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Er wurde verrückt - Baby, don't you just know it?

Diese Zeile stammte von Huey »Piano« Smith, wo er gerade daran dachte. War lange her. Huey »Piano« Smith, wie ging das noch? Ahah-ah-ah, daaaay-o... guuba-guuba-guuba... ah-ah-ah-ah. Und so weiter. Witz, Weisheit und gesellschaftskritischer Kommentar von Huey »Piano« Smith.

»Scheiß auf den sozialkritischen Kommentar«, sagte er. »Huey >Piano< Smith war vor meiner Zeit.«

Jahre später hatte Johnny Rivers einen von Hueys Songs neu aufgenommen, »Rockin Pneumonia and the Boogie Woogie Flu«. Larry Underwood konnte sich noch gut daran erinnern und fand es der Situation sehr angemessen. Der gute alte Johnny Rivers. Der gute alte »Piano« Smith.

»Scheiß drauf«, bemerkte Larry noch einmal. Er sah schrecklich aus - ein bleiches, ausgezehrtes Phantom, das über einen Highway in Neuengland stolperte. »Es leben die Sechziger.«

Ja, die Sechziger, das waren noch Zeiten. Mitte der Sechziger, Ende der Sechziger, Flower Power. Gettin clean for Gene. Andy Warhol mit seiner Brille mit rosa Gestell und seinen dummen Brillo-Kartons. Velvet Underground. The Return of the Creature from Yorba Linda. Norman Spinrad, Norman Mailer, Norman Thomas, Norman Rockwell und der gute alte Name Norman Bates von Bates Motel, hihi-hi. Dylan brach sich das Genick. Barry McGuire krächzte »The Eye of Destruction«. Diana Ross hob das Bewußtsein aller weißen Jugendlichen in Amerika. Die vielen tollen Gruppen, dachte Larry benommen, gebt mir die Sechziger und schiebt euch die Achtziger in den Arsch. Wenn es um Rock' n' Roll ging, waren die sechziger Jahre das letzte Hurra der Goldenen Horde gewesen. Cream. Rascals. Spoonful. Airplane mit Grace Slick als Sängerin, Norman Mailer an der Leadgitarre und der gute alte Norman Bates am Schlagzeug. Beatles. Who. Dead...

Er stürzte und schlug mit dem Kopf auf.

Die Welt schwamm schwarz davon und kam in hellen Wellen zurück. Er strich sich mit der Hand über die Schläfe und sah einen dünnen Blutfilm daran. Spielte keine Rolle. Scheiß drauf, wie sie in den fernen, legendären Sechzigern zu sagen pflegten. Was waren schon ein Sturz und eine harmlose Kopfverletzung, wenn er daran dachte, daß er seit einer Woche kaum geschlafen hatte, immer wieder aus Alpträumen aufgewacht war und es schon als ruhige Nacht betrachtete, wenn ihm kein Schrei über die Lippen kam. Wenn man wirklich laut schrie und davon aufwachte, machte man sich selbst noch viel mehr Angst.

Träume vom Lincoln Tunnel. Jemand war hinter ihm her, aber in den Träumen war es nicht Rita. Es war der Teufel, und er schlich sich mit einem starren, dunklen Grinsen im Gesicht an Larry heran. Der schwarze Mann war nicht der wandelnde Tote; er war schlimmer als der wandelnde Tote. Larry lief und empfand dabei die langsame, zähe Panik von Alpträumen, stolperte über Leichen, die er nicht sah, wußte aber, daß sie ihn mit den glasigen Augen ausgestopfter Tiere aus den Grüften ihrer Autos anstarrten, er lief, aber welchen Sinn hatte es, zu laufen, wo doch der schwarze Teufel, der schwarze Zauberer, mit Augen wie Infrarotgläsern in der Dunkelheit sehen konnte? Und nach einer Weile gurrte der dunkle Mann ihm lockend zu: Komm Laarry, komm doch, gemeinsam schaffen wir eeees. Laaaarry...

Er spürte den Atem des schwarzen Mannes an der Schulter, und dann kämpfte er sich stets aus dem Schlaf hoch, versuchte, vor dem Schlaf zu fliehen, und der Schrei blieb ihm im Hals stecken wie ein heißer Knochen oder kam ihm tatsächlich über die Lippen - laut genug, um Tote zu wecken.

Tagsüber verschwand die Vision des dunklen Mannes. Der dunkle Mann arbeitete ausschließlich in Nachtschicht. Tagsüber machte Larry die große Einsamkeit zu schaffen und fraß sich mit den scharfen, spitzen Zähnen eines unermüdlichen Nagetiers in sein Gehirn - eine Ratte oder vielleicht ein Wiesel. Tagsüber waren seine Gedanken bei Rita. Lovely Rita, Motorradbraut. Immer wieder drehte er sie im Geiste herum, sah die verkniffenen Augen, die Augen eines Tieres, das überrascht und unter Schmerzen gestorben war, und den Mund, den er geküßt hatte und der jetzt voll abgestandener grüner Kotze war. Sie war so friedlich gestorben, in der Nacht, im selben verdammten Schlafsack, und jetzt war er am...

Tja, am Durchdrehen. Das war es doch, oder? Das geschah mit ihm. Er drehte durch.

»Durchdrehen«, krächzte er. »Du lieber Himmel, ich werd' bekloppt.«

Ein Teil von ihm, der sich noch einen gewissen Rest Vernunft erhalten hatte, bestätigte, daß das zutreffen konnte, aber momentan litt er lediglich unter den Folgen der Hitze. Nach Ritas Tod hatte er das Motorrad nicht mehr fahren können. Es war einfach unmöglich gewesen; wie eine geistige Sperre. Er sah immer wieder sein Blut über den Highway verschmiert. Darum hatte er die Maschine schließlich stehen lassen. Seither ging er zu Fuß - wie lange? Vier Tage? Acht? Neun? Er wußte es nicht. Es hatte seit zehn Uhr heute morgen schon um die dreißig Grad, jetzt war es fast vier, die Sonne war direkt hinter ihm, und er hatte keinen Hut auf. Er wußte nicht mehr, vor wie vielen Tagen er das Motorrad zurückgelassen hatte. Nicht gestern und wahrscheinlich auch nicht vorgestern (vielleicht, aber wahrscheinlich nicht), aber was spielte das schon für eine Rolle? Er war abgestiegen, hatte den Gang eingelegt, das Gas aufgedreht und die Kupplung losgelassen. Die Maschine hatte sich wie ein Derwisch aus seinen zitternden, kranken Händen gerissen und war irgendwo östlich von Concord bockend und sich aufbäumend in den Straßengraben der US 9 gerast. Er glaubte, der Name der Stadt, in der er sein Motorrad ermordet hatte, war Gossville gewesen, aber auch das spielte keine sonderliche Rolle. Tatsache war, das Motorrad hatte ihm nichts mehr genützt. Er hatte nicht mehr gewagt, schneller als fünfzehn Meilen die Stunde zu fahren, und selbst bei fünfzehn hatte er alptraumhafte Visionen gehabt, wie er über die Lenkstange geschleudert wurde und sich den Schädel brach oder um eine unübersichtliche Kurve fuhr, gegen einen umgestürzten LKW prallte und in einem Feuerball explodierte. Und nach einer Weile war das kotzbeschissene Warnlicht aufgeleuchtet: Mehr überhitzt, logisch, und ihm war fast gewesen, als hätte er das Wort FEIGLING in kleinen Buchstaben über der kleinen roten Plastikbirne lesen können - kein Witz. Hatte es Zeiten gegeben, als er ein Motorrad nicht nur als gegeben betrachtet, sondern sogar Spaß daran gehabt hatte, am Gefühl der Geschwindigkeit, wenn einem der Wind ins Gesicht rauschte und der Asphalt knappe zehn Zentimeter unter den Fußstützen dahinraste? Ja. Als Rita bei ihm gewesen war, bevor Rita sich in einen Mund voll grüner Kotze und ein paar Schlitzaugen verwandelt hatte, da hatte es ihm Spaß gemacht.

Er hatte das Motorrad über die Böschung in den unkrautüberwucherten Straßengraben rollen lassen und es hinterher angestarrt, von einer Art argwöhnischem Entsetzen erfüllt, als könnte das Ding irgendwie auferstehen und ihn zerschmettern. Komm schon, hatte er gedacht, komm schon und stell dich, Dreckstück. Aber das Motorrad gehorchte lange Zeit nicht. Es wütete und tobte lange Zeit hilflos unten im Straßengraben, das Hinterrad drehte sich vergebens, die gierige Kette verschlang das Laub des vergangenen Herbstes und spie braunen, bitter riechenden Staub aus. Blauer Rauch quoll aus dem verchromten Auspuffrohr. Schon damals war er so weit hinüber gewesen, daß er dachte, das Motorrad könnte etwas Übernatürliches an sich haben, könnte sich plötzlich aufrichten, aus seinem Grab auferstehen und ihn verschlingen... entweder das, oder er würde eines Nachmittags über die Schulter blicken, weil er anschwellenden Motorenlärm hörte, und sein Motorrad sehen, sein verdammtes Motorrad, das nicht einfach seinen Geist aufgab und mit Anstand starb, sondern den Highway entlang direkt auf ihn zugerast kam, mit achtzig Meilen, und über die Lenkstange würde sich dieser dunkle Mann beugen, dieser Unerbittliche, und hinter ihm auf dem Sozius, mit im Wind flatternden weißen Seidenhosen, würde Rita Blakemoor sitzen - kreidebleiches Gesicht, Schlitzaugen, Haar so trocken und tot wie ein Maisfeld im Winter. Aber dann endlich keuchte und hustete das Motorrad; Fehlzündungen peitschten wie Gewehrschüsse, und als der Motor endlich verstummt war, hatte er die Maschine betrachtet und war traurig gewesen, als hätte er einen Teil von sich selbst getötet. Ohne das Motorrad konnte er unmöglich einen ernstzunehmenden Angriff gegen die Stille unternehmen, und diese Stille war in gewisser Weise schlimmer als seine Angst vor dem Sterben oder, bei einem Unfall ernsthaft verletzt zu werden. Seither war er zu Fuß gegangen. Er war durch mehrere Kleinstädte entlang der Route 9 gekommen, in denen es Motorradgeschäfte gab und Vorführmodelle, bei denen die Schlüssel im Schloß steckten, aber wenn er sie zu lange betrachtete, tauchten die Visionen, wie er selbst in einer Blutlache am Straßenrand lag, in grellen, überzeichneten Technicolor-Farben vor seinem geistigen Auge auf, wie etwas aus einem jener gräßlichen, aber doch irgendwie faszinierenden HorrorFilme von Charles Band, in denen immerzu Menschen unter den Rädern riesiger Trucks starben oder aber als Opfer großer, namenloser Käfer, die in ihren warmen Eingeweiden ausgeschlüpft und gewachsen waren, bis sie sich schließlich in einem ekelerregenden Umherspritzen von Blut und Fleisch ins Freie fraßen. Und danach war er jedesmal weitergegangen und hatte blass und zitternd die Stille ertragen. Er war mit kleinen Schweißperlen auf Oberlippe und Schläfen weitergegangen.

Er hatte abgenommen - na und? Er schritt den ganzen Tag aus, jeden Tag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Er schlief nicht. Die Alpträume weckten ihn um vier; dann machte er seine Coleman-Lampe an, kauerte in ihrem Schein und wartete darauf, bis die Sonne aufgegangen war, damit er sich traute, weiterzuziehen. Er lief, bis es so dunkel war, daß man fast nichts mehr sehen konnte, und dann schlug er sein Lager mit der hastigen, verstohlenen Schnelligkeit eines geflohenen Sträflings auf. Wenn das Lager bereitet war, lag er bis spät in die Nacht wach und kam sich wie ein Mann vor, durch dessen Körper schätzungsweise zwei Gramm Kokain jagten. O Baby, shake, rattle and roll. Und wie ein Koksabhängiger, aß er auch kaum etwas; er hatte nie Hunger. Kokain steigert den Appetit nicht und Entsetzen auch nicht. Larry hatte seit der lange zurückliegenden Party in Kalifornien kein Koks mehr angerührt, aber Entsetzen verspürte er rund um die Uhr. Wenn ein Vogel im Wald krächzte, zuckte er zusammen. Wenn er den Todesschrei eines kleinen Tieres hörte, das Opfer eines größeren wurde, fuhr er jedesmal fast aus der Haut. Er war dünn geworden, dann mager, dann hager. Jetzt saß er auf einem metaphorischen (oder metabolischen) Zaun zwischen hager und ausgezehrt. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, der. sogar recht eindrucksvoll aussah, kräftig rot-golden, etwa zwei Schattierungen heller als sein Haar. Seine Augen lagen tief in den Höhlen; sie spähten daraus hervor wie kleine, verzweifelte Tiere, die in zwei nebeneinanderliegenden Schlangengruben gefangen waren.

»Durchdrehen«, stöhnte er wieder. Die gebrochene Verzweiflung seines trockenen Winseins entsetzte ihn. War es so schlimm geworden? Einst hatte es einen Larry Underwood mit einem bescheidenen Single-Hit gegeben, der Visionen hatte, zum Elton John seiner Zeit zu werden... meine Güte, wie Jerry Garcia darüber lachen würde... und dieser Mann war jetzt in das gebrochene Ding verwandelt worden, das irgendwo im südöstlichen New Hampshire über den schwarzen Asphalt der Route 9 kroch, ja, kroch, crawling kingsnake, das war er. Jener andere Larry Underwood hatte ganz sicher keine Ähnlichkeit mit diesem kriechenden Hosenscheißer... diesem...

Er versuchte aufzustehen, konnte es aber nicht.

»Mann, ist das 'ne lächerliche Scheiße«, sagte er halb lachend und halb weinend.

Auf einem Hügel auf der anderen Straßenseite, zweihundert Meter entfernt, lag ein großes weißes Farmhaus im Neuengland-Stil, einer wunderschönen Fata Morgana gleich. Es hatte grüne Läden, grüne Verzierungen und ein grünes Schindeldach. Davor befand sich ein grüner Rasen, der so allmählich ungepflegt auszusehen anfing. Am Ende des Rasens verlief ein kleiner Wassergraben; er konnte ihn gurgeln und blubbern hören, ein bezaubernder Laut. Daneben verlief mäanderförmig eine Steinmauer, die wahrscheinlich die Grundstücksgrenze markierte; in Abständen lehnten sich große, schattenspendende Ulmen über diese Mauer. Er würde seinen weltberühmten Crawling-Hosenscheißer-Jive dort hinüber machen und eine Weile im Schatten sitzen, ja, das würde er. Und wenn es ihm etwas besser ging... ganz allgemein... würde er aufstehen, zum Bach gehen, trinken und sich waschen. Wahrscheinlich stank er. Aber wen störte das? Wer konnte ihn riechen, wo Rita doch tot war? Lag sie immer noch dort oben im Zelt? fragte er sich zaghaft. Schwoll an? Beute für die Fliegen? Sah immer mehr wie die schwarzverfaulte Süßigkeit in der öffentlichen Toilette an der Transverse Number One aus? Himmel, Arsch, wo sollte sie denn sonst sein? In Palm Springs, mit Bob Hope Golf spielen?

»Was für ein Scheißdreck«, flüsterte er und kroch über die Straße. Er war sicher, wenn er erst einmal im Schatten war, würde er auch aufstehen können, aber die Anstrengung schien zu groß zu sein. Immerhin brachte er noch genügend Energie auf, um argwöhnisch in die Richtung zu sehen, aus der er gekommen war, ob sein Motorrad nicht auf ihn zugerast kam.

Im Schatten war es mindestens fünfzehn Grad kühler, und Larry stieß den Atem als langen Stoßseufzer der Freude und Erleichterung aus. Er griff sich mit der Hand in den Nacken, auf den die Sonne fast den ganzen Tag niedergebrannt hatte, und zog sie mit einem leisen Zischen des Schmerzes wieder weg. Sonnenbrand? Nehmen Sie Xylocaine. Und den ganzen anderen Pißkram. Holt die Kerle aus der heißen Sonne. Burn, baby, burn. Watts. Wißt ihr noch, Watts? Eins, zwei, drei, wieder mal wie einst im Mai. Die ganze Menschheit hatte sich verpißt. Kein Wunder, bei dieser Hitze.

»Mann, bist du krank?« sagte er, stützte die Hand an die rauhe Rinde der Ulme und schloß die Augen. Sonnengesprenkelte Schatten riefen bewegliche Muster in Rot und Schwarz auf den Innenseiten seiner Lider hervor. Das Geräusch des blubbernden, gurgelnden Wassers war lieblich und einlullend. Noch eine Minute, dann würde er dort runtergehen, trinken und sich waschen. Nur noch eine Minute.

Er döste ein.

Die Minuten zogen dahin, und aus dem Dösen wurde der erste tiefe und traumlose Schlaf seit Tagen. Er hatte die Hände schlaff im Schoß liegen. Seine dünne Brust hob und senkte sich, durch den Bart sah sein Gesicht noch hagerer aus, das bekümmerte Gesicht eines einsamen Flüchtlings, der einem gräßlichen Gemetzel entkommen war, jenseits der menschlichen Vorstellungskraft. Nach und nach wurden die tiefen Furchen in seinem Gesicht weicher. Er sank in weiten Spiralen zu den tiefsten Ebenen der Bewußtlosigkeit hinab und ruhte dort aus wie ein kleines Flußlebewesen, das im kühlen Schlamm den Sommer überdauert. Die Sonne sank tiefer am Himmel.

In der Nähe des Bachrands raschelte es in einem ausladenden Gebüsch - etwas bewegte sich verstohlen in den Zweigen, hielt inne, bewegte sich wieder. Nach einer Weile kam ein Junge heraus. Er war vielleicht dreizehn, vielleicht auch zehn und groß für sein Alter. Abgesehen von Fruit-of-the-Loom-Shorts war er nackt. Sein Körper war gleichmäßig mahagonifarben braungebrannt, abgesehen von einem verblüffend weißen Streifen gleich über dem Saum der Shorts. Seine Haut war von Moskitostichen und Insektenbissen verunziert, manche frisch, die meisten alt. Er hielt ein Schlachtermesser in der rechten Hand. Die Klinge war dreißig Zentimeter lang, die Schneide gezackt. Sie funkelte grell in der Sonne.

Leise, in den Hüften leicht nach vorne gebeugt, näherte er sich der Ulme und der Mauer, bis er direkt hinter Larry stand. Seine Augen waren blaugrün, die Farbe von Meerwasser, und in den Augenwinkeln leicht hochgezogen, was seinem Gesicht einen chinesischen Einschlag gab. In den ausdruckslosen Augen lag eine verhaltene Wildheit. Er hob das Messer.

Eine leise, aber bestimmte Frauenstimme sagte: »Nein.«

Er drehte sich zu ihr um und lauschte mit gesenktem Kopf und immer noch erhobenem Messer. Seine Haltung war fragend und enttäuscht zugleich.

»Wir beobachten nur und warten ab«, sagte die Frauenstimme. Der Junge machte eine Pause, sah vom Messer zu Larry und dann wieder zum Messer; auf seinem Gesicht lag ein seltsam sehnsüchtiger Ausdruck; dann wich er den Weg zurück, den er gekommen war.

Larry schlief weiter.




Als er aufwachte, stellte Larry als erstes fest, daß er sich gut fühlte. Als zweites, daß er Hunger hatte. Als drittes, daß die Sonne am falschen Ort stand; sie schien am Himmel rückwärts gewandert zu sein. Als viertes, daß er - bitte verzeihen Sie die Ausdrucksweise - pissen mußte wie ein Brauereipferd.

Als er aufstand und beim Strecken das Knacken seiner Sehnen hörte, wurde ihm plötzlich klar, daß er nicht nur gedöst hatte; er hatte die ganze Nacht geschlafen. Er blickte auf die Uhr und sah, warum die Sonne falsch stand. Es war 9 Uhr 20 am Vormittag. Hunger. In dem großen weißen Haus mußte es Lebensmittel geben. Dosensuppe, vielleicht Corned Beef. Sein Magen knurrte. Bevor er dorthin ging, legte er die Kleidung ab, kniete am Bach nieder und spritzte sich Wasser über den Körper. Er stellte fest, wie mager er geworden war - so ging das nicht weiter. Er stand auf, trocknete sich mit seinem Hemd ab und zog die Hose wieder an. Ein paar Steine streckten die nassen, schwarzen Rücken aus dem Bach heraus, auf ihnen ging er zur anderen Uferseite. Dort blieb er plötzlich starr stehen und blickte zu dem dichten Gebüsch hinüber. Die Angst, die seit dem Aufwachen in ihm geschlummert hatte, flammte plötzlich auf wie ein Feuer explodierender Tannenzapfen und erlosch genau so schnell wieder. Es mußte ein Eichhörnchen oder Waldmurmeltier gewesen sein, vielleicht auch ein Fuchs. Kein Grund zur Panik. Er wandte sich beruhigt wieder ab und ging über den Rasen zu dem großen weißen Haus hinauf.

Auf halbem Wege stieg ein Gedanke wie ein Luftbläschen zur Oberfläche seines Verstandes und zerplatzte. Es geschah ganz nebenbei, ohne Fanfarenstoß, aber er blieb dennoch vor Verblüffung wie angewurzelt stehen.

Der Gedanke war: Warum bist du nicht mit einem Rad gefahren?

Er stand auf halbem Weg zwischen Haus und Bach mitten auf dem Rasen, und es war so einfach, daß er es kaum fassen konnte. Er war zu Fuß gegangen, seit er die Harley stehengelassen hatte, hatte sich verausgabt und war zum Schluß mit einem Hitzschlag zusammengebrochen, oder mit etwas Ähnlichem; es spielte jetzt keine Rolle mehr. Er hätte radeln können, nicht schneller als im Schrittempo, wenn er wollte, und könnte schon lange an der Küste sein und sich ein Sommerhaus aussuchen und einrichten. Er fing an zu lachen, zuerst leise, weil es gespenstisch in der unendlichen Stille klang. Zu lachen, ohne daß jemand da war, der mitlachen konnte, war ein weiteres Zeichen dafür, daß man ohne Rückfahrkarte auf dem Weg in das legendäre Land Plemplem war. Aber das Lachen klang so natürlich und herzlich, so gottverdammt gesund und so sehr nach dem alten Larry Underwood, daß er es einfach herausließ. Er stemmte die Hände in die Hüften, legte den Kopf himmelwärts zurück und brüllte vor Lachen über seine eigene unfaßbare Dummheit.

Hinter ihm, wo die Büsche am dichtesten standen, beobachteten blaugrüne Augen das alles, und sie beobachteten auch noch, wie Larry, immer noch lachend und kopfschüttelnd, die letzten Schritte zum Haus zurücklegte. Sie beobachteten, wie er auf die Veranda stieg und durch die Vordertür eintrat, die offen war. Sie beobachteten, wie er hineinging. Dann bewegten sich die Büsche und machten das raschelnde Geräusch, das Larry gehört, aber weiter nicht beachtet hatte. Der Junge zwängte sich heraus, immer noch nackt bis auf die Shorts, und schwang das Schlachtermesser. Eine andere Hand kam aus dem Gebüsch und streichelte seine Schulter. Der Junge blieb sofort stehen. Die Frau kam heraus - sie war groß und eindrucksvoll und geschmeidig; sie schien die Büsche kaum zu bewegen. Sie hatte dichtes schwarzes Haar mit Strähnen von reinstem Weiß; attraktives, aufregendes Haar. Es war zu einem Zopf geflochten, der ihr nach vorn über eine Schulter hing und erst dünner wurde, als er die Wölbung der Brust erreichte. Wenn man die Frau sah, fiel einem zuerst ihre Größe auf, dann richtete man den Blick auf das Haar und mochte glauben, seine rauhe und doch ölige Glätte mit den Augen fühlen zu können. Und wenn man ein Mann war, überlegte man vielleicht, wie ihr Haar wohl offen aussehen würde, befreit im Mondschein über ein Kissen ausgebreitet. Man fragte sich, wie sie im Bett sein würde. Aber sie hatte nie einen Mann in sich empfangen. Sie war rein. Sie wartete. Sie hatte Träume gehabt. Einmal, auf dem College, hatte sie das Ouija-Brett befragt. Und sie fragte sich nun wieder, ob es dieser Mann sein könnte.

»Warte«, sagte sie zu dem Jungen.

Er drehte sein verzweifeltes Gesicht zu dem ihren, ruhigen herum. Sie wußte, woran er dachte.

»Dem Haus wird nichts geschehen. Warum sollte er dem Haus etwas tun, Joe?«

Er wandte sich ab und blickte sehnsüchtig und besorgt zum Haus hinüber.

»Wenn er geht, folgen wir ihm.«

Er schüttelte heftig den Kopf.

»Doch; das müssen wir. Ich muß es.« Ja, sie verspürte das heftige Verlangen. Er war vielleicht nicht der Mann, aber selbst wenn er es nicht war - er war ein Glied in der Kette, der sie nun schon jahrelang folgte und die sich jetzt ihrem Ende näherte.

Joe - das war nicht sein richtiger Name - hob wütend das Messer, als wollte er die Klinge in ihren Körper bohren. Sie machte keine Anstalten, sich zu wehren oder zu fliehen, und der Junge ließ es langsam wieder sinken. Er drehte sich zum Haus um und stieß das Messer ein paarmal in diese Richtung.

»Nein, das wirst du nicht tun«, sagte sie. »Weil er ein menschliches Wesen ist, und er führt uns zu...« Sie verstummte. Anderen menschlichen Wesen, hatte sie sagen wollen. Er ist ein menschliches Wesen, und er führt uns zu anderen menschlichen Wesen. Aber sie war nicht sicher, ob sie das gemeint hatte, und selbst wenn, ob sie nur das gemeint hatte. Sie fühlte sich bereits hin und her gerissen und wünschte sich, sie hätte Larry nie gesehen. Sie versuchte wieder, den Jungen zu streicheln, aber er riß sich wütend los. Er sah zu dem großen weißen Haus, und seine Augen glühten vor Eifersucht. Nach einer Weile glitt er in das Gebüsch zurück und sah sie vorwurfsvoll an. Sie folgte ihm, um nach ihm zu sehen. Er legte sich hin, rollte sich in Embryonalhaltung zusammen und hielt das Messer vor der Brust. Er steckte den Daumen in den Mund und machte die Augen zu.

Nadine ging an die Stelle, wo der Bach einen kleinen See bildete, und kniete sich hin. Sie trank aus hohlen Händen, dann setzte sie sich ins Gras, um das Haus zu beobachten. Ihre Augen waren ruhig, ihr Gesicht sah fast aus wie das einer Madonna von Raphael.




Am Spätnachmittag, als Larry die Route 9 entlangfuhr - über eine Allee -, sah er plötzlich en großes, reflektierendes grünes Schild vor sich und hielt erstaunt an, um die Aufschrift zu lesen. Die besagte, daß hier das Ferienland Maine begann. Er konnte es kaum glauben; er mußte in seiner Verwirrung und Angst eine unglaubliche Strecke zurückgelegt haben. Oder ihm waren ein paar Tage abhanden gekommen. Er wollte gerade weiterfahren, als etwas - ein Geräusch in den Büschen oder vielleicht auch nur in seinem Kopf - ihn veranlaßte, sich umzudrehen. Da war nichts, nur die Route 9, die verlassen zurück nach New Hampshire führte.

Seit seinem Besuch in dem großen weißen Haus, wo er zum Frühstück Cornflakes und schon etwas schale Ritz Cracker mit Käsekrem aus der Sprühdose gegessen hatte, war er das Gefühl nicht losgeworden, daß er beobachtet und verfolgt würde. Er hörte etwas, sah vielleicht sogar etwas aus den Augenwinkeln. Seine Beobachtungsgabe, die in dieser seltsamen Situation erst langsam zu vollem Leben erwachte, sprach schon auf optische oder akustische Reize an, die so unmerklich waren, daß man sie fast schon unterbewußt nennen konnte, und bestürmte seine Nervenenden mit solch winzigen Stimuli, daß er selbst bei gesteigerter Wahrnehmungsfähigkeit nur eine vage Ahnung hatte, ein Gefühl des »Beobachtet-Seins«. Dieses Gefühl machte ihm aber keine Angst wie die anderen. Es hatte nichts mit Halluzinationen oder einem Delirium gemein. Wenn ihn jemand beobachtete und sich nicht zeigte, dann wahrscheinlich nur deshalb, weil dieser Jemand Angst vor ihm hatte. Und wenn er Angst vor dem armen alten und abgemagerten Larry Underwood hatte, der inzwischen zu feige war, mit einem Motorrad schneller als fünfundzwanzig Meilen pro Stunde zu fahren, brauchte Larry sich höchstwahrscheinlich wegen dieses Jemands keine Sorgen zu machen.

Jetzt stand er breitbeinig über dem Rad, das er vier Meilen östlich von dem großen weißen Haus aus einem Sportgeschäft geholt hatte, und rief deutlich: »Kommt doch raus, wenn jemand da ist! Ich tu' euch nichts.«

Keine Antwort. Er stand auf der Straße vor dem Schild, das die Grenze markierte, beobachtete und wartete. Ein Vogel zwitscherte und flog dann über den Himmel. Sonst bewegte sich nichts. Nach einer Weile fuhr er weiter.




Um sechs Uhr an diesem Abend erreichte er am Schnittpunkt von Route 9 und 4 die kleine Stadt North Berwick. Er beschloß, hier zu rasten und am nächsten Morgen zur Küste zu fahren. An der Kreuzung von 9 und 4 in North Berwick befand sich ein kleiner Laden. Dort holte er einen Sechserpack Bier aus der toten Kühltruhe. Black Label, eine Marke, die er noch nie probiert hatte - wahrscheinlich ein hiesiges Bier. Außerdem nahm er eine große Tüte Salz-und-Essig-Kartoffelchips von Humpty Dumpty und zwei Dosen Dinty Moore Beef Stew mit. Das alles verstaute er im Rucksack und ging zur Tür hinaus.

Auf der anderen Straßenseite war ein Restaurant, und dann hatte er für einen Augenblick den Eindruck, zwei Schatten gesehen zu haben, die dahinter verschwanden. Vielleicht hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt, aber das glaubte er nicht. Er überlegte, ob er über den Highway laufen und versuchen sollte, die beiden aus ihrem Versteck zu scheuchen: Hopp-hopp, Kinder, Schluß jetzt, das Spiel ist vorbei. Er entschied sich dagegen. Er wußte, was Angst ist. Statt dessen schritt er ein Stück den Highway entlang und schob das Rad, an dessen Lenkstange der gefüllte Rucksack baumelte. Er sah ein großes Schulgebäude aus rotem Backstein, dahinter eine Baumgruppe. In diesem Hain sammelte er soviel Holz, daß er ein anständiges Feuer machen konnte, und entfachte es auf dem asphaltierten Spielplatz der Schule. In der Nähe war ein Bach, der an einer Textilfabrik vorbei und unter dem Highway hindurch floß. Dort kühlte er sein Bier und machte über dem Feuer eine Dose Rindfleisch warm. Er aß es aus seinem Pfadfindereßgeschirr und saß dabei auf einer Schaukel des Spielplatzes, schwang langsam hin und her, und sein Schatten fiel lang über die verblaßten Linien des Basketballfelds.

Er überlegte sich, warum er so wenig Angst vor den Menschen hatte, die ihm folgten - denn mittlerweile war er sicher, daß ihm welche folgten; mindestens zwei, möglicherweise mehr. In diesem Zusammenhang dachte er auch darüber nach, warum er sich den ganzen Tag über so ausgezeichnet gefühlt hatte, als wäre während des langen Schlafs am gestrigen Nachmittag ein schwarzes Gift aus seinem Körper ausgeschieden worden. Hatte er einfach nur Ruhe gebraucht? Nichts weiter? Es schien zu einfach.

Wenn man es logisch betrachtete, sagte er sich, hätten seine Verfolger ihm schon längst ein Leid zugefügt, wäre das ihre Absicht gewesen. Sie hätten aus einem Hinterhalt auf ihn geschossen oder ihn zumindest gewaltsam gezwungen, seine Waffen abzulegen. Sie hätten sich nehmen können, was sie wollten ... aber wieder logisch gedacht (es war so gut, wieder logisch zu denken, denn in den vergangenen Tagen war sein ganzes Denken in einem ätzenden Säurebad des Entsetzens geformt worden), was konnte er schon mit sich führen, das jemand besitzen mochte? Was weltliche Güter anbelangte, gab es sie jetzt für jeden im Überfluß, weil herzlich wenig Leute übriggeblieben waren. Weshalb sollte sich jemand die Mühe machen, es zu stehlen und zu töten und sein Leben zu riskieren, wenn alles, wovon man je geträumt hatte, während man mit dem Katalog von Sears zwischen den Beinen auf dem Scheißhaus saß, jetzt umsonst hinter jedem Schaufenster in Amerika zur Verfügung stand? Nur die Scheibe einschlagen, reingehen und es sich nehmen.

Das heißt, alles, ausgenommen die Gesellschaft von Artgenossen. Dieses Gut war knapp, wie Larry selbst nur zu genau wußte. Und an eben diesem Gut war den Leuten gelegen, die ihn beobachteten, klarer Fall. Und das wiederum war der Grund dafür, daß er keine Angst hatte. Logik, süße Logik. Früher oder später würde ihr Wunsch nach Kontakt ihre Angst überwinden. Bis dahin würde er warten. Er wollte sie nicht aufscheuchen wie Rebhühner; das würde alles nur verschlimmern. Vor zwei Tagen wäre er wahrscheinlich selbst aus den Latschen gekippt, wenn er jemanden gesehen hätte. Da war die Angst einfach noch zu groß gewesen. Nun, er konnte warten. Aber, Mann, er wollte wirklich wieder jemanden sehen. Wirklich. Er ging zum Bach zurück und spülte das Eßgeschirr aus. Er fischte den Sechserpack aus dem Wasser und ging wieder zu seiner Schaukel. Er riß den Verschluß der ersten Dose auf und hob sie in Richtung des Restaurants, wo er die Schatten gesehen hatte.

»Auf euer Wohl«, sagte Larry und trank die halbe Dose auf einen Zug leer. Ging runter wie Butter, konnte man echt sagen. Als er den Sechserpack leergetrunken hatte, war sieben Uhr durch, und die Sonne machte sich zum Untergehen bereit. Er kickte die letzten glühenden Kohlen des Feuers auseinander und sammelte seine Sachen zusammen. Dann radelte er halb betrunken und voller Wohlbefinden eine Viertelmeile die Route 9 entlang, bis er ein Haus mit verglaster Veranda gefunden hatte. Er stellte das Rad auf dem Rasen ab, nahm den Schlafsack und öffnete die Verandatür mit einem Schraubenzieher.

Er drehte sich noch einmal in der Hoffung um, ihn oder sie oder mehrere zu sehen - sie folgten ihm noch, das spürte er -, aber die Straße war einsam und verlassen. Er betrat achselzuckend das Haus.

Es war noch früh, und er ging davon aus, daß er eine ganze Weile unruhig wach liegen und auf den Schlaf warten würde, aber offenbar mußte er immer noch Schlaf nachholen. Fünfzehn Minuten nachdem er sich hingelegt hatte, war er entschlummert, atmete langsam und gleichmäßig, das Gewehr in der Nähe seiner rechten Hand.




Nadine war müde. Es schien der längste Tag ihres Lebens zu sein. Sie war überzeugt, daß sie zweimal gesehen worden waren, einmal in der Nähe von Strafford, das zweite Mal an der Grenze von Maine und New Hampshire, als Joe über die Schulter geblickt und gerufen hatte. Ihr selbst war es einerlei, ob sie entdeckt wurden oder nicht. Dieser Mann war nicht verrückt, wie der Mann, der vor zehn Tagen an dem großen weißen Haus vorbeigekommen war. Es war ein Soldat gewesen, der unter der Last von Gewehren und Granaten und Patronengurten und Munition gestöhnt hatte. Und dann hatte er gelacht und geweint und gedroht, jemandem namens Lieutenant Morton die Eier abzuschießen. Lieutenant Morton war nirgends zu sehen gewesen, was wahrscheinlich gut für ihn war, falls er noch lebte. Auch Joe hatte Angst vor dem Soldaten gehabt, und in diesem Fall war vermutlich auch das ganz gut gewesen.

»Joe?«

Sie drehte sich um.

Joe war nicht mehr da.

Sie war müde, war fast schon eingeschlafen. Sie stieß die Decke zurück, stand auf und verzog das Gesicht wegen hundert Wehwehchen. Wie lange war es her, seit sie so viele Stunden auf einem Fahrrad gesessen hatte? Wahrscheinlich hatte sie das noch nie getan. Und dann die permanente, nervenaufreibende Anstrengung, den goldenen Mittelweg zu finden. Wenn sie dem Mann zu nahe kamen, würde er sie sehen, und das würde Joe beunruhigen. Wenn sie zu weit zurückblieben, wechselte er möglicherweise von der Route 9 auf eine andere Straße über, und sie verloren ihn. Das würde sie beunruhigen. Sie war nie auf den Gedanken gekommen, Larry könnte einen Kreis fahren und hinter sie gelangen. Glücklicherweise (jedenfalls für Joe) war auch Larry nie darauf gekommen.

Sie sagte sich immer wieder, Joe würde einsehen, daß sie ihn brauchten... und nicht nur ihn. Sie konnten nicht allein bleiben. Wenn sie allein blieben, würden sie allein sterben. Joe würde sich an die Vorstellung gewöhnen; er hatte sein früheres Leben ebensowenig in einem Vakuum verbracht wie sie.

»Joe«, rief sie nochmals leise.

Er konnte so lautlos sein wie ein Guerilla des Vietkong, der durch das Unterholz schlich, aber in den vergangenen drei Wochen hatten sich ihre Ohren an ihn gewöhnt, und heute abend schien als zusätzlicher Bonus der Mond. Sie hörte leises Kratzen und Klickern von Geröll und wußte, wohin er ging. Sie achtete nicht auf ihre Schmerzen und folgte ihm. Es war Viertel nach zehn. Sie hatten ihr Lager (wenn man zwei Decken im Gras »Lager« nennen wollte) hinter dem North Berwick Grille gegenüber vom Supermarkt aufgeschlagen und die Räder in einem Schuppen hinter dem Restaurant versteckt. Der Mann, dem sie folgten, hatte auf dem Spielplatz der Schule vis-à-vis gegessen (»Ich wette, wenn wir zu ihm gehen, wird er uns von seinem Essen abgeben, Joe«, hatte sie taktvoll gesagt. »Es ist heiß... und duftet es nicht herrlich? Ich wette, es schmeckt viel besser als diese Wurst.« Joe hatte die Augen aufgerissen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und mit dem Messer haßerfüllt in Larrys Richtung gefuchtelt); danach war der Mann die Straße entlang bis zu einem Haus mit verglaster Veranda gefahren. Offenbar war er, wie er das Fahrrad lenkte, ein wenig betrunken. Jetzt schlief er auf der Veranda des Hauses, für das er sich entschieden hatte.

Sie ging schneller und zuckte zusammen, wenn sich spitze Steine in ihre Fußsohlen bohrten. Links standen Häuser, und sie ging zu deren Rasen, die jetzt wild wuchsen. Das Gras, das naß von Tau war und angenehm roch, reichte ihr bis zu den Schienbeinen. Sie mußte an eine Zeit denken, als sie mit einem Jungen durch solches Gras gelaufen war, unter einem Vollmond, nicht einem abnehmenden, wie jetzt. Ein heißer, angenehmer Ball der Erregung hatte in ihrem Unterleib geglüht, und sie war sich deutlich bewußt gewesen, daß ihre Brüste, die, voll und erblüht, bei jedem Schritt wippten, etwas Sexuelles waren. Der Mond hatte ihr ein Gefühl vermittelt, als wäre sie trunken, ebenso das Gras, das ihre Beine mit seiner nächtlichen Feuchtigkeit benetzt hatte. Sie hatte gewußt, wenn der Junge sie erwischte, würde sie ihm ihre Jungfräulichkeit schenken. Sie war wie eine Indianerin durch den Mais gelaufen. Hatte er sie erwischt? Was für eine Rolle spielte das jetzt noch? Sie lief schneller und sprang auf einen Betonweg, der wie eine Bahn aus Eis in der Dunkelheit schimmerte.

Und da war Joe; er stand am Rand der verglasten Veranda, wo der Mann schlief. Seine weiße Unterhose war das Hellste in der Dunkelheit; die Haut des Jungen war so dunkel, daß man auf den ersten Blick den Eindruck hatte, als würde die Unterhose allein dastehen und in der Luft schweben oder als hätte H. G. Wells'

Unsichtbarer sie angezogen.

Joe war aus Epsom, das wußte sie, denn dort hatte sie ihn gefunden. Nadine kam aus South Barnstead, eine fünfzehn Meilen nordöstlich von Epsom gelegene Stadt. Sie hatte systematisch nach anderen gesunden Menschen gesucht, aber gezögert, ihr Haus und ihre Heimatstadt zu verlassen. Sie hatte ihr Suchgebiet erweitert, in konzentrischen Kreisen, die immer größer und größer wurden. Sie hatte nur Joe gefunden, der von einem Tier gebissen worden war - Ratte oder Eichhörnchen, der Größe nach -, Fieber hatte und im Delirium war. Er hatte nackt bis auf die Unterhose auf dem Rasen eines Hauses in Epsom gesessen und das Schlachtermesser in der Hand gehabt wie ein alter Steinzeitwilder oder ein sterbender, aber immer noch tückischer Pygmäe. Nadine hatte Erfahrung bei der Behandlung von Infektionen. Sie hatte ihn ins Haus getragen. War es sein Elternhaus? Sie hielt es für wahrscheinlich, konnte aber nicht sicher sein, falls Joe es ihr nicht sagte. In dem Haus waren Tote gewesen, viele Tote - Mutter, Vater, drei andere Kinder, das älteste um die Fünfzehn. Nadine hatte eine Arztpraxis gefunden, wo es Desinfektionsmittel und Antibiotika und Verbandszeug gab. Sie war nicht sicher, welche Antibiotika die richtigen sein würden, und sie wußte, sie konnte ihn umbringen, wenn sie die falsche Wahl traf, aber wenn sie nichts tat, würde er auch sterben. Die Bißwunde war am Knöchel, der zur Größe eines Abwasserrohrs angeschwollen war. Das Glück war ihr hold. Drei Tage später hatte der Knöchel wieder seine normale Größe, und das Fieber war weg. Der Junge vertraute ihr. Sonst offenbar keinem, aber ihr. Sie wachte morgens auf, und er klammerte sich an ihr fest. Sie waren zu dem großen weißen Haus gegangen. Sie nannte ihn Joe. Das war nicht sein richtiger Name, aber als Lehrerin hatte sie jedes Mädchen, dessen Namen sie nicht kannte, Jane und jeden Jungen Joe genannt. Der Soldat war vorbeigekommen, hatte gelacht und geweint und Lieutenant Morton verflucht. Joe wollte hinausstürzen und ihn mit dem Messer umbringen. Und jetzt diesen Mann. Sie fürchtete sich davor, ihm das Messer wegzunehmen, denn es war Joes Talisman. Wenn sie es versuchte, konnte ihn das gegen sie aufbringen. Sogar im Schlaf hielt er es fest in der Hand, und eines Nachts hatte sie versucht, es ihm wegzunehmen - nur um zu versuchen, ob es gelingen würde. Er war sofort aufgewacht, aus tiefem Schlaf. Im nächsten Augenblick hatten die beunruhigend blau-grauen Augen mit ihrem chinesischen Schnitt sie voll verhaltener Wildheit angestarrt. Er hatte das Messer mit leisem Knurren weggezogen. Gesagt hatte er nichts.

Jetzt hob er das Messer, senkte es, hob es wieder. Knurrte tief in der Kehle und stieß das Messer in Richtung Veranda. Brachte sich möglicherweise in eine Art Trance, um tatsächlich die Tür zu stürmen.

Sie trat hinter ihn und gab sich keine besondere Mühe, leise zu sein, aber er hörte sie trotzdem nicht; Joe war in seiner eigenen Welt. Einen Augenblick später packte sie ihn, ohne sich dessen recht bewußt zu sein, mit einer Hand am Handgelenk und drehte es brutal im Gegenuhrzeigersinn.

Joe stieß einen zischenden Seufzer aus, und Larry Underwood regte sich im Schlaf, drehte sich um und lag wieder still. Das Messer fiel zwischen ihnen ins Gras; das silberne Mondlicht spiegelte sich auf den Zacken der Klinge. Sie sahen aus wie leuchtende Schneeflocken.

Er blickte sie mit wütenden, vorwurfsvollen und mißtrauischen Augen an. Nadine erwiderte den Blick unnachgiebig. Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Joe schüttelte nachdrücklich den Kopf. Er deutete auf die Glaswand und die schlafende Gestalt im Schlafsack dahinter. Er machte eine gräßlich deutliche Geste, strich sich mit dem Daumen über Hals und Adamsapfel. Dann grinste er. Nadine hatte ihn noch nie grinsen gesehen; es durchlief sie kalt. Es hätte nicht wilder aussehen können, wenn die schimmernden weißen Zähne des Jungen spitz zugefeilt gewesen wären.

»Nein«, sagte sie leise. »Sonst wecke ich ihn auf der Stelle.«

Joe sah erschrocken drein. Er schüttelte hastig den Kopf.

»Dann komm mit mir. Schlaf.«

Er sah zu dem Messer hinunter, dann wieder zu ihr auf. Wenigstens war die Wildheit verschwunden. Er war nur noch ein hilfloser kleiner Junge, der seinen Teddy wollte oder die kratzige Decke, die ihn seit der Wiege begleitete. Nadine wurde klar, dies konnte der geeignete Zeitpunkt sein, ihm das Messer endgültig auszureden, einfach nur den Kopf zu schütteln: »Nein.« Aber was dann? Würde er schreien? Er hatte geschrien, nachdem der verrückte Soldat weitergezogen war. Immerzu geschrien, langgezogene, unverständliche Laute des Entsetzens und der Wut. Wollte sie den Mann im Schlafsack in der Nacht kennenlernen, während solche Schreie in ihren und seinen Ohren gellten?

»Kommst du mit mir?«

Joe nickte.

»Gut«, sagte sie leise. Er bückte sich hastig und hob das Messer auf.

Sie gingen gemeinsam zurück, und er kuschelte sich eng an sie; das Vertrauen war wieder hergestellt, der Störenfried wenigstens vorläufig vergessen. Er schlang die Arme um sie und schlief ein. Sie spürte den altbekannten Schmerz im Unterleib, der soviel tiefer und allumfassender war als derjenige, den die Anstrengung hervorrief. Es war ein Frauenschmerz, und dagegen konnte sie nichts tun. Sie schlief ein.




In den frühen Morgenstunden wachte sie auf - sie trug keine Uhr -, war kalt und steif und entsetzt und fürchtete plötzlich, Joe könnte hinterhältig gewartet haben, bis sie schlief, um dann zum Haus zurückzuschleichen und dem Mann im Schlaf die Kehle durchzuschneiden. Joes Arme waren nicht mehr um sie geschlungen. Sie fühlte sich verantwortlich für den Jungen; sie hatte sich stets für die Kleinen verantwortlich gefühlt, die nicht darum gebeten hatten, auf die Welt zu kommen, aber wenn er das getan hatte, würde sie ihn verlassen. Leben zu nehmen, wo so vieles ausgelöscht worden war, war eine unverzeihliche Sünde. Und sie konnte es ohne Hilfe nicht mehr lange allein mit Joe schaffen; mit ihm zu sein war, als wäre man mit einem launischen Löwen in einem Käfig eingesperrt. Und wie ein Löwe, konnte (oder wollte) Joe nicht sprechen; er konnte nur mit seiner hilflosen Kleinjungenstimme brüllen.

Sie richtete sich auf und sah, daß der Junge immer noch bei ihr war. Er hatte sich im Schlaf ein wenig von ihr entfernt, das war alles. Er hatte sich wie ein Fötus zusammengerollt, den Daumen im Mund und die Hand um den Griff des Messers geklammert.

Nachdem sie über das Gras gegangen war, Wasser gelassen hatte und wieder unter die Decke gekrochen war, schlief sie sofort wieder ein. Am nächsten Morgen war sie nicht sicher, ob sie in der Nacht wirklich aufgewacht war oder ob sie es nur geträumt hatte. Wenn ich geträumt habe, dachte Larry, dann müssen es gute Träume gewesen sein. Er konnte sich an keinen einzigen erinnern. Er fühlte sich fast schon wieder wie der alte Larry und dachte, der Tag würde schön werden. Noch heute würde er das Meer sehen. Er rollte seinen Schlafsack zusammen, schnallte ihn auf den Gepäckträger, ging zurück, um den Rucksack zu holen... und blieb stehen.

Ein Betonweg führte zu den Verandastufen, und das Gras auf beiden Seiten war lang und unvorstellbar grün. Rechts, ganz dicht an der Veranda, war das taufeuchte Gras niedergetreten. Wenn der Tau verdunstete, würde sich das Gras wieder aufrichten, aber jetzt waren deutlich Fußspuren zu erkennen. Er war in der Stadt aufgewachsen und alles andere als ein Waldläufer (er hatte lieber Hunter S. Thompson als James Fenimore Cooper gelesen), aber man mußte blind sein, dachte er, nicht zu merken, daß sie zu zweit gewesen waren: ein Großer und ein Kleiner. Irgendwann in der Nacht waren sie zur Tür gekommen und hatten ihn beobachtet. Ihn fröstelte. Die Heimlichtuerei gefiel ihm nicht. Die ersten Vorboten neuer Angst noch weniger.

Wenn sie sich nicht bald zeigen, beschloß er, werde ich versuchen, sie hervorzuscheuchen. Allein der Gedanke, daß ihm das gelingen könnte, brachte den größten Teil seines Selbstvertrauens zurück. Er schnallte den Rucksack über und machte sich auf den Weg. Gegen Mittag hatte er die US 1 in Wells erreicht. Kopf oder Zahl! Er warf eine Münze. Zahl. Er wandte sich auf der US1 nach Süden und liess die Münze gleichgültig im Staub funkeln. Joe fand sie zwanzig Minuten später und starrte sie an wie die Kristallkugel eines Hypnotiseurs. Er steckte sie in den Mund, und Nadine befahl ihm, sie auszuspucken.

Zwei Meilen weiter sah Larry es zum ersten Mal, das riesige blaue Tier, das heute träge und langsam war. Es war ganz anders als der Pazifik oder der Atlantik von Long Island. Dort sah der Ozean friedlich aus, fast zahm. Dieses Wasser war von einem dunkleren Blau, fast kobaltfarben; gleichgültig rollten die Wogen ans Ufer, nagten an den Felsen. Gischt wie geschlagenes Eiweiß spritzte in die Luft und klatschte wieder zurück. Die Wellen donnerten mit unablässigem tiefen Grollen an die Klippen.

Larry stellte sein Fahrrad ab, ging zum Meer hinunter und spürte eine seltsame Erregung, die er nicht erklären konnte. Er war hier, er hatte den Ort erreicht, wo die See die Herrschaft übernahm. Hier war der Osten zu Ende. Land's End.

Er ging über eine sumpfige Wiese, und seine Schuhe machten schmatzende Geräusche im feuchten Boden zwischen Erdhügeln und Schilfbüscheln. Der durchdringende, fruchtbare Geruch der Flut hing in der Luft. Näher am Wasser war die dünne Haut der Erdschicht abgeschält, und der nackte Knochen aus Granit trat zutage - Granit, die »letzte Wahrheit« von Maine. Möwen stiegen hellweiß vor blauem Grund zum Himmel, kreischten und wimmerten. Er hatte noch nie so viele Vögel auf einmal gesehen. Ihm fiel ein, daß diese Vögel trotz ihrer weißen Schönheit Aasfresser waren. Der Gedanke, der sich anschloß, war unaussprechlich, aber er hatte ihn schon gedacht, bevor er ihn verdrängen konnte: Sie müssen in letzter Zeit reiche Ernte gehalten haben.

Er ging wieder weiter; jetzt klickten und kratzten seine Schuhe auf von der Sonne getrockneten Felsen, die wegen der Brandung in ihren Rissen und Fugen dennoch immer feucht bleiben würden. Entenmuscheln wuchsen in diesen Rissen, und hier und da lagen wie zerfetzte Knochensplitter die Schalen, die die Möwen fallengelassen hatten, um an das weiche Fleisch im Innern heranzukommen.

Einen Augenblick später stand er an der kahlen Küste. Der Wind vom Meer traf ihn mit voller Wucht und wehte ihm den dichten Haarschopf aus der Stirn. Larry hob ihm das Gesicht entgegen, dem herben, sauberen Salzgeruch des blauen Tiers. Die gläsernen, blaugrünen Wellenkämme rollten langsam herein, ihre Spitzen wurden deutlicher, je flacher der Boden unter ihnen wurde; zuerst bildete sich ein Hauch Schaum auf den Gipfeln, dann ein feiner Zuckerguß. Und dann schlugen sie selbstmörderisch ans Ufer, wie seit Anbeginn der Zeiten, zerstörten sich selbst und gleichzeitig ein unendlich kleines Stückchen Land. Ein gluckerndes, hustendes Dröhnen war zu hören, als Wasser in einen tiefen, halb versunkenen Felstunnel gedrückt wurde, der im Laufe von Jahrtausenden entstanden war.

Er drehte sich zuerst nach links, dann nach rechts, und sah in jeder Richtung dasselbe, so weit das Auge reichte... Wellen, Brecher, Gischt, aber größtenteils einen endlosen Überfluß an Farben, die ihm den Atem raubten.

Das war Land's End.

Er setzte sich, ließ die Füße über den Rand einer Klippe baumeln und fühlte sich ruhig, besänftigt. Dort saß er eine halbe Stunde oder länger. Der Wind regte seinen Appetit an; er kramte im Rucksack nach etwas Eßbarem. Er aß kräftig. Gischt hatte die Beine seiner Blue Jeans schwarz gefärbt. Er fühlte sich gesäubert, erfrischt. Er ging langsam über die sumpfige Wiese zurück und war so in Gedanken versunken, daß er den Schrei, der vor ihm anschwoll, für den der Möwen hielt. Er hatte schon den Kopf zum Himmel gehoben, als er plötzlich voller Angst merkte, daß es der Schrei eines Menschen war. Ein Kampfschrei.

Er sah ruckartig wieder nach unten und erblickte einen kleinen Jungen, der mit pumpenden Beinmuskeln über die Straße auf ihn zugelaufen kam. In der Hand hielt er ein langes Schlachtermesser. Er war nackt bis auf die Unterhose, seine Beine waren von Brennesselmalen gezeichnet. Hinter ihm trat in diesem Moment eine Frau aus Gestrüpp und Brennesseln auf der anderen Seite des Highway. Sie sah blaß aus und hatte dunkle Ringe der Erschöpfung unter den Augen. »Joe!« rief sie und fing an zu laufen, als würde es ihr Schmerzen bereiten.

Joe lief weiter, ließ nicht nach, seine nackten Füße spritzten dünne Schleier des Marschwassers auf. Sein Gesicht war zu einem verkniffenen, mörderischen Grinsen verzerrt. Er hielt das Schlachtermesser hoch über dem Kopf, es glitzerte in der Sonne.

Er will mich umbringen, dachte Larry, der bei diesem Gedanken wie vom Donner gerührt stehenblieb. Dieser Junge... was habe ich ihm denn getan?

»Joe!« schrie die Frau, diesmal mit schriller, müder und verzweifelter Stimme. Joe lief noch immer, verringerte zusehends die Entfernung. Larry merkte gerade noch, daß er sein Gewehr beim Fahrrad gelassen hatte, dann war der schreiende Junge schon bei ihm. Als er mit dem Schlachtermesser in hohem, weitem Bogen ausholte, erwachte Larry aus seiner Lähmung. Er sprang zur Seite, hob instinktiv den rechten Fuß und trat dem Jungen mit seinem nassen, gelben Stiefel in den Leib. Und empfand Mitleid: Es war nichts als ein kleiner Junge, erschöpft, kraftlos; er fiel um wie ein Kegel. Er sah gefährlich aus, war aber alles andere als ein Schwergewicht.

»Joe!« rief Nadine. Sie stolperte über einen Erdklumpen, fiel auf die Knie und bespritzte ihre weiße Bluse mit braunem Schlamm. »Tun Sie ihm nichts! Er ist nur ein kleiner Junge! Bitte, tun Sie ihm nichts!«

Sie rappelte sich auf und mühte sich weiter.

Joe war flach auf den Rücken gefallen. Er lag da wie ein X: Die Arme bildeten ein V, die gespreizten Beine ein zweites, umgekehrtes V.

Larry machte einen Schritt vorwärts, trat dem Jungen aufs Handgelenk und nagelte die Hand, mit der er das Messer hielt, am schlammigen Boden fest.

»Laß den Piekser los, Junge.«

Der Junge fauchte und stieß dann ein grunzendes, kollerndes Geräusch aus, wie ein Truthahn. Er zog die Oberlippe über die Zähne. Seine Chinesenaugen starrten böse in die von Larry. Den Fuß auf dem Handgelenk des Jungen zu lassen war, wie auf eine verletzte, aber immer noch bösartige Schlange zu treten. Er merkte, wie der Junge versuchte, seine Hand freizubekommen, ohne sich darum zu kümmern, ob der Preis aufgeschürfte Haut, blutiges Fleisch oder sogar ein gebrochenes Handgelenk war. Er richtete sich in eine halb sitzende Position auf und versuchte, Larry durch den schweren, nassen Stoff seiner Jeans ins Bein zu beißen. Larry trat noch fester auf das dünne Handgelenk, und Joe stieß einen Schrei aus - nicht vor Schmerzen, sondern vor Wut.

»Laß es los, Junge.«

Joe wehrte sich immer noch.

Das Patt hätte andauern können, bis Joe das Messer freibekommen oder Larry ihm den Arm gebrochen hätte, wenn Nadine nicht schließlich schlammverschmiert, atemlos und vor Erschöpfung taumelnd bei ihnen eingetroffen wäre.

Ohne Larry anzusehen, sank sie auf die Knie. »Laß es los!« sagte sie leise, aber energisch. Ihr Gesicht war schweißbedeckt, zeigte jedoch keine Regung. Sie brachte es dicht vor Joes verzerrte, zuckende Fratze. Er schnappte nach ihr wie ein Hund und wehrte sich weiter. Wütend versuchte Larry, die Balance zu halten. Wenn es dem Jungen jetzt gelang, sich loszureißen, würde er wahrscheinlich zuerst auf die Frau einstechen.

»Laß... es... los!« sagte Nadine.

Der Junge knurrte. Speichel quoll zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Auf der rechten Wange hatte er einen Schlammspritzer in Form eines Fragezeichens.

»Wir lassen dich zurück, Joe. Ich lasse dich zurück. Ich gehe mit ihm. Wenn du nicht brav bist.«

Larry spürte, wie die Spannung des Arms unter seinem Fuß noch stärker wurde und dann nachließ. Aber der Junge sah die Frau verletzt, anklagend und vorwurfsvoll an. Als er den Blick etwas abwandte und Larry ansah, konnte dieser glühende Eifersucht in den Augen erkennen. Obwohl ihm der Schweiß in Strömen vom Körper troff, fröstelte Larry unter diesem Blick.

Sie sprach mit ruhiger Stimme auf ihn ein. Niemand würde ihm weh tun. Niemand würde ihn zurücklassen. Wenn er das Messer losließ, konnten sie alle Freunde werden.

Allmählich spürte Larry, daß sich die Hand unter seinem Schuh entspannt und das Messer losgelassen hatte. Der Junge lag reglos da und starrte zum Himmel. Er hatte aufgegeben. Larry nahm den Fuß von Joes Handgelenk, bückte sich rasch und hob das Messer auf. Er drehte sich um und schleuderte es in Richtung Küste. Das Messer drehte sich im Kreis und reflektierte funkelnd das Sonnenlicht. Joes seltsame Augen folgten seiner Bahn; er stieß ein langes, heulendes Wimmern des Schmerzes aus. Das Messer prallte mit blechernem Klirren auf die Felsen und schlitterte über den Rand. Larry drehte sich wieder um und betrachtete die beiden. Die Frau untersuchte Joes rechten Unterarm, wo sich das Profil von Larrys Stiefelsohlen tief eingegraben hatte und langsam grellrot wurde. Sie sah auf, blickte Larry ins Gesicht. Ihre dunklen Augen waren voller Traurigkeit.

Larry spürte die altbekannte, eigennützige Ausrede in sich aufsteigen - Ich mußte es tun, es war nicht meine Schuld, hören Sie, Lady, er wollte mich umbringen -, weil er glaubte, das Urteil in diesen kummervollen Augen lesen zu können: Du bist kein netter Kerl.

Aber er schwieg. Es gab nichts zu sagen. Die Situation war eindeutig, der Junge hatte Larrys Gegenwehr erzwungen. Als er Joe betrachtete, der sich jetzt verzweifelt über die Knie gekrümmt und den Daumen in den Mund gesteckt hatte, bezweifelte er, ob der Junge selbst die Situation ausgelöst hatte. Aber es hätte schlimmer ausgehen können, mit einer Stichwunde oder möglicherweise sogar einem Toten.

Also sagte er nichts, sah der Frau in die sanften Augen und dachte: Ich glaube, ich habe mich verändert. Irgendwie. Ich weiß nicht, wie sehr. Er mußte an etwas denken, das Barry Grieg einmal zu ihm gesagt hatte - über einen Rhythmusgitarristen aus L. A., einen Typen namens Jory Baker, der stets pünktlich kam, nie eine Probe versäumte oder eine Aufnahme versaute. Kein Gitarrist, der einem ins Auge fiel, kein Showman wie Angus Young oder Eddie Van Haien, aber ein fähiger Bursche. Barry hatte gesagt, daß dieser Jory Baker mal die treibende Kraft einer Gruppe namens Sparx gewesen war, eine Gruppe, die jedermann als die erfolgversprechendste des Jahres betrachtete. Sie hatten einen Sound draufgehabt wie die frühen Creedence: harter, solider Gitarren-Rock. Jory Baker hatte die Sachen fast sämtlich alleine geschrieben und durch die Bank selbst gesungen. Dann ein Autounfall, gebrochene Knochen, jede Menge Dope im Krankenhaus. Er war rausgekommen, wie es in einem Song von John Prine hieß, »with a steel plate in his head and a monkey on his back« - »mit einer Stahlplatte im Schädel und einem Affen auf dem Rücken«. Er stieg von Demerol auf Heroin um. Wurde ein paarmal hopps genommen. Nach einer Weile war er einer von vielen namenlosen Junkies mit zittrigen Fingern, der am GreyhoundBusbahnhof um Kleingeld bettelte und auf dem Strich rumhing. Dann war er irgendwie über einen Zeitraum von achtzehn Monaten hinweg clean geworden und clean geblieben. Aber er war nicht mehr derselbe. Er war nicht mehr die treibende Kraft einer Gruppe, ob erfolgversprechendste des Jahres oder sonstwas, aber er kam immer noch pünktlich, versäumte keine Probe und versaute keine Aufnahme. Er redete nicht viel, aber der Highway der Nadeleinstiche am linken Arm war verschwunden. Und Barry Grieg hatte gesagt: Er ist auf der anderen Seite rausgekommen. Mehr nicht. Niemand kann sagen, was sich zwischen der Person, die man war, und der Person, die man wird, abspielt. Niemand kann diese deprimierende, einsame Sektion der Hölle kartographieren. Es gibt keine Karten der Veränderung. Man kommt... eben einfach auf der anderen Seite raus.

Oder auch nicht.

Ich habe mich irgendwie verändert, dachte Larry dumpf. Ich bin auch auf der anderen Seite rausgekommen.

Sie sagte: »Ich bin Nadine Cross. Das ist Joe, Freut mich, Sie kennenzulernen. «

»Larry Underwood.«

Sie gaben sich die Hand und mußten beide wegen der absurden Situation lächeln.

»Gehen wir zur Straße zurück«, sagte Nadine.

Sie gingen nebeneinander, und nach ein paar Schritten sah Larry über die Schulter zu Joe, der immer noch über die Knie gebeugt saß, am Daumen lutschte und offenbar gar nicht mitbekommen hatte, dass sie gegangen waren.

»Er wird schon kommen«, sagte sie leise.

»Sind Sie sicher?«

»Ganz sicher.«

Als sie die Schotterböschung des Highway erreicht hatten, stolperte sie, und Larry nahm ihren Arm. Sie sah ihn dankbar an.

»Können wir uns setzen?« fragte sie.

Sie setzten sich einander gegenüber auf das Pflaster. Nach einer Weile stand Joe auf und trottete mit gesenktem Kopf zu ihnen herüber. Er setzte sich ein Stück von ihnen entfernt hin. Larry sah ihn mißtrauisch an, dann Nadine Cross.

»Sie beide sind mir gefolgt.«

»Das haben Sie gewußt? Ja. Dachte ich mir.«

»Wie lange?«

»Zwei Tage«, sagte Nadine. »Wir waren in dem großen Haus in Epsom.« Als sie seinen verwirrten Blick sah, fügte sie hinzu: »Am Bach. Sie sind an der Steinmauer eingeschlafen.«

Er nickte. »Und gestern nacht sind Sie beide gekommen und haben mich beobachtet, als ich auf der Veranda geschlafen habe. Vielleicht um zu sehen, ob ich Hörner oder einen langen roten Schwanz habe.«

»Das war Joe«, sagte sie leise. »Als ich sah, daß er weg war, bin ich ihm nachgelaufen. Woher wußten Sie das?«

»Sie haben Spuren im Tau hinterlassen.«

»Oh.« Sie sah ihn prüfend an, musterte ihn, und Larry hätte gern die Augen niedergeschlagen, tat es aber nicht. »Ich möchte nicht, dass Sie wütend auf uns sind. Das klingt wahrscheinlich ein bißchen lächerlich, nachdem Joe gerade versucht hat, Sie umzubringen, aber dafür ist Joe nicht verantwortlich.«

»Ist das sein richtiger Name?«

»Nein, ich nenne ihn nur so.«

»Er ist wie ein Wilder in einer Fernsehsendung von National Geographie.«

»Ja, genau. Ich habe ihn vor einem Haus auf dem Rasen gefunden. Vielleicht war es sein Elternhaus. An der Tür stand >Rockway<. Joe war krank.

Er war gebissen worden. Wahrscheinlich von einer Ratte. Er spricht nicht. Er knurrt und grunzt nur. Bis heute morgen hatte ich ihn unter Kontrolle. Aber ich... ich bin müde, wissen Sie... und...« Sie zuckte die Achseln. Der Schlamm trocknete in Mustern auf ihrer Bluse, die wie chinesische Schriftzeichen aussahen. »Ich mußte ihn erst anziehen. Er hat alles wieder ausgezogen, bis auf die Unterhose. Zuletzt hatte ich keine Lust mehr. Ich bin Lehrerin, keine Missionarin. Die Mücken und Moskitos scheinen ihn nicht zu stören.« Sie machte eine Pause. »Ich will, daß Sie uns mitnehmen. Was das betrifft, muss man in dieser Situation wohl nicht schüchtern sein.«

Larry fragte sich, was sie wohl denken würde, wenn er ihr von der letzten Frau erzählte, die mit ihm kommen wollte. Das würde er natürlich nie tun; diese Episode war tief begraben, auch wenn die betreffende Frau es nicht war. Er wollte Ritas Namen ebensowenig ins Spiel bringen, wie ein Mörder den Namen seines Opfers auf einer Party erwähnen würde.

»Ich weiß nicht, wohin ich gehe«, sagte er. »Ich bin von New York City gekommen, wahrscheinlich über einen ziemlichen Umweg. Ich wollte mir ein schönes Haus an der Küste suchen und dort bis Oktober oder so bleiben. Aber je länger ich unterwegs bin, um so mehr sehne ich mich nach anderen Menschen. Je länger ich unterwegs bin, um so schlimmer trifft mich das alles.«

Er drückte sich ungeschickt aus und konnte es wohl auch nicht besser, ohne Rita oder seine schlimmen Träume von dem dunklen Mann zu erwähnen.

»Ich hatte oft schreckliche Angst«, sagte er vorsichtig. »Weil ich allein bin. Ziemlich verrückt. Als hätte ich erwartet, daß Indianer mich überfallen und skalpieren.«

»Mit anderen Worten, Sie suchen jetzt keine Häuser mehr, sondern Menschen.«

»Ja, vielleicht.«

»Sie haben uns gefunden. Ist doch schon was.«

»Ich glaube, Sie haben mich gefunden. Und dieser Junge macht mir Sorgen, Nadine. Das muß ich ehrlich sagen. Sein Messer ist weg, aber die Welt wimmelt von Messern, man muß sie nur aufsammeln.«

»Ja.«

»Ich will mich nicht brutal ausdrücken, aber...« Er verstummte und hoffte, sie würde es selbst sagen, aber sie sagte gar nichts, sah ihn nur mit ihren dunklen Augen an.

»Wären Sie bereit, ihn zurückzulassen?« Jetzt war es heraus, ausgespuckt wie ein Stein, und er hörte sich immer noch nicht wie ein netter Kerl an... aber war es richtig, eine schlimme Situation noch schlimmer zu machen, indem man sich mit einem zehnjährigen Psychopathen belastete? Er hatte ihr gesagt, daß er brutal sein würde, und das war er wohl auch gewesen. Aber sie lebten jetzt in einer brutalen Welt.

Derweil bohrte sich der Blick von Joes meerwasserblauen Augen in ihn.

»Das könnte ich nicht«, sagte Nadine ruhig. »Ich sehe die Gefahr, und ich weiß, daß in erster Linie Sie gefährdet sind. Er ist eifersüchtig. Er hat Angst, daß Sie wichtiger für mich werden könnten als er. Es könnte sein, daß er... daß er es noch einmal versucht, es sei denn, Sie können mit ihm Freundschaft schließen oder ihn wenigstens davon überzeugen, daß Sie nicht die Absicht haben...«

Sie verstummte und ließ offen, was sie hatte sagen wollen. »Aber wenn ich ihn zurückließe, wäre das gleichbedeutend mit Mord. Damit will ich nichts zu tun haben. So viele sind gestorben, daß man keinen mehr töten sollte.«

»Wenn er mir mitten in der Nacht die Kehle durchschneidet, damit haben Sie dann etwas zu tun.«

Sie senkte den Kopf.

So leise, daß hoffentlich nur sie ihn hören konnte - er wußte nicht, ob Joe, der sie beobachtete, ihre Unterhaltung verstand oder nicht-, sagte Larry: »Er hätte es wahrscheinlich schon gestern nacht getan, wenn Sie ihm nicht gefolgt wären. Oder nicht?«

Sie antwortete leise: »Könnte sein.«

Larry lachte. »Der Geist der zukünftigen Weihnacht?«

Sie sah auf. »Ich will mit Ihnen gehen, Larry, aber ich kann Joe nicht zurücklassen. Das müssen Sie entscheiden.«

»Sie machen es mir nicht leicht.«

»Heutzutage ist das ganze Leben nicht mehr leicht.«

Er dachte darüber nach. Joe saß auf der weichen Böschung an der Straße und sah aus seinen Meerwasseraugen zu ihnen herüber. Hinter ihnen schlugen die Wellen des Ozeans unaufhörlich gegen die Felsen und dröhnten in den geheimen Tunneln, wo sie das Land ausgehöhlt hatten.

»Na gut«, sagte er. »Ich finde, Sie sind gefährlich weichherzig, aber... na gut.«

»Danke«, sagte Nadine. »Ich übernehme die Verantwortung für alles, was er tut.«

»Ein schöner Trost, wenn er mich aufgeschlitzt hat.«

»Das würde mir bis an mein Lebensende auf der Seele liegen«, sagte Nadine, und eine plötzliche Gewißheit, daß sich alle ihre Worte über die Unverletzlichkeit des Lebens eines nicht zu fernen Tages erheben und sie verspotten würden, durchfuhr sie wie ein kalter Wind, so daß sie erschauerte. Nein, sagte sie sich. Ich werde nicht töten. Das nicht. Niemals.




Sie verbrachten die Nacht im weichen weißen Sand des öffentlichen Strandes von Wells. Larry entfachte ein großes Lagerfeuer oberhalb des Tangstreifens, der den letzten Hochwasserstand markierte, und Joe saß abseits von ihm und Nadine und warf hin und wieder kleine Äste in die Flammen. Ab und zu hielt er einen größeren Ast ins Feuer, bis dieser wie eine Fackel brannte; dann lief er damit am Strand entlang und hielt ihn hoch wie eine riesige brennende Geburtstagskerze. Sie beobachteten ihn, bis er aus dem dreißig Schritte messenden Lichtkreis des Feuers verschwunden war, sahen dann nur noch die Fackel, deren Flamme bei Joes schnellem Lauf nach hinten geweht wurde. Der Wind war stärker geworden, es war so frisch wie seit Tagen nicht mehr. Larry erinnerte sich vage an den Regenguß an dem Nachmittag, als er seine sterbende Mutter gefunden hatte, bevor die Super-Grippe wie ein außer Kontrolle geratener Güterzug über New York hinweggerast war. Erinnerte sich an das Gewitter und die weißen Vorhänge, die wild in die Wohnung geweht worden waren. Er zitterte ein wenig, und der Wind ließ eine Flammenspirale aus dem Feuer zum schwarzen Sternenhimmel emportanzen. Fünkchen stoben noch höher und erloschen. Er dachte an den Herbst, der immer noch in weiter Ferne lag, aber nicht mehr so weit wie an dem Tag im Juni, als er seine Mutter im Delirium auf dem Fußboden gefunden hatte. Im Norden, weit entfernt am Strand, hüpfte Joes Fackel auf und ab. Er fühlte sich einsam und noch kälter - und nur wegen diesem einen Licht, das in der gewaltigen, stummen Dunkelheit flackerte. Die Brandung rollte und dröhnte.

»Spielen Sie?«

Er zuckte zusammen, als er ihre Stimme hörte, und betrachtete den Gitarrenkasten, der neben ihnen im Sand lag. Er hatte im Musikzimmer des großen Hauses, in das sie eingebrochen waren, um ihre Vorräte zu ergänzen, an einem Steinway-Flügel gelehnt. Larry hatte so viele Dosen in den Rucksack gepackt, wie sie brauchten, um die heute verzehrten Vorräte zu ergänzen, und die Gitarre ganz impulsiv mitgenommen, ohne in den Kasten zu sehen, um was für ein Modell es sich handelte - wenn sie aus so einem Herrenhaus stammte, mußte sie einfach gut sein. Er hatte seit dieser irren Party in Malibu nicht mehr gespielt, und das war vor sechs Wochen gewesen. In einem anderen Leben.

»Ja, ich kann spielen«, sagte er und stellte fest, daß er spielen wollte, nicht für sie, sondern weil es manchmal gut tat zu spielen; es entspannte. Und wenn man ein Feuer am Strand hatte, mußte einfach jemand Gitarre spielen. Das war eine praktisch in Stein gemeißelte Weisheit.

»Mal sehen, was wir da haben«, sagte er und ließ die Laschen des Gitarrenkastens aufklappen.

Er hatte ein teures Instrument erwartet, aber was er in dem Kasten fand, war dennoch eine freudige Überraschung. Es war eine zwölfsaitige Gibson, ein wunderschönes Instrument, vielleicht sogar handgefertigt. Larry war nicht Fachmann genug, das zu beurteilen. Er wußte aber, daß die Intarsien am Griffbrett aus echtem Perlmutt waren - das orangerote Leuchten des Feuers spiegelte sich darin und machte sie zu Prismen des Lichts.

»Sie ist wunderschön«, sagte Nadine.

Er schlug die Saiten an, und der Klang gefiel ihm, obwohl die Gitarre offen und obendrein nicht richtig gestimmt war. Der Klang war voller als der einer sechssaitigen. Ein harmonischer Klang, aber hart. Das war das Gute an einer Gitarre mit Stahlsaiten, der schöne harte Klang. Und die Saiten waren Black Diamonds, abgegriffen und leicht verzogen, aber man bekam einen schönen, ehrlichen Preis für sein Spiel; das Instrument klang nur ein wenig rauh, wenn man Akkorde wechselte - zing! Er lächelte ein wenig, als er an Barry Grieg dachte, der die glatten, flachen Stahlsaiten so verachtet hatte.

»Dollardrähte«, hatte er sie immer genannt. Der gute alte Barry, der Steve Miller sein wollte, wenn er groß war.

»Weshalb lächeln Sie?« fragte Nadine.

»Wegen der alten Zeiten«, sagte er, und ein wenig Trauer stieg in ihm auf.

Er stimmte nach Gehör, genau richtig, und dachte immer noch an Barry und Johnny McCall und Wayne Stukey. Als er zum Ende kam, tippte sie ihn leicht auf die Schulter, und er sah auf. Joe stand neben dem Feuer und hielt den abgebrannten Ast weltvergessen in der Hand. Er stand mit offenem Mund da und blickte Larry mit unverhohlener Faszination in den seltsamen Augen an.

Sehr leise, so leise, daß es ein Gedanke in seinem Kopf hätte sein können, sagte Nadine: »Musik hat einen Zauber...«

Larry schlug eine einfache Melodie auf der Gitarre an, einen alten Blues, den er als Teenager aus einem Elektra-Folk-Album nachgespielt hatte. Ursprünglich von Koerner Ray und Glover, dachte er. Als er glaubte, daß er die Melodie im Griff hatte, ließ er sie über den Strand klingen, und dann sang er... sein Gesang war schon immer besser als sein Spiel gewesen.

»Well you see me comin baby from a long ways away


I will turn the night mamma right into day


Cause l'm here


A long ways from my home


But you can hear me comin baby


By the slappin on my black cat bone.«



Der Junge grinste jetzt, grinste so erstaunt wie jemand, der ein kostbares Geheimnis entdeckt hat. Er sah aus wie einer, der lange, lange Zeit an einem Jucken zwischen den Schulterblättern litt, wo er nicht hinkam, fand Larry, und endlich jemanden gefunden hatte, der ganz genau wußte, wo er kratzen mußte. Er kramte in den lange brach gelegenen Archiven seines Verstandes nach einer zweiten Strophe und fand eine.

»I can do some things mamma that other men can't do


They can't find the numbers baby, can't work the conqueror root


But I can, cause l'm a long ways from my home


And you know you'll hear me comin


By the whacking on my black cat bone.«





Das offene, entzückte Grinsen des Jungen ließ seine Augen aufleuchten und verwandelte sie in etwas, dachte Larry, das höchstwahrscheinlich die Schenkelmuskeln eines jeden jungen Mädchens etwas entkrampfen würde. Er suchte nach einer instrumentalen Überleitung und bewerkstelligte sie gar nicht so schlecht. Seine Finger entlockten der Gitarre die richtigen Töne: hart, knapp, ein klein wenig kitschig, wie gestohlener Modeschmuck, der an einer Straßenecke aus einer Papiertüte verkauft wurde. Er prahlte ein wenig damit, wechselte aber hastig zu einem guten alten E mit drei Fingern über, ehe er die Melodie völlig versaute. An die letzte Strophe, etwas über Eisenbahnschienen, konnte er sich nicht mehr erinnern, daher wiederholte er die erste und hörte dann auf. Als Stille eingetreten war, lachte Nadine und klatschte in die Hände. Joe warf den Ast weg, hüpfte im Sand auf und ab und stiess Freudenschreie aus. Larry konnte die Veränderung des Jungen kaum fassen und ermahnte sich, sie nicht zu ernst zu nehmen. Damit würde er nur eine Enttäuschung riskieren.


Musik hat einen Zauber, der selbst die wilde Bestie zähmen kann.

Er fragte sich voll ungewolltem Mißtrauen, ob es wirklich so einfach sein konnte. Joe gestikulierte, und Nadine sagte: »Er möchte, dass Sie noch etwas spielen. Würden Sie das tun? Es war wunderschön. Ich fühle mich schon besser. Viel besser.«

Er spielte Geoff Maladurs »Goin Downtown« und seinen eigenen »Sally's Fresno Blues«; er spielte »The Springhill Mine Disaster« und Arthur Crudups »That's All Right, Mamma«. Dann ging er zu einfachen Rock'-n'-Roll-Rhythmen über-»Milk Cow Blues«, »Jim Dandy«, »Twenty Flight Rock« (hier spielte er den Boogie-WoogieRhythmus des Refrains so gut er konnte, obwohl seine Finger mittlerweile langsam und taub wurden und schmerzten), und als Abschluß einen Song, der ihm immer gut gefallen hatte, »Endless Sleep« von Jody Reynolds.

»Ich kann nicht mehr spielen«, sagte er zu Joe, der während der ganzen Darbietung reglos dagestanden hatte. »Meine Finger.« Er streckte sie aus und zeigte die tiefen Rillen, die die Saiten in seine Finger gedrückt hatten, und die abgebrochenen Nägel. Der Junge streckte ebenfalls die Hände aus.

Larry überlegte einen Augenblick und zuckte innerlich die Achseln. Er gab dem Jungen die Gitarre, Hals voraus. »Man braucht viel Übung«, sagte er.

Aber es erfolgte das Erstaunlichste, das er je im Leben gehört hatte. Der Junge spielte »Jim Dandy« fast fehlerlos an, aber er heulte die Worte mehr als er sie sang, als würde ihm die Zunge am Gaumen kleben. Gleichzeitig war völlig klar, daß er noch nie im Leben Gitarre gespielt hatte; er drückte die Saiten nicht fest genug, so daß der Klang nicht voll und rein war, und seine Akkordwechsel waren verzerrt und unbeholfen. Der Klang war gedämpft und gespenstisch, als würde Joe auf einer Gitarre spielen, in die man Watte gestopft hatte, aber sonst war es eine perfekte Nachahmung dessen, was Larry gespielt hatte.

Als er fertig war, betrachtete Joe neugierig seine Finger, als versuchte er zu begreifen, warum sie nur die Substanz der Melodie hervorbringen konnten, die Larry gespielt hatte, aber nicht die klaren Töne selbst.

Wie aus weiter Ferne hörte Larry sich benommen sagen: »Du drückst nicht fest genug, das ist alles. Du mußt Hornhaut - harte Schwielen - an den Fingerspitzen bekommen. Und die Muskeln deiner linken Hand müssen kräftiger werden.«

Joe sah ihn aufmerksam an, während er sprach, aber Larry wußte nicht, ob der Junge ihn wirklich verstand. Er wandte sich an Nadine.

»Wußten Sie, daß er das kann?«

»Nein. Ich bin so erstaunt wie Sie. Als wäre er eine Art Wunderkind, nicht wahr?«

Larry nickte. Der Junge spielte »That's All Right, Mamma« und brachte wieder fast jede Nuance, die Larry in sein Spiel hineingelegt hatte. Aber die Saiten klangen manchmal dumpf wie Holz, wenn Joes Finger die Schwingungen blockierten, anstatt sie schwingen zu lassen.

»Komm, ich zeig' es dir«, sagte Larry und streckte die Hände nach der Gitarre aus. Joe kniff sofort mißtrauisch die Augen zusammen. Larry vermutete, daß er an das Messer dachte, das im Meer verschwunden war. Der Junge wich zurück und hielt die Gitarre fest.

»Na gut«, sagte Larry. »Sie gehört dir. Wenn du Unterricht möchtest, komm zu mir.«

Der Junge johlte vor Freude, lief mit der Gitarre den Strand entlang und hielt sie hoch über den Kopf, wie eine Opfergabe.

»Er wird sie in Stücke schlagen«, sagte Larry.

»Nein«, erwiderte Nadine, »das glaube ich nicht.«




Irgendwann in der Nacht wachte Larry auf und stützte sich auf einen Ellbogen. Nadine war eine in drei Decken gehüllte weibliche Gestalt; sie lag ein Viertel des Weges um das erloschene Feuer herum. Larry direkt gegenüber lag Joe. Auch er war in mehrere Wolldecken gehüllt, aber sein Kopf schaute heraus. Er hatte den Daumen wieder fest in den Mund gekorkt. Die Beine hatte er angezogen, dazwischen lag die zwölfsaitige Gibson. Joes freie Hand lag locker um den Hals des Instruments. Larry betrachtete ihn fasziniert. Er hatte dem Jungen das Messer weggenommen und es ins Wasser geworfen; jetzt hatte der Junge die Gitarre. Gut, sollte er sie haben. Mit einer Gitarre konnte man niemanden erstechen, obwohl sie, wie Larry vermutete, immerhin eine brauchbare stumpfe Waffe abgeben würde. Er schlief wieder ein.




Als er am nächsten Morgen aufwachte, saß Joe mit der Gitarre im Schoß auf einem Felsen, ließ die nackten Füße in die Gischt baumeln und spielte »Sally's Fresno Blues«. Er war besser geworden. Nadine wachte zwanzig Minuten später auf und lächelte ihn strahlend an. Larry stellte fest, daß sie eine hübsche Frau war, und ihm fiel eine Zeile aus einem Song von Chuck Berry ein: Nadine, honey is that you?

Laut sagte er: »Mal sehen, was wir zum Frühstück haben?«

Er zündete das Feuer wieder an, und die drei setzten sich dicht darum, um die nächtliche Kälte aus den Knochen zu vertreiben. Nadine machte Haferbrei mit Milchpulver, und sie tranken starken Tee, nach Landstreicherart in einer Konservendose aufgebrüht.

Joe hatte beim Essen die Gibson auf dem Schoß liegen. Und zweimal überraschte Larry sich dabei, daß er den Jungen anlächelte. Jemanden, der die Gitarre liebt, kann man nicht hassen, dachte er.




Sie fuhren auf der US 1 weiter nach Süden. Joe fuhr mit seinem Rad direkt auf dem Mittelstreifen, manchmal bis zu einer Meile voraus. Als sie ihn einmal einholten, schob er sein Rad am Straßenrand entlang und aß auf amüsante Weise Brombeeren - er warf jede einzelne Beere in die Luft und fing sie dann unfehlbar mit dem Mund auf. Eine Stunde später sahen sie ihn auf einem historischen Gedenkstein des Unabhängigkeitskriegs sitzen und »Jim Dandy« auf der Gitarre spielen.

Kurz vor elf Uhr kamen sie vor einer kleinen Stadt namens Ogunquit an eine bizarre Straßensperre. Drei orangerote Wagen von der städtischen Müllabfuhr blockierten die Straße in ihrer ganzen Breite. Hinten in einem der Müllbehälter lag die von Krähen angefressene Leiche eines Mannes. Die Hitze der letzten zehn Tage war nicht ohne Wirkung geblieben. Wo der Körper nicht bekleidet war, wimmelten Maden.

Nadine wandte sich ab. »Wo ist Joe?« fragte sie.

»Ich weiß nicht. Irgendwo da vorn.«

»Ich wünschte, ihm wäre der Anblick erspart geblieben. Oder ob er's schon gesehen hat?«

»Wahrscheinlich«, sagte Larry. Ihm war aufgefallen, daß die Route 1 für eine Hauptverkehrsader reichlich verödet war, seit sie Wells verlassen hatten - nicht mehr als ein Dutzend liegengebliebener Autos unterwegs. Jetzt wurde ihm der Grund dafür klar. Sie hatten die Straße gesperrt. Wahrscheinlich standen auf der anderen Seite der Stadt Hunderte, möglicherweise Tausende Autos. Er wußte, was Nadine für Joe empfand. Es wäre gut gewesen, dem Jungen das zu ersparen.

»Warum hat man die Straße gesperrt?« fragte sie ihn. »Warum hat man das getan?«

»Weil die Leute wahrscheinlich versucht haben, ihre Stadt abzuriegeln. Ich könnte mir vorstellen, daß wir am anderen Ende ebenfalls eine Straßensperre finden.«

»Sind da noch mehr Leichen?«

Larry stellte das Rad auf den Klappständer und sah nach.

»Drei«, sagte er.

»Drei. Ich will sie nicht zu Gesicht kriegen.«

Er nickte. Sie schoben die Räder an den Autos vorbei und fuhren weiter. Der Highway führte jetzt wieder am Meer entlang, es war kühler. Ferienhäuser standen in langen, tristen Reihen zusammengedrängt. In solchen Unterkünften verbrachten Leute ihren Urlaub? fragte Larry sich verwundert. Warum nicht gleich nach Harlem gehen und die Kinder unter dem Spritzwasser der Hydranten spielen lassen?

»Nicht sehr hübsch, was?« fragte Nadine. Auf beiden Straßenseiten sahen sie die Quintessenz eines schäbigen Strandbadeorts: Tankstellen, Verkaufsstände für fritierte Muscheln, Eisbuden, in fiebernden Pastellfarben gestrichene Motels, Minigolfanlagen. Der Anblick war für Larry in zweifacher Hinsicht schmerzlich. Zum einen beklagte er die triste und schreiende Häßlichkeit der Umgebung und die kranken Hirne der Menschen, die aus diesem großartigen wilden Küstenstreifen einen einzigen riesigen Vergnügungspark für Familien in Kombiwagen gemacht hatten. Aber ein umsichtiger, tieferer Teil von ihm flüsterte von den Leuten, die diesen Ort und diese Straße sonst im Sommer mit Leben erfüllt hatten. Damen in Sonnenhüten und in Shorts, die viel zu eng waren für ihre gewaltigen Hinterteile. College-Studenten in rotschwarzgestreiften Rugbyhemden. Mädchen in knappen Strandanzügen und Riemensandalen. Schreiende kleine Kinder, die Eiscreme im Gesicht verschmiert. Allesamt Amerikaner, und wenn sie in Gruppen auftraten, ging eine gewisse schmutzige, rührende Romantik von ihnen aus - ganz gleich, ob die Gruppe sich in einer Skihütte in Aspen befand oder an der US 1 in Maine ihren prosaischen Sommerritualen folgte. Und jetzt waren all diese Amerikaner fort. Ein Gewittersturm hatte einen Ast von einem Baum gerissen, und dieser hatte die riesige Plastikreklame »Dairy Treet« der Eisbude auf den Parkplatz gestoßen, wo sie wie eine verblichene Narrenkappe lag. Das Gras auf dem Minigolfplatz wucherte. Dieses Straßenstück zwischen Portland und Portsmouth war früher ein siebzig Meilen langer Vergnügungspark gewesen, aber jetzt war es nur noch eine verlassene Geisterbahn.

»Nicht sehr hübsch, nein«, sagte er, »aber es hat einmal uns gehört, Nadine. Einmal hat es uns gehört, auch wenn wir noch nie hier gewesen sind. Und jetzt ist es dahin.«

»Aber nicht für immer«, sagte sie, und er sah sie an, ihr sauberes, strahlendes Gesicht. Ihre Stirn, aus der das erstaunliche Haar mit den weißen Strähnen nach hinten gekämmt war, leuchtete wie eine Lampe. »Ich bin nicht religiös, aber wenn ich es wäre, würde ich das, was geschehen ist, eine Strafe Gottes nennen. In zweihundert Jahren wird alles wieder uns gehören.«

»Diese Lastwagen werden auch in zweihundert Jahren nicht verschwunden sein.«

»Nein, aber die Straße. Die Lastwagen werden mitten auf einem Feld oder in einem Wald stehen, und wo früher ihre Reifen waren, werden Rittersporn und Frauenschuh wachsen. Es werden keine Lastwagen mehr sein. Es werden Relikte sein.«

»Ich glaube, Sie irren sich.«

»Warum sollte ich mich irren?«

»Weil wir andere Menschen suchen«, sagte Larry. »Und warum machen wir das? Was meinen Sie?«

Sie sah ihn besorgt an. »Nun... weil es das Richtige ist«, sagte sie.

»Menschen brauchen andere Menschen. Haben Sie das nicht auch gespürt? Als Sie allein waren?«

»Doch«, sagte Larry. »Wenn wir einander nicht haben, werden wir vor Einsamkeit verrückt. Und wenn wir zusammen sind, dann werden wir verrückt, weil wir zusammen sind. Wenn wir zusammen sind, bauen wir meilenlange Sommerhäuserzeilen und bringen einander samstagsabends in Bars um.« Er lachte. Es war ein kalter, unglücklicher und völlig humorloser Laut, und er hing noch ziemlich lange in der Luft. »Es gibt keine Antwort. Es ist, als würde man im Innern eines Eisblocks stecken. Kommen Sie - Joe dürfte uns schon weit voraus sein.«

Sie stand noch einen Moment breitbeinig über dem Fahrrad und sah mit besorgtem Blick Larrys Rücken nach. Dann folgte sie ihm. Er konnte unmöglich recht haben. Unmöglich. Wenn etwas so Monströses wie das hier passiert war, ohne einen Grund, was hatte dann alles andere für einen Sinn? Warum waren sie dann überhaupt noch am Leben?




Joe war doch nicht so weit vorausgefahren. Sie fanden ihn in einer Einfahrt auf der hinteren Stoßstange eines Ford. Er blätterte in einem Sex-Magazin, das er irgendwo gefunden hatte, und Larry stellte peinlich berührt fest, daß der Junge eine Erektion hatte. Er warf Nadine einen raschen Blick zu, aber sie sah in eine andere Richtung - vielleicht absichtlich.

Als sie die Einfahrt erreichten, fragte Larry: »Kommst du?« Joe legte das Magazin weg, aber statt aufzustehen, stieß er einen gutturalen, fragenden Laut aus und deutete in die Luft. Larry sah hektisch hoch und glaubte zuerst, der Junge habe ein Flugzeug gesehen. Dann rief Nadine: »Nicht der Himmel, die Scheune!« Ihre Stimme klang belegt und gepreßt vor Aufregung. »An der Scheune! Gott sei Dank, dass wir dich haben, Joe. Wir hätten es nie gesehen!«

Sie ging zu Joe und nahm ihn in die Arme. Larry wandte sich zur Scheune, wo sich große weiße Buchstaben deutlich von dem verwitterten Schindeldach abhoben.

SIND NACH STOVINGTON, VT. SEUCHENZENTRUM

Darunter standen Wegbeschreibungen. Und ganz unten:

ABFAHRT VON OGUNQUIT AM 2. JULI 1990


HAROLD EMERY LAUDER


FRANCES GOLDSMITH


»Mein lieber Mann, der muß mit dem Hintern ganz schön hoch im Wind gehangen haben, als er die letzte Zeile geschrieben hat«, sagte Larry. »Das Seuchenzentrum«, sagte Nadine, ohne ihn zu beachten. »Warum habe ich daran nicht gleich gedacht? Ich habe vor nicht mal drei Monaten in der Sonntagsbeilage einen Artikel darüber gelesen! Dorthin sind sie also!«

»Wenn sie noch leben.«

»Noch leben? Natürlich leben sie noch. Am 2. Juli war die Seuche vorbei. Und wenn sie auf das Scheunendach steigen konnten, waren sie nicht krank.«

»Einer der beiden muß jedenfalls ganz schön munter gewesen sein«, stimmte Larry zu und spürte, wie sich eine fast widerwillige Aufregung in seinem Magen ausbreitete. »Wenn ich daran denke, daß ich selbst durch Vermont gefahren bin.«

»Stovington liegt ein ganzes Stück nördlich des Highway 9«, sagte Nadine, die immer noch zur Scheune sah, abwesend. »Trotzdem müssen sie inzwischen dort sein, Larry. Der 2. Juli war heute vor zwei Wochen.« Ihre Augen glänzten. »Glauben Sie, es sind noch andere im Seuchenzentrum, Larry? Wäre doch möglich, meinen Sie nicht auch? Dort weiß man doch alles über Quarantäne und sterile Kleidung. Die Leute arbeiten bestimmt an einem Gegenmittel, oder?«

»Ich weiß nicht«, sagte Larry vorsichtig.

»Ganz bestimmt«, sagte sie ungeduldig und ein wenig aufgebracht. Larry hatte sie noch nie so erregt gesehen, nicht einmal als Joe seine erstaunliche Darbietung von Mimikry auf der Gitarre vorgeführt hatte. »Ich wette, Harold und Frances haben Dutzende Leute getroffen, vielleicht Hunderte. Wir brechen sofort auf. Der kürzeste Weg...«

»Warten Sie«, sagte Larry und faßte sie an den Schultern.

»Was heißt warten? Wissen Sie überhaupt...«

»Ich weiß, daß die Nachricht zwei Wochen darauf gewartet hat, dass wir vorbeikommen, und sie kann noch ein wenig länger warten. Zuerst werden wir essen. Und der gute Joe, der süchtige Gitarrenspieler, schläft schon im Stehen ein.«

Sie drehte sich um. Joe blätterte wieder in dem Sex-Magazin, aber sein Kopf sank herab, und die Augen, unter denen dunkle Ringe lagen, blinzelten glasig.

»Sie haben doch gesagt, daß er gerade eine Infektion überstanden hat«, sagte Larry. »Und Sie haben auch eine weite Reise hinter sich... ganz zu schweigen davon, daß Sie unseren blauäugigen Gitarristen verfolgen mußten.«

»Sie haben recht... daran habe ich nicht gedacht.«

»Er braucht ein gutes Essen und Schlaf.«

»Sicher. Joe, es tut mir leid. Das war dumm von mir.«

Joe grunzte verschlafen und weitgehend desinteressiert. Bei dem, was Larry als nächstes sagen wollte, spürte er einen dicken Kloss Angst im Hals, aber es mußte gesagt werden. Wenn er es nicht sagte, würde es Nadine tun, sobald sie Ruhe zum Nachdenken hatte... und außerdem wurde es Zeit, herauszufinden, ob er sich wirklich so sehr geändert hatte, wie er glaubte.

»Nadine, können Sie fahren?«

»Fahren? Sie meinen, ob ich einen Führerschein habe? Ja, aber ein Auto wäre bei den vielen Hindernissen auf der Straße unpraktisch, oder nicht? Ich meine...«

»Ich hatte nicht an ein Auto gedacht«, sagte er, und Ritas Bild, wie sie hinter dem geheimnisvollen Mann auf dem Soziussitz saß (in seiner Vorstellung wahrscheinlich die symbolische Darstellung des Todes), erschien plötzlich vor seinem inneren Auge: Beide waren dunkel und bleich und rasten auf einer riesigen Harley auf ihn zu, wie unheimliche apokalyptische Reiter. Bei diesem Gedanken wurde sein Mund trocken, und seine Schläfen pochten, aber er sprach mit ruhiger Stimme weiter. Jedenfalls schien Nadine nichts zu bemerken. Seltsamerweise war es Joe, der aus seinem Halbschlaf zu ihm aufsah und eine Veränderung festzustellen schien.

»Ich dachte an Motorräder. Wir könnten mit weniger Anstrengung längere Strecken zurücklegen und sie um... um irgendwelche Hindernisse herumschieben. Wie wir die Fahrräder um die Lastwagen dort hinten geschoben haben.«

Wachsende Erregung in ihren Augen. »Ja, das könnten wir. Ich bin noch nie mit einem Motorrad gefahren, aber das könnten Sie mir ja beibringen, nicht wahr?«

Bei den Worten ich bin noch nie mit einem Motorrad gefahren wuchs Larrys Grauen. »Ja«, sagte er. »Aber ich kann Ihnen für den Anfang nur beibringen, ganz langsam zu fahren, bis Sie das Gefühl für die Maschine bekommen. Sehr langsam. Ein Motorrad verzeiht keinen Fehler, und ich kann Sie nicht zum Arzt bringen, wenn Sie auf dem Highway einen Unfall bauen.«

»Dann machen wir es so. Wir werden... sagen Sie, Larry, sind Sie Motorrad gefahren, bevor Sie uns getroffen haben? Müssen Sie wohl, sonst hätten Sie es nicht so schnell von New York bis hier geschafft.«

»Ich hab' die Maschine stehenlassen«, sagte er ruhig. »Es hat mich nervös gemacht, allein zu fahren.«

»Gut, jetzt sind Sie nicht mehr allein«, sagte Nadine fröhlich. Sie wirbelte zu Joe herum. »Wir fahren nach Vermont, Joe! Wir werden andere Menschen treffen! Ist das nicht schön? Ist das nicht großartig?«

Joe gähnte.

Nadine sagte, sie wäre zu aufgeregt zum Schlafen, würde sich aber mit Joe hinlegen, bis dieser eingeschlafen war. Larry fuhr nach Ogunquit, um eine Motorradhandlung zu suchen. Er fand keine, aber er glaubte, auf der Fahrt durch Wells eine gesehen zu haben. Er fuhr zurück, um es Nadine zu sagen, aber die beiden schliefen im Schatten des blauen Ford, wo Joe das Oui durchgeblättert hatte. Er legte sich ein Stück von ihnen entfernt hin, konnte aber nicht schlafen. Schließlich überquerte er die Straße und ging durch das kniehohe Timoteusgras zur Scheune hinüber, wo sich die Aufschrift befand. Tausende Grashüpfer sprangen ihm panisch aus dem Weg, wenn er sich ihnen näherte, und Larry dachte: lch bin ihre Heimsuchung. Ich bin ihr dunkler Mann.

In der Nähe der breiten Doppeltür fand er zwei leere Pepsidosen und die Kruste eines Sandwichs. In normalen Zeiten hätten sich die Möwen sicher schon die Kruste geholt, aber die Zeiten hatten sich geändert, und die Möwen waren zweifellos besseres Essen gewohnt. Er stieß die Kruste mit der Stiefelspitze an, dann eine der Dosen. Bringen Sie das sofort ins Labor, Sergeant Briggs. Ich glaube, unser Killer hat endlich einen Fehler gemacht.

Sofort, Inspektor Underwood. Der Tag, als Scotland Yard beschlossen hat, Sie zu uns zu schicken, war ein Glückstag für Squinchly-on-the-Green.

Nicht der Rede wert, Sergeant. Ich tue nur meine Pflicht. Larry trat ein - es war dunkel, heiß und vom sanften Flügelschlag der Schwalben erfüllt. Der Heugeruch war angenehm. Es waren keine Tiere im Stall; der Besitzer mußte sie freigelassen haben, damit sie die Supergrippe überlebten oder starben, anstatt sie dem sicheren Hungertod auszuliefern.

Merken Sie das für die Untersuchung des Gerichtsmediziners vor, Sergeant.

Selbstverständlich, Inspektor Underwood.

Er sah auf den Boden und erblickte die Verpackung eines Schokoriegels. Er hob sie auf. Es war einst ein Payday-Riegel darin eingewickelt gewesen. Der Scheunenschreiber hatte Mut gehabt. Aber guten Geschmack? Nein. Wem Payday-Riegel schmeckten, der hatte zu lange in der Sonne gelegen.

Sprossen, die zum Heuboden führten, waren an einen Stützbalken genagelt. Larry, der bereits schweißnaß war und nicht einmal wußte, was er hier suchte, kletterte hinauf. In der Mitte des Heubodens (er ging langsam und hielt nach Ratten Ausschau) führte eine ganz normale Leiter zum Schober hinauf; die Sprossen waren von weißen Farbspritzern übersät.

Ich glaube, Sergeant, wir sind über einen weiteren Fund gestolpert. Inspektor, ich kann es nicht fassen. Ihr ermittlerischer Scharfsinn wird nur noch von Ihrem guten Aussehen und der außergewöhnlichen Länge Ihres Fortpflanzungsorgans übertroffen. Nicht der Rede wert, Sergeant.

Er ging auf den Schober. Dort oben war es noch heißer, drückend heiß.

Wenn Francis und Harold die Farbe nach getaner Arbeit hier oben gelassen hätten, überlegte Larry, wäre die ganze Scheune schon vor einer Woche bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die Fenster waren staubig und voll zerrissener Spinnweben, die zweifellos frisch gesponnen worden waren, als Gerald Ford noch Präsident war. Ein Fenster war geöffnet worden, und als sich Larry hinausbeugte, hatte er eine meilenweite, atemberaubende Aussicht über das umliegende Land.

Diese Seite der Scheune lag nach Osten, und Larry befand sich in so großer Höhe, daß die Unfallstellen am Straßenrand, die so abgrundtief häßlich waren, wenn man sie vom Boden aus sah, von hier oben so harmlos wie kleine Abfallhaufen auf dem Straßenbelag wirkten. Jenseits des Highways, erhaben, war das Meer, dessen anstürmende Wogen sauber von dem Wellenbrecher aufgehalten wurden, der von der Nordseite des Hafens hinaus ins Meer verlief. Das Land war ein Ölgemälde des Hochsommers, grün und gold, im ruhigen Dunst des Nachmittags. Er konnte Salz und Tang riechen. Und wenn er über das Dach blickte, konnte er Harolds Schild verkehrt herum sehen.

Wenn er nur daran dachte, so hoch über dem Boden auf dem Dach herumzuklettern, verspürte Larry Übelkeit im Magen. Und der Bursche mußte wirklich über die Regenrinne hinausgehangen haben, um den Namen des Mädchens zu schreiben.

Warum hat er sich diese Mühe gemacht, Sergeant? Ich glaube, diese Frage sollten wir uns selbst stellen.

Wenn Sie meinen, Inspektor Underwood.

Er ging die Treppe hinunter, langsam und mit vorsichtigen Schritten. Bloß kein Bein brechen. Unten fiel ihm etwas anderes auf, etwas, das in einen Stützbalken eingeschnitzt war, erstaunlich frisch und weiß und in deutlichem Kontrast zur ansonsten staubigen Dunkelheit des Schuppens. Er ging zu dem Balken und betrachtete das Geschnitzte, dann strich er mit dem Daumen darüber, teilweise belustigt, teilweise erstaunt, daß ein anderer Mensch das gemacht hatte, während er und Rita nach Norden gereist waren. Er strich noch einmal mit dem Fingernagel über die geschnitzten Buchstaben.


In einem Herz. Mit einem Pfeil.

Ich glaube, Sergeant, der Tölpel muß verliebt gewesen sein.

»Schön für dich, Harold«, sagte Larry und ging aus der Scheune.




Der Motorradladen in Wells war eine Honda-Vertretung, und daran, wie die Motorräder aufgereiht waren, erkannte Larry, daß zwei fehlten. Auf einen zweiten Fund war er noch stolzer - ein zerknülltes Süßigkeitenpapier neben dem Papierkorb. Ein Payday-Riegel. Es sah aus, als hätte jemand - höchstwahrscheinlich der verliebte Harold Lauder - einen Schokoriegel gegessen, während er überlegt hatte, welche Motorräder für ihn und seine Angebetete am geeignetsten sein würden. Er hatte das Papier zusammengeknüllt und in Richtung Abfallkorb gezielt. Und ihn verfehlt. Nadine hielt Larrys Schlußfolgerungen für stichhaltig, war aber nicht so beeindruckt davon wie Inspektor Underwood selbst. Sie betrachtete die verbliebenen Motorräder und konnte es kaum erwarten, aufzubrechen. Joe sass auf den Stufen zum Ausstellungsraum, spielte die zwölfsaitige Gibson und grölte zufrieden.

»Wissen Sie«, sagte Larry, »es ist jetzt fünf Uhr. Es ist ganz unmöglich, vor morgen aufzubrechen.«

»Aber wir haben noch drei Stunden Tageslicht! Wir können nicht einfach herumsitzen! Vielleicht verpassen wir sie!«

»Wenn wir sie verpassen, ist das Pech«, sagte er. »Harold Lauder hat eindeutige Hinweise hinterlassen, bis hin zu den Straßen, auf denen sie fahren wollten. Wenn sie weiterreisen, wird er es wahrscheinlich wieder machen.«

»Aber...«

»Ich weiß, daß Sie es eilig haben«, sagte er und legte ihr die Hände auf die Schultern. Er merkte, wie die alte Ungeduld in ihm aufstieg, und zwang sich, sie zu verdrängen. »Aber Sie haben noch nie auf einem Motorrad gesessen.«

»Aber ich kann radfahren. Und ich weiß, wie man die Kupplung betätigt, das habe ich Ihnen gesagt. Bitte, Larry. Wenn wir keine Zeit vergeuden, können wir heute in New Hampshire übernachten und morgen abend schon fast dort sein. Wir...«

»Es ist aber kein Fahrrad, verdammt noch mal!« brüllte er los, und die Gitarre hinter ihm verstummte mit einem Mißklang. Er sah, dass Joe mit zusammengekniffenen und sofort mißtrauischen Augen über die Schulter zu ihnen blickte. Mein Gott, ich habe aber auch eine Art, mit den Leuten umzugehen, dachte Larry. Das machte ihn noch wütender.

Nadine sagte leise: »Sie tun mir weh.«

Er sah, daß seine Finger sich in das weiche Fleisch ihrer Schultern gegraben hatten, und seine Wut verwandelte sich in dumpfe Scham.

»Verzeihung«, sagte er.

Joe sah ihn immer noch an, und Larry wurde klar, daß er den Boden, den er bei dem Jungen gewonnen hatte, halb wieder verloren hatte.

Vielleicht mehr. Nadine hatte etwas gesagt.

»Was?«

»Ich wollte wissen, warum ein Motorrad nicht wie ein Fahrrad ist.«

Sein erster Impuls war, sie anzuschreien: Wenn du so verdammt schlau bist, dann steig doch auf und versuch's. Du wirst schon sehen, wie die Welt aussieht, wenn dein Kopf plötzlich verkehrtherum auf deinen Schultern sitzt. Aber er beherrschte sich. Er hatte nicht nur bei dem Jungen Boden verloren, auch bei sich selbst. Er war vielleicht auf der anderen Seite herausgekommen, aber mit ihm ein Teil des alten, kindischen Larry, der an ihm klebte und ihm folgte wie ein Schatten, der in der Nachmittagssonne geschrumpft, aber nicht ganz verschwunden ist.

»So eine Maschine ist viel schwerer als ein Rad«, sagte er. »Wenn man aus dem Gleichgewicht kommt, kann man das nicht so leicht abfangen wie bei einem Fahrrad. Eine Dreihundertsechziger wiegt an die dreieinhalb Zentner. Man gewöhnt sich ziemlich schnell an das größere Gewicht, aber man muß sich eben erst daran gewöhnen. In einem normalen Auto betätigt man die Gangschaltung mit der Hand und das Gas mit dem Fuß. Bei einem Motorrad ist es genau umgekehrt: Man betätigt die Gangschaltung mit dem Fuß, das Gas mit der Hand, das ist eine gewaltige Umstellung. Es gibt nicht nur eine Bremse, sondern zwei. Mit dem rechten Fuß bremst man das Hinterrad, mit der rechten Hand das Vorderrad. Wenn man das vergißt und nur die Handbremse betätigt, fliegt man höchstwahrscheinlich in hohem Bogen über den Lenker. Außerdem müssen Sie sich daran gewöhnen, daß Sie einen Passagier hinter sich sitzen haben.«

»Joe? Aber ich dachte, der würde mit Ihnen fahren.«

»Von mir aus gern«, sagte Larry. »Aber ich glaube nicht, daß er mich im Augenblick sonderlich gern hat. Oder sind Sie da anderer Meinung?«

Nadine sah Joe lange bekümmert an. »Nein«, sagte sie und seufzte.

»Vielleicht will er nicht einmal mit mir fahren. Vielleicht hat er Angst.«

»Falls doch, sind Sie für ihn verantwortlich. Ich will nicht erleben, dass Sie stürzen.«

»Ist Ihnen das passiert, Larry? Waren Sie mit jemand unterwegs?«

»Ja«, sagte Larry, »und ich bin auch gestürzt. Aber zu dem Zeitpunkt war die Dame, mit der ich unterwegs war, schon tot.«

»Ist sie mit dem Motorrad verunglückt ?« Nadines Gesicht war ganz ruhig.

»Nein. Ich würde sagen, es war zu siebzig Prozent ein Unfall und zu dreißig Prozent Selbstmord. Was sie von mir brauchte... Freundschaft, bekam sie nicht genug.« Er war jetzt aufgeregt; seine Schläfen pochten dumpf, die Kehle war ihm wie zugeschnürt, er war den Tränen nahe. »Sie hieß Rita. Rita Blakemoor. Ich würde es bei Ihnen gerne besser machen, das ist alles. Bei Ihnen und Joe.«

»Larry, warum haben Sie mir das nicht vorher erzählt?«

»Weil es weh tut, darüber zu reden«, sagte er ohne Umschweife.

»Es tut sehr weh.« Das war die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Da waren noch die Träume. Er fragte sich, ob Nadine Alpträume hatte - letzte Nacht war er kurz aufgewacht, da hatte sie sich unruhig hin und her gewälzt und gemurmelt. Aber sie hatte sich nicht darüber geäußert. Und Joe? Hatte Joe Alpträume? Nun, was die beiden anging, wußte er es nicht, aber der furchtlose Inspektor Larry Underwood von Scotland Yard hatte Angst vor seinen Träumen... und wenn Nadine mit dem Motorrad stürzte, würden sie vielleicht wiederkommen.

»Gut, dann fahren wir morgen«, sagte sie. »Und heute abend bringen Sie es mir bei.«




Aber zuerst stellte sich das Problem, die beiden kleinen Motorräder, die Larry ausgesucht hatte, aufzutanken. Die Vertretung hatte eine Zapfsäule, aber ohne Strom funktionierte sie nicht. Er fand ein weiteres Süßigkeitenpapier neben der Abdeckung, unter der sich der unterirdische Tank befand, und leitete daraus ab, daß der stets findige Harold Lauder die Abdeckplatte erst vor kurzem aufgebrochen haben mußte. Verliebt oder nicht, Payday-süchtig oder nicht, Larry empfand eine Menge Respekt vor Harold, den er beinahe mochte, ohne ihn zu kennen. Er hatte sich im Geiste schon ein Bild von Harold gemacht. Wahrscheinlich Mitte Dreißig, möglicherweise Farmer, groß und braungebrannt, mager, vielleicht nicht besonders helle, aber dafür mit jeder Menge Bauernschläue. Er grinste. Es war albern, sich ein Bild von jemand zu machen, den man nie gesehen hatte, denn die Leute waren nie so, wie man sie sich vorstellte. Schließlich kannte jeder den Witz von dem über dreihundert Pfund schweren Discjockey mit der Fistelstimme. Während Nadine ein kaltes Abendessen zusammenstellte, sah sich Larry auf dem Gelände der Vertretung um. Er fand einen großen Mülleimer aus Blech. Eine Brechstange lehnte daran, am oberen Rand hing ein Stück Gummischlauch heraus.

Hab' ich dich wieder erwischt, Harold! Sehen Sie sich das an, Sergeant Briggs. Unser Mann hat Benzin aus dem unterirdischen Tank geschläuchelt, damit er weiterfahren kann. Überrascht mich, daß er den Schlauch nicht mitgenommen hat.

Vielleicht hat er ein Stück abgeschnitten, und das ist der Rest, Inspektor Underwood - bitte um Verzeihung, aber immerhin ist es in der Mülltonne.

Beim Jupiter, Sergeant, Sie haben recht. Ich werde Sie für eine Beförderung vorschlagen.

Er nahm Brechstange und Gummischlauch mit zur Tankabdeckung.

»Joe, kannst du einen Moment herkommen und mir helfen?«

Der Junge, der Käse und Cracker aß, sah auf und betrachtete Larry mißtrauisch.

»Geh, ist schon gut«, sagte Nadine leise.

Joe kam mit schlurfenden Schritten zu ihm.

Larry schob die Brechstange in den Schlitz der Platte.»Stemm dich drauf, mal sehen, ob wir sie hochkriegen«, sagte er. Einen Moment dachte er, der Junge hätte ihn nicht verstanden oder wollte ihn nicht verstehen. Aber dann nahm er das andere Ende der Stange und drückte darauf. Seine Arme waren dünn, aber sehnig und muskulös, jene Art von Muskeln, die arbeitende Männer aus armen Familien immer zu haben scheinen. Die Platte neigte sich etwas, kam aber nicht so weit aus der Einfassung, daß Larry die Finger darunter stemmen konnte.

»Leg dich drauf«, sagte er.

Die halbwilden Schlitzaugen betrachteten ihn einen Moment gelassen, dann balancierte Joe auf der Brechstange und hob die Füße vom Boden, als er das ganze Gewicht auf die Stange stemmte. Die Platte kam ein Stückchen höher als vorher, so hoch, daß Larry jetzt die Finger darunter schieben konnte. Während er die Platte zu packen versuchte, schoß es ihm durch den Kopf, daß der Junge jetzt die beste Gelegenheit hatte zu beweisen, ob er ihn immer noch nicht leiden konnte. Wenn Joe das Gewicht von der Brechstange nahm, würde die Platte herunterknallen und ihm bis auf die Daumen sämtliche Finger zerquetschen. Das war auch Nadine klar geworden, wie Larry bemerkte. Sie hatte eines der Motorräder betrachtet, drehte sich nun aber um und beobachtete die beiden; ihr ganzer Körper war nervös verkrampft. Ihre dunklen Augen sahen von Larry, der auf einem Knie kauerte, zu Joe, der Larry ansah, während er sein Körpergewicht auf die Stange stemmte. Die Meerwasseraugen waren unergründlich. Und Larry konnte immer noch keinen Halt finden.

»Brauchen Sie Hilfe?« fragte Nadine, deren normalerweise ruhige Stimme jetzt ein klein wenig schrill klang.

Schweiß lief ihm in ein Auge, er blinzelte ihn weg. Immer noch kein fester Griff. Er konnte Benzin riechen.

»Ich glaube, wir schaffen es«, sagte Larry und blickte sie direkt an. Einen Augenblick später glitten seine Finger in eine leichte Vertiefung an der Unterseite der Platte. Er stemmte die Schultern dagegen, die Platte hob sich und prallte mit einem dumpfen Scheppern auf den Asphaltboden. Er hörte Nadine seufzen und die Brechstange auf den Boden klirren. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah den Jungen an.

»Gute Arbeit, Joe«, sagte er. »Wenn du die Stange losgelassen hättest, hätte ich mir für den Rest meines Lebens den Hosenschlitz mit den Zähnen hochziehen müssen. Danke.«

Er erwartete keine Antwort (außer vielleicht einem undefinierbaren Heulen, während Joe wieder zum Motorrad zurückging), aber Joe sagte mit krächzender, angestrengter Stimme: »Gengeschen.«

Larry warf Nadine einen Blick zu, die erst ihn ansah und dann Joe. Ihr Gesicht zeigte Überraschung und Freude, aber irgendwie sah sie aus - warum, konnte er nicht genau sagen -, als hätte sie es erwartet. Es war ein Ausdruck, den er schon einmal gesehen hatte, momentan aber nicht deutlich fassen konnte.

»Joe«, sagte er, »hast du >gern geschehen< gesagt?«

Joe nickte heftig. »Gengeschen. Gengeschen.«

Nadine streckte die Arme aus und lächelte. »Das ist gut, Joe. Sehr, sehr gut.« Joe ging zu ihr und ließ sich einen Augenblick oder zwei von ihr in den Arm nehmen. Dann sah er wieder die Motorräder an, heulte und kicherte vor sich hin.

»Er kann sprechen«, sagte Larry.

»Ich wußte, daß er nicht stumm ist«, antwortete Nadine. »Aber es ist schön zu wissen, daß er wieder zu sich selbst finden kann. Ich glaube, er brauchte zwei von unserer Sorte. Zwei Hälften. Er... ach, ich weiß auch nicht.«

Er sah, daß sie errötete, und glaubte, den Grund zu wissen. Er schob das Stück Gummischlauch in das Loch im Beton und wurde sich plötzlich darüber klar, daß das, was er da machte, als symbolische (und recht vulgäre) Anspielung interpretiert werden konnte. Er sah hastig zu ihr auf. Sie wandte sich schnell ab, aber ihm war nicht entgangen, wie gebannt sie beobachtete, was er tat, und wie rot ihre Wangen waren.




Eine Woge greller Angst stieg in ihm auf, und er rief: »Um Himmels willen, Nadine, paß auf!« Sie konzentrierte sich auf die Handkontrollen und achtete nicht darauf, wohin sie fuhr, und sie war im Begriff, die Honda mit halsbrecherischen fünf Meilen die Stunde gegen eine Pinie zu rammen.

Sie sah auf, und er hörte sie mit verblüffter Stimme »Oh!« sagen. Dann schlug sie vi el zu heftig den Lenker ein und fiel vom Motorrad. Die Honda wurde abgewürgt.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er zu ihr lief. »Alles in Ordnung? Nadine? Alles...«

Dann richtete sie sich benommen auf und betrachtete die aufgeschürften Hände. »Ja, alles klar. Zu dumm, daß ich nicht darauf geachtet habe, wohin ich fahre. Ist dem Motorrad was passiert?«

»Lassen Sie das Scheißmotorrad, ich möchte Ihre Hände sehen.«

Sie streckte sie ihm hin, und er nahm eine Plastikflasche Bactine aus der Hosentasche und sprühte sie damit ein.

»Sie zittern«, sagte sie.

»Kümmern Sie sich nicht darum«, antwortete Larry gröber als beabsichtigt. »Hören Sie, vielleicht sollten wir lieber bei den Fahrrädern bleiben. Es ist gefährlich...«

»Das Atmen auch«, antwortete sie ruhig. »Und ich glaube, Joe sollte mit Ihnen fahren, jedenfalls am Anfang.«

»Er wird nicht...«

»Ich glaube doch«, sagte Nadine und sah ihm ins Gesicht. »Und Sie auch.«

»Hören wir für heute abend auf. Man kann fast nichts mehr sehen.«

»Noch einmal. Habe ich nicht gelesen, daß man gleich wieder aufsteigen soll, wenn einen das Pferd abwirft?«

Joe, der Blaubeeren aus einem Motorradhelm mampfte, kam herüber. Er hatte wilde Blaubeerbüsche hinter der Vertretung gefunden und die Beeren gepflückt, während Nadine ihre erste Lektion bekommen hatte.

»Na gut«, sagte Larry resigniert. »Aber passen Sie bitte auf, wohin Sie fahren.«

»Ja, Sir. Gut, Sir.« Sie salutierte und lächelte ihn an. Sie hatte ein wunderbares, zaghaftes Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erhellte. Larry erwiderte das Lächeln; was konnte er schon machen. Wenn Nadine lächelte, lächelte sogar Joe.

Diesmal fuhr sie zweimal rund um den Platz und dann auf die Straße hinaus, lenkte wieder zu heftig, und wieder schlug Larrys Herz bis zum Hals. Aber sie stützte sich geschickt mit dem Fuß ab, wie er ihr beigebracht hatte, und fuhr den Hügel hinauf. Er sah sie vorsichtig in den zweiten Gang schalten. Dann verschwand sie aus seinem Blickfeld. Er hörte noch, wie sie in den dritten Gang schaltete. Dann wurde das Dröhnen des Motors zu einem Summen und verstummte schließlich ganz. Larry stand ängstlich in der Dunkelheit und schlug ab und zu geistesabwesend nach einem Moskito.

Joe kam wieder herüber; sein Mund war blau. »Gengeschen«, sagte er und grinste. Larry brachte als Antwort ein gepreßtes Lächeln zustande. Wenn sie nicht bald zurückkam, würde er ihr folgen. Visionen, wie er sie mit gebrochenem Genick im Straßengraben fand, geisterten düster durch seinen Kopf.

Als er schon zum Motorrad ging und sich fragte, ob er Joe mitnehmen sollte oder nicht, hörte er wieder das dröhnende Summen, welches zum Motorenlärm der Honda anschwoll, die im vierten Gang heranbrauste. Er entspannte sich... etwas. Ihm wurde widerwillig klar, daß er sich niemals völlig würde entspannen können, wenn sie mit diesem Ding fuhr.

Sie kam wieder in Sicht; der Scheinwerfer des Motorrads war jetzt eingeschaltet. Sie hielt neben ihm.

»Ganz gut, hm?« Sie stellte den Motor ab.

»Ich wollte Ihnen schon hinterherfahren. Ich dachte, Sie hätten einen Unfall gebaut.«

»In gewisser Weise hatte ich auch einen.« Sie sah, wie er sich verkrampfte, und fügte hinzu: »Ich habe zu langsam gewendet und vergessen, die Kupplung zu drücken. Ich hab' den Motor abgewürgt.«

»Oh. Genug für heute, hm?«

»Ja«, sagte sie. »Mein Steiß tut weh.«




In dieser Nacht lag er unter der Decke und fragte sich, ob sie zu ihm kommen würde, wenn Joe eingeschlafen war, oder ob er zu ihr gehen sollte. Er begehrte sie. Und danach zu urteilen, wie sie seine absurde kleine Darbietung mit dem Gummischlauch verfolgt hatte, begehrte sie ihn seiner Meinung nach auch. Schließlich schlief er ein.

Er träumte, daß er sich in einem Maisfeld verirrt hatte. Aber er hörte Musik, Gitarrenmusik. Joe spielte Gitarre. Wenn er Joe fand, würde alles gut werden. Also folgte er den Klängen, brach durch eine Reihe Mais nach der anderen, wenn es sein mußte, und gelangte schließlich zu einer unregelmäßigen Lichtung. Dort stand ein kleines Haus, eigentlich mehr eine Hütte, deren Veranda von rostigen alten Wagenhebern gestützt wurde. Nicht Joe spielte die Gitarre. Wie wäre das auch möglich gewesen? Denn Joe hielt seine linke Hand, Nadine seine rechte. Sie waren bei ihm. Eine alte Frau spielte Gitarre, eine Art Jazz-Spiritual, das Joe zum Lächeln brachte. Die alte Frau war schwarz, sie saß auf der Veranda, und Larry vermutete, daß sie die älteste Frau war, die er in seinem Leben gesehen hatte. Aber sie hatte etwas an sich, das ihn mit Wärme und Wohlbehagen erfüllte... so wie früher bei seiner Mutter, als er noch klein gewesen war und sie ihn plötzlich in den Arm genommen und gesagt hatte: Da kommt der beste Junge, da kommt Alice Underwoods allerbester Junge.

Die alte Frau hörte auf zu spielen und blickte zu ihnen herüber.

Sieh einer an, ich hab' Gesellschaft. Kommt raus, damit ich euch sehen kann, meine Gucker sind nicht mehr das, was sie mal waren.

Also kamen sie näher, alle drei, Hand in Hand, und Joe streckte die Hand aus und schubste die alte Reifenschaukel an, als sie daran vorbei kamen. Der krapfenförmige Schatten des Reifens glitt auf dem unkrautüberwucherten Boden hin und her. Sie standen auf einer kleinen Lichtung, auf einer Insel in einem Meer von Mais. Im Norden verlief ein Feldweg, der am Horizont zu einem Punkt wurde.

Möchtest du gerne damit spielen, mein Kleiner? fragte sie Joe, und Joe ging freudig zu ihr und nahm ihr die Gitarre aus den knotigen Händen. Er spielte die Melodie, der sie durch den Mais gefolgt waren, aber schneller und besser als die alte Frau.

Gott segne ihn, er spielt gut. Ich bin zu alt. Die Finger sind nicht mehr so schnell. Liegt am Rheuma. Aber 1895 hab' ich in der Stadthalle gespielt. Ich war die erste Negerin, die je dort gespielt hatte, die allerbeste.

Nadine fragte die Frau, wer sie war. Sie befanden sich in einer Art zeitlosem Ort, wo die Sonne eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit stehengeblieben zu sein schien und der Schatten der Schaukel, die Joe angeschubst hatte, für alle Zeiten über den überwucherten Hof gleiten würde. Larry wünschte sich, er könnte für immer hier bleiben, er und seine Familie. Es war ein guter Ort. Hier konnte der Mann ohne Gesicht ihn nie erwischen und Nadine und Joe auch nicht.

Mutter Abagail, so nennt man mich. Ich glaube, ich bin die älteste Frau in Ostnebraska, und ich back' meine Plätzchen immer noch selbst. Kommt so schnell wie möglich zu mir. Wir müssen gehen, bevor er Wind von uns bekommt.

Eine Wolke zog vor die Sonne. Die Schaukel bewegte sich nicht mehr. Joe hörte mit einem scheppernden Mißklang auf zu spielen, und Larry spürte, wie sich seine Nackenhärchen aufrichteten. Die alte Frau schien es nicht zu bemerken.

Bevor wer Wind von uns bekommt? fragte Nadine, und Larry wünschte sich, er könnte sprechen, aufschreien, sie möge die Frage zurücknehmen, bevor sie davonschnellen und ihnen schaden konnte.

Der schwarze Mann. Der Diener des Teufels. Wir haben die Rockies zwischen ihm und uns, Gott sei Dank, aber die werden ihn nicht aufhalten. Darum müssen wir zusammenfinden. In Colorado. Gott ist mir im Traum erschienen und hat mir gezeigt, wo. Aber wir müssen schnell sein, so schnell wir können. Also kommt zu mir. Auch andere sind zu mir unterwegs.

Nein, sagte Nadine mit kalter, ängstlicher Stimme. Wir gehen nach Vermont, das ist alles. Nur nach Vermont - nur ein kurzer Ausflug. Eure Reise wird länger sein als unsere, wenn ihr nicht gegen seine Macht kämpft, antwortete die alte Frau in Larrys Traum. Sie sah Nadine sehr traurig an. Dies könnte ein guter Mann sein, den du da bei dir hast, Frau. Er will etwas aus sich machen. Warum hilfst du ihm nicht, anstatt ihn zu benützen?

Nein! Wir gehen nach Vermont, nach VERMONT!

Die alte Frau lachte Nadine mitleidig aus. Du wirst direkt in die Hölle gehen, wenn du nicht aufpaßt, Tochter Evas. Und wenn du dort bist, wirst du feststellen, daß die Hölle kalt ist.

Da zersplitterte der Traum in Bruchstücke von Dunkelheit, die ihn verschluckten. Aber etwas in dieser Dunkelheit verfolgte ihn. Es war kalt und gnadenlos, und jeden Moment würde er seine grinsenden Zähne zu sehen bekommen.

Aber bevor das geschah, wachte er auf. Es war eine halbe Stunde vor Anbruch der Dämmerung, die Welt war in dichten weißen Bodennebel gehüllt, der sich verziehen würde, wenn die Sonne aufgegangen war. Das Gebäude der Motorradvertretung ragte daraus hervor wie ein seltsamer Schiffsbug, der aus Mauersteinen statt aus Holz gebaut war.

Jemand war neben ihm, und er sah, daß nicht Nadine in der Nacht zu ihm gekommen war, sondern Joe. Der Junge lag neben ihm, hatte den Daumen in den Mund gedrückt und zitterte im Schlaf, als hätte er seinen eigenen Alptraum. Larry fragte sich, ob Joes Träume so anders als die seinen waren... und er lag auf dem Rücken, starrte in den weißen Nebel und dachte darüber nach, bis die anderen eine Stunde später aufwachten.




Als sie mit dem Frühstück fertig waren, hatte sich der Nebel so weit verzogen, daß sie die Sachen auf die Motorräder packen und aufbrechen konnten. Wie Nadine gesagt hatte, zögerte Joe nicht, bei Larry mitzufahren; er stieg sogar unaufgefordert auf Larrys Motorrad.

»Langsam«, sagte Larry zum vierten Mal. »Wir werden uns nicht beeilen und einen Unfall bauen.«

»Prima«, sagte Nadine. »Ich bin so aufgeregt. Es ist wie eine heilige Suche!« Sie lächelte ihn an, aber Larry konnte das Lächeln nicht erwidern. Rita Blakemoor hatte etwas ganz Ähnliches gesagt, als sie New York City verlassen hatten. Zwei Tage vor ihrem Tod hatte sie es gesagt.

Zum Mittagessen hielten sie in Epsom, aßen gebackenen Schinken aus der Dose und tranken Orangenlimonade unter dem Baum, wo Larry eingeschlafen war und Joe mit dem Messer über ihm gestanden hatte. Larry hatte erleichtert festgestellt, daß das Motorradfahren gar nicht so schlimm war, wie er gedacht hatte; meistens kamen sie ganz gut voran, und selbst in den Ortschaften war es nur nötig, im Schrittempo über die Bürgersteige dahinzurollen. Nadine war vor unübersichtlichen Kurven außerordentlich vorsichtig, und selbst auf offener Straße drängte sie Larry nicht, schneller als die fünfunddreißig Meilen zu fahren, die er vorlegte. Wenn kein schlechtes Wetter dazwischenkam, konnten sie nach seiner Vermutung am 19. in Stovington sein.

Zum Abendessen hielten sie westlich von Concord, und Nadine sagte, sie könnten Zeit sparen, wenn sie statt der Route von Lauder und Goldsmith direkt auf der Verbindungsstraße 189 fuhren.

»Dort dürften jede Menge Staus sein«, sagte Larry zweifelnd.

»Die können wir umgehen«, sagte sie zuversichtlich, »und, wenn nötig, auf der Standspur fahren. Schlimmstenfalls müssen wir zurück zu einer Ausfahrt und auf eine Nebenstraße ausweichen.«

Sie versuchten es zwei Stunden nach dem Essen und kamen tatsächlich an eine Barrikade von einer Seite der Fahrspuren nach Norden auf die andere. Kurz hinter Warner war ein Auto mit Wohnwagen wie ein Taschenmesser zusammengeklappt; der Fahrer und seine Frau, seit Wochen tot, lagen wie Sandsäcke auf den Vordersitzen ihres Electra.

Zu dritt gelang es ihnen, die Motorräder über die geknickte Kupplung zwischen Auto und Anhänger zu heben. Danach waren sie so erschöpft, daß sie nicht mehr weiter konnten, und in dieser Nacht erwog Larry nicht, ob er zu Nadine sollte, die ihre Decke zehn Schritte von ihm ausgebreitet hatte (der Junge lag zwischen ihnen). In dieser Nacht war er so müde, daß er nur schlafen wollte.




Am nächsten Tag kamen sie an ein Hindernis, das sie nicht umgehen konnten. Ein Lastwagen war umgestürzt, und sechs Autos waren hineingerast. Glücklicherweise lag die Ausfahrt Enfield erst zwei Meilen hinter ihnen. Sie fuhren zurück, die Ausfahrt hinunter und machten müde und entmutigt im Stadtpark von Enfield zwanzig Minuten Rast.

»Was haben Sie vorher gemacht, Nadine?« fragte Larry. Er hatte an den Ausdruck in ihren Augen gedacht, als Joe endlich gesprochen hatte (der Junge hatte seinem Wortschatz mittlerweile noch >Larry, Nadine, dangefön< und >musaufsklo< hinzugefügt), und nun stellte er eine darauf beruhende Vermutung an. »Waren Sie Lehrerin?«

Sie sah ihn überrascht an. »Ja. Gut geraten.«

»Grundschule?«

»Richtig. Erst- und Zweitkläßler.«

Das erklärte ihre unerbittliche Weigerung, Joe zurückzulassen. Zumindest geistig war der Junge auf dem Stadium eines Siebenjährigen verblieben.

»Wie haben Sie es erraten?«

»Ich bin vor langer Zeit einmal mit einer Sprachtherapeutin aus Long Island ausgegangen «, sagte Larry. »Ich weiß, das hört sich wie der Anfang eines typischen New-York-Witzes an, aber es stimmt. Sie arbeitete für die Ocean-View-Schule. Untere Klasse. Kinder mit Sprachproblemen, Gaumendeformierungen, Hasenscharten, Gehörlosigkeit. Sie sagte immer, daß man den Kindern nur andere Möglichkeiten zeigen muß, die richtigen Laute hervorzubringen, um ihre Sprachstörungen zu beheben. Zeigen, das Wort sagen, zeigen, das Wort sagen. Immer wieder, bis etwas im Kopf des Kindes klick machte. Und wenn sie über dieses Klick redete, sah sie aus wie Sie, als Joe >gern geschehen< gesagt hat.«

»Wirklich?« Sie lächelte ein wenig sehnsüchtig. »Ich hatte die Kleinen so gern. Manche waren störrisch, aber in diesem Alter sind sie noch nicht unwiderruflich verdorben. Die Kleinen sind die einzigen guten Menschen.«

»Reichlich romantische Vorstellung, finden Sie nicht?«

Sie zuckte die Achseln. »Kinder sind gut. Und wenn man mit ihnen arbeitet, muß man romantisch sein. Das ist nicht so schlimm. War Ihre Sprachtherapeutin nicht glücklich in ihrem Beruf?«

»Doch, hat ihr gefallen«, stimmte Larry zu. »Waren Sie verheiratet? Vorher?« Da war es wieder - dieses einfache, unscheinbare Wort. Vorher. Nur zwei Silben, aber es war allumfassend geworden.

»Verheiratet? Nein. Nicht verheiratet.« Sie sah wieder nervös aus.

»Ich bin die klassische altjüngferliche Lehrerin, jünger, als ich aussehe, aber älter, als ich mich fühle. Siebenunddreißig.« Er hatte ihr Haar betrachtet, ehe er es verhindern konnte, und sie nickte, als hätte er es laut gesagt. »Vorzeitig ergraut«, sagte sie sachlich. »Als meine Großmutter vierzig war, war ihr Haar schlohweiß. Ich vermute, ich habe mindestens fünf Jahre länger Zeit.«

»Wo haben Sie unterrichtet?«

»An einer kleinen Privatschule in Pittsfield. Sehr exklusiv. Efeuberankte Wände, das Neueste vom Neuen auf dem Spielplatz. Vergeßt die Rezession, Leute, volle Kraft voraus. Der Fuhrpark besaß zwei Thunderbirds, drei Mercedes Benz, ein paar Lincolns und einen Chrysler Imperial.«

»Sie müssen sehr gut in Ihrem Job gewesen sein.«

»Ja, ich glaube, das war ich«, sagte sie ungekünstelt, dann lächelte sie. »Ist jetzt aber nicht mehr wichtig.«

Er legte einen Arm um sie. Sie zuckte leicht zusammen, dann spürte er, wie sie sich verkrampfte. Ihre Hand und Schulter waren warm.

»Bitte nicht«, sagte sie unbehaglich.

»Möchten Sie es nicht?«

»Nein. Ich möchte es nicht.«

Er zog den Arm fassungslos zurück. Sie wollte es, das war es; er spürte ihr Verlangen in milden, aber deutlich wahrnehmbaren Wellen von ihr ausgehen. Sie hatte hektische Flecken im Gesicht und betrachtete verzweifelt ihre Hände, die wie verletzte Spinnen in ihrem Schoß zuckten. Ihre Augen glänzten, als wäre sie den Tränen nahe.

»Nadine...«

(honey, is that you?)

Sie blickte zu ihm auf, und er erkannte, daß die Gefahr, in Tränen auszubrechen, gebannt war. Sie wollte gerade etwas sagen, als Joe hinzukam, den Gitarrenkasten in einer Hand. Sie blickten ihn schuldbewußt an, als hätten sie etwas Intimeres gemacht, als nur zu reden.

»Lady«, sagte Joe im Plauderton.

»Was?« fragte Larry aufgeschreckt und begriff nicht.

»Lady!« sagte Joe noch einmal und deutete mit dem Daumen über die Schulter.

Larry und Nadine sahen einander an.

Plötzlich erklang eine vierte Stimme, schrill und emotionsgeladen und so aufrüttelnd wie die Stimme des Herrn.

»Gott sei Dank!« rief sie. »O Gott sei Dank!«

Sie standen auf und blickten der Frau entgegen, die jetzt die Straße entlang auf sie zu gerannt kam. Sie lachte und weinte gleichzeitig.

»Ich bin so froh, Sie zu sehen«, sagte sie. »So froh, Sie zu sehen, Gott sei Dank...«

Sie schwankte und wäre vielleicht zu Boden gefallen, hätte Larry sie nicht rasch ergriffen und gestützt, bis ihre Benommenheit geschwunden war. Er schätzte sie auf etwa fünfundzwanzig Jahre. Sie trug Blue Jeans und eine schlichte weiße Baumwollbluse. Ihr Gesicht war blaß, die blauen Augen unnatürlich starr; diese Augen blickten Larry so intensiv an, als wollten sie das Hirn dahinter mit aller Kraft überzeugen, daß die drei Menschen, die sie vor sich sahen, keine Halluzination, sondern aus Fleisch und Blut waren.

»Ich bin Larry Underwood«, sagte er. »Die Dame hier ist Nadine Cross. Der Junge heißt Joe. Wir sind sehr erfreut, Sie kennenzulernen.«

Die Frau sah ihn noch einen Moment wortlos an, dann trat sie langsam von ihm weg und ging zu Nadine hinüber.

»Ich freue mich so...«, begann sie, »...so sehr, daß ich Sie treffe.«

Ihre Schritte waren unsicher. »Mein Gott, sind Sie wirklich Menschen?«

»Ja«, sagte Nadine.

Die Frau warf die Arme um Nadine und schluchzte. Nadine hielt sie fest. Joe stand bei einem liegengebliebenen Lastwagen auf der Straße, hielt den Gitarrenkasten in der Rechten und den Daumen der Linken im Mund. Schließlich kam er zu Larry und blickte zu ihm auf. Larry nahm seine Hand. So standen die beiden da und betrachteten die Frauen ernst. Und so lernten sie Lucy Swann kennen.




Als sie Lucy sagten, wohin sie unterwegs waren und daß sie hofften, am Ziel mindestens zwei weitere Menschen zu treffen, brannte sie darauf, mit ihnen zu kommen. Larry fand im Enfield Sporting Goods einen mittelgroßen Rucksack für sie, und Nadine begleitete sie zu ihrem Haus am Stadtrand, um ihr beim Packen zu helfen... zweimal Kleidung zum Wechseln, Unterwäsche, ein zweites Paar Schuhe, ein Regenmantel. Und ein Bild ihres verstorbenen Mannes und ihrer Tochter.

In dieser Nacht rasteten sie in einer Stadt namens Queechee, die schon jenseits der Staatengrenze in Vermont lag. Lucy Swann erzählte eine kurze Geschichte, die schlicht und einfach war und sich nicht sehr von den anderen unterschied, die sie noch zu hören bekommen sollten. Kummer war unvermeidlich, und der Schock hatte Lucy zumindest in Rufweite des Wahnsinns gebracht.

Ihr Mann war am fünfundzwanzigsten Juni erkrankt, ihre Tochter einen Tag später. Sie hatte sich, so gut sie konnte, um die beiden gekümmert und ständig damit gerechnet, daß sie das Sabbern, wie man die Krankheit in ihrer Ecke in Neu-England genannt hatte, auch bekommen würde. Am siebenundzwanzigsten, als ihr Mann ins Koma gefallen war, war Enfield weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten. Der Fernsehempfang war verschwommen und verzerrt geworden. Die Menschen starben wie die Fliegen. Während der letzten Juniwoche waren starke Truppenbewegungen auf der Mautstraße beobachtet worden, doch die hatten in einem kleinen Fleckchen wie Enfield, New Hampshire, nichts verloren. In den frühen Morgenstunden des achtundzwanzigsten war ihr Mann gestorben. Am neunundzwanzigsten schien es ihrer kleinen Tochter eine Zeitlang besser zu gehen, aber am Abend war ihr Zustand ganz unvermittelt kritisch geworden, und gegen elf Uhr war sie gestorben. Am 3. Juli waren alle Einwohner von Enfield, außer ihr selbst und einem alten Mann namens Pop Carmody, tot gewesen. Pop war krank gewesen, sagte Lucy, schien das Sabbern aber völlig überwunden zu haben. Am Morgen des Unabhängigkeitstages hatte sie Pop tot auf der Main Street gefunden, aufgedunsen und schwarz, wie alle anderen.

»Dann habe ich meinen Mann, meine kleine Tochter und Pop gemeinsam beerdigt«, sagte Lucy, während sie um das prasselnde Feuer herum saßen. »Es hat einen ganzen Tag gedauert, aber ich habe sie zur letzten Ruhe gebettet. Und dann dachte ich mir, daß ich besser nach Concord gehe, wo meine Eltern wohnen. Aber... irgendwie bin ich nie dazu gekommen.« Sie sah die anderen flehentlich an. »War das falsch? Glauben Sie, sie waren noch am Leben?«

»Nein«, sagte Larry. »Die Immunität ist sicher nicht vererbbar. Meine Mutter...« Er blickte ins Feuer.

»Wes und ich, wir mußten heiraten«, sagte Lucy. »Das war der Sommer nach meinem High-School-Abschluß. 1984. Meine Eltern wollten nicht, daß ich ihn heirate. Sie wollten, daß ich weggehe, das Baby bekomme und es hergebe. Aber das wollte ich nicht. Meine Mutter sagte, wir würden uns sowieso über kurz oder lang scheiden lassen. Mein Dad sagte, Wes wäre ein Habenichts, immer rastlos. Ich sagte nur: Das mag sein, warten wir eben ab, was passiert. Ich wollte das Risiko einfach eingehen. Verstehen Sie?«

»Ja«, sagte Nadine. Sie saß neben Lucy und sah sie voll Mitgefühl an.

»Wir hatten ein hübsches kleines Haus. Ich hätte mir nie träumen lassen, daß es einmal so enden würde, wirklich nicht«, sagte Lucy mit einem Seufzer, der halb Schluchzen war. »Wir hatten uns so schön eingerichtet. Wes wurde mehr Marcy als mir zuliebe seßhaft. Für ihn ging mit der Kleinen die Sonne auf und unter. Sie war für ihn...«

»Pssst«, sagte Nadine. »Das war alles vorher.«

Wieder dieses Wort, dachte Larry. Das kleine zweisilbige Wort.

»Ja. Es ist vorbei. Und ich glaube, ich hätte damit fertig werden können. Ich wurde auch damit fertig, bis ich die schlimmen Alpträume bekam.«

Larry riß den Kopf hoch. »Träume?«

Nadine blickte Joe an. Vor einem Augenblick hatte der Junge vor dem Feuer gedöst. Jetzt schaute er Lucy mit glänzenden Augen an.

»Schlimme Träume, Alpträume«, sagte Lucy. »Nicht immer dieselben. Meistens verfolgte mich ein Mann, und ich kann nicht genau sehen, wie er aussieht, weil er fast immer in einen... wie sagt man... einen Umhang gehüllt ist. Und er hält sich in Schatten und Gassen.« Sie erschauerte. »Es ist schon so weit gekommen, daß ich Angst vor dem Schlafen habe. Aber vielleicht kann ich jetzt...«

»Schwarrr-tser Mann!« schrie Joe plötzlich so unvermittelt und heftig, daß sie alle zusammenzuckten. Er sprang auf, die Beine wie ein winziger Bela Lugosi; die Finger hatte er zu Krallen geformt.

»Schwarrr-tser Mann! Schlimme Träume! Verfolgt! Verfolgt mich!

Macht mir 'ngst!« Er schmiegte sich an Nadine und starrte mißtrauisch in die Dunkelheit.

Schweigen senkte sich über sie.

»Das ist verrückt«, sagte Larry schließlich und verstummte gleich wieder. Sie sahen ihn alle an. Plötzlich wirkte die Dunkelheit sehr, sehr dunkel, und Lucy sah wieder ängstlich aus.

Larry zwang sich, weiterzusprechen. »Lucy, haben Sie je von einem... von einem Ort in Nebraska geträumt?«

»Ich hatte einmal einen Traum über eine alte Negerin«, sagte Lucy, »aber es war ein ganz kurzer Traum. Die alte Frau sagte so etwas wie: >Komm mich besuchen.< Dann war ich wieder in Enfield, und dieser... dieser schreckliche Mann hat mich verfolgt. Und dann bin ich aufgewacht.«

Larry blickte sie so lange an, daß sie errötete und wegsah. Er betrachtete Joe. »Joe, hast du je von... äh, Mais geträumt? Von einer alten Frau? Einer Gitarre?« Joe sah ihn nur aus Nadines schützenden Armen an.

»Lassen Sie ihn in Ruhe, Sie regen ihn nur auf«, sagte Nadine, aber sie schien diejenige zu sein, die aufgeregt war.

Larry überlegte. »Ein Haus, Joe? Ein kleines Haus mit einer Veranda auf Wagenhebern?«

Er glaubte, ein Funkeln in Joes Augen zu erkennen.

»Hören Sie auf, Larry!« sagte Nadine.

»Eine Schaukel, Joe? Eine Schaukel aus einem Reifen?« Plötzlich zuckte Joe in Nadines Armen zusammen. Er nahm den Daumen aus dem Mund. Nadine versuchte, ihn zu halten, aber Joe riß sich los.

»Die Schaukel!« sagte Joe aufgeregt. »Die Schaukel! Die Schaukel!« Er wirbelte herum und deutete zuerst auf Nadine, dann auf Larry. »Sie! Du! Viele!«

»Viele?« fragte Larry, aber Joe war schon wieder in sich versunken. Lucy Swann sah fassungslos drein. »Die Schaukel«, sagte sie.

»Daran kann ich mich auch erinnern.« Sie blickte Larry an. »Warum haben wir alle dieselben Träume? Richtet jemand einen Strahl auf uns oder so was?«

»Ich weiß nicht.« Er sah Nadine an. »Haben Sie auch diese Träume gehabt?«

»Ich träume nicht«, sagte sie schneidend und senkte sofort darauf den Kopf. Er dachte: Du lügst. Aber warum?

»Nadine, wenn Sie...« begann er.

»Ich habe Ihnen gesagt, ich träume nicht!« schrie Nadine schrill, beinahe hysterisch. »Können Sie mich denn nicht in Ruhe lassen? Müssen Sie mich bedrängen?«

Sie stand auf und entfernte sich fast im Laufschritt vom Feuer. Lucy sah ihr einen Augenblick unsicher nach, dann stand sie auf.

»Ich gehe ihr nach.«

»Ja, tun Sie das. Joe, du bleibst bei mir, okay?«

»Kay«, sagte Joe und klappte den Gitarrenkasten auf.




Lucy kam zehn Minuten später mit Nadine zurück. Larry sah, daß sie beide geweint hatten, jetzt aber wieder beruhigt zu sein schienen.

»Tut mir leid«, sagte Nadine zu Larry. »Ich bin nur ständig nervös. Manchmal macht sich das auf seltsame Weise Luft.«

»Macht nichts.«

Das Thema wurde nicht mehr angeschnitten. Sie saßen da und hörten zu, wie Joe sein Repertoire spielte. Er wurde wirklich immer besser, und allmählich konnte man zwischen Heulen und Grunzen Bruchstücke der Texte hören.

Schließlich schliefen sie, Larry an einem Ende, Nadine am anderen, Joe und Lucy dazwischen.

Larry träumte zuerst vom dunklen Mann an seinem hohen Ort, dann von der alten schwarzen Frau, die auf ihrer Veranda saß. Aber in diesem Traum wußte er, daß der schwarze Mann kam; er schritt durch den Mais, drängte seine verhüllte Gestalt durch die Stauden, sein schreckliches, heißes Grinsen war ihm wie ins Gesicht geschweißt, und er kam auf sie zu, immer näher, näher. Larry wachte mitten in der Nacht auf, außer Atem und mit vor Angst zugeschnürter Brust. Die anderen schliefen wie Steine. Irgendwie hatte er es in diesem Traum gewußt. Der schwarze Mann war nicht mit leeren Händen gekommen. In den Armen hielt er, während er durch den Mais schritt, wie eine Opfergabe den verwesten Leichnam von Rita Blakemoor, der jetzt steif und aufgedunsen war, das Fleisch von Murmeltieren und Wieseln zerfetzt. Eine stumme Anklage, die ihm vor die Füße geworfen werden würde, damit sie den anderen seine Schuld hinausschrie und damit stumm verkündete, daß er kein netter Kerl war, daß ihm etwas fehlte, daß er ein Verlierer war, ein Nehmer.

Schließlich schlief er wieder ein, und bis er am nächsten Morgen um sieben frierend, hungrig und mit voller Blase aufwachte, war sein Schlaf traumlos.




»Mein Gott«, sagte Nadine mit ausdrucksloser Stimme. Larry betrachtete sie und sah eine Enttäuschung, die zu überwältigend für Tränen war. Ihr Gesicht war blaß, die so bemerkenswerten Augen blickten umwölkt und stumpf.

Es war Viertel nach sieben am 19. Juli, die Schatten wurden lang. Sie waren den ganzen Tag gefahren, hatten jeweils nur fünf Minuten Rast gemacht und nur eine halbe Stunde Mittagspause in Randolph. Keiner hatte sich beschwert, obwohl Larrys Körper nach sechs Stunden auf dem Motorrad verkrampft war und schmerzte und ihn überall Nadeln stachen.

Jetzt standen sie zusammen in einer Reihe vor einem schmiedeeisernen Zaun des Seuchenzentrums. Unter und hinter ihnen lag die Stadt Stovington, die sich kaum verändert hatte, seit Stu Redman sie in den letzten Tagen seines Aufenthalts in diesem Komplex gesehen hatte. Hinter dem Zaun und dem Rasen, der einmal so gepflegt gewesen, jetzt aber verwuchert und mit Blättern und Zweigen übersät war, die die nachmittäglichen Stürme darauf geweht hatten, befand sich die Anlage selbst, drei Stockwerke hoch. Aber der größte Teil, vermutete Larry, unterirdisch. Die Anlage war verlassen, still, einsam.

Mitten auf dem Rasen stand ein Schild mit der Aufschrift:



SEUCHENZENTRUM STOVINGTON


REGIERUNGSGELÄNDE! BESUCHER


BEIM PFÖRTNER ANMELDEN



Daneben stand ein zweites Schild, und darauf schauten sie alle.





ROUTE 7 nach RUTLAND


HIER SIND ALLE TOT




ROUTE 4 nach SCHUYLERVILLE


WIR ZIEHEN WEITER NACH NEBRASKA




ROUTE 2 zur I-87


BLEIBEN SIE AUF UNSERER ROUTE




I-87 SÜDLICH ZUR I-90


HALTEN SIE NACH SCHILDERN AUSSCHAU




I-90 NACH WESTEN




HAROLD EMERY LAUDER


FRANCES GOLDSMITH


STUART REDMAN


LAWRENCE BATEMAN


8. JULI 1990




»Mein guter Harold«, murmelte Larry. »Ich kann es kaum erwarten, dir die Hand zu schütteln und dir ein Bier auszugeben... oder einen Payday-Riegel.«

»Larry!« sagte Lucy erschrocken.

Nadine war ohnmächtig geworden.

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