Teil 2: Nach dem Kauf lesen
Dies ist eigentlich gar kein Vorwort, sondern vielmehr eine Erklärung, warum diese neue Version von The Stand - Das letzte Gefecht überhaupt erscheint. Das Buch war in der bisherigen Form schon außerordentlich lang, und diese erweiterte Fassung wird von manchen - vielleicht von vielen - als Akt der Selbstgefälligkeit eines Autors angesehen werden, dessen Werke inzwischen so erfolgreich sind, daß er es sich leisten kann. Ich hoffe nicht, aber ich müßte schon verdammt dumm sein, wenn ich nicht wüßte, daß ich damit zu rechnen habe. Schließlich haben viele Kritiker schon die frühere Fassung als aufgebläht und überlang angesehen.
Ob das Buch von Anfang an zu lang war, oder es in dieser Ausgabe geworden ist, diese Frage will ich dem einzelnen Leser überlassen. Ich möchte diese wenigen Zeilen nur nutzen und sagen, daß ich The Stand, wie es ursprünglich geschrieben worden ist, nicht veröffentliche, um mir selbst oder einem bestimmten Leser einen Gefallen zu tun, sondern den vielen, die mich darum gebeten haben. Ich würde das Buch nicht in dieser Form anbieten, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß die Passagen, die aus dem Manuskript herausgekürzt worden sind, die Geschichte bereichern, und ich wäre ein Lügner, würde ich nicht zugeben, daß ich neugierig bin, wie das erweiterte Buch aufgenommen wird.
Ich möchte Ihnen die Geschichte ersparen, wie The Stand entstanden ist - die Gedankengänge, die einen Roman hervorbringen, interessieren kaum jemanden, abgesehen von angehenden Romanautoren. Sie neigen zu dem Glauben, daß es eine Geheimformel gebe, einen erfolgreichen Roman zu schreiben, aber die gibt es nicht. Man hat einen Einfall; an einer bestimmten Stelle klinkt sich ein anderer Einfall ein; man zieht eine oder mehrere Verbindungen zwischen den Einfällen; ein paar Figuren (anfangs normalerweise nichts weiter als Schatten) bieten sich an; dem Schriftsteller fällt ein mögliches Ende ein (obwohl das tatsächliche Ende meistens anders ausfällt, als der Verfasser es sich vorgestellt hat); und irgendwann macht sich der Autor mit Papier und Bleistift, einer Schreibmaschine oder einem Textcomputer an die Arbeit. Wenn ich gefragt werde: »Wie schreiben Sie?«, dann antworte ich darauf regelmäßig: »Ein Wort nach dem anderen«, und diese Antwort stößt ebenso regelmäßig auf Unglauben. Aber es ist so. Es hört sich zu einfach an, um wahr zu sein, aber denken Sie an die Chinesische Mauer, wenn Sie wollen: ein Stein nach dem anderen, Mann. Mehr nicht. Ein Stein nach dem anderen. Aber ich habe gelesen, daß man das Scheißding ohne Teleskop aus dem All sehen kann.
Falls es doch jemanden interessiert: Die Geschichte wird im letzten Kapitel von Danse Macabre erzählt, einem geschwätzigen, aber benutzerfreundlichen Überblick über das Horror-Genre, den ich 1981 veröffentlicht habe. Dies soll keine Werbung für das Buch sein; ich sage nur, daß die Story dort steht, wenn Sie sie lesen wollen, aber sie wird nicht erzählt, weil sie an sich interessant ist, sondern um ein vollkommen andersgeartetes Anliegen zu verdeutlichen.
Was das vorliegende Buch betrifft, ist es wichtig zu wissen, daß alles in allem etwa vierhundert Manuskriptseiten aus der endgültigen Fassung herausgekürzt wurden. Der Grund dafür war nicht inhaltlicher Natur; wäre dies der Fall, dann wäre ich damit zufrieden, das Buch sein Leben leben und seinen letztendlichen Tod sterben zu lassen, wie es ursprünglich veröffentlicht worden ist.
Die Kürzungen wurden auf Verlangen der Buchhaltung vorgenommen. Man rechnete die Herstellungskosten zusammen, verglich diese mit den Verkaufszahlen der Hardcover-Ausgaben meiner vorherigen vier Bücher und kam zum Ergebnis, daß ein Ladenpreis von 11,95 Dollar für den Markt das Äußerste war. Ich wurde gefragt, ob ich die Kürzungen selbst vornehmen wollte oder es mir lieber wäre, wenn jemand im Lektorat es macht. Ich stimmte widerwillig zu, den chirurgischen Eingriff selbst vorzunehmen. Ich glaube, ich habe eine recht gute Arbeit abgeliefert - für einen Schriftsteller, dem man immer wieder vorwirft, daß er an Textcomputerdiarrhöe leidet. Es gibt nur eine Stelle - die Reise des Mülleimermanns quer durch das Land von Indiana nach Las Vegas -, die mir in der ersten Fassung deutlich amputiert zu sein scheint.
Wenn also die Geschichte komplett vorhanden ist, könnte man sich nun fragen, warum dann überhaupt die Mühe? Ist es nicht doch Selbstgefälligkeit? Hoffentlich nicht; denn sollte das der Fall sein, dann habe ich einen großen Teil meines Lebens meine Zeit vergeudet. Nun bin ich aber einmal der Meinung, daß das Ganze immer größer ist als die Summe seiner Teile. Wäre dem nicht so, dann wäre die nachfolgende Version von »Hänsel und Gretel« in jeder Hinsicht akzeptabel:
Hänsel und Gretel waren zwei Kinder mit einem lieben Vater und einer lieben Mutter. Die liebe Mutter starb, und der Vater heiratete eine Schlampe. Die Schlampe wollte die Kinder loswerden, damit sie mehr Geld für sich selbst ausgeben konnte. Sie brachte ihren feigen, matschköpfigen Manne dazu, Hänsel und Gretel in den Wald zu führen und umzubringen. Im letzten Augenblick überlegte der Vater der Kinder es sich anders und ließ sie leben, damit sie langsam im Wald verhungern konnten, anstatt schnell und barmherzig durch das Messer zu sterben. Beim Herumspazieren fanden die Kinder ein Haus aus Lebkuchen. Das gehörte einer Hexe, die auf Kannibalismus abfuhr. Sie sperrte die Kinder ein und sagte ihnen, wenn sie groß und fett geworden waren, würde sie sie essen. Aber die Kinder zeigten ihr, was eine Harke ist. Hänsel stieß sie in ihren eigenen Herd. Sie fanden den Schatz der Hexe, und sie müssen auch eine Karte gefunden haben, denn schließlich fanden sie wieder nach Hause. Als sie dort ankamen, schickte Paps die Schlampe in die Wüste, und danach lebten sie alle glücklich. Ende.
Ich weiß nicht, was Sie davon halten, aber für mich ist diese Version ein Reinfall. Die Geschichte ist da, aber sie ist nicht elegant. Sie ist wie ein Cadillac, dessen Chromteile man entfernt und dessen Farbe man bis aufs stumpfe Metall abgeschmirgelt hat. Man kann damit fahren, aber er ist irgendwie nicht, wie soll ich sagen, geil. Ich habe nicht die ganzen vierhundert gekürzten Seiten wieder eingefügt; es ist ein Unterschied, ob man etwas richtig macht oder schlicht und einfach nur vulgär ist. Ein Teil dessen, was auf dem Boden des Schneideraums geblieben ist, als ich die verkürzte Version eingereicht habe, verdiente es, dort zu bleiben, und darum bleibt es auch dort. Andere Stellen, beispielsweise Frannies Begegnung mit ihrer Mutter am Anfang des Buches, bilden eine Bereicherung und verleihen eine Tiefe, die ich, als Leser, außerordentlich schätze. Kehren wir einen Moment zu »Hänsel und Gretel« zurück; Sie werden sich vielleicht erinnern, die böse Stiefmutter verlangt von ihrem Mann, daß er ihr die Herzen der Kinder als Beweis dafür mitbringt, daß der unglückliche Holzfäller ihren Befehl ausgeführt hat. Der Holzfäller beweist einen letzten Überrest Intelligenz, indem er ihr die Herzen von zwei Kaninchen mitbringt. Oder nehmen Sie die berühmte Spur aus Brotkrumen, die Hänsel hinter sich ausstreut, damit er und seine Schwester den Rückweg finden. Pfiffiges Kerlchen! Aber als er der Spur zurück folgen will, muß er feststellen, daß Vögel die Krumen gefressen haben. Beides ist für die Handlung nicht von entscheidender Bedeutung, aber in gewisser Weise bildet es die Handlung - beides sind großartige, magische Versatzstücke des Geschichtenerzählens. Sie machen aus einem potentiell langweiligen Stück eine Geschichte, die seit über hundert Jahren Leser bezaubert und das Gruseln lehrt.
Ich habe so eine Ahnung, als ob nichts, was ich neu eingefügt habe, so gut ist wie Hansels Brotkrumenspur, aber ich habe immer bedauert, daß niemand außer mir und ein paar Leuten bei Doubleday je den Irren kennengelernt hat, der sich The Kid nennt... oder Zeuge wird, was ihm vor einem Tunnel zustößt, der wiederum ein Kontrapunkt zu einem anderen Tunnel ist - dem Lincoln Tunnel in New York, den zwei Personen früher im Roman durchqueren müssen.
Hier also The Stand - Das letzte Gefecht, mein Dauerleser, wie es gemäß den Vorstellungen seines Verfassers ursprünglich aus dem Vorführraum flackern sollte. Alle Chromteile sind wieder montiert, ob gut oder schlecht. Der letzte Grund, warum ich diese Version präsentiere, ist der einfachste. Es ist zwar nie mein Lieblingsroman gewesen, aber den Leuten, die meine Bücher mögen, scheint er stets am besten zu gefallen. Wenn ich irgendwo einen Vortrag halte (was ich so selten wie möglich tue), sprechen mich die Leute immer auf Das letzte Gefecht an. Sie sprechen von den Figuren, als wären es lebende Menschen, und manchmal fragen sie: »Was ist aus Soundso geworden?« ... als würde ich ab und an Briefe von meinen Romanfiguren bekommen.
Ich werde unweigerlich gefragt, ob das Buch jemals verfilmt werden wird. Die Antwort lautet übrigens ja. Wird es ein guter Film? Ich weiss nicht. Schlecht oder gut, Filme haben immer eine seltsam abschwächende Wirkung auf Fantasy-Werke (Es gibt selbstverständlich Ausnahmen; Der Zauberer Oz fällt mir sofort ein). Bei Diskussionen verteilen die Leute endlos Rollen für die verschiedenen Figuren. Ich war immer der Meinung, Robert Duvall würde einen großartigen Randall Flagg abgeben, aber ich habe Leute schon Schauspieler wie Clint Eastwood, Bruce Dem und Christopher Walken vorschlagen hören. Sie klingen alle nicht schlecht, ebenso wie Bruce Springsteen einen interessanten Larry Underwood abgeben würde, sollte er sich jemals an der Schauspielerei versuchen (was er, wenn ich mir seine Videos so ansehe, ziemlich gut machen würde, glaube ich... trotzdem wäre mein persönlicher Favorit Marshall Crenshaw). Aber letztendlich ist es vielleicht besser, wenn Stu, Larry, Glen, Frannie, Ralph, Tom Cullen, Lloyd und der dunkle Bursche nur dem Leser gehören, der sie sich durch die Linse der Phantasie in einer lebhaften, wechselhaften Form vorstellen kann, die keine Kamera nachempfinden könnte. Schließlich vermitteln Filme nur mit Tausenden von starren Fotos die Illusion von Bewegung. Die Phantasie dagegen fließt mit ihren eigenen Gezeiten. Filme, auch die besten, lassen die Literatur erstarren - wer sich je Einer flog über das Kuckucksnest angesehen und danach Ken Keseys Roman gelesen hat, wird feststellen, daß es schwer, wenn nicht sogar unmöglich ist, nicht das Gesicht von Jack Nicholson bei Rändle Patrick McMurphy zu sehen. Das ist nicht zwangsläufig schlecht... aber es schränkt doch ein. Der Vorzug einer guten Geschichte liegt darin, daß sie grenzenlos und flüssig ist; eine gute Geschichte gehört jedem Leser auf seine spezielle Weise.
Zuletzt: Ich schreibe nur aus zwei Gründen: um mich und andere zu erfreuen. Ich hoffe, indem ich zu dieser langen Geschichte einer dunklen Christenheit zurückgekehrt bin, ist mir beides gelungen.
24. Oktober 1989