12
In der Ecke des Salons stand eine Großvateruhr. Frannie Goldsmith hatte ihr ganzes Leben lang ihr gemessenes Tick und Tack gehört. Die Uhr faßte das ganze Zimmer zusammen, das Frannie nie gemocht hatte und das sie, an Tagen wie heute, regelrecht haßte.
Ihr Lieblingszimmer im ganzen Haus war die Werkstatt ihres Vaters. Sie war im Schuppen, der Haus und Scheune verband. Man gelangte durch eine kleine Tür hinein, die kaum höher als einen Meter sechzig war und halb hinter dem Holzofen in der Küche verborgen lag. Schon die Tür war toll: klein und fast versteckt, genau die nervenkitzelnde Art von Tür, die man in Märchen und FantasyGeschichten fand. Als Frannie älter und größer wurde, mußte sie sich bücken, genau wie ihr Vater - ihre Mutter ging nur dann in die Werkstatt, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ. Es war eine Tür wie aus Alice im 'Wunderland, und eine Zeitlang war ihr Lieblingsspiel, das sie sogar vor ihrem Vater verheimlichte, so zu tun, als ob sie eines Tages, wenn sie die Tür aufmachte, dahinter nicht mehr Peter Goldsmiths Werkstatt finden würde. Statt dessen würde sie einen unterirdischen Gang finden, der irgendwie vom Wunderland nach Hobbingen führen würde: ein niedriger, aber irgendwie gemütlicher Tunnel mit abgerundeten Erdmauern und einer Erddecke mit einem dichten Geflecht von Wurzeln, an denen man sich teuflisch den Kopf stoßen konnte, wenn man nicht aufpaßte. Ein Tunnel, der nicht nach nassem Boden und Feuchtigkeit und häßlichen Insekten und Würmern roch, sondern nach Zimt und gebackenem Apfelkuchen, ein Gang, der in der Küche von Beutelsend enden würde, wo Herr Bilbo Beutlin gerade seinen einundelfzigsten Geburtstag feierte...
Nun, der gemütliche Tunnel war nie dagewesen, aber der Frannie Goldsmith, die in diesem Haus groß geworden war, hatte die Werkstatt (die von ihrem Vater manchmal »Geräteschuppen« und von ihrer Mutter manchmal »die schmutzige Bude, wo dein Vater zum Biertrinken hingeht« genannt wurde) immer gereicht. Seltsame Werkzeuge und merkwürdige Gerätschaften. Eine riesige Kommode mit tausend Schubladen, und jede einzelne der tausend gerammelt voll. Nägel, Schrauben, Nieten, Schmirgelpapier (drei Sorten: rauh, rauher, am rauhesten), Hobel, Wasserwaagen und viele andere Gegenstände, die sie damals so wenig wie heute gekannt hatte. In der Werkstatt war es dunkel, abgesehen von einer 40-Watt-Birne voll Spinnweben, die am Kabel herunterhing, und dem grellen Lichtkreis der Tensor-Lampe, die stets dorthin gerichtet war, wo ihr Vater gerade arbeitete. Es roch nach Staub und Öl und Pfeifenrauch, und heute schien ihr, als müßte es eine Grundregel geben: jeder Vater mußte rauchen. Pfeife, Zigarre, Zigaretten, Marihuana, Hasch, Salatblätter, irgendwas. Denn der Geruch von Rauch schien integraler Bestandteil ihrer eigenen Kindheit zu sein.
Gib mir den Schraubenschlüssel, Frannie. Nein - den kleinen. Was hast du heute in der Schule gemacht?... Hat sie das wirklich?... Aber warum sollte Ruth Sears dich schubsen ? ...ja, schlimm. Ziemlich schlimmer Kratzer. Aber er paßt gut zur Farbe deines Kleides, findest du nicht? Wenn du doch nur Ruth Sears finden und dazu bringen könntest, dich noch mal zu schubsen, damit du dir das andere Bein aufschürfst. Dann hättest du ein Paar. Gib mir den großen Schraubenzieher, ja?... Nein, den mit dem gelben Griff.
»Frannie Goldsmith! Du kommst auf der Stelle aus diesem schmutzigen Loch heraus und ziehst deine Schulsachen aus! AUF DER ... STELLE! Du machst alles schmutzig!«
Auch heute noch, mit einundzwanzig, konnte sie sich unter dieser Tür hindurchducken, zwischen der Werkbank und dem alten BenFranklin-Ofen stehen, der im Winter diese unerträgliche Hitze abgab, und sich erinnern, wie es gewesen war, so eine kleine Frannie Goldsmith zu sein, die in diesem Haus aufwuchs. Es war ein illusorisches Gefühl, in das sich fast immer Trauer um ihren Bruder Fred mischte, dessen eigene Kindheit so brutal und unwiederbringlich beendet worden war. Sie konnte dastehen und das Öl riechen, das in alles eingezogen war, den Staub, den schwachen Geruch der Pfeife ihres Vaters. Sie konnte sich kaum noch erinnern, wie es gewesen war, so klein zu sein, so seltsam klein, aber hier draußen gelang es ihr manchmal, und es war immer ein schönes, glückliches Gefühl.
Aber jetzt der Salon.
Der Salon.
Wenn die Werkstatt das Schöne der Kindheit verkörperte, symbolisiert durch den Phantomgeruch von ihres Vaters Pfeife (manchmal hatte er ihr behutsam Rauch ins Ohr gepustet, wenn sie Ohrenschmerzen hatte, aber immer erst, nachdem er ihr das Versprechen abgenommen hatte, daß sie Carla nichts sagen würde, die einen Schreikrampf bekommen hätte), dann war der Salon alles in der Kindheit, das man zu vergessen wünschte. Sprich nur, wenn du gefragt wirst. Kaputtmachen ist leichter als reparieren! Geh auf der Stelle nach oben und zieh dich um, weißt du nicht, daß sich das nicht gehört? Denkst du eigentlich nie nach? Frannie, hör auf, an deinem Kleid herumzuzupfen, die Leute glauben ja, du hast Flöhe. Was sollen Onkel Andrew und Tante Arlene von dir denken? Ich habe mich deinetwegen fast zu Tode geschämt! Im Salon war einem der Mund verboten, im Salon juckte es einen und man durfte nicht kratzen, im Salon herrschten diktatorische Befehle, langweilige Unterhaltungen, Verwandte, die einen in die Wangen kniffen, Schmerzen, Niesen, das man nicht herausniesen durfte, Husten, den man nicht heraushusten konnte, und vor allem anderen Gähnen, das man nicht gähnen durfte.
Zentrum dieses Zimmers, wo der Geist ihrer Mutter vorherrschte, war die Uhr. Sie war im Jahre 1889 von Tobias Downes, Carlas Großvater, gebaut worden, und sie hatte fast auf der Stelle den Status eines Familienerbstücks bekommen, war über Jahre hinweg weitergereicht und stets sorgfältig verpackt und versichert worden, wenn sie von einem Landesteil zum anderen verschickt wurde (entstanden war sie ursprünglich in Buffalo, New York, in der Werkstatt von Tobias, einem Schuppen, der zweifellos genauso verraucht und schmutzig gewesen war wie Peters Werkstatt, auch wenn Carla eine diesbezügliche Bemerkung niemals hätte gelten lassen); und manchmal war sie von einem Zweig der Familie zu einem anderen gelangt, wenn Krebs, Herzschlag oder ein Unfall einen Ast des Familienstammbaums abgesägt hatten. In diesem Salon stand sie, seit Peter und Carla Goldsmith vor einunddreißig Jahren in dieses Haus gezogen waren, zwei Jahre vor Freds Geburt und zehn Jahre vor Frannies Geburt. Hier war sie aufgestellt worden, und hier war sie geblieben, hatte getickt und Segmente einer vertrockneten Zeit gemessen. Eines Tages würde die Uhr ihr gehören, wenn sie sie wollte, überlegte Frannie, während sie in das weiße, schockierte Gesicht ihrer Mutter sah. Aber ich will sie nicht!
Ich will sie nicht und werde sie nicht nehmen!
In diesem Zimmer standen Trockenblumen unter Glasglocken. In diesem Zimmer lag ein mausgrauer Teppich mit staubigen rosa Rosen im Rand. Ein hübsches Rundbogenfenster, aus dem man den Hügel hinab zur Route 1 sehen konnte, mit einer hohen Ligusterhecke zwischen Straße und Grundstück. Carla hatte ausgiebig und giftig mit ihrem Mann gemeckert, bis er die Hecke gepflanzt hatte, nachdem die Exxon-Tankstelle an der Ecke eröffnet hatte. Kaum war sie gepflanzt, meckerte sie mit ihm, er solle sie schneller wachsen lassen. Frannie dachte, daß sie sogar radioaktiven Kunstdünger akzeptiert hätte, hätte er diesem Zweck gedient. Je größer die Hecke geworden war, desto mehr hatte ihr Meckern hinsichtlich des Ligusters nachgelassen, und Frannie vermutete, in zwei Jahren oder so, wenn die Hecke so hoch gewachsen war, daß sie die störende Tankstelle verdeckte und im Salon wieder heile Welt herrschte, würde das Meckern ganz aufhören.
Jedenfalls über dieses Thema.
Blumentapete, große grüne Blätter und rosa Blüten, ähnlich gefärbt wie die Rosen auf dem Teppich. Frühe amerikanische Möbel und eine dunkle Doppeltür aus Mahagoni. Ein Kamin, der lediglich Vorführzwecken diente, wo ewig ein Birkenstamm auf dem roten Backsteinboden lag, der ewig makellos war und nicht einmal ein Fleckchen Ruß aufwies. Frannie vermutete, der Stamm dürfte inzwischen so trocken sein, daß er wie Zunder brennen würde, sollte man ihn anzünden. Über dem Stamm hing ein Topf, der so groß war, daß man fast ein Baby darin baden konnte. Er war ein Erbstück von Frannies Urgroßmutter und hing ewig aufgehängt über dem ewigen Birkenstamm. Über dem Kaminsims hing, um das Bild abzurunden, die ewige Steinschloßflinte.
Segmente einer vertrockneten Zeit.
Eine ihrer frühesten Erinnerungen war an den mausgrauen Teppich mit den staubigrosa Rosen im Rand. Sie war vielleicht drei und noch nicht lange sauber, und wegen Unfallgefahr war ihr höchstens zu besonderen Anlässen gestattet, sich im Salon aufzuhalten. Aber irgendwie war sie hineingelangt, und als sie ihre Mutter sah, die nicht nur lief, sondern sich regelrecht überschlug, um sie wieder herauszuholen, bevor das Unvorstellbare geschehen konnte, war das Unvorstellbare eben geschehen. Sie konnte den Urin nicht mehr halten, und als ihre Mutter den wachsenden Flecken sah, der aus dem Mausgrau unter ihren Füßen ein dunkleres Schiefergrau machte, hatte sie tatsächlich gekreischt. Der Flecken war schließlich wieder rausgegangen, aber nach wieviel geduldigem Schrubben? Der Herr mochte es wissen; Frannie Goldsmith nicht. In diesem Salon hatte ihre Mutter grimmig, explizit und ausführlich mit ihr geredet, nachdem sie Frannie und Norman Burstein erwischt hatte (deren Kleidungsstücke in einem einzigen unordentlichen Haufen auf einem Heuballen lagen), wie sie sich gegenseitig untersuchten. Wie würde es ihr gefallen, hatte Carla gefragt, während die Großvateruhr ernst Segmente der vertrockneten Zeit wegtickte, wenn sie mit der splitternackten Frannie auf der U.S. Route 1 Spazierengehen würde? Wie wäre das? Frannie, damals sechs, hatte geweint, aber irgendwie die Hysterie vermieden, die diese Vorstellung mit sich brachte.
Mit zehn war sie mit dem Fahrrad gegen den Briefkastenpfosten gefahren, während sie über die Schulter sah und Georgette McGuire etwas zurief. Sie hatte eine Schnittwunde am Kopf, Nasenbluten, zwei aufgeschürfte Knie und hatte vor Schreck tatsächlich ein paar Sekunden das Bewußtsein verloren gehabt. Als sie wieder zu sich kam, stolperte sie den Weg zum Haus entlang und weinte vor Schrecken, weil soviel Blut aus ihr floß. Sie wäre zu ihrem Vater gegangen, aber da ihr Vater arbeiten war, stolperte sie ins Wohnzimmer, wo ihre Mutter Mrs. Venner und Mrs. Prynne Tee servierte. Hinaus! hatte ihre Mutter geschrien, und im nächsten Augenblick war sie aufgesprungen, zu Frannie gelaufen, hatte sie umarmt und gerufen: O Frannie, meine Güte, was ist denn passiert? Deine arme Nase! Aber sie führte Frannie in die Küche, wo man ungestört auf den Boden bluten konnte, während sie sie tröstete, und Frannie vergaß nie, daß ihre ersten Worte nicht O Frannie gewesen waren, sondern Hinaus ! Ihre erste Sorge galt dem Salon, wo die vertrocknete Zeit ewig währte und Blut nicht geduldet wurde. Vielleicht vergaß Mrs. Prynne das auch nie, denn Frannie hatte durch die Tränen den erschrockenen, schockierten Gesichtsausdruck der Frau gesehen. Nach diesem Tag waren Mrs. Prynnes Besuche äußerst selten geworden.
Im ersten Jahr der Junior High School hatte sie eine schlechte Note in Betragen bekommen, und sie war selbstverständlich in den Salon gebeten worden, um sich mit ihrer Mutter über diese schlechte Note zu unterhalten. Im letzten Jahr der Senior High School war sie dreimal suspendiert worden, weil sie Spickzettel weitergegeben hatte, und auch darüber hatte sie sich mit ihrer Mutter im Salon unterhalten. Dort hatten sie sich über Frannies Pläne für die Zukunft unterhalten, die am Ende immer ein wenig unzulänglich gewirkt hatten; dort hatten sie sich über Frannies Hoffnungen unterhalten, die am Ende immer ein wenig wertlos gewirkt hatten; dort hatten sie sich über Frannies Beschwerden unterhalten, die am Ende immer ungebührlich gewirkt hatten, ganz zu schweigen von quengelig, heulsusig und undankbar.
In diesem Salon stand der Sarg ihres Bruders auf dem Leichenwagen, bedeckt mit Rosen, Chrysanthemen und Lilien aus dem Tal, deren Duft das Zimmer erfüllte, während in der Ecke die ungerührte Uhr stand und Abschnitte der Zeit in einem Zeitalter der Dürre wegtickte.
»Du bist schwanger«, wiederholte Carla Goldsmith zum zweiten Mal.
»Ja, Mutter.« Ihre Stimme war trocken, aber sie leckte sich nicht die Lippen. Statt dessen preßte sie sie zusammen. Sie dachte: In der Werkstatt meines Vaters ist ein kleines Mädchen mit einem roten Kleid, das immer dort sein wird, lacht und sich unter dem Tisch versteckt, wo der Schraubstock festgeklammert ist, oder das hinter der Kommode mit den tausend Schubladen sitzt und die schorfigen Knie an die Brust drückt. Dieses Mädchen ist sehr, sehr glücklich. Aber im Salon meiner Mutter ist ein viel kleineres Mädchen, das nicht anders kann und auf den Teppich pinkelt wie ein ungezogener Hund. Wie eine böse kleine Welpe. Und auch sie wird immer dasein, wie sehr ich mir auch wünschen mag, sie wäre nicht da.
»O Frannie«, sagte ihre Mutter, die sehr hastig sprach. Sie legte eine Hand an die Wange wie eine vor den Kopf gestoßene altjüngferliche Tante. »Wie konnte das passieren?«
Jesses Frage. Das erboste sie richtig; genau dieselbe Frage, die er gestellt hatte.
»Du hast selbst zwei Kinder gehabt, Mutter, du dürftest wissen, wie es passiert ist.«
»Werd nicht frech!« schrie Carla. Sie riß die Augen weit auf und versprühte das glühende Feuer, das Frannie als Kind immer Entsetzen eingeflößt hatte. Sie sprang so schnell auf, wie es ihre Art war (und auch das hatte Frannie als Kind immer entsetzt), eine große Frau mit Haar, das langsam grau wurde, fein säuberlich hochgesteckt und onduliert und frisiert war, eine große Frau im grünen Kleid und faltenlosen beigen Strümpfen. Sie ging zum Kamin, wohin sie immer ging, wenn sie sich sehr aufregte. Dort, unter der Flinte, lag ein gewaltiges Album. Carla war eine Art Amateurgenealogin, und ihre ganze Familie war in diesem Buch... jedenfalls bis ins Jahr 1638 zurück, als der früheste nachweisbare Vorfahre lange genug aus der anonymen Londoner Masse aufgetaucht war, daß er in sehr alten Kirchenchroniken als Merton Downs, Freimaurer, geführt wurde. Der Stammbaum ihrer Familie war vor vier Jahren in The New England Genealogist veröffentlicht worden - Carla selbst war die Verfasserin.
Jetzt berührte sie dieses Buch fürsorglich aufgelisteter Namen, sicherer Boden, wo niemand eindringen konnte. Waren da drinnen irgendwo Diebe, fragte sich Frannie. Keine Alkoholiker? Keine ledigen Mütter?
»Wie konntest du deinem Vater und mir so etwas antun?« fragte sie schließlich. »War es dieser Jesse?«
»Es war Jesse. Jesse ist der Vater.«
Carla zuckte zusammen, als sie das Wort hörte.
»Wie konntest du nur?« wiederholte Carla. »Wir haben uns größte Mühe gegeben, dich richtig zu erziehen. Dies ist einfach... einfach...«
Sie legte die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen.
»Wie konntest du nur?« schrie sie erneut. »Ist das der Dank, nach allem, was wir für dich getan haben? Daß du hinausgehst und... und... es mit einem Jungen treibst wie eine läufige Hündin? Du ungezogenes Gör! Du ungezogenes Gör!«
Sie löste sich in Tränen auf, lehnte sich an den Kamin, um sich zu stützen, hielt eine Hand vor die Augen und strich mit der anderen unablässig über den grünen Stoff, mit dem das Album bespannt war. Die Großvateruhr tickte derweil gleichgültig.
»Mutter...«
»Sei still! Du hast genug gesagt!«
Frannie stand steif auf. Ihre Beine fühlten sich an wie Holz, aber das konnten sie nicht sein, weil sie zitterten. Auch in ihren Augen standen jetzt Tränen, aber sollten sie nur; sie wollte sich nicht noch einmal von diesem Zimmer besiegen lassen. »Ich gehe jetzt.«
»Du hast an unserem Tisch gegessen!« schrie Carla sie plötzlich an.
»Wir haben dich geliebt... dich unterstützt... und das haben wir jetzt davon. Ungezogenes Gör! Ungezogenes Gör!«
Frannie, vor Tränen fast blind, stolperte. Sie stieß mit dem rechten Fuß an ihren linken Knöchel. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel mit ausgebreiteten Armen hin. Sie schlug den Kopf am Kaffeetisch an und stieß mit einer Hand eine Blumenvase auf den Teppich. Die Vase zerschellte nicht, aber Wasser floß gluckernd heraus und verwandelte Mausgrau in Schiefergrau.
»Sieh dir das an!« kreischte Carla fast triumphierend. Die Tränen hatten schwarze Ringe unter ihre Augen gemalt und Spuren durch das Make-up gezogen. Sie sah entstellt und halb von Sinnen aus.
»Sieh dir das an, du hast den Teppich ruiniert, den Teppich deiner Großmutter...«
Sie saß benommen auf dem Boden und hielt sich den Kopf, weinte immer noch und wollte ihrer Mutter sagen, daß es nur Wasser war, aber inzwischen war sie vollkommen entnervt und nicht mehr sicher. War es nur Wasser? Oder Urin? Was?
Carla Goldsmith bewegte sich wieder mit der ihr eigenen unheimlichen Geschwindigkeit, riß die Vase hoch und hielt sie Frannie entgegen. »Was hast du als nächstes vor, Fräulein? Hast du vor, hierzubleiben? Glaubst du, wir ernähren dich und lassen dich hier wohnen, damit du es mit jedem in der Stadt treiben kannst? Wahrscheinlich. Aber nein! Nein! Das dulde ich nicht. Das dulde ich nicht!«.
»Ich will nicht hierbleiben«, murmelte Frannie. »Hast du das ernsthaft geglaubt?«
»Und wohin willst du? Zu ihm? Das bezweifle ich.«
»Wahrscheinlich zu Bobbi Rengarten in Dorchester oder zu Debbie Smith in Somersworth.« Frannie nahm sich langsam zusammen und stand auf. Sie weinte immer noch, wurde allmählich aber auch wütend. »Nicht, daß es dich etwas angehen würde.«
»Mich nichts angehen?« wiederholte Carla, die immer noch die Vase hielt. Ihr Gesicht war aschfahl. »Mich nichts angehen? Du undankbares kleines Flittchen!«
Sie schlug Frannie, und zwar fest. Frannies Kopf wurde nach hinten geschleudert. Sie hörte auf, ihn zu reiben, strich sich statt dessen über die Wange und sah ihre Mutter fassungslos an.
»Das ist der Dank dafür, daß wir dich auf eine gute Schule geschickt haben«, sagte Carla, die die Zähne zu einem unbarmherzigen und furchteinflößenden Grinsen entblößt hatte. »Jetzt wirst du nie deinen Abschluß machen. Wenn du ihn geheiratet hast...«
»Ich werde ihn nicht heiraten. Und ich werde das Studium nicht aufgeben. «
Carlas Augen wurden groß. Sie sah Frannie an, als hätte diese den Verstand verloren. »Wovon redest du? Eine Abtreibung? Möchtest du auch noch zur Mörderin werden, nicht nur zur Hure?«
»Ich werde das Kind bekommen. Ich muß das Frühjahrssemester ausfallen lassen, aber ich kann es nächsten Sommer beenden.«
»Und wovon willst du es beenden? Von meinem Geld? Wenn du das glaubst, mußt du dir etwas anderes überlegen. Ein modernes Mädchen wie du braucht wohl kaum die Unterstützung ihrer Eltern, oder?«
»Unterstützung könnte ich brauchen«, sagte Frannie leise. »Geld... nun, ich werde zurechtkommen.«
»Du hast nicht das kleinste bißchen Schamgefühl! Du denkst einzig und allein an dich selbst!« brüllte Carla. »Mein Gott, was du deinem Vater und mir nur antust! Es wird deinem Vater das Herz brechen und...«
»Mein Herz ist nicht gebrochen.« Peter Goldsmiths ruhige Stimme drang von der Tür herein, und sie drehten sich beide um. Er stand unter der Tür, aber nicht im Zimmer; seine Stiefelspitzen waren genau dort, wo der Teppichboden des Salons dem billigeren der Diele wich. Frannie dachte, daß sie ihn dort schon oft gesehen hatte. Wann hatte er den Salon zum letzten Mal betreten? Sie konnte sich nicht erinnern.
»Was machst du denn hier?« fauchte Carla und dachte plötzlich nicht mehr an den Schaden, den das Herz ihres Mannes davontragen mochte. »Ich dachte, du würdest heute nachmittag länger arbeiten.«
»Ich habe die Schicht mit Harry Masters gewechselt«, sagte Peter.
»Fran hat es mir schon gesagt, Carla. Wir werden Großeltern.«
»Großeltern!« kreischte sie. Sie stieß ein häßliches, verwirrtes Lachen aus. »Überlaß das mir. Sie hat es dir zuerst gesagt, und du hast es mir verschwiegen. Na gut. Ich habe nichts anderes von euch erwartet. Aber jetzt mache ich diese Tür zu, und wir beide machen es unter uns aus.«
Sie lächelte Frannie voll funkelnder Bösartigkeit an.
»Nur wir... Mädchen.«
Sie legte die Hand auf den Knauf der Salontür und schob sie zu. Frannie sah immer noch benommen zu und konnte den plötzlichen Wut- und Giftausbruch ihrer Mutter kaum begreifen.
Peter streckte langsam und widerwillig die Hand aus und hielt die Tür auf halbem Weg fest.
»Peter, ich verlange, daß du das mir überläßt.«
»Das weiß ich. Früher habe ich es auch immer dir überlassen. Aber diesmal nicht, Carla.«
»Das ist nicht deine Sache.«
Er antwortete ruhig: »Doch.«
»Daddy...«
Carla drehte sich zu ihr um, ihr aschfahles Gesicht war mittlerweile über den Wangenknochen rot tätowiert. »Sprich nicht mit ihm!« schrie sie. »Heute hast du es nicht mit ihm zu tun! Ich weiß, du hast ihn immer für deine verrückten Hinfalle begeistern oder süßholzraspelnd auf deine Seite bringen können, was du auch getan hast, aber heute hast du es nicht mit ihm zu tun!«
»Sei still, Carla.«
»Geh raus!«
»Ich bin nicht drinnen. Du siehst d...«
»Verspotte mich nicht! Hinaus aus meinem Salon!«
Damit drückte sie gegen die Tür, senkte den Kopf und preßte mit den Schultern, bis sie wie ein seltsamer Stier in menschlicher, weiblicher Gestalt aussah. Er hielt ihr anfangs mühelos stand, dann mit mehr Anstrengung. Schließlich standen ihm die Nackenmuskeln vor, obwohl sie siebzig Pfund weniger wog als er.
Frannie wollte sie anschreien, daß sie aufhörten, wollte ihrem Vater sagen, daß er wegging, damit sie beide Carla nicht so sehen mußten, die plötzliche und irrationale Verbitterung, die unterschwellig immer da gewesen war, sie jetzt aber völlig überwältigt hatte. Aber ihr Mund war starr, seine Scharniere offenbar eingerostet.
»Hinaus! Hinaus aus meinem Salon! Hinaus! Hinaus! Hinaus! Du elender Drecksack, laß die verdammte Tür los und GEH RAUS!«
Da schlug er sie.
Es war ein schwacher, fast unbedeutender Laut. Die Großvateruhr zerfiel nicht entrüstet zu Staub, als sie ihn hörte, sondern tickte einfach weiter, wie sie es immer getan hatte, seit sie gebaut worden war. Das Mobiliar stöhnte nicht auf. Aber Carlas wütende Worte verstummten, als wären sie mit dem Skalpell abgeschnitten worden. Sie fiel auf die Knie, und die Tür schwang ganz auf und stieß leise polternd gegen den hohen viktorianischen Stuhl mit den selbstgestickten Polstern.
»Nein, o nein«, sagte Frannie mit betroffener, leiser Stimme. Carla hielt eine Hand an die Wange und sah zu ihrem Mann auf.
»Das ist schon seit zehn Jahren oder länger fällig«, sagte Peter. Seine Stimme klang ein klein wenig unsicher. »Ich habe mir immer gesagt, daß ich es nicht mache, weil ich nicht zu denen gehöre, die Frauen schlagen. Immer noch nicht. Aber wenn jemand - Mann oder Frau - zum Hund wird und beißt, dann muß man ihn zur Vernunft bringen. Ich wünschte nur, Carla, ich hätte schon früher den Mut dazu aufgebracht. Wäre für uns beide nicht so schmerzhaft gewesen.«
»Daddy...«
»Still, Frannie«, sagte er mit geistesabwesender Strenge, und sie verstummte.
»Du sagst, daß sie egoistisch ist«, sagte Peter, der immer noch in das starre, schockierte Gesicht seiner Frau sah. »Dabei bist du diejenige. Du hast dich nicht mehr um Frannie gekümmert, seit Fred gestorben ist. Da hast du dir überlegt, daß es zu sehr weh tut, sich um jemanden zu kümmern, und hast beschlossen, nur noch für dich selbst zu leben. Und das hast du hier drinnen gemacht, immer und immer und immer wieder. In diesem Zimmer. Du hast dich deiner toten Familie gewidmet und den Teil vergessen, der noch lebt. Und ich wette, als Frannie hier hereinkam und dir gesagt hat, sie ist in Schwierigkeiten, dich um deine Hilfe gebeten hat, da hast du dir als erstes überlegt, was die Damen vom Blumen-und-Garten-Club wohl dazu sagen werden und ob du jetzt nicht zu Amy Lauders Hochzeit kannst. Schmerz ist ein Grund, sich zu ändern, aber aller Schmerz der Welt ändert nichts an den Tatsachen. Du bist egoistisch gewesen.«
Er streckte die Hand aus und half ihr hoch. Sie stand auf wie eine Schlafwandlerin. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht; die Augen waren immer noch groß und fassungslos. Die Unbarmherzigkeit stand noch nicht wieder darin, aber Frannie dachte düster, daß sie mit der Zeit schon zurückkehren würde. Ganz bestimmt.
»Es ist meine Schuld, weil ich es zugelassen habe. Weil ich keinen Ärger wollte. Weil ich keinen Staub aufwirbeln wollte. Weißt du, ich war auch egoistisch. Und als Fran zur Schule ging, da dachte ich mir: Gut, jetzt kann Carla machen, was sie will, und es wird nur ihr selbst weh tun, und wenn jemand nicht weiß, daß er jemandem weh tut, dann ist dem vielleicht auch nicht so. Ich habe mich geirrt. Ich habe mich schon häufig geirrt, aber noch nie so verheerend wie diesmal.« Er streckte sanft, aber mit großer Kraft die Hand aus und ergriff Carlas Schultern. »Also, ich sage dir das jetzt als dein Mann: Wenn Frannie eine Bleibe braucht, dann kann sie hier wohnen, wie immer. Wenn sie Geld braucht, bekommt sie es von mir - wie immer. Und wenn sie sich entschließt, das Baby zu bekommen, dann wirst du dafür sorgen, daß sie ein schönes Fest bekommt. Du denkst vielleicht, niemand kommt, aber sie hat Freunde, gute Freunde, und die werden kommen. Und ich will dir noch was sagen. Wenn sie es taufen lassen will, dann wird es hier getauft werden. Hier in diesem von Gott verfluchten Salon.«
Carlas Mund war aufgeklappt, und jetzt brachte sie einen Laut heraus. Zuerst hörte er sich beängstigend wie das Pfeifen eines Teekessels auf einer heißen Herdplatte an. Dann wurde es zu einem durchdringenden Wimmern.
»Peter, dein eigener Sohn lag in diesem Zimmer in seinem Sarg!«
»Ja. Und eben darum kann ich mir keinen besseren Ort vorstellen, ein neues Leben zu taufen«, sagte er. »Freds Blut. Lebendes Blut. Fred, der ist seit fünfzehn Jahren tot, Carla. Er ist schon lange zu Futter für die Würmer geworden.«
Sie schrie los und hielt die Hände auf die Ohren. Er beugte sich nieder und zog ihre Hände weg.
»Aber die Würmer haben nicht deine Tochter und das Baby deiner Tochter. Es ist unwichtig, wie es empfangen wurde; es lebt. Du benimmst dich, als wolltest du sie aus dem Haus jagen, Carla. Und was hättest du dann? Nur noch dieses Zimmer und einen Mann, der dich haßt für das, was du getan hast. Wenn du das tust - dann hätten damals ebensogut alle drei sterben können, ich und Carla und Fred.«
»Ich will nach oben, mich hinlegen«, sagte Carla. »Mir ist schlecht. Ich lege mich besser hin.«
»Ich helfe dir«, sagte Frannie.
»Rühr mich nicht an. Bleib bei deinem Vater. Ihr beiden scheint das ja bestens eingefädelt zu haben. Ihr werdet mich in der Stadt unmöglich machen. Warum ziehst du nicht einfach in meinen Salon, Frannie? Wirf Dreck auf meinen Teppich, nimm Asche aus dem Herd und schütte sie in die Uhr. Warum nicht? Warum nicht?«
Sie fing an zu lachen und drängte sich an Peter vorbei in die Diele. Sie schwankte wie eine Betrunkene. Peter wollte ihr einen Arm um die Schulter legen. Sie fletschte die Zähne und fauchte ihn an wie eine Katze.
Während sie langsam die Treppe hinaufging, wurde ihr Gelächter zu Schluchzen, und sie mußte sich auf das Mahagonigeländer stützen; das Schluchzen hatte etwas Herzzerreißendes, Hilfloses an sich, so daß Frannie schreien und sich gleichzeitig übergeben wollte. Das Gesicht ihres Vaters hatte die Farbe schmutziger Bettwäsche. Oben drehte sich Carla um und schwankte so heftig, daß Frannie einen Moment fürchtete, sie würde stolpern und herunterstürzen. Sie sah sie an, als wollte sie etwas sagen, aber dann drehte sie sich wieder um. Einen Augenblick später dämpfte die Schlafzimmertür die Laute ihres Kummers und Schmerzes.
Frannie und Peter sahen einander bestürzt an, und die Großvateruhr tickte gleichgültig weiter.
»Das renkt sich wieder ein«, sagte Peter ruhig. »Sie fängt sich wieder.«
»Glaubst du wirklich?« fragte Frannie. Sie ging langsam zu ihrem Vater und lehnte sich an ihn; er legte den Arm um sie. »Ich glaube es nicht.«
»Vergiß es. Wir wollen jetzt nicht daran denken.«
»Ich sollte gehen. Sie will mich nicht hier haben.«
»Du solltest bleiben. Du solltest hier sein, wenn - falls sie sich besinnt und feststellt, daß sie dich immer noch hier braucht.« Pause.
»Ich jedenfalls brauche dich, Fran.«
»Daddy«, sagte sie und legte den Kopf an seine Brust. »O Daddy, es tut mir so leid, so furchtbar leid...«
»Still«, sagte er und strich ihr übers Haar. Er konnte über ihren Kopf hinweg das Licht der Abendsonne sehen, das staubig durch die Bogenfenster hereinfiel, wie immer, golden und still, so wie Licht in Museen und Leichenhallen fällt. »Still, Frannie. Ich hab' dich lieb. Ich hab' dich lieb.«