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Als die Uhr über der Tür im Büro des Sheriffs zweiundzwanzig Minuten vor neun zeigte, ging das Licht aus.
Nick Andros las ein Taschenbuch, das er vom Regal im Drugstore genommen hatte, einen Schauerroman über eine verängstigte Gouvernante, die dachte, daß es auf dem einsamen Anwesen, wo sie die Söhne ihres hübschen Dienstherrn unterrichten sollte, nicht geheuer sei und spukte. Obwohl er nicht einmal die Hälfte des Buches gelesen hatte, wußte Nick schon, daß es sich bei dem Gespenst in Wirklichkeit um die Frau des hübschen Dienstherrn handelte, die höchstwahrscheinlich auf dem Dachboden eingesperrt war und vollkommen plemplem war.
Als das Licht ausging, spürte er, wie sein Herz in der Brust einen Schlag aussetzte und eine Stimme tief aus seinem Inneren, wo die Alpträume warteten, die ihn mittlerweile jedesmal heimsuchten, wenn er schlief, flüsterte: Er kommt zu dir... er ist schon da draußen, auf den Highways der Nacht... den versteckten Highways... der dunkle Mann...
Er legte das Taschenbuch auf den Tisch und ging auf die Straße hinaus. Der letzte Rest Tageslicht war noch nicht vom Himmel verschwunden, aber die Dämmerung war fast vorbei. Alle Straßenlaternen waren dunkel. Das Neonlicht im Drugstore, das Tag und Nacht gebrannt hatte, war ebenfalls erloschen. Auch das gedämpfte Summen der Verteilerkästen auf den Strommasten war verstummt; Nick fand das heraus, indem er eine Hand an einen hielt und nur Holz spürte. Die Vibration, die ihm in diesem Fall das Gehör ersetzte, hatte aufgehört.
In der Vorratsschublade des Büros waren Kerzen, eine ganze Schachtel, aber der Gedanke an Kerzen tröstete Nick nicht sonderlich. Die Tatsache, daß die Lichter ausgegangen waren, hatte ihn schwer getroffen, und jetzt stand er nur da, sah nach Westen und flehte das Licht stumm an, es möge ihn nicht im Stich und in diesem dunklen Friedhof allein lassen.
Aber das Licht schwand. Gegen zehn nach neun konnte Nick nicht einmal mehr so tun, als wäre noch ein schwacher Streif am Horizont, daher ging er ins Büro zurück und tastete sich zu dem Schrank, wo die Kerzen verwahrt wurden. Er kramte in der Schublade nach der richtigen Schachtel, als die Tür hinter ihm aufgestoßen wurde und Ray Booth mit schwarzem, aufgedunsenem Gesicht und dem LSU-Ring am Finger hereingetaumelt kam. Seit dem Abend des 22. Juni, vor einer Woche, hatte er sich in den Wäldern am Stadtrand versteckt. Am Morgen des 24. hatte er sich krank gefühlt, und heute abend schließlich hatten ihn Hunger und Angst um sein Leben in die Stadt getrieben, wo er keinen Menschen mehr gesehen hatte, außer dem verfluchten Taubstummen, der ihn überhaupt erst in diese Klemme gebracht hatte. Der Taubstumme war über den Marktplatz stolziert und hatte sich aufgeplustert wie Billy-der-Verfluchte, als würde ihm die Stadt gehören, wo Ray sein ganzes Leben verbracht hatte, und er hatte die Waffe des Sheriffs an der rechten Hüfte im Halfter, das mit einem Lederband wie bei einem echten Revolvermann am Schenkel gesichert war. Vielleicht dachte er ja wirklich, daß ihm die Stadt gehörte. Ray ahnte, daß auch er bald an dem sterben würde, was offenbar alle anderen abgemurkst hatte, aber vorher wollte er dem elenden Krüppel zeigen, daß ihm ein Scheißdreck gehörte.
Nick stand mit dem Rücken zur Tür und hatte daher keine Ahnung, daß er nicht mehr allein im Büro des Sheriffs war, bis sich die Hände um seinen Hals legten und zudrückten. Die Schachtel, die er gerade gefunden hatte, fiel ihm aus den Händen, Wachskerzen zerbrachen und rollten überall auf dem Boden herum. Er war halb erdrosselt, ehe er den ersten Schrecken überwunden hatte und plötzlich zu der Gewißheit gelangte, daß die schwarze Kreatur aus seinen Träumen zum Leben erwacht war: Ein Dämon aus dem Keller der Hölle war hinter ihm her und hatte ihm, kaum war der Strom ausgefallen, die schuppigen Klauen um den Hals gelegt.
Dann legte er unwillkürlich, instinktiv, die eigenen Hände auf die, die ihn würgten, und versuchte sich zu befreien. Heißer Atem blies gegen sein rechtes Ohr und erzeugte einen Windtunnel dort, den er spüren, aber nicht hören konnte. Er konnte einmal keuchend Atem holen, bevor die Hände wieder zudrückten.
Die beiden wiegten sich in der Schwärze wie dunkle Tänzer. Ray Booth konnte spüren, wie ihn die Kräfte verließen, während der Bengel sich wehrte. Sein Kopf dröhnte. Wenn er den Taubstummen nicht rasch erledigte, würde er es nicht schaffen. Er drückte dem mageren Bürschchen mit aller verbliebenen Kraft den Hals zu. Nick spürte, wie die Welt davonglitt. Der Schmerz im Hals, der anfangs stechend gewesen war, war jetzt dumpf und weit entfernt - fast angenehm. Er trat mit dem Absatz fest auf einen Fuß von Booth und lehnte gleichzeitig das Gewicht gegen den großen Mann. Booth war gezwungen, einen Schritt zurückzuweichen. Er trat mit einem Fuß auf eine Kerze. Sie rollte unter ihm weg, und er krachte mit dem Rücken auf den Boden und Nick auf ihn. Er konnte die Hände nicht mehr halten.
Nick rollte sich weg, atmete in keuchenden Stößen. Alles schien weit entfernt zu schweben, abgesehen von den Schmerzen im Hals, die in langsamen, pochenden Schüben zurückgekehrt waren. Er konnte glitschiges Blut im Hals schmecken.
Der große, gebückte Schemen des Wesens, das ihn überfallen hatte, rappelte sich auf die Füße. Nick erinnerte sich an den Revolver und griff danach. Er war da, kam aber nicht aus dem Halfter. Er hatte sich irgendwie verhakt. Nick zerrte heftig und voller Panik daran. Ein Schuß löste sich. Die Kugel zuckte an seinem Bein entlang und knallte in den Boden.
Der Schemen kam über ihn wie ein Todesgott.
Der Atem wurde Nick explosionsartig aus der Brust gedrückt, dann griffen große, weiße Hände nach seinem Gesicht, die Daumen in Richtung seiner Augen gekrümmt. Nick sah an einer Hand etwas Purpurnes im schwachen Mondlicht funkeln, und in seiner Überraschung formte er mit dem Mund das Wort Booth in der Dunkelheit. Er zerrte mit der rechten Hand weiter an dem Revolver. Er spürte das heiße Brennen entlang seines Oberschenkels kaum. Ein Daumen von Ray Booth stieß in Nicks rechtes Auge. Unerträgliche Schmerzen funkelten und zerstoben in seinem Kopf. Endlich bekam er den Revolver frei. Booths Daumen, der Schwielen und Hornhaut von der Arbeit hatte, drehte sich heftig im Uhrzeiger- und Gegenuhrzeigersinn, Nicks Augapfel zu zermalmen.
Nick stieß einen unartikulierten Schrei aus, wenig mehr als ein heftiges Ausstoßen von Luft, und rammte den Revolver in Ray Booths schwammige Seite. Er drückte ab und spürte das gedämpfte Whump! der Waffe, das er als starken Rückstoß empfand, der ausschließlich in seinen Arm ging; die Kimme hatte sich in Ray Booths Hemd verhakt. Nick sah das Auflodern des Mündungsfeuers und roch einen Moment später Schießpulver und Booths verbranntes Hemd. Ray Booth erstarrte und sackte über ihm zusammen.
Nick schluchzte vor Schmerz und Entsetzen, stemmte sich gegen das Gewicht, das auf ihm lag, und Booths Leichnam fiel und glitt halb von ihm herunter. Nick kroch unter ihm hervor; eine Hand hielt er über das verletzte Auge. Er lag lange Zeit mit brennendem Hals auf dem Boden. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre eine riesige, unbarmherzige Schraubzwinge in seine Schläfe gedreht worden.
Schließlich tastete er um sich, fand eine Kerze und zündete sie mit dem Feuerzeug vom Schreibtisch an. In ihrem schwachen Licht konnte er Ray Booth mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegen sehen. Ray sah aus wie ein ans Ufer gespülter toter Wal. Die Kugel hatte in seinem Hemd einen schwarzen Kreis, etwa so gross wie ein Vierteldollarstück, hinterlassen. Und jede Menge Blut. Im unsicheren Flackern der Kerze erstreckte sich Booths Schatten riesig und formlos bis zur gegenüberliegenden Wand.
Nick torkelte stöhnend in das kleine Bad, ohne die Hand vom Auge zu nehmen, dann sah er in den Spiegel. Er sah Blut zwischen den Fingern hervortropfen und nahm die Hand widerwillig weg. Er war nicht sicher, dachte aber, daß er jetzt möglicherweise nicht nur taub und stumm, sondern auch noch einäugig war.
Er ging ins Büro zurück und trat mit dem Fuß gegen den leblosen Körper von Ray Booth.
Hast es mir gegeben, sagte er dem toten Mann. Erst meine Zähne, jetzt mein Auge. Bist du jetzt glücklich? Du hättest mir beide Augen genommen, wenn du gekonnst hättest, was? Hättest mir beide Auge genommen und mich taub, stumm und blind in einer Welt der Toten zurückgelassen. Wie schmeckt dir das, Junge?
Er trat Booth noch einmal, aber als er spürte, wie sich sein Fuß in das tote Fleisch grub, wurde ihm übel. Nach einer Weile zog er sich zur Pritsche zurück, setzte sich und barg den Kopf in den Händen. Draußen gewann die Dunkelheit die Oberhand. Draußen erloschen alle Lichter der Welt.