt.«

»Wird es uns bei ihm helfen?« wollte Ralph wissen.

»Nun«, sagte Glen. »Dafür ist es gedacht. Daran zweifle ich kaum. Aber das werden wir wohl abwarten müssen.«

Sie gingen schweigend weiter. Kojak kam aus den Sträuchern seitlich der Straße und trottete eine Weile neben ihnen her; seine Krallen klickten auf dem Asphalt der US 70. Larry beugte sich vor und kraulte das Fell des Hundes. »Guter alter Kojak«, sagte er.

»Hast du gewußt, daß du eine Batterie bist? Nichts weiter als eine große alte Delco-Batterie mit lebenslanger Garantie?«

Kojak schien es weder zu wissen, noch schien es ihn zu interessieren, aber er wedelte mit dem Schwanz, um zu zeigen, dass er auf Larrys Seite war.




Sie schlugen ihr Nachtlager etwa fünfzehn Meilen westlich von Sego auf, und als sollte ihnen das, worüber sie sich am Nachmittag unterhalten hatten, in Erinnerung gerufen werden, stellten sie fest, daß ihnen die Essensvorräte ausgegangen waren - zum ersten Mal, seit sie Boulder verlassen hatten. Glen goß den letzten Rest des Instantkaffees auf, und sie tranken ihn aus einem Becher, den sie von Hand zu Hand reichten. Auf den letzten zehn Meilen hatten sie nicht einen einzigen Wagen gesehen.

Am nächsten Morgen, dem Zweiundzwanzigsten, stießen sie auf einen umgestürzten Ford-Kombi, in dem sich vier Leichen befanden, darunter zwei kleine Kinder. Im Wagen fanden sie zwei Schachteln Cracker in Tierform und eine Familienpackung schaler, halb verdorbener Kartoffelchips. Die Cracker waren in appetitlicherem Zustand. Sie teilten sie in fünf gleiche Portionen auf.

»Schling sie nicht so runter, Kojak«, mahnte Glen. »Böser Hund! Wo bleiben deine guten Manieren? Und falls du überhaupt keine Manieren hast - wie ich jetzt aus deinem Verhalten schließe -, wo bleibt dein savoir-faire

Kojak wedelte wild mit dem Schwanz und beäugte Glens Cracker auf eine Art und Weise, die ziemlich eindeutig erkennen ließ, daß er weder savoir-faire noch Manieren besaß.

»Dann friß oder stirb«, sagte Glen und warf ihm den letzten seiner Cracker hin, der die Form eines Tigers besaß. Kojak schlang ihn hinunter und zog schnüffelnd von dannen.

Auch Larry hatte seinen Zoo - etwa zehn Tiere - langsam und genüßlich verspeist. »Ist euch schon mal aufgefallen«, sagte er, »daß diese Tiercracker einen leichten Beigeschmack von Zitrone haben? Das war schon so, als ich noch ein kleiner Junge war. Hab' mich erst jetzt wieder daran erinnert.«

Ralph, der seine beiden letzten Cracker von einer Hand in die andere geworfen hatte, steckte nun einen davon in den Mund. »Ja, stimmt. Die schmecken tatsächlich nach Zitrone. Wißt ihr, irgendwie wünschte ich mir, der alte Nicky wäre hier. Hätte mir nichts ausgemacht, wenn mein Anteil dafür etwas kleiner ausgefallen wäre.«

Stu nickte. Sie beendeten die Mahlzeit und setzten ihren Weg fort. Am Nachmittag stießen sie auf einen liegengebliebenen Truck der Great-Western-Market-Ladenkette, dessen Fahrtziel offensichtlich Green River gewesen war. Der Laster stand ordentlich neben der Fahrbahn auf der Standspur geparkt; der Fahrer saß kerzengerade und tot hinter dem Steuer. Als Abendbrot gab es Schinken aus der Büchse, aber keiner von ihnen schien rechten Appetit zu haben. Ihre Mägen seien geschrumpft, erklärte Glen. Stu sagte, seiner Meinung nach rieche der Schinken schlecht - nicht verdorben, sondern zu streng, zu fleischig. Ihm wurde fast übel. Er bekam nur eine einzige Scheibe herunter. Ralph sagte, er hätte jetzt lieber noch zwei oder drei Schachteln Tiercracker, und alle lachten. Selbst Kojak fraß nur ein kleines Stück, bevor er sich davonmachte, um irgendeinem Geruch zu folgen.

An dem Abend kampierten sie östlich vom Green River, und in den frühen Morgenstunden fiel ein erster Hauch von Schnee.




Am Dreiundzwanzigsten kurz nach Mittag erreichten sie die Auswaschung. Der Himmel war den ganzen Tag bedeckt gewesen, und es war kalt - kalt genug, meinte Stu, daß es Schnee geben könnte - viel Schnee und nicht bloß einen Schauer.

Die Vier standen oben am Rand, Kojak neben Glen, und schauten hinunter und zur anderen Seite. Irgendwo nördlich von hier mußte ein Damm gebrochen sein, oder es hatte eine Reihe von schweren Sommergewittern gegeben. Jedenfalls mußte der Fluß über die Ufer getreten sein, obwohl er sonst alle paar Jahre austrocknete. Das Wasser hatte ein großes Stück aus der I-70 herausgerissen. Der Abhang war ungefähr fünfzehn Meter tief, die Böschung bestand aus lockerer Erde, Geröll und Sedimentgestein. Unten floß träge ein schmaler Wasserlauf.

»Heiliges Kanonenrohr«, sagte Ralph. »Man sollte die Straßenbaubehörde des Staates Utah anrufen.«

Larry zeigte mit dem Finger. »Seht euch das an«, sagte er.

Sie blickten in die von Larry gewiesene Richtung, wo sich seltsame, von Wind und Wetter geformte Felssäulen und Monolithen erhoben. Etwa hundert Meter flußabwärts sahen sie im Flußbett des San Rafael ein Gewirr von Leitplanken und Kabeln und große Asphaltbrocken von der Straße. Ein großes Stück ragte wie ein apokalyptischer Finger in den bewölkten Himmel.

Glen blickte den geröllübersäten Abhang hinunter. Er hatte die Hände in den Taschen, und sein Gesicht zeigte einen verträumten Ausdruck.

»Schaffst du es, Glen?« fragte Stu leise.

»Sicher, ich glaub' schon.«

»Was macht die Arthritis?«

»Es war schon schlimmer.« Er lächelte gequält. »Aber, um ehrlich zu sein, es war auch schon besser.«

Sie hatten kein Seil mehr, mit dem sie einander hätten absichern können.

Stu stieg als erster hinab; er bewegte sich ganz vorsichtig. Ihm gefiel es überhaupt nicht, wie der Boden an manchen Stellen unter seinen Füßen nachgab und Steine und Erde sich lösten und herunterpolterten. Einmal hatte er schon Angst, den Halt zu verlieren und auf dem Hintern bis nach unten zu rutschen. Aber er konnte sich an einem Felsvorsprung festhalten und hatte dann wieder festen Boden unter den Füßen. Dann sprang Kojak munter an ihm vorüber. Er trat kaum Erde los, und einen Moment später stand er schon unten und bellte freundlich zu Stu hoch.

»Dieser verdammte angeberische Köter«, knurrte Stu und ging vorsichtig weiter, bis er unten war.

»Ich komme als nächster«, rief Glen. »Ich habe genau gehört, was du zu meinem Hund gesagt hast!«

»Sei vorsichtig, alter Junge. Sei verdammt vorsichtig! Es ist wirklich lose unter den Füßen.«

Glen stieg ganz langsam nach unten. Vorsichtig bewegte er sich von einem festen Halt zum anderen. Stu schrak jedesmal zusammen, wenn sich unter Glens Füßen Erdreich löste. Wie feines Silber wehten Glen die Haare im aufkommenden Wind um die Ohren. Dabei fiel Stu ein, daß Glens Haar noch ziemlich dunkel gewesen war, als er ihn kennenlernte, während Glen gerade an einer Straße in New Hampshire ein mittelmäßiges Bild malte.

Stu war sicher, daß Glen jeden Moment abstürzen und in zwei Hälften brechen würde. Er war erst beruhigt, als Glen mit beiden Füßen auf dem schlammigen Boden am Grund des Abhangs stand.

Stu seufzte vor Erleichterung und klopfte Glen auf die Schulter.

»Ich habe nicht einmal geschwitzt, Ost-Texaner«, sagte Glen und bückte sich, um Kojak zu streicheln.

»Ich um so mehr«, sagte Stu.

Ralph kam als nächster, kletterte vorsichtig von einem Halt zum anderen und sprang die letzten zwei Meter. »Junge«, sagte er. »Die Scheiße ist tatsächlich verdammt lose. Es wäre verdammt komisch, wenn wir auf der anderen Seite nicht mehr raufkämen und vier oder fünf Meilen flußabwärts gehen müßten, um eine flachere Uferböschung zu suchen, stimmt's?«

»Es wäre noch komischer, wenn wieder eine Überschwemmung käme, während wir noch suchen«, sagte Stu.

Larry stieg behende nach unten. Drei Minuten nachdem die anderen ihren Abstieg begonnen hatten, stand er schon neben ihnen. »Wer steigt zuerst hoch?« fragte er.

»Warum tust du es nicht, wo du es doch so gut kannst?« fragte Glen.

»Okay.«

Er brauchte für den Aufstieg wesentlich länger, und zweimal gab der trügerische Boden nach, und er wäre fast abgestürzt. Aber endlich war er oben und winkte den anderen zu.

»Wer ist der nächste?« fragte Ralph.

»Ich«, sagte Glen und ging zur anderen Seite hinüber. Stu nahm ihn am Arm. »Hör zu«, sagte er. »Wir können stromaufwärts gehen und eine flachere Stelle suchen, wie Ralph schon sagte.«

»Und den Rest des Tages verlieren? Als Junge wäre ich in vierzig Sekunden oben gewesen.«

»Du bist kein Junge mehr, Glen.«

»Nein, aber ich glaube, etwas von dem Jungen ist noch in mir.«

Bevor Stu noch etwas sagen konnte, hatte Glen den Aufstieg schon begonnen. Als er ein Drittel geschafft hatte, rastete er einen Augenblick. Dann stieg er weiter. Etwa auf der Hälfte der Strecke gab ein Felsbrocken nach, an dem er sich festhalten wollte, und Stu sah ihn schon mitsamt seiner Arthritis kopfüber den Hang herunterstürzen.

»Verdammte Scheiße...«, flüsterte Ralph.

Glen ließ die Arme herumwirbeln, und irgendwie gelang es ihm, die Balance zu halten. Er warf sich nach rechts und stieg wieder etwa fünf oder sechs Meter nach oben. Dann rastete er erneut. Als er fast oben war, löste sich ein Stein, auf dem er gestanden hatte, und er wäre den ganzen Hang hinuntergestürzt, wäre nicht Larry zur Stelle gewesen. Er packte Glens Arm und zog ihn herauf.

»Kleinigkeit«, rief Glen nach unten.

Stu grinste erleichtert. »Und dein Pulsschlag?«

»Über neunzig, glaube ich«, gab Glen zu.

Ralph erkletterte den Hang bedächtig wie eine Bergziege und prüfte vorher jeden Halt. Er setzte die Füße mit größter Vorsicht. Als er oben angekommen war, begann Stu den Aufstieg.

Bis zum Augenblick seines Sturzes fand Stu, daß dieser Hang tatsächlich nicht ganz so steil wie der andere war. Hier hatte man auch besseren Halt. Aber die Oberfläche war eine Mischung aus kreidigem Boden und Felsbrocken, der sich durch die Regenfälle stark gelockert hatte. Stu hatte böse Vorahnungen und stieg ebenfalls sehr vorsichtig hoch.

Er hatte mit der Brust schon die obere Kante erreicht, als ein Stein unter seinem linken Fuß plötzlich verschwand. Er spürte, daß er abrutschte. Larry griff nach seiner Hand, aber diesmal packte er ins Leere. Stu versuchte, sich an einem Stück Straßenkante festzuhalten, aber es brach ab. Er starrte das Stück Asphalt verblüfft an, noch während er immer schneller nach unten glitt. Er ließ es los und kam sich vor wie der Coyote in einem Roadrunner-Comic. Fehlt nur noch das »Wumm!« in der Zeichnung, wenn ich unten aufschlage, schoß es ihm durch den Kopf.





Er stieß mit dem Knie gegen etwas, und ein brennender Schmerz schoß ihm durch das Bein. Er versuchte sich am Hang festzuhalten, der jetzt mit erschreckender Geschwindigkeit an ihm vorbeiglitt, aber er erwischte nur eine Handvoll Schlamm.


Er schlug auf einem Felsbrocken auf, der wie eine große stumme Pfeilspitze aus dem losen, brüchigen Gestein ragte, und überschlug sich. Der Aufprall war so heftig, daß ihm die Luft wegblieb. Die nächsten drei Meter stürzte er in freiem Fall und traf in einem unglücklichen Winkel mit dem Bein auf. Er hörte es knacken. Der Schmerz war unerträglich. Er schrie laut auf, dann machte er einen Salto rückwärts und rutschte mit dem Gesicht durch den Dreck. Scharfe Kiesel kratzten ihm Gesicht und Arme blutig. Wieder landete er auf seinem verletzten Bein, und er hörte es an einer anderen Stelle brechen. Diesmal schrie er nicht. Diesmal brüllte er. Die letzten Meter schlitterte er auf dem Bauch, wie ein Kind auf einer schmierigen Rutschbahn. Völlig mit Schlamm bedeckt, blieb er liegen, und er hörte seinen Herzschlag in den Ohren dröhnen. Die Schmerzen in seinem Bein brannten wie Feuer. Seine Jacke und sein Hemd waren bis auf die Haut zerfetzt und durchgescheuert.

Gebrochen. Aber wie schlimm? Ziemlich schlimm, so wie es sich anfühlt. Mindestens an zwei Stellen gebrochen, wenn nicht an mehr. Und auch das Knie ist verletzt.

Dann kam Larry den Hang herab. Er kam in langen Sprüngen, die fast wie Hohn wirkten nach dem, was Stu erlitten hatte. Larry kniete sich neben Stu und stellte die Fragen, die Stu sich schon selbst gestellt hatte.

»Wie schlimm ist es, Stu?«

Stu stützte sich auf die Ellenbogen und blickte Larry an, das Gesicht noch weiß vor Entsetzen und von Schlamm verdreckt.

»Ich schätze, ich werde in drei Monaten wieder gehen können«, sagte er. Er hatte das Gefühl, als ob er sich übergeben müßte. Er schaute zum wolkenverhangenen Himmel auf, ballte die Fäuste und schüttelte sie.

»OH, SCHEISSE!« brüllte er.




Ralph und Larry schienten ihm das Bein. Glen holte eine Flasche »Arthritispillen«, wie er sie nannte, aus der Tasche und gab Stu eine. Stu wußte nicht, woraus die »Arthritispillen« bestanden, und Glen wollte es ihm nicht sagen, aber die Schmerzen in seinem Bein waren nach einiger Zeit nur noch wie ein entferntes Summen. Er war jetzt ganz ruhig, sogar heiter. Er mußte daran denken, daß sie alle nur von geborgter Zeit lebten, nicht, weil sie auf dem Weg zu Flagg waren, sondern schon deshalb, weil sie Captain Trips überlebt hatten. Jedenfalls wußte er, was zu tun war... und er würde dafür sorgen, daß es auch getan wurde.

Larry hatte gerade aufgehört zu sprechen, und die anderen warteten gespannt auf Stus Kommentar.

Er sagte nur ein Wort: »Nein.«

»Stu«, sagte Glen leise, »du verstehst nicht...«

»Ich verstehe. Ich sage nein. Keine Fahrt zurück nach Green River. Kein Seil. Kein Wagen. Das wäre gegen die Spielregeln.«

»Dies ist kein Spiel!« rief Larry. »Du würdest hier sterben!«


»Und ihr werdet höchstwahrscheinlich drüben in Nevada sterben. Und jetzt macht, daß ihr weiterkommt. Ihr habt noch vier Stunden Tageslicht. Es gibt keinen Grund, hier rumzutrödeln.«

»Wir werden dich hier nicht allein lassen«, sagte Larry.

»Genau das werdet ihr tun. Ich befehle es euch.«

»Nein. Ich habe jetzt das Kommando übernommen. Mutter hat gesagt, wenn dir etwas passiert...«

»...dann sollt ihr weitermachen.«

»Nein. Nein.« Larry blickte hilfesuchend Glen und Ralph an. Sie standen bekümmert da. Kojak saß in der Nähe, den Schwanz um die Pfoten geringelt, und beobachtete die vier.

»Hör zu, Larry«, sagte Stu. »Dieser ganze Ausflug basiert auf der Annahme, daß die alte Dame wußte, worüber sie redete. Wenn du das in Zweifel ziehst, setzt du alles aufs Spiel.«

»Ja, das stimmt«, sagte Ralph.

»Nein, das stimmt nicht, du Bauernlümmel«, sagte Larry, indem er wütend Ralphs breiten Oklahoma-Akzent nachahmte. »Es war nicht Gottes Wille, daß Stu hier abstürzen sollte. Nicht einmal der dunkle Mann hat etwas damit zu tun. Es war nur loser Dreck, weiter nichts, nur loser Dreck! Ich lasse dich hier nicht allein, Stu. Nie wieder lasse ich Menschen allein.«

»Doch. Wir werden ihn hier zurücklassen«, sagte Glen ruhig. Larry sah ihn ungläubig an, als wäre er gerade verraten und verkauft worden. »Und ich dachte, du bist sein Freund.«

»Das bin ich auch. Aber das spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.«

Larry lachte hysterisch und ging ein paar Schritte durc h den Schlamm. »Du bist verrückt! Weißt du das?«

»Nein, das bin ich nicht. Wir haben eine Vereinbarung getroffen. Wir standen um Mutter Abagails Totenbett herum und waren alle einverstanden. Das bedeutete mit ziemlicher Sicherheit unseren Tod, und das wußten wir. Wir haben alles genau verstanden, und jetzt werden wir uns an diese Vereinbarung halten.«

»Das will ich ja auch, verdammt noch mal!« rief Larry. »Ich meine, wir müssen ja nicht nach Green River laufen. Wir könnten uns einen Kombi besorgen, laden ihn ein und fahren weiter...«

»Wir sollen zu Fuß gehen«, sagte Ralph. Er zeigte auf Stu. »Er kann nicht gehen.«

»Richtig. Gut. Er hat sich das Bein gebrochen. Und was schlägst du vor? Sollen wir ihn wie ein Pferd erschießen?«

»Larry...«, setzte Stu an.

Bevor er noch ein Wort sagen konnte, packte Glen Larry am Hemd und riß ihn zu sich heran. »Wen versuchst du zu retten?« Seine Stimme war kalt und streng. »Stu oder dich selbst?«

Larry sah ihn an. Seine Mundwinkel zuckten.

»Es ist ganz einfach«, sagte Glen. »Wir können nicht bleiben... und er kann nicht gehen.«

»Ich weigere mich, das zu akzeptieren«, flüsterte Larry. Er war totenblaß.

»Es ist eine Prüfung«, sagte Ralph plötzlich. »Genau das ist es.«

»Vielleicht wird hier geprüft, ob du noch normal bist«, meinte Larry.

»Stimmt ab«, sagte Stu. »Ich bin dafür, daß ihr geht.«

»Ich auch«, sagte Ralph. »Es tut mir so leid, Stu. Aber wenn Gott über uns wacht, wird er vielleicht auch über dich wachen...«

»Ich kann es nicht«, sagte Larry.

»Du denkst überhaupt nicht an Stu«, sagte Glen. »Ich glaube, du versuchst irgend etwas in dir selbst zu retten. Aber diesmal, Larry, ist es richtig, jemanden allein zu lassen. Wir müssen es tun.«

Larry rieb sich langsam mit dem Handrücken über den Mund.

»Laßt uns wenigstens heute nacht hier bleiben«, sagte Larry. »Laßt uns noch einmal über alles nachdenken.«

»Nein«, sagte Stu.

Ralph nickte. Er wechselte einen Blick mit Glen, und dann holte Glen wieder seine Flasche mit »Arthritispillen« aus der Tasche und drückte sie Stu in die Hand. »Sie sind auf Morphiumbasis«, sagte er.

»Mehr als drei oder vier wirken wahrscheinlich tödlich.« Er sah Stu fest an. »Hast du kapiert, Ost-Texaner?«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Stu.

»Wovon redest du?« schrie Larry mit schriller Stimme. »Was, zum Teufel, willst du damit andeuten?«

»Weißt du das nicht?« fragte Ralph, und in seinem Tonfall lag so viel Verachtung, daß Larry eine Weile schwieg. Dann stand ihm plötzlich alles wieder vor Augen, mit alptraumhafter Geschwindigkeit, wie man von einem rasenden Karussell aus die Gesichter von Fremden vorüberziehen sieht: Tabletten, aufputschende und beruhigende. Rita, die tot und steif in ihrem Schlafsack liegt und aus deren Mund grünes Erbrochenes quillt, wie ein widerlicher Party-Scherz.

»Nein!« schrie er und versuchte, Stu die Flasche zu entreißen. Ralph packte ihn an der Schulter, und Larry wehrte sich.

»Laß ihn los«, sagte Stu. »Ich will mit ihm reden.« Ralph hielt ihn immer noch fest und sah Stu unsicher an. »Komm, laß ihn schon los.«

Ralph gehorchte, war aber bereit, sofort wieder zuzupacken.

»Komm her, Larry«, sagte Stu. »Setz dich mal hin.«

Larry ging zu ihm hinüber und hockte sich neben ihn. Er sah Stu kläglich an. »Das ist doch nicht richtig, Mann. Wenn jemand stürzt und sich das Bein bricht, dann... kann man doch nicht einfach weggehen und ihn sterben lassen. Weißt du das denn nicht? He, Mann...« Er berührte Stus Gesicht. »Bitte, denk doch mal nach.«

Stu nahm Larrys Hand und hielt sie fest. »Hältst du mich für verrückt?«

»Nein! Nein, aber...«

»Und findest du nicht auch, daß Leute, die bei Verstand sind, selbst entscheiden sollten, was sie tun wollen?«

»Oh, Mann«, sagte Larry und fing an zu weinen.

»Larry, du bist nicht betroffen. Ich will, daß du mit den anderen weitergehst. Wenn du je wieder aus Vegas zurückkommst, dann komm hier vorbei. Vielleicht schickt Gott mir einen Raben, der mich füttert. Das weiß man nicht. Ich habe mal in der Sonntagsbeilage gelesen, daß ein Mensch siebzig Tage lang ohne Nahrung auskommen kann, wenn er nur Wasser hat.«

»Schon lange vorher wird es hier Winter. Dann wirst du in drei Tagen an Unterkühlung gestorben sein, selbst wenn du nicht diese Pillen nimmst.«

»Das ist nicht deine Sache. Du hast damit nichts zu tun.«

»Schick mich nicht weg, Stu.«

»Ich schicke dich weg«, sagte Stu energisch.

»Was für eine Scheiße«, sagte Larry und stand auf. »Was wird Fran zu uns sagen, wenn sie erfährt, daß wir dich hier für die Ratten und die Bussarde liegengelassen haben?«

»Sie wird überhaupt nichts sagen, wenn du nicht nach drüben gehst und ihm die Fresse polierst. Auch Lucy nicht. Oder Dick Ellis. Oder Brad. Oder sonst jemand.«

»Okay«, sagte Larry. »Wir werden gehen. Aber erst morgen. Heute nacht werden wir hier unser Lager aufschlagen, und vielleicht haben wir einen Traum... irgend etwas...«

»Keine Träume«, sagte Stu leise. »Keine Zeichen. So funktioniert es nicht. Ihr würdet eine Nacht lang bleiben, und es passiert nichts, und dann würdet ihr noch eine Nacht bleiben wollen, dann noch eine... ihr müßt sofort weiter.«

Mit gesenktem Kopf ging Larry zur Seite und drehte den anderen den Rücken zu. »Okay«, sagte er schließlich, und er sprach so leise, daß seine Worte kaum zu verstehen waren. »Wir tun, was du sagst. Gott möge unseren Seelen gnädig sein.«

Ralph kam und kniete sich neben Stu. »Können wir dir irg end etwas mitbringen, Stu?«

Stu lächelte. »Ja. Alles, was Göre Vidal jemals geschrieben hat - die Bücher über Lincoln und Aaron Burr und diese Burschen. Die Schinken wollte ich schon immer lesen, und es sieht so aus, als hätte ich jetzt die Zeit dazu.«

Ralph lächelte verkniffen. »Tut mir leid, Stu. Da hab' ich wohl ein bißchen zuviel versprochen.«

Stu drückte ihm den Arm, und Ralph ging davon. Glen kam zu ihm. Auch er hatte geweint, und als er sich neben Stu setzte, kamen ihm schon wieder die Tränen.

»Hör auf zu heulen, Baby«, sagte Stu. »Mir wird schon nichts passieren.«

»Larry hat recht. Es ist nicht gut, was wir hier machen. Das kann man höchstens einem Pferd antun, das sich ein Bein gebrochen hat.«

»Du weißt, daß es anders nicht geht.«

»Ich glaube schon, aber wer weiß es wirklich? Wie fühlt sich das Bein an?«

»Im Moment habe ich keine Schmerzen.«

»Okay, du hast die Pillen.« Glen wischte sich mit dem Arm über die Augen. »Leb wohl, Ost-Texaner. Es war verdammt gut, dich zu kennen.«

Stu wandte sich ab. »Sag nicht Leb wohl, Glen. Sag bis bald. Du wirst wahrscheinlich diesen verdammten Hang nur halb raufkommen und wieder runterfallen. Dann können wir hier den ganzen Winter Karten spielen.«

»Bis bald trifft's wohl nicht«, sagte Glen. »Hast du nicht auch das Gefühl?«

Und weil er es hatte, wandte Stu Glen wieder sein Gesicht zu. »Ja, das habe ich«, sagte er, und dann lächelte er. »Aber wir fürchten uns nicht vor dem Bösen, stimmt's?«

»Stimmt«, sagte Glen. Seine Stimme war jetzt ein heiseres Flüstern.

»Zieh den Stöpsel raus, wenn es sein muß, Smart. Quäl dich nicht lange herum.«

»Nein.«

»Also dann... leb wohl.«

»Leb wohl, Glen.«

Die drei versammelten sich am Westhang, und nach einem letzten Blick zurück stieg Glen als erster nach oben. Mit wachsender Besorgnis beobachtete Stu seinen Aufstieg. Glen bewegte sich lässig, fast sorglos, und achtete kaum darauf, wohin er trat. Zweimal bröckelte der Boden unter ihm weg. Beide Male griff er nach irgendeinem Halt, und beide Male hatte er Glück. Als er die obere Kante erreicht hatte, stieß Stu einen hörbaren Seufzer der Erleichterung aus.

Ralph stieg als nächster hoch, und als er oben angekommen war, rief Stu Larry ein letztes Mal zu sich heran. Er schaute Larry ins Gesicht und überlegte, daß es eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem Gesicht des verblichenen Harold Lauder hatte - bemerkenswert ruhig, mit aufmerksamen und ein wenig mißtrauischen Augen. Ein Gesicht, das nichts verriet, es sei denn, es wollte etwas verraten.

»Du hast jetzt das Kommando«, sagte Stu. »Kommst du damit zurecht?«

»Ich weiß nicht, aber ich will es versuchen.«

»Du wirst schon die richtigen Entscheidungen treffen.«

»Glaubst du? Sieht so aus, als wäre meine erste Entscheidung abgewiesen worden.« Jetzt spiegelte sich in seinen Augen eine Regung: Vorwurf.

»Ja, aber bei diesem einen Mal wird es bleiben. Hör zu - seine Leute werden euch erwischen.«

»Ja. Das werden sie wahrscheinlich. Entweder werden sie uns erwischen oder aus irgendeinem Hinterhalt wie Hunde abknallen.«

»Ich glaube eher, daß sie euch greifen und zu ihm bringen werden. Ich denke, das wird schon in den nächsten Tagen geschehen. Wenn du Vegas erreichst, halte die Augen offen. Warte. Es wird kommen.«

»Was wird kommen? Was, Stu?«

»Ich weiß nicht. Das, weswegen man uns hergeschickt hat. Was immer es sein mag. Halte dich bereit. Damit du es vorher weißt.«

»Wir werden zu dir zurückkommen. Wenn wir es nur irgend schaffen. Das weißt du.«

»Ja, okay.«

Rasch stieg Larry den Hang hinauf, wo die anderen schon auf ihn warteten. Sie blieben noch einen Augenblick stehen und winkten hinunter. Auch Stu hob grüßend die Hand. Dann gingen sie. Und keiner von ihnen sollte Stu Redman je wiedersehen.

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