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Er taumelte und stolperte eine lange Steigung hinauf; die sengende Sonne kochte seinen Magen und röstete sein Gehirn. Die Interstate flimmerte in der Hitze. Er war einmal Donald Merwin Elbert gewesen, aber jetzt war er für alle Zeiten der Mülleimermann und erblickte die legendären sieben Städte von Cibola.
Wie lange reiste er schon nach Westen? Wie lange, seit er The Kid getroffen hatte? Gott mochte es wissen; der Mülleimermann nicht. Es waren Tage. Nächte. Oh, an die Nächte erinnerte er sich!
Er stand schwankend in seinen Lumpen da und sah auf Cibola hinab, die verheißene Stadt, die Stadt der Träume. Er war ein Wrack. Das Handgelenk, das er gebrochen hatte, als er über das Geländer auf die an den Tank der Cheery Oil genieteten Treppe sprang, war nicht richtig geheilt; das Handgelenk war ein grotesker, mit einem dreckigen Verband umwickelter Klumpen. Die Knochen sämtlicher Finger hatten sich irgendwie zusammengezogen und die Hand in eine Quasimodo-Klaue verwandelt. Sein linker Arm war vom Ellbogen bis zur Schulter eine nur langsam verheilende Masse verbrannten Gewebes. Es roch nicht mehr schlecht und vereitert, aber das neue Fleisch war haarlos und rosa wie die Haut einer billigen Puppe. Sein grinsendes, irres Gesicht war von der Sonne verbrannt, rissig, stoppelbärtig und von den schorfigen Wunden seines Sturzes bedeckt, als sich der Vorderreifen seines Fahrrads vom Rahmen verabschiedet hatte. Er trug ein verblichenes blaues J.C.-Penney-Arbeitshemd, auf dem sich konzentrisch Schweißflecken ausbreiteten, und eine schmutzige Cordhose. Sein Rucksack, der vor kurzem noch neu gewesen war, hatte sich in Aussehen und Substanz seinem Besitzer angeglichen - ein Riemen war gerissen; Müll hatte ihn, so gut er konnte, zusammengeknotet; jetzt hing der Rucksack so schief auf seinem Rücken wie der Fensterladen eines Spukhauses; er war verstaubt, die Falten voll Wüstensand. An den Füßen trug Müll Turnschuhe Marke Kids, die mit Strohschnüren gebunden waren; die Knöchel ragten daraus hervor - zerkratzt, vom Sand aufgescheuert und bar jeglicher Socken.
Er sah zu der weit entfernten Stadt hinunter. Er wandte das Gesicht dem unerbittlichen stahlblauen Himmel und der glühenden Sonne zu, die herabgleißte und ihn mit Backofenhitze einhüllte. Er schrie. Es war ein wilder, triumphierender Schrei, fast genau wie der, den Patty Kroger ausstieß, als sie Roger Rabbit mit dem Kolben seiner eigenen Schrotflinte den Schädel gespalten hatte.
Er begann einen schlurfenden Siegestanz auf dem kochenden, hitzeflimmernden Asphalt der Interstate 15, während der heiße Wüstenwind Sand über den Highway wehte und die blauen Gipfel der Bergketten Pahranagat und Spotted mit ihren weißen Zähnen ungerührt am strahlenden Himmel sägten, wie seit Jahrtausenden. Auf der anderen Seite des Highway waren ein Lincoln Continental und ein Thunderbird fast im Sand vergraben, die Insassen hinter dem Sicherheitsglas mumifiziert. Auf Mülleimers Straßenseite hatte sich ein Stück weiter ein Kleinlaster überschlagen; nur die Räder und das Bodenblech waren noch zu sehen.
Er tanzte. Seine Füße in den zusammengebundenen und ausgetretenen Kids hüpften wie bei einem trunkenen Volkstanz auf dem Highway auf und ab. Sein zerfetztes Hemd flatterte im Wind. Die Feldflasche klapperte gegen den Rucksack. Die losen Enden des Ace-Verbands wehten im heißen Atem des Windes. Das rosa Gewebe der verheilenden Brandwunden schimmerte häßlich. Seine Schläfenadern traten hervor wie Stricke. Er wanderte jetzt schon eine Woche durch Gottes Bratpfanne nach Südwesten durch Utah, die Spitze von Arizona und dann nach Nevada, und er war ein Irrer, total verrückt.
Während er tanzte, sang er monoton, immer wieder dieselben Worte zu einer Melodie, die populär gewesen war, als er noch in der Anstalt in Terre Haute gesessen hatte, einem Song mit dem Titel »Down to the Nightclub« von einer schwarzen Gruppe namens Tower of Power. Aber der Text war von ihm. Er sang:
»Ci-a-bola, Ci-a-bola, bump-ty, bump-ty, bump! Ci-a-bola, Ci-a-bola, bump-ty, bump-ty, bump!«, und auf jedes letzte bump! folgte ein Hüpfschritt, bis in der Hitze alles verschwamm und der harsche blaue Himmel dämmergrau wurde, bis er halb bewußtlos auf der Straße zusammenbrach und sein überlastetes Herz wie verrückt in der ausgedörrten Brust klopfte. Brabbelnd und grinsend zog er sich mit letzter Kraft über den umgestürzten Lastwagen und lag in dessen schwindendem Schatten zitternd und keuchend in der Gluthitze.
»Ciabola!« krächzte er. »Bumpty-bumpty-fe«
Er fummelte mit seiner Klauenhand die Feldflasche von der Schulter und schüttelte sie. Die Flasche war fast leer. Einerlei. Er würde den letzten Tropfen austrinken und sich hier hinlegen, bis die Sonne unterging, und dann würde er auf dem Highway nach Cibola laufen, zu den legendären sieben Städten. Heute abend würde er aus ewig sprudelnden goldenen Brunnen trinken. Aber erst wenn die Mördersonne unterging. Gott war der größte Feuerteufel von allen. Vor langer, langer Zeit hatte ein Junge namens Donald Merwin Elbert den Rentenscheck der alten Oma Semple verbrannt. Derselbe Junge hatte die Methodistenkirche in Powtanville angesteckt, und wenn noch etwas von diesem Donald Merwin Elbert in dieser Hülle gewesen wäre, dann wäre es ganz bestimmt mit den Öltanks in Gary, Indiana, verbrannt worden. Mehr als neun Dutzend, und sie waren wie ein Strang-Kracher hochgegangen. Und obendrein noch rechtzeitig zum 4. Juli. Hübsch. Im Kielwasser der Feuersbrunst war nur der Mülleimermann übriggeblieben, dessen linker Arm ein rissiges, kochendes Gulasch war, und in dessen Körper ein Feuer brannte, das nie mehr ausgehen würde... jedenfalls nicht, bevor sein Körper zu schwarzer Kohle geworden war.
Und heute abend würde er das Wasser von Cibola trinken, ja, es würde schmecken wie Wein.
Er hob die Flasche, und sein Adamsapfel hüpfte, als das letzte Wasser pißwarm in seinen Magen gurgelte. Als sie leer war, warf er die Flasche in die Wüste. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Das Wasser verkrampfte ihm köstlich den Magen.
»Cibola!« murmelte er. »Cibola! Ich komme! Ich komme! Ich mach' alles, was du willst! Mein Leben für dich! Bumpty-bumpty-bump«
Müdigkeit überkam ihn, nachdem der Durst etwas gestillt war. Er war fast eingeschlafen, als ihm ein völlig anderer Gedanke wie eine eiskalte Dolchklinge durch den Boden seines Verstands fuhr:
Wenn Cibola nun bloß eine Fata Morgana war?
»Nein«, murmelte er. »Nein, hm-hm, nein.«
Aber ihn einfach nicht wahrhaben zu wollen verscheuchte den Gedanken nicht. Die Klinge stieß und bohrte und hielt den Schlaf fern. Wenn er nun mit dem letzten Schluck Wasser eine Fata Morgana gefeiert hatte? Auf seine Weise erkannte er seinen Wahnsinn; genau wie er würde ein Verrückter handeln. Wenn es eine Fata Morgana war, würde er hier in der Wüste sterben, und die Bussarde würden sich an ihm gütlich tun.
Schließlich konnte er die grauenhafte Möglichkeit nicht mehr ertragen, kam taumelnd auf die Füße, arbeitete sich wieder zur Straße vor und kämpfte gegen die Wogen von Erschöpfung und Übelkeit, die ihn überwältigen wollten. Auf der Hügelkuppe sah er gespannt über die mit Yucca und Steppenhexe und Teufelsmantel bewachsene riesige flache Ebene. Der Atem blieb ihm im Halse stecken und franste dann zu einem langen Seufzer aus wie ein Stück Stoff, das an einem Nagel hängenbleibt.
Da war es!
Cibola, seit alters her Legende, von vielen gesucht, vom Mülleimermann entdeckt!
Weit unten in der Wüste, von blauen Bergen umgeben, glänzten seine Türme und Straßen, selbst blau im Dunst der Entfernung, im Wüstentag. Dort standen Palmen... er konnte Palmen sehen... und Bewegungen... und Wasser!
»Oh, Cibola!« frohlockte er und taumelte in den Schatten des umgestürzten Wagens zurück. Cibola lag weiter entfernt, als es aussah, das wußte er. Heute nacht, wenn Gottes Fackel vom Himmel verschwunden war, würde er laufen wie nie zuvor. Er würde Cibola erreichen und sich als erstes kopfüber in den nächsten Brunnen stürzen, an dem er vorbeikam. Dann würde er ihn suchen, den Mann, der ihn zu sich befohlen hatte. Den Mann, der ihn durch die Ebenen und über die Berge und schließlich in die Wüste gezogen hatte - und das alles innerhalb eines Monats und trotz des gräßlich verbrannten Arms.
Er, der ist - der dunkle Mann, der Hartgesottene. Er wartete in Cibola auf den Mülleimermann, und ihm gehörten die Heere der Nacht, ihm gehörten die bleichen Totenreiter, die von Westen dahersprengten ins Gesicht der aufgehenden Sonne. Sie würden toben und grinsen und nach Schweiß und Pulverdampf stinken. Es würden Schreie ertönen, und Mülleimer störten solche Schreie kaum; es würde zu Vergewaltigungen und Unterdrückung kommen, was ihn noch weniger störte; es würde Mord geben, was ihm gleichgültig war - und es würde einen großen Brand geben.
Das gefiel ihm sehr gut. In den Träumen kam der dunkle Mann zu ihm, breitete an einem hohen Orte die Arme aus und zeigte Mülleimer ein Land in Flammen. Städte, die wie Bomben explodierten. Bebaute Felder, über die der Feuersturm raste. Und selbst auf den Flüssen von Chicago und Pittsburgh und Detroit und Birmingham loderte treibendes Öl. Und der dunkle Mann hatte ihm in seinen Träumen etwas ganz Einfaches gesagt, das ihn veranlaßt hatte, sofort loszulaufen: Du wirst in meiner Artillerie einen hohen Rang einnehmen. Du bist der Mann, den ich brauche.
Er rollte sich auf die Seite, seine Wangen und Lider waren vom Sand wundgescheuert. Er hatte die Hoffnung schon verloren -, ja, als sich das Vorderrad vom Rahmen gelöst hatte, hatte er die Hoffnung verloren. Gott, der Gott vatermordender Sheriffs, der Gott von Charley Yates war anscheinend doch stärker als der dunkle Mann, wie es schien. Aber er hatte den Glauben nicht verloren und weitergemacht. Und zuletzt, als es ausgesehen hatte, als würde er in der Wüste verbrennen, bevor er Cibola erreichte, wo der dunkle Mann auf ihn wartete, hatte er es weit unten in der Sonne träumen sehen.
»Cibola«, flüsterte er und schlief ein.
Den ersten Traum hatte er vor über einem Monat in Gary gehabt, nachdem er sich den Arm verbrannt hatte. An dem Abend war er mit der Gewißheit eingeschlafen, daß er sterben würde; niemand konnte sich so schlimm verbrennen wie er und überleben. Ein Refrain hatte sich seinem Kopf eingeprägt: Lebe durchs Feuer, stirb durchs Feuer. Lebe dadurch, stirb dadurch.
In einem kleinen Stadtpark hatten die Beine unter ihm nachgegeben; er war gestürzt und hatte den linken Arm mit dem versengten Ärmel von sich weggestreckt wie etwas Totes. Die Schmerzen waren gigantisch, unglaublich gewesen. Er hätte sich nie träumen lassen, daß es solche Schmerzen auf der Welt gab. Er war fröhlich von einem Block Öltanks zum nächsten gelaufen und hatte provisorische Zeitzünder angebracht, die aus einem Stahlrohr und einer entflammbaren Paraffinmischung bestanden, welche mittels eines Stahlplättchens von einer kleinen Menge Säure getrennt war. Diese Vorrichtungen hatte er in die Überlaufrohre oben auf den Tanks gesteckt. Wenn sich die Säure durch den Stahl gefressen hatte, entzündete sich das Paraffin, und die Tanks gingen hoch. Er hatte vorgehabt, zum Westrand von Gary zu gehen, zu dem Wirrwarr von Kreuzungen und Dreiecken der zahlreichen Straßen Richtung Chicago oder Milwaukee, bevor einer der Tanks explodierte. Er wollte das Spektakel verfolgen, wenn die ganze dreckige Stadt von einem Feuersturm verzehrt wurde.
Aber er hatte den Zündzeitpunkt der letzten Bombe falsch eingeschätzt oder sie fehlerhaft konstruiert. Sie war detoniert, während Müll noch den Deckel auf dem Überlaufrohr mit einem Schraubenschlüssel löste. Das brennende Paraffin rülpste eine grellweiße Flamme aus der Röhre und hüllte seinen linken Arm in Feuer. Es war kein schmerzloser Handschuh aus Feuerzeugbenzin, den man in der Luft schwenken und wie ein großes Streichholz ausblasen konnte. Das waren Schmerzen, als hätte man den Arm in einen Vulkan gesteckt.
Er lief kreischend und wie irrsinnig auf dem Öltank hin und her und sprang von dem hüfthohen Geländer ab wie eine fleischgewordene Flipperkugel. Wären die Geländer nicht dagewesen, wäre er hinuntergestürzt und hätte sich dabei immer wieder überschlagen wie eine Fackel, die in einen Brunnen geworfen wurde. Nur der Zufall rettete sein Leben; er stolperte über die eigenen Füße, fiel mit dem Körper auf den linken Arm und erstickte die Flammen. Er richtete sich auf und war immer noch halb irr vor Schmerzen. Später dachte er, daß ihn nur reines Glück - oder der Wille des dunklen Mannes davor bewahrt hatten zu verbrennen. Der Großteil des Paraffinstrahls hatte ihn verfehlt. Er war dankbar - aber die Dankbarkeit kam erst später. Zu dem Zeitpunkt konnte er nur weinen, hin und her wippen und den verbrannten Arm vom Körper Wegstrecken, während die Haut schmorte und aufplatzte und sich zusammenzog.
Als das Licht vom Himmel schwand, fiel ihm vage ein, daß er schon ein Dutzend seiner Zünder angebracht hatte. Sie konnten jeden Moment hochgehen. Zu sterben und aus diesem unsäglichen Elend erlöst zu sein wäre wunderbar, aber in den Flammen zu sterben das absolute Grauen.
Irgendwie war er vom Tank heruntergekrochen, zwischen den liegengebliebenen Wagen hindurchgelaufen, und dabei hatte er die ganze Zeit den gegrillten Arm weit vom Körper gehalten. Als er einen kleinen Park in der Nähe des Stadtzentrums erreichte, ging die Sonne unter. Er setzte sich zwischen zwei ShuttleboardSpielfeldern auf den Rasen und überlegte, was man bei Brandwunden unternehmen könnte. Butter draufstreichen, das hätte Donald Merwin Elberts Mutter gesagt. Aber das half nur, wenn man sich verbrüht hatte oder das Bratenfett besonders hoch spritzte und einem den Arm mit heißem Öl übergoß. Er konnte sich nicht vorstellen, Butter auf das aufgeplatzte schwarze Fleisch zwischen Ellenbogen und Schulter zu streichen; er konnte sich nicht einmal vorstellen, es zu berühren.
Sich umbringen. Das war es, das war die Lösung. Er würde sich von seinem Elend erlösen, wie man einen alten Hund...
Plötzlich erfolgte im Osten der Stadt eine gewaltige Explosion, als wäre das Weltgefüge brutal entzweigerissen worden. Eine flüssige Feuersäule raste in das tiefe Indigo der Dämmerung empor. Er mußte die Augen zu tränenden, schmerzenden Schlitzen zusammenkneifen.
Selbst mit den Schmerzen hatte er Freude an dem Feuer... mehr noch, es entzückte und erfüllte ihn. Feuer war die beste Medizin, besser als das Morphium, das er am nächsten Tag fand (als Vertrauensmann im Gefängnis hatte er außer in der Bibliothek und der Fahrbereitschaft auch in der Krankenstation gearbeitet und wußte über Morphium und Elavil und Darvon Complex Bescheid). Er brachte den momentanen Schmerz nicht mit der Feuersäule in Verbindung. Er wußte nur, das Feuer war gut, das Feuer war schön, das Feuer brauchte er und würde es immer brauchen. Wunderbares Feuer!
Augenblicke später explodierte ein zweiter Öltank, und selbst hier, drei Meilen entfernt, spürte er den heißen Lufthauch der Druckwelle. Noch ein Tank ging hoch, und noch einer. Eine kleine Pause, dann explodierten sechs in dröhnender Folge, und jetzt war es so hell, dass man nicht mehr hinübersehen konnte, aber er sah trotzdem hinüber, grinste, und in seinen Augen spiegelten sich die gelben Flammen; sein verbrannter Arm und die Gedanken an Selbstmord waren vergessen.
Es dauerte über zwei Stunden, bis alle Tanks explodiert waren, bis es Nacht war, aber es war nicht dunkel, die Nacht war gelb und orangefarben und fiebrig von den Flammen. Das Feuer tanzte am gesamten östlichen Bogen des Horizonts. Das Bild erinnerte ihn an einen Illustrierte-Klassiker-Comic, den er als Kind gelesen hatte, eine Adaption von H. G. Well's Krieg der Welten. Jetzt, Jahre später, war der Junge, dem das Comic-Heft gehört hatte, verschwunden, aber der Mülleimermann war da, und Müll besaß das wunderbare, schreckliche Geheimnis der marsianischen Todesstrahlen. Es war Zeit, den Park zu verlassen. Die Temperatur war schon um zehn Grad angestiegen. Er mußte nach Westen gehen, vor dem Feuer bleiben, wie in Powtanville, mußte vor dem sich ständig erweiternden Ring der Zerstörung davonlaufen. Aber sein Zustand erlaubte es ihm nicht, davonzulaufen. Deshalb schlief er im Gras ein, und das Licht der Flammen flackerte über das Gesicht eines müden, mißhandelten Kindes.
In seinem Traum kam der dunkle Mann mit seinem Kapuzenmantel, das Gesicht unsichtbar... und doch glaubte der Mülleimermann, dass er diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Wenn die Leute, die in Powtanville in der Milchbar oder der Kneipe herumlungerten, hinter ihm herpfiffen, schien dieser Mann unter ihnen gewesen zu sein, schweigend und nachdenklich. Als er bei Scrubba-Dubba gearbeitet hatte (Scheinwerfer abseifen, Scheibenwischer prüfen, Spiegel abwischen, he, Mister, möchten Sie auch Heißwachs?) und den Schwammhandschuh so lange trug, bis die Hand darunter wie ein bleicher toter Fisch aussah und die Fingernägel so weiß waren wie frisches Elfenbein, schien er das tückische und voll irrer Freude grinsende Gesicht dieses Mannes hinter dem schlierigen Wasserfilm, der die Windschutzscheibe herablief, gesehen zu haben. Als der Sheriff ihn in die Klapsmühle nach Terre Haute schickte, war dieser Mann der Angestellte in der Psychiatrie gewesen, der in dem Raum stand, wo man die Elektroschocks bekam; der Mann hatte die Hand am Schalter gehabt (Ich werde dir das Gehirn rösten, Junge, und dir auf den Weg helfen, wenn du dich von Donald Merwin Elbert in den Mülleimermann verwandelst, möchtest du Heißwachs?) und war bereit gewesen, ihm etwa tausend Volt ins Hirn zu jagen, bis es zu brodeln schien. Er kannte diesen dunklen Mann durchaus, dessen Gesicht man nie ganz sah, dessen Hände sämtliche Pik aus einem schlechten Blatt austeilten, dessen Augen jenseits der Flammen waren und dessen Grinsen von jenseits des Grabes der Welt kam.
»Ich mache alles, was du willst«, sagte er dankbar im Traum. »Mein Leben für dich!«
Der dunkle Mann hob die Arme unter dem Mantel und machte ihn so zu einem schwarzen Drachen. Sie standen an einem hohen Ort, und unter ihnen lag Amerika in Flammen.
Du wirst in meiner Artillerie einen hohen Rang einnehmen. Du bist der Mann, den ich brauche.
Dann sah er eine Armee von zehntausend zerlumpten und verstoßenen Männern und Frauen, die sich nach Osten wälzte, durch die Wüste in die Berge, ein wildes Tier von einer Armee, dessen Zeit endlich gekommen war; sie fuhren in Lastwagen und Jeeps und Campingwagen und Panzern, jeder Mann und jede Frau trugen einen dunklen Stein um den Hals, tief in manchen dieser Steine war eine Figur eingebettet, die ein Auge oder ein Schlüssel sein konnte. Und ihnen voraus sah er sich selbst in einem riesigen Tanklastzug mit schweren Reifen und wußte, es war Napalm im Tank... und hinter ihm in der Kolonne fuhren Lastwagen mit Tellerminen und Plastiksprengstoff; mit Flammenwerfern und Leuchtbomben und Infrarot-Raketen; mit Granaten und Maschinengewehren und Raketenwerfern. Der Totentanz sollte in Kürze beginnen, die Saiten der Fidein und Gitarren rauchten bereits, der Geruch von Schwefel und Schießpulver erfüllte die Luft. Der dunkle Mann hob wieder die Arme, und als er sie sinken ließ, war alles kalt und stumm, die Feuer erloschen, selbst die Asche war kalt, und einen Augenblick war er wieder Donald Merwin Elbert, klein und ängstlich und verwirrt. Einen Augenblick argwöhnte er, nur eine Figur im riesigen Schachspiel des dunklen Mannes zu sein, getäuscht worden zu sein.
Dann sah er, daß das Gesicht des dunklen Mannes nicht mehr völlig verborgen war; zwei dunkle rote Kohlen glühten in den dunklen Höhlen, wo die Augen sein sollten, und erhellten eine Nase, die so schmal wie eine Messerklinge war.
»Ich mach' alles, was du willst«, sagte Müll dankbar im Traum.
»Mein Leben für dich! Meine Seele für dich!«
»Ich werde dich Feuer entfachen lassen«, sagte der dunkle Mann ernst. »Du mußt in meine Stadt kommen, dort werden wir alles besprechen.«
»Wo? Wo?« Er empfand Qualen der Hoffnung und Erwartung.
»Im Westen«, sagte der dunkle Mann und verblaßte. »Im Westen. Hinter den Bergen!«
Dann wachte er auf, und es war immer noch Nacht und immer noch hell. Die Flammen waren näher gekommen, die Hitze war erstickend. Häuser explodierten. Die Sterne waren nicht mehr zu sehen; sie waren von einem Leichentuch dichten schwarzen Ölqualms verhüllt. Feiner Ascheregen hatte eingesetzt. Die Shuttleboard-Spielfelder waren mit schwarzem Schnee bestäubt.
Jetzt hatte er ein Ziel vor Augen und stellte fest, daß er laufen konnte. Er hinkte nach Westen und sah dabei von Zeit zu Zeit ein paar andere Menschen, die Gray verließen und die Feuersbrunst über die Schultern betrachteten. Narren, dachte der Mülleimermann fast zärtlich. Ihr werdet brennen. Wenn die Zeit gekommen ist, werdet ihr brennen. Sie nahmen keine Notiz von ihm; für sie war der Mülleimermann nur einer der Überlebenden. Sie verschwanden im Rauch, und der Mülleimermann hinkte kurz nach Einbruch der Dämmerung über die Grenze von Illinois. Chicago lag nördlich von ihm, Joliet im Südwesten, das Feuer war hinter seinem eigenen Rauch, der den Horizont verdeckte, verschwunden. Es war der Morgen des 2. Juli gewesen.
Er hatte seinen Traum vergessen, Chicago niederzubrennen - seine Träume von weiteren Öltanks und Güterwaggons voll Flüssiggas auf Abstellgleisen und knochentrockenen Mietshäusern. Ihm lag überhaupt nichts mehr an der Stadt der Winde. An diesem Nachmittag brach er in eine Arztpraxis in Chicago Heights ein und stahl eine Packung Morphinampullen. Das Morphium drängte die Schmerzen ein wenig zurück, aber es hatte noch eine andere wichtige Nebenwirkung: Ihm machten die Schmerzen, die er noch empfand, nicht mehr so viel aus.
Am Abend nahm er aus einem Drugstore ein großes Glas Vaseline mit und trug sie einen Zentimeter dick auf die verbrannte Haut seines Arms auf. Er hatte großen Durst; es schien, als wollte er unablässig trinken. Hirngespinste vom dunklen Mann schwirrten summend in seinen Kopf und wieder hinaus, wie Fliegen. Als er in der Dämmerung zusammenbrach, dachte er schon, die Stadt, in welche der dunkle Mann ihn geleiten wollte, müßte Cibola sein, die sieben Städte in einer, die Stadt der Verheißung.
Der Mülleimermann erwachte aus diesen wirren TraumErinnerungen an das Gewesene in klirrender Wüstenkälte. In der Wüste herrschten immer Eis oder Feuer; es gab kein Dazwischen. Er stöhnte leise, stand auf und klammerte sich so fest an sich selbst, wie er konnte. Über ihm leuchteten Milliarden Sterne, die fast so nahe schienen, als könnte man sie berühren; sie übergössen die Wüste mit ihrem kalten Hexenlicht.
Er ging zur Straße zurück und zuckte wegen seiner verbrannten und empfindlichen Haut und den zahllosen Schmerzen und Blessuren zusammen. Jetzt bedeuteten sie ihm wenig. Er verweilte einen Moment und sah auf die Stadt hinab, die in der Nacht träumte (hier und da waren winzige Lichtfünkchen zu sehen, wie elektrische Lagerfeuer). Dann begann er zu laufen.
Als Stunden später die Morgendämmerung den Himmel zu färben begann, schien Cibola noch fast genauso weit entfernt zu sein wie in dem Augenblick, als er über den Hügel gekommen war und es gesehen hatte. Er war so dumm gewesen, sein ganzes Wasser auszutrinken, weil er vergessen hatte, wie vergrößert hier alles wirkte. Nach Sonnenaufgang wagte er aus Angst vor Austrocknung nicht mehr lange zu gehen. Er würde sich wieder hinlegen müssen, bevor die Sonne mit voller Kraft schien.
Eine Stunde nach Dämmerung kam er zu einem Mercedes Benz am Straßenrand, dessen rechte Seite bis zur Türverkleidung im Sand versunken war. Er öffnete eine der linken Türen und zog die beiden geschrumpften, affenähnlichen Insassen heraus - eine alte Frau, die eine Menge Modeschmuck trug, und ein alter Mann mit theatralisch aussehendem weißen Haar. Müll zog murmelnd den Zündschlüssel ab, ging nach hinten und machte den Kofferraum auf. Die Koffer waren nicht verschlossen. Er hängte eine Reihe Kleidungsstücke über die Fenster des Mercedes und beschwerte sie mit Steinen. Jetzt hatte er eine kühle, schattige Höhle.
Er kroch hinein und legte sich schlafen. Meilen weiter westlich glänzte die Stadt Las Vegas im Licht der Wüstensonne.
Er konnte kein Auto fahren, das hatten sie ihm im Gefängnis nicht beigebracht, aber er konnte Fahrrad fahren. Am 4. Juli, als Larry Underwood feststellte, daß Rita Blakemoor eine Überdosis genommen hatte und im Schlaf gestorben war, stahl der Mülleimermann ein Rad mit Zehngangschaltung und fuhr los. Zuerst kam er nur langsam voran, weil er.den verletzten linken Arm kaum gebrauchen konnte. Am ersten Tag fiel er zweimal vom Rad, einmal genau auf die Brandwunden, was entsetzliche Schmerzen verursachte. Inzwischen eiterten die Brandwunden durch die Vaseline hindurch; der Gestank war fürchterlich. Hin und wieder machte er sich wegen Wundbrand Gedanken, aber nie lange. Er mischte die Vaseline mit einer antiseptischen Salbe, wußte zwar nicht, ob das helfen wüde, war aber überzeugt, daß es nicht schlimmer werden konnte. Die Mischung hatte eine milchige, viskose Beschaffenheit, die an Sperma erinnerte.
Allmählich gewöhnte er sich daran, das Fahrrad fast die ganze Zeit einhändig zu fahren, und stellte fest, daß er gutes Tempo machte. Die Landschaft war flacher geworden, er konnte fröhlich mit dem Rad dahinbrausen. Er fuhr trotz der Verbrennungen und der ständigen Benommenheit einigermaßen sicher, weil er dauernd high vom Morphium war. Er trank literweise Wasser und aß gewaltige Mengen. Er dachte über die Worte des dunklen Mannes nach: Du wirst in meiner Artillerie einen hohen Rang einnehmen. Du bist der Mann, den ich brauche. Es waren wunderbare Worte - hatte ihn vorher schon jemals jemand gebraucht? Die Worte gingen ihm immer wieder durch den Kopf, während er unter der heißen Sonne des Mittleren Westens in die Pedale trat. Und er fing an, die Melodie des Schlagers »Down to the Nightclub« zu summen. Die Worte (»Cia-bola! Bumpty-bumpty-bump«) kamen erst später. Da war er noch nicht so verrückt, wie er werden sollte, aber auf dem besten Weg dorthin.
Am 5.Juli, am Tag, als Nick Andres und Tom Cullen Büffel in Comanche County, Kansas, grasen sahen, überquerte Mülleimermann den Mississippi beim Städtegeviert Davenport, Rock Island, Bettendorf, Moline in lowa.
Am vierzehnten Tag, dem Tag, als Larry in der Nähe des großen weißen Hauses im östlichen New Hampshire aufwachte, überquerte Mülli den Missouri nördlich von Council Bluffs und gelangte nach Nebraska. Er konnte die linke Hand wieder etwas gebrauchen, seine Beinmuskeln hatten sich an die Anstrengung gewöhnt, er raste weiter, weil er den unstillbaren Drang verspürte, sich zu sputen. Auf der Westseite des Missouri argwöhnte Müll zum ersten Mal, dass Gott selbst sich zwischen den Mülleimermann und dessen Schicksal stellen könnte. Mit Nebraska war etwas nicht in Ordnung, ganz und gar nicht in Ordnung. Etwas, das ihm angst machte. Nebraska sah so aus wie lowa... aber es war nicht so. Der dunkle Mann war ihm jede Nacht im Traum erschienen, aber als Mülli in Nebraska war, kam der dunkle Mann nicht mehr.
Statt dessen träumte er von einer alten Frau. In diesen Träumen sah er sich vor Angst und Haß fast gelähmt auf dem Bauch in einem Maisfeld liegen. Er hörte Krähenschwärme krächzen. Vor ihm war ein Vorhang von breiten, schwertähnlichen Maisblättern. Er schob mit zitternder Hand die Blätter zur Seite, was er nicht wollte, aber nicht verhindern konnte, und sah hindurch. Mitten auf einer Lichtung erblickte er ein altes Haus. Das Haus stand auf Blöcken oder Stützen oder so was. Daneben ein Apfelbaum mit einer Reifenschaukel an einem Ast. Auf der Veranda saß eine alte schwarze Frau, die Gitarre spielte und einen altmodischen Gospelsong sang. Der Song war von Traum zu Traum verschieden, aber Müll kannte die meisten, weil er einmal eine Frau gekannt hatte, die Mutter eines Jungen namens Donald Merwin Elbert, die viele solcher Songs während der Hausarbeit gesungen hatte.
Dieser Traum war ein Alptraum, aber nicht nur, weil am Ende etwas überaus Entsetzliches geschah. Zuerst hätte man sagen können, daß der ganze Traum überhaupt kein erschreckendes Element enthielt. Mais? Blauer Himmel? Alte Frau? Reifenschaukel? Was konnte daran beängstigend sein? Alte Frauen verspotteten einen nicht und warfen keine Steine, schon gar nicht so alte Frauen, die hausbackene Pfaffenlieder wie »In That Great Getting-Up Morning« und »Bye-and-Bye, Sweet Lord, Bye-and-Bye« sangen. Es waren die Carley Yates' dieser Welt, die mit Steinen warfen. Aber lange bevor der Traum zu Ende ging, war er vor Angst wie gelähmt, als wäre es keine alte Frau, die er vor sich sah, sondern ein geheimnisvolles, ein kaum verborgenes Licht, das jeden Augenblick um sie herum aufleuchten konnte, um sie mit einem so strahlenden Glanz zu umspielen, daß die brennenden Öltanks von Gary wie Kerzen im Wind wirken würden - ein so grelles Licht, daß es seine Augen zu Schlacken verbrennen würde. Und immer, wenn er im Traum an diesen Punkt gelangte, hatte er nur einen Gedanken: Oh, bitte, bring mich hier weg, ich will mit dieser alten Henne nichts zu tun haben, bitte, o bitte, bring mich raus aus Nebraska!
Und dann hörte das Lied, das sie gerade spielte, mit einem scheppernden Mißklang auf. Sie sah direkt zu der Stelle, wo er durch die Lücke im dichten Blattwerk spähte. Ihr Gesicht war alt und zerfurcht, das Haar so dünn, daß er den braunen Schädel sehen konnte, aber ihre Augen waren hell wie Diamanten und erfüllt von dem Licht, das er fürchtete.
Mit einer alten, brüchigen, aber trotzdem kräftigen Stimme rief sie: Wiesel im Mais!, und er spürte die Veränderung in sich, sah an sich hinab und stellte fest, daß er ein Wiesel geworden war, ein pelziges braunschwarzes schleichendes Ding; seine Nase war lang und spitz geworden, die Augen waren zu kleinen schwarzen Perlen geschmolzen, die Finger in Klauen verwandelt. Er war ein Wiesel, ein feiges Nachtlebewesen, dessen Beute die Schwachen und Kleinen waren.
Dann fing er an zu schreien, und schließlich weckte ihn sein eigenes Geschrei, und er erwachte schweißüberströmt und mit hervorquellenden Augen. Er huschte mit den Händen über den Körper und vergewisserte sich, daß alle menschlichen Teile noch da waren. Als Abschluß seiner panischen Inspektion griff er sich an den Kopf, um sicherzustellen, daß es noch ein menschlicher Kopf war und nicht etwas Langes, Glattes, Stromlinienförmiges, pelzig und wie eine Gewehrkugel geformt.
Er legte vierhundert Meilen durch Nebraska in drei Tagen zurück; Entsetzen mit hoher Oktanzahl war sein Treibstoff. In der Nähe von Julesburg betrat er Colorado, und der Traum verblaßte und nahm die Farbe eines Sepiadrucks an.
(Was Mutter Abagail anbetraf, so wachte sie in der Nacht des 15. Juli auf - kurz nachdem der Mülleimermann nördlich von Hemingford Home vorbeigekommen war -, fror und empfand ein Gefühl von Mitleid und Angst zugleich, obwohl sie nicht wußte, für wen. Sie glaubte, daß sie von ihrem Enkel Anders geträumt haben könnte, der im Alter von nur sechs Jahren einem sinnlosen Jagdunfall zum Opfer gefallen war.)
Am 18. Juli hatte Mülli südwestlich von Sterlin, Colorado, noch immer ein paar Meilen von Brush entfernt, The Kid getroffen.
Müll wachte auf, als sich die Dämmerung herabsenkte. Trotz der Kleidungsstücke, die er über die Fenster gehängt hatte, war es in dem Mercedes heiß geworden. Sein Hals war ein ausgetrockneter Brunnenschacht, den man mit Schmirgelpapier abgerieben hatte. Seine Schläfen pochten und dröhnten. Er streckte die Zunge heraus, und als er mit den Fingern darüberstrich, fühlte sie sich an wie ein abgestorbener Zweig. Er richtete sich auf, legte eine Hand auf das Lenkrad des Mercedes und zog sie sofort wieder mit einem gequälten Aufzischen zurück. Er mußte den Hemdzipfel um den Türgriff wickeln, damit er aussteigen konnte. Er hatte gedacht, er könnte einfach hinaustreten, hatte aber seine Kräfte über- und das Ausmaß der Austrocknung an diesem Augustabend unterschätzt: Die Beine gaben unter ihm nach, und er fiel auf die Straße, die ebenfalls heiß war. Stöhnend krabbelte er in den Schatten des Mercedes wie ein verkrüppelter Tausendfüßler. Dort saß er keuchend und ließ die Arme zwischen den angewinkelten Knien baumeln. Er betrachtete die beiden Leichen, die er aus dem Auto geholt hatte, mit morbidem Interesse - die Frau mit den Reifen an den verschrumpelten Armen und den Mann mit dem theatralischen weißen Haarschopf über dem mumifizierten Affengesicht. Er mußte Cibola erreichen, ehe die Sonne morgen früh aufging. Wenn nicht, konnte er sterben... mit dem Ziel vor Augen! So grausam konnte der dunkle Mann doch sicher nicht sein - sicher nicht!
»Mein Leben für dich«, flüsterte der Mülleimermann, und als die Sonne hinter dem Umriß der Berge verschwunden war, rappelte er sich auf und begann den Türmen, Minaretts und Prachtstraßen von Cibola entgegenzugehen, wo die Lichtfünkchen wieder erstrahlten. Als die Hitze des Tages der Kälte der Wüstennacht wich, konnte er besser gehen. Seine aufgerissenen, verknoteten Turnschuhe schlurften und stapften über den Asphalt der 115. Er trottete dahin, ließ den Kopf hängen wie eine sterbende Sonnenblume und sah das grüne, spiegelnde Schild LAS VEGAS 30 nicht, als er daran vorbeikam.
Er dachte an The Kid. Rechtens hätte Kid jetzt eigentlich bei ihm sein müssen. Sie sollten gemeinsam nach Cibola fahren, die Auspuffrohre des Teufelscoupes von Kid sollten donnernde Echos in der Wüste erzeugen. Aber The Kid hatte sich als unwürdig erwiesen, und Müll war alleine in die Wüste gesandt worden.
Er hob und senkte die Füße auf dem Asphalt. »Ci-a-bola!« krächzte er. »Bumpty-bumpty-bump«
Gegen Mitternacht brach er am Straßenrand zusammen und verfiel in unruhigen Schlummer. Jetzt war die Stadt näher. Er würde es schaffen.
Er war ganz sicher, daß er es schaffen würde.
Er hörte The Kid, lange bevor er ihn sah. Das laute, knatternde Dröhnen ungedämpfter Auspuffrohre, das aus Osten heranbrandete, zeichnete den Tag. Der Lärm kam den Highway 34 aus Richtung Yuma, Colorado, entlang. Sein erster Impuls war, sich zu verstecken, wie er sich vor einigen anderen Überlebenden versteckt hatte, die er seit Gary gesehen hatte. Aber diesmal gebot ihm eine innere Stimme zu bleiben, wo er war, auf dem Fahrrad am Straßenrand, wo er ängstlich und erwartungsvoll zugleich über die Schulter sah. Das Donnern wurde lauter und lauter, und dann blitzte die Sonne auf Chrom und
(??FEUER??)
etwas Grellem und Orangefarbenem.
Der Fahrer sah ihn. Schaltete mit einer maschinengewehrähnlichen Salve von Fehlzündungen herunter. Goodyear-Gummi schmierte in heißen Schlieren auf dem Highway. Und dann war das Auto neben ihm, nicht tuckernd, sondern keuc hend wie ein Raubtier, das vielleicht gezähmt war, vielleicht aber auch nicht, und der Fahrer stieg aus. Aber zunächst hatte Mülleimer nur Augen für das Auto. Er kannte Autos, er liebte Autos, auch wenn er nie den Führerschein gemacht hatte. Dies war eine Schönheit, ein Auto, an dem jemand jahrelang gearbeitet und Tausende Dollar investiert hatte, wie man es normalerweise nur bei Autoausstellungen sah, ein Liebhaberstück.
Es war ein 1932er Ford Coupe Zweisitzer, aber der Besitzer hatte sich nicht mit dem üblichen serienmäßigen Coupe zufriedengegeben. Er hatte immer weiter gemacht und es in eine Parodie aller amerikanischen Autos verwandelt, ein funkelndes Science-fiction-Vehikel, aus dessen zahlreichen Röhren gemalte Flammen schlugen. Die Farbe war Blattgold. Die verchromten Auspuffröhren, die sich fast über die gesamte Länge des Fahrzeugs zogen, reflektierten grell die Sonne. Die Windschutzscheibe war eine konvexe Blase. Die Hinterreifen waren gigantische GoodyearBreitreifen, die Kotflügel übertrieben tief und weit ausgeschnitten, damit die Reifen Platz fanden. Aus der Motorhaube ragte ein Kompressormotor wie eine groteske Heizungsröhre heraus. Aus dem Dach wuchs eine Haifischflosse aus Stahl, pechschwarz, aber mit roten Flecken gleich glühenden Kohlen. Auf beiden Seiten standen zwei Worte mit schräg geneigten Buchstaben, welche Geschwindigkeit suggerieren sollten. THE KID stand da.
»He, bist du aber man grouß und hößlich«, polterte der Fahrer, und Müll richtete seine Aufmerksamkeit von den gemalten Flammen auf den Fahrer dieser rollenden Bombe.
Dieser war etwa einen Meter sechzig groß. Sein Haar war gelockt und getürmt und voll Pomade und Brillantine. Allein das Haar machte ihn zehn Zentimeter größer. Sämtliche Locken vereinten sich im Nacken nicht nur zu einem Entenarsch, sondern zum Inbegriff aller Entenarschfrisuren, die die Punks und Teddys dieser Welt jemals getragen hatten. Er trug schwarze Stiefel mit spitzen Zehen. Die Seiten waren elastikverstärkt. Die Absätze, die Kid noch einmal sechs Zentimeter größer machten, alles in allem beachtliche einsachtundneunzig, waren mehrschichtige Cubans. Die verwaschenen Nietenjeans waren so knalleng, daß man das Prägungsjahr der Münzen in den Taschen lesen konnte. Sie machten aus jedem Pobacken eine Art blaue Skulptur und verliehen seinem Schritt das Aussehen, als hätte er möglicherweise einen Gamslederbeutel mit Golfbällen Marke Spaulding hineingesteckt. Er trug ein weinrotes Westernhemd aus Seide. Es war mit gelben Zierknöpfen und saphirimitierten Knöpfen geschmückt. Die Manschettenknöpfe sahen aus wie polierte Knochen, und Müll sollte später herausfinden, daß sie genau das waren. Kid hatte zwei Paar, eines bestand aus menschlichen Backenzähnen, das andere aus den Kieferknochen eines Dobermanns. Über diesem Wunder von einem Hemd trug er trotz der großen Tageshitze eine schwarze Motorradlederjacke mit einem Adler auf dem Rücken. Sie war kreuz und quer voll Reißverschlüssen, deren Zähne in der Sonne funkelten wie Diamanten. Von Schulterklappen und Taillengurt hingen drei Hasenpfoten. Eine war weiß, eine braun und eine von einem hellen St.-Paddy's-Day-Grün. Diese Jacke, die noch wunderbarer war als das Hemd, ächzte wunderbar eingeölt. Über dem Adler standen die Worte THE KID mit weißer Seide gestickt. Das Gesicht, das den Mülleimermann jetzt zwischen dem hochziselierten glänzenden Haarschopf und dem aufgestellten Kragen der glänzenden Motorradj acke ansah, war klein und bleich, ein Puppengesicht mit vollen, makellos modellierten Schmollippen, toten grauen Augen, einer breiten Stirn ohne Fältchen oder Runzeln und seltsam aufgeblähten Wangen. Er sah aus wie Baby Elvis.
Er trug zwei Revolvergurte über Kreuz über dem flachen Bauch, aus jedem hängenden Hüfthalfter ragte ein gigantischer 45er hervor.
»He, Junge, was sagst'n?« brabbelte Kid.
Und Mülleimer fiel nur eine einzige Antwort ein: »Dein Auto gefällt mir.«
Das war das richtige. Vielleicht das einzige. Fünf Minuten später sass Müll auf dem Beifahrersitz; und das Coupe beschleunigte auf Reisegeschwindigkeit von Kid, etwa fünfundneunzig Meilen. Das Fahrrad, mit dem Müll vom östlichen Illinois bis hierher gefahren war, wurde zu einem Pünktchen am Horizont.
Der Mülleimermann wies schüchtern darauf hin, daß Kid bei dieser Geschwindigkeit keine Unfallstelle und kein Hindernis auf der Straße sehen würde, wenn sie an eins kamen (tatsächlich waren sie schon an ein paar vorbeigekommen; The Kid fuhr einfach Slalom um sie herum, und die Reifen quietschten lautstark Protest).
»He, Junge«, sagte The Kid. »Ich hab' Reflexe. Ich hab' Zeitgefühl. Ich schaff Dreifünftl vonner Sekunde. Glaubste das?«
»Ja, Sir«, sagte Müll leise. Er kam sich wie ein Mann vor, der gerade mit einem Stock ein Schlangengehege aufgeschreckt hat.
»Ich mag dich, Junge«, sagte Kid mit seiner seltsam dröhnenden Stimme. Seine Puppenaugen sahen über das leuchtende Orange des Lenkrads auf die schimmernde Straße. Große Styroporwürfel mit Totenköpfen statt Punkten baumelten am Rückspiegel. »Nimm dir'n Bier aufm Rücksitz.«
Es waren Coors, und sie waren warm, und der Mülleimermann verabscheute Bier, und er trank eines ganz schnell und sagte, wie gut es war.
»He, Junge«, sagte Kid. »Coors ist das einzige Bier. Ich würd' Coors pissen, wenn ich könnte. Glaubste diese Heißescheiße?«
Mülleimer sagte, daß er diese Heißescheiße wirklich glaubte.
»Sie nennen mich The Kid. Aus Shreveport Luusjanna. Weißte das? Die Mühle hier hat jede verdammte Autoausstellung im Süden gewonnen. Glaubste diese Heißescheiße?«
Mülleimer sagte ja und bekam noch ein warmes Bier. Es schien unter den Umständen die beste Vorgehensweise zu sein.
»Wie nennen sie dich, Junge?«
»Mülleimermann.«
»Woss?« Einen gräßlichen Moment ruhten die toten Puppenaugen auf Mülleimers Gesicht. »Verarschste mich, Junge? Niemand verarscht The Kid. Und diese Heißescheiße sollteste besser glauben.«
»Glaube ich«, sagte Mülleimer aufrichtig, »aber so nennt man mich nun mal. Weil ich Feuer in Mülleimern und Briefkästen von Leuten gelegt habe und so. Ich hab' den Rentenscheck der alten Oma Semple angezündet. Deswegen bin ich in die Anstalt geschickt worden. Außerdem habe ich die Methodistenkirche in Powtanville, Indiana, niedergebrannt.«
»Ehrlich?« meinte Kid entzückt. »Junge, du scheinst ja verrückter als 'ne Scheißhausratte zu sein. Schon recht. Ich mag Irre. Bin selber einer. Hab' echt nicht mehr alle Tassen im Schrank. Mülleimermann, hm? Gefällt mir. Wir sind'n tolles Paar. Der olle Kid und der olle Mülleimermann. Handschlag, Mülli.«
Kid streckte ihm die Hand hin, und Müll schüttelte sie, so schnell er konnte, damit Kid wieder beide Hände ans Steuer bekam. Sie schössen um eine Kurve, ein Bekins -Transporter blockierte fast die ganze Straße, und Mülleimer schlug die Hände vors Gesicht und bereitete sich auf eine unverzügliche Versetzung auf die Astralebene vor. Kid verzog keine Miene. Das Coupe schlitterte wie ein Wasserfloh über die linke Seite des Highway, und sie schössen so knapp am Führerhaus des Transporters vorbei, daß keine Zeitung mehr dazwischengepaßt hätte.
»Knapp«, sagte Müll, als er dachte, er könne wieder ohne Zittern in der Stimme sprechen. , »He, Junge«, sagte Kid tonlos. Dann blinzelte er erst mit einem Auge. »Brauchste mir nicht zu sagen - ich sag's dir. Wie ist das Bier? Verdammt knorke, was? Nach der Fahrt mit deinem Kinderfahrrad haut das echt rein, was?«
»Unbedingt«, sagte der Mülleimermann und trank noch einen Schluck warmes Coors. Er war verrückt, aber nicht so verrückt, Kid zu widersprechen, solange er fuhr. Noch lange nicht.
»Hat kein' Zweck, wie die Katze ummen heißen Brei zu gehen«, sagte Kid und griff auf den Rücksitz, um sich auch eine Dose Seichbrühe zu holen. »Ich schätze, wir haben dasselbe Ziel.«
»Gut möglich«, sagte Müll vorsichtig.
»Alle Mann dabei«, sagte Kid. »Nach Westen. Rein in die gute Stube. Erste Etage. Glaubste die Heißescheiße?«
»Aber ja doch.«
»Hast auch Alpträume vom Buhmann in seinem schwarzen Kampfanzug gehabt, was?«
»Du meinst den Priester.«
»Ich mein' immer, was ich sage, und sag', was ich meine«, antwortete Kid unverblümt. »Brauchste mir nicht zu sagen, Feuerteufel, ich sag's dir. Ist'n schwarzer Sprunganzug, und der Typ trägt Brille. Wie innem John-WayneFilm über'n Zweiten, 'ne so große Brille, daß man sein verwichstes Gesicht nicht sehen kann. Unheimlicher alter Dödel, was?«
»Ja«, sagte Mülleimer und trank sein warmes Bier. Allmählich summte ihm der Kopf.
Kid beugte sich über das orangefarbene Lenkrad und fing an, einen Bomberpilot im Gefecht nachzuahmen - wahrscheinlich einen, der seine Einsätze im »Zweiten« - dem Zweiten Weltkrieg - absolviert hatte. Das Coupe schlingerte beängstigend von einer Seite auf die andere, während er Schleifen und Sturzflüge und Kurven nachahmte.
Hiiiijaaaaahhh... eheheheheheheheheh... rattattattatta... nimm das, elender Kraut... Capt'n! Banditen bei zwölf Uhr...! Die luftgekühlte Kanone auf sie gerichtet, verfluchter Lahmarsch... tacka... tacka... tacka-tackatacka! Wir haben sie, Sir! Alles klar... Oh huuaaaa! Ducken, Männer! HuAAAAAJAH!«
Sein Gesicht war ausdruckslos, während er dieses Hirngespinst durchspielte; kein einziges geöltes Härchen fiel aus der Frisur, bis er das Auto wieder auf seine Fahrspur lenkte und weiter die Straße entlang drosch. Mülleimermann schlug das Herz heftig in der Brust. Ein leichter Schweißfilm überzog seinen Körper. Er trank sein Bier. Er mußte Pipi machen.
»Aber mir macht er keine Angst«, sagte Kid, als wäre er nie vom vorherigen Gesprächsthema abgewichen. »Nein, verdammt. Er ist ein harter Knochen, aber Kid ist schon mit anderen harten Knochen fertig geworden. Ich mach' sie an, und dann mach' ich sie alle, genau wie der Boss sagt. Glaubste die Heißescheiße?«
»Klar«, sagte Müll.
»Kennste den Boss?«
»Klar«, sagte Müll. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wer der Boss war oder gewesen war.
»Den Boss solltest du auch kennen. Hör mal, weißt du, was ich mache?«
»Nach Westen fahren?« riet Müll. Das schien sicher zu sein. Kid sah ungeduldig drein. »Danach, meine ich. Wenn ich dort bin. Weißt du, was ich danach mache?«
»Nein. Was?«
»Ich halt' 'ne Weile die Fresse unten. Check die Situation ab. Kapierst du die Heißescheiße?«
»Klar«, sagte Müll.
»Scheiß-A. Brauchst mir nichts zu sagen, ich sag's dir. Einfach abchecken. Den großen Mann abchecken. Dann...«
Kid verstummte und brütete über dem orangefarbenen Lenkrad.
»Was dann?« fragte Mülleimer zögernd.
»Dann mach' ich ihn fertig. Schick' ihn über 'n Jordan. Lass' ihn auf der verdammten Cadillac Ranch grasen. Glaubste das?«
»Ja, klar.«
»Ich übernehme«, sagte Kid zuversichtlich. »Ich dreh' ihm das Getriebe raus und lass' ihn auf der Cadillac Ranch. Bleib bei mir, Müllmann, oder wie du dich nennst. Wir geben uns nicht mit Schwein und Bohnen ab, wir reißen mehr Hühner auf, als jemand je gesehen hat.«
Das Coupe raste die Straße entlang, gemalte Flammen schlugen an der Karosserie hoch. Mülleimermann saß auf dem Beifahrersitz, hatte ein warmes Bier auf dem Schoß und den Kopf voll besorgter Gedanken.
Der Morgen des 5. August dämmerte fast, als der Mülleimermann Cibola erreichte, sonst als Vegas bekannt. Irgendwo auf den letzten fünf Meilen hatte er einen Turnschuh verloren, und als er jetzt die gewundene Ausfahrt hinunterging, hörten sich seine Schritte so an: klatsch-BUMM, klatsch-BUMM. Es klang wie das Flappen eines kaputten Reifens.
Er war so gut wie fix und fertig, aber als er den Strip entlangging, der von liegengebliebenen Autos und einer ansehnlichen Menge toter Menschen verstopft war, die meisten von den Bussarden übel zugerichtet, erfüllte ihn doch ein gewisses Staunen. Er hatte es geschafft. Er war in Cibola. Er war geprüft worden und hatte die Prüfung bestanden.
Er sah hundert schäbige Nachtklubs. Er sah Schilder mit Aufschriften wie: FAIRE AUTOMATEN und BLUEBELL-HOCHZEITSKIRCHE und TRAUUNG IN 60 SEKUNDEN FÜR EIN GANZES LEBEN! Er sah einen Rolls-Royce Silver Ghost, der halb ins Schaufenster einer Porno-Buchhaltung gerast war. Er sah eine nackte Frau, die kopfunter an einem Laternenpfahl hing. Er sah zwei Seiten der Las Vegas Sun vorbeiwehen. Die Schlagzeile, die immer wieder zu sehen war, wählend die Zeitung flatterte und sich überschlug, lautete: SEUCHE NIMMT GEFÄHRLICHE AUSMASSE AN.
WASHINGTON SCHWEIGT. Er sah ein riesiges Anschlagbrett, auf dem stand: NEIL DIAMOND! THE AMERICANA HOTEL 15. JUNI30. AUGUST! Jemand hatte auf die Schaufensterscheibe eines Juweliergeschäfts, das sich auf Trauringe und Verlobungsringe spezialisiert zu haben schien, die Worte STIRB FÜR DEINE SÜNDEN, LAS VEGAS gekritzelt.
Er sah einen umgestürzten Konzertflügel wie ein großes totes Holzpferd auf der Straße liegen. Seine Augen nahmen diese Wunder staunend wahr.
Als er weiterging, erblickte er auch andere Zeichen, deren Neon in diesem Mittsommer zum ersten Mal seit Jahren tot war. Flamingo. The Mint. Dunes, Sahara. Glass Slipper. Imperial. Aber wo waren die Menschen? Wo war das Wasser?
Ohne zu wissen, was er tat, ließ er seine Füße den Weg bestimmen und bog vom Strip ab. Sein Kopf kippte nach vorn, das Kinn ruhte auf der Brust. Er döste beim Gehen. Und als seine Füße über den Bordstein stolperten, als er stürzte und sich auf dem Pflaster die Nase blutig schlug, als er aufblickte und sah, was er vor sich hatte, konnte er es kaum glauben. Blut floß ihm unbeachtet aus der Nase über das zerfetzte blaue Hemd. Es war, als würde er noch dösen und dies wäre sein Traum.
Ein hohes weißes Gebäude reckte sich in den Wüstenhimmel, ein Monolith in der Wüste, eine Nadel, ein Monument so großartig wie die Sphinx oder die Cheopspyramide. Die Fenster der östlichen Fassade warfen die Glut der aufgehenden Sonne zurück wie ein Omen. Vor diesem schneeweißen Wüstengebäude flankierten zwei riesige goldene Pyramiden den Eingang. Über dem Baldachin hing eine große Bronzeplatte, auf der als Relief der Kopf eines brüllenden Löwen zu sehen war.
Darüber, ebenfalls in Bronze, eine einfache, aber gewaltige Aufschrift: MGM GRAND HOTEL.
Doch sein Blick wurde von dem gefesselt, was auf dem Rasenrechteck zwischen Parkplatz und Eingang war. Mülleimer gaffte gebannt, ein orgiastisches Zittern schüttelte ihn so heftig, dass er sich einen Augenblick nur auf die blutigen Hände, zwischen denen das lose Ende des Ace-Verbands flatterte, stützen und den Springbrunnen mit seinen blaßblauen Augen anstarren konnte, Augen, welche die grelle Sonne mittlerweile halb blind gemacht hatte. Er gab ein leises Stöhnen von sich.
Der Springbrunnen funktionierte. Er war eine atemberaubende Konstruktion aus Stein und Elfenbein, gefaßt und eingelegt mit Gold. Bunte Lichter strahlten die Gischt an und machten das Wasser purpurn, dann gelb-orange, dann rot, dann grün. Das unablässige Prasseln, wenn das Wasser in den Pool zurückfiel, war sehr laut.
»Cibola«, murmelte er und rappelte sich auf die Füße. Aus seiner Nase tropfte immer noch Blut.
Er taumelte auf den Springbrunnen zu. Sein Stolpern wurde zum Trab. Der Trab wurde zum Laufen, das Laufen zum Sprinten, das Sprinten zum halsbrecherischen Rennen. Die schorfigen Knie schossen wie Kolben fast bis zum Hals. Ein Wort kam aus seinem Mund, ein langes Wort wie eine Papiergirlande, die himmelwärts wehte und die Menschen oben an die Fenster lockte (und wer sah sie? Gott möglicherweise oder der Teufel, auf jeden Fall nicht der Mülleimermann). Das Wort wurde höher und schriller, länger und länger, während er sich dem Springbrunnen näherte, und das Wort war:
»CIIIIIIIIIBOLAAAAAAA!«
Das letzte »aahh« zog sich immer länger, ein Laut jeglicher Lust, die sämtliche Menschen, welche je auf Erden lebten, jemals erlebt hatten, und hörte erst auf, als er mit der Brust gegen die Mauer des Springbrunnens prallte, sich hinaufzog und in das Bad unglaublicher Kühle und Barmherzigkeit sank. Er konnte spüren, wie sich die Poren seines Körpers wie eine Million Münder öffneten und das Wasser wie ein Schwamm in sich aufsogen. Er schrie. Er senkte den Kopf, prustete Wasser in sich und spie es mit einer Mischung von Niesen und Husten wieder aus, so daß Blut und Wasser und Rotz an den Brunnenrand platschten. Er senkte den Kopf und trank wie eine Kuh.
»Cibola! Cibola!« schrie Müll verzückt. »Mein Leben für dich!«
Er paddelte wie ein Hund um die Fontäne herum, trank noch einmal, kletterte dann über den Rand und ließ sich mit einem ungeschickten Plumpser auf den Rasen fallen. Es hatte sich gelohnt, alles hatte sich gelohnt. Wasserkrämpfe schüttelten ihn plötzlich, und er übergab sich mit einem lauten Grunzen. Sogar das Übergeben war großartig.
Er kam auf die Füße, hielt sich mit der Klauenhand am Brunnenrand fest und trank noch einmal. Diesmal akzeptierte sein Magen die Gabe dankbar.
Er schwappte wie ein voller Ziegenlederschlauch, als er zur Alabastertreppe taumelte, die in diesen legendären Ort hineinführte, zwischen den goldenen Pyramiden hindurch. Auf halber Treppe packte ihn ein Wasserkrampf, und er klappte zusammen. Als es vorbei war, torkelte er wacker weiter.
Oben war eine Drehtür; er mußte sämtliche schwachen Kraftreserven aufbringen, um sie in Bewegung zu bringen. Er drang in eine Halle mit Plüschteppichboden ein, die meilenlang zu sein schien. Der Teppich unter seinen Füßen war dick und weich und preiselbeerfarben. Es gab einen Schreibtisch der Rezeption, einen Schreibtisch für die Post, einen Schreibtisch für die Schlüssel, die Fenster der Geldwechsler. Alles leer. Rechter Hand lag das Casino hinter einem geschnitzten Geländer. Der Mülleimermann sah es ehrfürchtig an - reihenweise Spielautomaten wie Soldaten bei einer Parade, dahinter Rouletteund Würfeltische, die Marmorgeländer, welche die Backaratische abgrenzten.
»Ist wer da?« krächzte Müll, bekam aber keine Antwort. Da bekam er es mit der Angst zu tun, denn dies war ein Ort der Geister, wo Monster lauern mochten, aber seine Müdigkeit dämpfte die Angst. Er stolperte die Stufen ins Casino hinunter, an der Cub Bar vorbei, wo Lloyd Henreid stumm in dem tiefen Schatten saß, ein Glas Mineralwasser in der Hand hielt und ihn beobachtete. Er kam zu einem mit grünem Filz bespannten Tisch, auf dem die mystischen Worte GEBER MUSS 16 ERREICHEN UND BEI 17 PASSEN. Müll kletterte hinauf und schlief sofort ein. Wenig später standen ein halbes Dutzend Männer um die zerlumpte Vogelscheuchengestalt des Mülleimermanns herum.
»Was machen wir mit ihm?« fragte Ken DeMott.
»Schlafen lassen«, antwortete Lloyd. »Flagg will ihn haben.«
»Ach ja? Wo steckt Flagg eigentlich?« fragte ein anderer. Lloyd drehte sich zu dem Mann um, der fast kahl und ganze dreißig Zentimeter größer als Lloyd selbst war. Dennoch wich er einen Schritt zurück, als er Lloyds Blick sah. Der Stein um Lloyd Henreids Hals war der einzige, der nicht pechschwarz war; in seinem Inneren glomm ein winziger, beunruhigender roter Makel.
»Bist du so scharf drauf, ihn zu sehen, Heck?« fragte Lloyd.
»Nein«, sagte der Kahle. »He, Lloyd, weißt du, ich wollte nicht...«
»Schon klar.« Lloyd betrachtete den Mann, der auf dem Blackjacktisch schlief. »Flagg wird schon aufkreuzen«, sagte er. »Er hat auf diesen Typen gewartet. Dieser Typ ist was Besonderes.«
Auf dem Tisch schlief der Mülleimermann selig und bekam von alledem nichts mit.
Müll und The Kid verbrachten die Nacht des 18. Juli in einem Motel in Golden, Colorado. Kid wählte zwei Zimmer mit Verbindungstür. Die Verbindungstür war verschlossen. Kid, der inzwischen schon reichlich zugedröhnt war, löste dieses unbedeutende Problem, indem er das Schloß mit drei Kugeln aus einem seiner 45er wegpustete. Kid hob einen winzigen Stiefel und trat die Tür ein. Sie ging im feinen blauen Dunst des Revolverrauchs auf.
»Siehste, Scheiß-A«, sagte er. »Welches Zimmer? Entscheide dich, Mülli.«
Mülleimer entschied sich für das Zimmer rechts und durfte eine Weile alleine bleiben. Kid war weggegangen. Mülleimer überlegte, ob er ganz einfach in der Dämmerung verschwinden sollte, bevor etwas Schlimmes passierte - er versuchte, diese Möglichkeit gegen das durchaus real existente Fehlen eines jeglichen Transportmittels abzuwägen -, als Kid zurückkam. Mülleimermann stellte erschrocken fest, daß er einen Einkaufswagen schob, der voll beladen mit Sechserpacks Coors-Bier war. Die Puppenaugen waren jetzt blutunterlaufen und von roten Ringen umgeben. Die Pompadourfrisur zerfiel wie eine kaputte, ausgeleierte Uhrfeder, fettige Haarsträhnen hingen Kid über Ohren und Wangen, so daß er wie ein gefährlicher (wenngleich widersinniger) Höhlenmensch aussah, der eine von einem Zeitreisenden vergessene Lederjacke gefunden und angezogen hatte. Die Hasenpfoten am Gürtel der Jacke baumelten hin und her.
»Es ist warm«, sagte Kid, »aber wen schert das schon, hab' ich recht?«
»Vollkommen recht«, sagte der Mülleimermann.
»Nimm 'n Bier, Arschloch«, sagte Kid und warf ihm eine Dose zu. Als Mülleimer den Ring abzog, bekam er eine Gesichtvoll Schaum ab, und Kid wurde von einem seltsam verhaltenen Lachen geschüttelt und hielt sich den flachen Bauch mit beiden Händen. Müll lächelte ergeben. Er beschloß, später in der Nacht, wenn dieses kleine Monster eingeschlafen war, einfach weiterzuziehen. Er hatte genug. Und was Kid über den dunklen Priester gesagt hatte... Mülleimermanns Angst war so groß, daß er sie nicht einmal ausdrücken konnte. So etwas zu sagen, und sei es im Scherz, war etwa so, als würde man in der Kirche auf den Altar scheißen oder bei einem Gewitter das Gesicht himmelwärts heben und den Blitz auffordern, einen zu treffen.
Das Schlimmste war aber, er glaubte nicht, daß Kid gescherzt hatte. Mülleimermann hatte nicht die Absicht, mit diesem irren Zwerg, der den ganzen Tag trank (und höchstwahrscheinlich auch die ganze Nacht) und davon sprach, den dunklen Mann zu stürzen und seine Stelle einzunehmen, in die Berge und durch sämtliche Haarnadelkurven zu fahren.
Derweil hatte Kid zwei Bier in zwei Minuten gekippt, die Dosen zusammengedrückt und gleichgültig auf eines der Doppelbetten des Zimmers geworfen. Er hielt eine frische Dose Coors in der linken und den 45er, mit dem er die Verbindungstür aufgeschossen hatte, in der rechten Hand und starrte verdrossen den RCA Chromacolor an.
»Kein Scheißstrom, also auch kein Scheißfernsehen«, sagte er. Je betrunkener er wurde, um so deutlicher wurde sein Südstaatenakzent und machte die Worte pelzig. »Wie mir das stinkt. Freut mich, daß sämtliche Arschlöcher abgenibbelt sind, aber Himmelarschundzwirn, wo ist HBO? Wo sind die elenden Sportsendungen? Wo ist der Playboy Channel? Der war gut, Mülli. Ich meine, die haben nie Typen gezeigt, die Muschis geleckt, haarige Pflaumen vernascht haben, du weißt schon, was ich meine, aber ein paar Damen dort hatten Beine bis rauf zum Kinn, ist dir klar, was ich sage?«
»Klar«, sagte Mülleimer.
»Bist 'n Scheiß-A. Brauchst du mir nicht zu sagen, ich sag's dir.«
Kid starrte den Fernseher an. »Taube Fotze«, sagte er und schoss auf den Fernseher. Die Bildröhre implodierte mit einem lauten, hohlen Plopp. Glas wurde auf den Teppichboden gerülpst. Mülleimermann hob die Arme, um das Gesicht zu schützen, dabei blubberte Bier auf den grünen Nylonteppich.
»Sieh dir das an, Dummkopf!« rief Kid. Sein Ton war zutiefst erbost. Plötzlich war der Fünfundvierziger auf Müll gerichtet, und die Mündung war so groß und dunkel wie der Schornstein eines Ozeanriesen. Mülleimer spürte, wie sein Unterleib taub wurde. Es war möglich, daß er sich vollpißte, aber er war nicht sicher.
»Dafür mach' ich 'n Sieb aus deiner Denkmaschine«, sagte Kid.
»Man verschüttet kein Bier. Beiner annern Marke würdichs nich machn, aber du hast Coors verschüttet. Ich wurde Coors pissen, wenn ich könnte, glaubst die Heißescheiße?«
»Klar«, flüsterte Mülleimer.
»Und glaubst du, sie brauen heutzutage noch Coors, Müll? Scheint das besonders wahrscheinlich?«
»Nein«, flüsterte Mülleimer. »Wohl nicht.«
»Stimmt auffallend. Eine vom Aussterben 'drohte Rasse.« Er hob den Revolver etwas. Mülleimer dachte, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Dann senkte Kid die Waffe wieder... etwas. Sein Gesicht hatte einen vollkommen leeren Ausdruck. Mülleimer vermutete, dieser Ausdruck deutete angestrengtes Nachdenken an.
»Ich sag' dir was, Müll. Du holst dir noch 'ne Dose und kippst sie ex. Wenn du das ganze Ding ex kippen kannst, schick ich dich nicht zur Cadillac Ranch. Glaubste die Heißescheiße?«
»Was ist... was ist >ex kippen«
»Allmächtiger, du bist dumm wie Schifferscheiße! Die ganze Dose saufen, ohne abzusetzen, das ist ex kippen! Wo bisten die ganze Zeit gewesen, in Afrika, wo der Pfeffer wächst? Solltest dir Mühe geben, Mülli. Wenn ich dir eine reinballern muß, geht sie mitten ins rechte Auge. Die Knarre hier ist mit Dumdums geladen. Reißt dich auf bis hinten und macht ein Fressen für die Wanzen in dieser Absteige aus dir.« Er gestikulierte mit der Pistole und nahm kein blutunterlaufenes Auge von Müll. Er hatte einen Flecken Bierschaum auf der Oberlippe.
Mülleimer ging zum Karton, wählte ein Bier und zog den Ring ab.
»Los doch. Runter damit. Und wenn du's wieder auskotzt, biste wech vom Fensta.«
Mülleimermann hielt die Dose hoch. Bier schäumte heraus. Er trank verzweifelt, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab wie ein Affe auf der Stange. Als die Dose leer war, warf er sie zwischen die Beine, kämpfte einen scheinbar endlosen Kampf mit dem Erbrechen und gewann sein Leben mit einem langen, dröhnenden Rülpser zurück.
Kid warf den kleinen Kopf zurück und lachte vor Vergnügen. Müll schwankte auf den Füßen und grinste angewidert. Plötzlich war er nicht mehr nur ein wenig, sondern sehr betrunken.
Kid steckte die Waffe ins Halfter zurück.
»Okay. Nicht schlecht, Müllimann. Gar nicht übel.«
Kid trank weiter. Zerdrückte Dosen häuften sich auf dem Motelbett. Müll hielt eine Dose Coors zwischen den Knien und nippte jedesmal daran, wenn Kid ihn mißbilligend anzusehen schien. Kid murmelte unablässig vor sich hin, seine Stimme wurde immer lauter, der Südstaatenakzent immer ausgeprägter, während der Berg leerer Dosen wuchs. Er sprach von Orten, wo er gewesen war. Rennen, die er gewonnen hatte. Eine Ladung Stoff, die er mit einem Wäschelaster mit einem halben 44er-Motor unter der Haube über die mexikanische Grenze gebracht hatte. Schlimmes Zeug, sagte er. Jeder Stoff war schlimmes Zeug. Er selbst rührte das Zeug nie an, aber hallo, wenn man ein paar Ladungen davon geschmuggelt hatte, konnte man sich den Arsch mit goldenem Toilettenpapier abwischen. Schließlich döste er ein, die kleinen roten Augen blieben immer länger zu und kamen dann widerwillig wieder auf Halbmast.
»Ich krieg' ihn, Mülli«, murmelte Kid. »Ich geh' da raus, check es ab und leck' ihm den verwichsten Arsch, bis ich weiß, wie der Hase läuft. Aber keiner kommandiert Kid herum. Keine Sau. Nicht lange. Ich mach' kein' Kleinkram.
Wenn ich was mache, dann als Boss. Das ist mein Stil. Keinen Schimmer, wer er ist, woher er kommt oder wie er in unsere elenden Denkmaschinen senden kann, aber ich werd' ihn...« gewaltiges Gähnen »...ausser Stadt rausjagen. Bleib bei mir, Wühlmann oder wiede heißt.«
Er kippte langsam rückwärts aufs Bett. Die Bierdose, die er gerade erst aufgemacht hatte, fiel ihm aus der schlaffen Hand. Coors floss auf den Teppich. Der Kasten war leer, Müll rechnete aus, daß Kid allein einundzwanzig Dosen getrunken hatte. Mülleimer wußte nicht, wie so ein kleiner Kerl soviel Bier trinken konnte, aber er wußte, dass es Zeit war: Zeit zu verschwinden. Das wußte er, aber er fühlte sich betrunken und schwach und elend. Mehr als alles auf der Welt wollte er eine Weile schlafen. Das machte nichts, oder? Kid würde wahrscheinlich die ganze Nacht wie ein Toter schlafen, vielleicht sogar den halben Vormittag. Zeit genug, daß er selbst ein Nickerchen machen konnte.
Also ging er ins Nebenzimmer (auf Zehenspitzen, obwohl Kid fast im Koma lag) und machte die Verbindungstür, so gut es ging, zu. Es ging nicht sehr gut. Die Wucht der Kugeln hatte sie irgendwie verzogen. Auf dem Nachttisch stand ein Wecker zum Aufziehen. Müll zog ihn auf, stellte ihn auf Mitternacht, weil er nicht wußte, wie spät es tatsächlich war (und es ihn auch nicht interessierte), und den Weckton auf fünf. Er legte sich auf eine Seite des Doppelbetts, ohne auch nur die Turnschuhe auszuziehen. Innerhalb von fünf Minuten war er eingeschlafen.
Irgendwann später wachte er im dunklen Grab des Morgens auf, und der Geruch von Bier und Kotze wehte ihm in kurzen, schalen Böen übers Gesicht. Etwas war bei ihm im Bett, etwas Heißes, Glattes und Wendiges. Sein erster panischer Gedanke war, daß ein Wiesel aus dem Traum von Nebraska in die Wirklichkeit herübergekommen war. Er gab ein leises, wimmerndes Stöhnen von sich, als ihm klar wurde, daß das Tier in seinem Bett zwar nicht groß war, aber zu groß für ein Wiesel. Er hatte Kopfschmerzen vom Bier; sie bohrten sich gnadenlos in seine Schläfen.
»Faß mich an«, flüsterte Kid im Dunkeln. Mülleimers Hand wurde gepackt und zu etwas Hartem, Zylinderförmigen geführt, das wie ein Kolben pulsierte. »Wichs mir einen. Los doch, wichs mir einen, du weißt, wie das geht, das war mir klar, als ich dich gesehen hab'. Los doch, Wichser, hol mir einen runter.«
Mülleimermann wußte, wie das ging. Es war in vieler Hinsicht eine Erleichterung. Er kannte es von den langen Nächten im Knast. Sie sagten, es sei schlimm, es sei schwul, aber was die Schwulen machten, war besser als das, was viele andere trieben, die die ganze Nacht damit verbrachten, Löffelspitzen zu Dolchen zu schleifen, oder einfach auf den Pritschen lagen, die Knöchel knacken ließen, einen ansahen und grinsten.
Kid hatte Mülleimers Hand auf die Art Knarre gelegt, mit der er umgehen konnte. Er schloß die Hand fest darum und fing an. Wenn es vorbei war, würde Kid wieder einschlafen. Dann würde sich Müll davonschleichen.
Kids Atem wurde keuchend. Er bewegte die Hüften im Rhythmus von Mülleimers Handbewegungen. Müll merkte zuerst gar nicht, daß Kid auch Mülls Gürtel aufmachte und Jeans und Unterhose zu den Knien runterschob. Müll ließ ihn gewähren. Es war unwichtig, ob ihm Kid einen reinschieben wollte. Müll hatte schon welche reingeschoben bekommen. Man starb nicht. Es war nicht giftig.
Dann erstarrte seine Hand. Etwas drückte plötzlich gegen seinen After, aber es war kein Fleisch. Es war kalter Stahl.
Und plötzlich wußte er, was es war.
»Nein«, flüsterte er. Seine Augen waren im Dunkeln weit aufgerissen und entsetzt. Jetzt konnte er das mörderische Puppengesicht im Spiegel sehen, es sah über seine Schulter, Haarsträhnen hingen ihm in die roten Augen.
»Doch«, flüsterte Kid zurück. »Und du solltest nicht einmal aus dem Rhythmus kommen, Mülli. Nicht ein einziges verdammtes Mal. Sonst könnte ich einfach abdrücken. Deine Scheißfabrik in die Hölle pusten. Dumdums, Mülli. Glaubste die Heißescheiße?«
Wimmernd fing Mülleimer wieder an, ihn zu streicheln. Aus seinem Wimmern wurden leise Schmerzenslaute, als sich der Lauf des 45ers in ihn bohrte, sich drehte, stieß und riß. Konnte es sein, dass ihm das Spaß machte? Ja.
Schließlich merkte auch Kid seine Erregung.
»Gefällt dir, was?« keuchte Kid. »Hab' ich's doch gewußt, Schleimbeutel. Magst es im Arsch, was? Sag ja, Schleimbeutel. Sag ja, oder du gehst zum Teufel.«
»Ja«, winselte der Mülleimermann.
»Soll ich's dir besorgen?«
Das wollte er nicht. Erregt oder nicht, das wollte er nicht. Aber er hatte Verstand genug, es nicht zu sagen. »Ja.«
»Ich würde deinen Pimmel nicht anrühren, wenn er aus Diamanten wäre. Mach's dir doch selber. Was meinst du, warum Gott dir zwei Hände gegeben hat?«
Wie lange dauerte es? Gott mochte es wissen; der Mülleimermann jedenfalls nicht. Eine Minute, eine Stunde, eine Ewigkeit -wo lag der Unterschied? Er kam zur Überzeugung, daß er, wenn Kid seinen Orgasmus hatte, zweierlei gleichzeitig spüren würde; den heißen Strahl des Samens dieses kleinen Ungeheuers auf dem Bauch und den explodierenden Schmerz des Dumdumgeschosses, das sich durch seine Eingeweide bohrte. Der endgültige Einlauf. Dann verkrampften sich die Hüften von Kid, sein Penis zuckte in Mülls Hand. Seine Faust wurde glitschig wie ein Gummihandschuh. Einen Augenblick später wurde die Pistole herausgezogen. Stumme Tränen der Erleichterung flössen über Mülls Wangen. Er hatte keine Angst vor dem Sterben, jedenfalls nicht im Dienste des dunklen Mannes, aber er wollte nicht in diesem dunklen Motelzimmer von einem Psychopathen ermordet werden. Nicht bevor er Cibola gesehen hatte. Er hätte zu Gott gebetet, wußte aber instinktiv, dass Gott keinem Gehör schenken würde, der sich dem dunklen Mann verschworen hatte. Und was hatte Gott schon je für den Mülleimermann getan? Oder für Donald Merwin Elbert, was das anbetraf?
Im keuchenden Schweigen ertönte die Stimme von Kid, der falsch und krächzend und verschlafen ein Lied anstimmte:
»My buddies an me aregettin real well known... yeah, the badguys know us an they leave us alone...«
Er fing an zu schnarchen.
Jetzt gehe ich, dachte der Mülleimermann, aber er hatte Angst, er würde Kid aufwecken, wenn er sich bewegte. Ich gehe, sobald ich sicher bin, daß er wirklich schläft. Fünf Minuten. Länger sollte es nicht dauern.
Aber niemand weiß, wie lange fünf Minuten in der Dunkelheit sind; man könnte zutreffend sagen, daß in der Dunkelheit fünf Minuten nicht existieren. Er wartete. Er döste ein und wurde wieder wach, ohne zu wissen, daß er gedöst hatte. Es dauerte nicht lange, da war er die Rutsche des Schlafs ganz hinuntergeschlittert. Er war auf einer dunklen Straße, die sehr hoch war. Die Sterne schienen zum Greifen nahe zu sein; es war, als könnte man sie einfach vom Himmel pflücken und wie Glühwürmchen in ein Glas sperren. Es war bitterkalt. Es war dunkel. Im frostigen Sternenlicht konnte er düster das Antlitz der Felswände sehen, durch die der Highway hindurchschnitt.
Und in der Dunkelheit kam ihm etwas entgegen.
Und dann seine Stimme, die von überall und nirgends kam: In den Bergen gebe ich dir ein Zeichen. Ich beweise dir meine Macht. Ich zeige dir, was mit denen geschieht, die sich gegen mich stellen. Sei wachsam.
Rote Augen öffneten sich in der Dunkelheit, als hätte jemand drei Dutzend Warnleuchten mit Kapuzen aufgestellt und zog nun die Kapuzen paarweise ab. Es waren Augen, die den Mülleimermann umkreist hatten. Zuerst hielt er sie für die Augen von Wieseln, aber als der Ring enger wurde, sah er, daß es sich um graue Gebirgswölfe handelte, die die Ohren gestellt hatten und von deren dunklen Schnauzen Schaum troff.
Er hatte Angst.
Sie kommen nicht deinetwegen, mein guter und getreuer Diener. Siehst du?
Dann waren sie fort. Die hechelnden grauen Wölfe waren einfach fort.
Sei wachsam, sagte die Stimme.
Warte, sagte die Stimme.
Der Traum ging zu Ende. Er wachte auf und sah hellen Sonnenschein, der durch das Motelzimmer hereinfiel. Kid stand davor, sein Kampf mit der inzwischen aus dem Geschäft ausgestiegenen Firma Adolph Coors vom Vorabend war ihm nicht mehr anzusehen. Das Haar war zu den altbekannten glänzenden Schnörkeln und Tollen gekämmt, und er bewunderte sein Spiegelbild im Glas. Die Lederjacke hatte er über eine Stuhllehne gehängt. Die Hasenpfoten baumelten vom Gürtel wie winzige Leichen von einem Galgen.
»He, Schleimbeutel, hab' schon gedacht, ich müßte dir noch mal die Hand einseifen, daßde wach wirst. Komm schon, wir ham 'n großen Tag vor uns. Heut wird 'ne Menge passieren, hab' ich recht?«
»Unbedingt«, antwortete Mülleimer mit einem seltsamen Lächeln.
Als der Mülleimermann am Abend des 5. August aus dem Schlaf erwachte, lag er immer noch auf dem Blackjacktisch im Casino des MGM Grand Hotel. Vor ihm saß ein junger Mann mit strohblondem Haar und Spiegelbrille verkehrt herum auf einem Stuhl. Als erstes fiel Mülleimer der Stein auf, der ihm im V des offenen Freizeithemds um den Hals hing. Schwarz, mit einem roten Makel in der Mitte. Wie das Auge eines Wolfs in der Nacht.
Er wollte sagen, daß er Durst hatte, brachte aber nur ein schwaches »Gah!« heraus.
»Schätze, du hast einige Zeit in der heißen Sonne verbracht«, sagte Lloyd Henreid.
»Bist du er?« flüsterte Müll. »Bist du...«
»Der Große? Nein, der bin ich nicht. Flagg ist in L.A. Aber er weiß, daß du hier bist. Ich habe heute nachmittag per Funk mit ihm gesprochen.«
»Kommt er?«
»Was denn, nur um dich zu sehen? Herrje, nein! Er wird hier sein, wenn die Zeit gekommen ist.« Dann wiederholte er die Frage, die er dem großen Mann gestellt hatte, nachdem Mülleimer am Morgen gerade hereingetaumelt war. »Bist du so scharf drauf, ihn zu sehen?«
»Ja... nein... ich weiß nicht.«
»Nun, wie immer es kommen wird, du bekommst deine Chance.«
»Durst...«
»Klar. Hier.« Er gab ihm eine große Thermosflasche voll Fruchtsaftgetränk Kirsch. Mülleimer leerte sie mit einem Zug, dann beugte er sich nach vorne, hielt sich den Bauch und stöhnte. Als der Krampf nachgelassen hatte, sah er Lloyd voll dumpfer Dankbarkeit an.
»Meinst du, du kannst was essen?«
»Ja, ich glaube schon.«
Lloyd drehte sich zu einem Mann um, der hinter ihnen stand. Der Mann ließ müßig eine Roulettescheibe kreisen und dann die kleine weiße Kugel hüpfen und klappern.
»Roger, sag Whitney oder Stephanie-Ann, sie sollen dem Mann ein paar Fritten und Hamburger machen. Nee, Scheiße, was red' ich denn da? Er wird hier alles vollreihern. Suppe. Bring ihm Suppe. Okay, Mann?«
»Irgendwas«, sagte Müll dankbar.
»Wir haben einen Typen hier, Whitney Morgan, der war Metzger. Er ist fett und ein Schreihals, aber kochen kann der! Und sie haben alles hier. Als wir hergekommen sind, waren die Generatoren noch am Laufen, die Kühlhallen sind voll. Vegas! Ist das nicht die tollste Stadt, die du je gesehen hast?«
»Ja«, sagte Müll. Er mochte Lloyd bereits und kannte nicht einmal seinen Namen. »Es ist Cibola.«
»Wie?«
»Cibola. Von vielen gesucht.«
»Stimmt, im Laufe der Jahre haben viele Leute danach gesucht, aber den meisten hat's leid getan, daß sie es gefunden haben. Meinetwegen kannst du es nennen, wie du willst, Kumpel - sieht aus, als hättest du dich auf dem Weg hierher fast selbst gegrillt. Wie heißt du?«
»Mülleimermann.«
Für Lloyd schien das überhaupt kein seltsamer Name zu sein. »Ich wette, mit so einem Namen warst du Rocker.« Er streckte die Hand aus. Seine Fingerspitzen trugen immer noch leichte Spuren seines Aufenthalts im Gefängnis von Phoenix, wo er fast verhungert wäre. »Ich bin Lloyd Henreid. Freut mich, dich kennenzulernen, Müll. Willkommen an Bord des guten Schiffes Lollypop.«
Mülleimer schüttelte die dargebotene Hand und mußte sich zusammennehmen, nicht vor Dankbarkeit zu weinen. Soweit er sich erinnern konnte, hatte ihm eben zum ersten Mal in seinem Leben jemand die Hand gegeben. Er war da. Er war akzeptiert worden. Er war endlich bei etwas dabei. Er wäre doppelt so lange durch die Wüste gegangen, nur um diesen Augenblick zu erleben, und hätte sich den anderen Arm und beide Beine auch noch verbrannt.
»Danke«, murmelte er. »Danke, Mr. Henreid.«
»Scheiße, Bruder - wenn du mich nicht Lloyd nennst, müssen wir die Suppe wegschütten.«
»Dann Lloyd. Danke, Lloyd.«
»Schon besser. Wenn du gegessen hast, gehen wir nach oben und geben dir ein Zimmer. Morgen bekommst du was zu tun. Ich glaube, der Boss hat was Besonderes mit dir vor, aber bis dahin ist genügend für dich zu tun. Wir haben den Laden weitgehend wieder in Schwung gebracht, aber noch längst nicht alles. Oben am Damm von Boulder ist ein Team und versucht, den Strom wieder anzuschalten. Ein weiteres arbeitet an der Wasserversorgung. Wir haben Kundschafter losgeschickt, wir führen täglich sechs bis acht Leute hierher, aber davon werden wir dich eine Weile freistellen. Sieht aus, als hättest du genug Sonne für mindestens einen Monat abbekommen.«
»Kann schon sein«, sagte der Mülleimermann mit einem schwachen Lächeln. Er war schon bereit, sein Leben für Lloyd Henreid zu lassen. Er nahm allen Mut zusammen und deutete auf den Stein, der in der Grube von Lloyds Hals hing. »Das...«
»Ja, wer hier was zu sagen hat, trägt so einen. Sein Einfall. Das ist Gagat. Eigentlich gar kein Stein, weißt du. Wie eine Ölblase.«
»Ich meine... das rote Licht. Das Auge.«
»Findest du, daß es so aussieht, hm? Das ist ein Makel. Eigens von ihm. Ich bin nicht der Klügste, den er hat, nicht einmal der Klügste in Lost Wages, längst nicht. Aber ich bin... Scheiße, man könnte wohl sagen, ich bin sein Maskottchen.« Er sah Müll eindringlich an. »Du vielleicht auch, wer weiß? Ich nicht, soviel steht fest. Er ist verschlossen, das ist Flagg. Wie auch immer, wir haben speziell von dir gehört. Ich und Whitney. Das ist keineswegs Routine. Es kommen soviel bei, die nicht eigens angekündigt werden.« Pause. »Aber er könnte es, wenn er wollte. Ich glaube, er könnte jeden ankündigen.«
Der Mülleimermann nickte.
»Er kann Wunder vollbringen«, sagte Lloyd mit leicht heiserer Stimme. »Weißt du, ich möchte nicht zu denen gehören, die gegen ihn sind.«
»Ja«, sagte Mülleimermann. »Ich habe gesehen, was mit Kid passiert ist.«
»Welchem Kid?«
»Mit dem ich unterwegs war, bis wir in die Berge kamen.« Er erschauerte. »Ich will nicht davon sprechen.«
»Okay, Mann. Da kommt deine Suppe. Und Whitney hat doch einen Burger dazugelegt. Wird dir schmecken. Der Typ macht Superhamburger, aber versuch, nicht zu kotzen, okay?«
»Okay.«
»Ich, ich muß mich umsehen, um die Leute kümmern. Wenn mein alter Kumpel Poke mich so sehen könnte, würde er es nicht glauben. Ich hab' mehr zu tun als ein Einbeiniger beim Arschtrittwettbewerb. Wir sehn uns später.«
»Klar«, sagte Mülleimer und fügte dann fast schüchtern hinzu:
»Danke. Danke für alles.«
»Dank nicht mir«, sagte Lloyd liebenswürdig. »Dank ihm.«
»Mach' ich«, sagte der Mülleimermann. »Jede Nacht.« Aber er sprach mit sich selbst. Lloyd war schon halb durch die Halle und sprach mit dem Mann, der Suppe und Hamburger gebracht hatte. Mülleimermann sah ihnen liebevoll nach, bis sie weg waren, dann fing er an zu essen und schlang, bis fast alles verputzt war. Alles wäre gut gewesen, hätte er nicht in die Suppenschüssel gesehen. Es war Tomatensuppe, und sie hatte die Farbe von Blut.
Er schob die Schüssel von sich und hatte plötzlich keinen Appetit mehr. Es war schön und gut, Lloyd Henreid zu erzählen, daß er nicht über Kid sprechen wollte; aber nicht daran zu denken, was mit ihm passiert war, stand wieder auf einem anderen Blatt.
Er ging zur Roulettescheibe und trank dabei aus dem Glas Milch, das mit dem Essen gekommen war. Er stieß die Scheibe müßig an und ließ die kleine weiße Murmel hineinfallen. Sie rollte um den Rand, dann fiel sie in die Schlitze und hüpfte auf und ab. Er dachte an The Kid. Er fragte, ob jemand kommen und ihm zeigen würde, welches sein Zimmer war. Er dachte an Kid. Er fragte sich, ob die Kugel in einem schwarzen oder roten Feld landen würde... aber hauptsächlich dachte er an Kid. Die klappernde, hüpfende Kugel landete in einem Feld, diesmal endgültig. Die Scheibe kam zum Stillstand. Die Kugel lag in der grünen Doppel-Null.
Das Haus gewinnt.
An dem wolkenlosen, siebenundzwanzig Grad warmen Tag, als sie auf der Interstate 70 von Golden aus nach Westen direkt in die Rockies fuhren, gab Kid Coors zugunsten einer Flasche Whiskey Marke Rebell Yell auf. Zwei weitere Flaschen standen zwischen ihnen auf der Wölbung des Lenkgestänges, jede fein säuberlich in einen leeren Milchkarton verpackt, damit die Flaschen nicht herumkullern und zerbrechen konnten. Kid trank einen Schluck, spülte den Schluck mit einem großen Schluck Pepsi hinunter und grölte dann aus voller Brust Hotdamn! oder Yahoo! oder Sex machine! Er bemerkte mehrmals, daß er Rebell Yell pissen würde, wenn er könnte. Er fragte den Mülleimermann, ob er diese Heißescheiße glaubte. Der Mülleimermann, leichenblaß vor Angst und immer noch verkatert von den drei Bier am Abend zuvor, sagte ja.
Nicht einmal Kid konnte auf diesen Straßen mit neunzig dahindonnern. Er bremste auf sechzig ab und verfluchte die verdammten Berge unablässig. Dann strahlte er. »Wenn wir drüben in Utah und Nevada sind, holen wir jede Menge Zeit auf, Mülli. Mein kleiner Schatz hier schafft hunnertsechzig auf der Ebene. Glaubst die Heißescheiße?«
»Echt tolles Auto«, sagte Müll mit einem Lächeln wie ein kranker Hund.
»Kannst Gift rauf nehmen.« Er trank Rebell Yell. Spülte mit Pepsi nach. Schrie aus voller Brust Yahoo!
Müll betrachtete morbid die vorüberrasende Landschaft, die jetzt im morgendlichen Sonnenschein erstrahlte. Die Interstate war in den Berg gesprengt worden, manchmal fuhren sie zwischen gigantischen Felsklippen dahin. Es waren genau die Klippen, die er in der Nacht zuvor in seinem Traum gesehen hatte. Würden sich die roten Augen nach Einbruch der Dunkelheit vielleicht wieder öffnen? Er erschauerte.
Wenig später stellte er fest, daß sie von sechzig auf vierzig abgebremst hatten. Dann auf dreißig. Kid fluchte monoton und gräßlich. Das Coupe fuhr Slalom durch zunehmend dichteren Verkehr, der ausnahmslos stand und totenstill war.
»Was soll denn die Kacke?« tobte Kid. »Was haben die denn bloss gemacht? Alle beschlossen, gemeinsam in dreitausend Meter Höhe zu krepieren? He, ihr dummen Wichser, aus'm Weg mit euch! Habt ihr nicht gehört? Los! Aus'm Weg, verdammt!«
Mülleimermann verkroch sich im Sitz.
Sie kamen um eine Kurve und sahen einen schlimmen Unfall mit vier Autos, die die westlichen Fahrspuren der 1-70 vollständig versperrten. Ein toter Mann voll Blut, das längst zu einer rissigen, unebenmäßigen Glasur erstarrt war, lag mit von sich gestreckten Gliedmaßen Gesicht nach unten auf der Straße. Neben ihm lag eine zerschellte Chatty-Cathy-Puppe. Der Weg links um des Unfall herum wurde von zwei Meter hohen stählernen Leitpfosten versperrt. Rechts fiel das Land in wolkige Tiefe ab.
Kid trank Rebell Yell und steuerte das Coupe Richtung Abgrund.
»Festhalten, Mülli«, flüsterte er, »wir fahren drumrum.«
»Kein Platz«, krächzte Mülleimermann. Sein Hals fühlte sich an wie eine Eisenraspel.
»Doch, reicht gerade«, flüsterte Kid. Seine Augen funkelten. Er steuerte das Auto von der Straße. Die rechten Reifen zischten im Staub des Straßenrands.
»Ohne mich«, sagte Mülleimer hastig und streckte die Hand nach dem Türgriff aus.
»Sitzenbleiben«, befahl Kid, »oder du bist ein toter Schleimbeutel.«
Müll drehte sich um und sah in den Lauf eines Fünfundvierzigers. Kid kicherte nervös.
Mülleimermann lehnte sich zurück. Er wollte die Augen zumachen, konnte es aber nicht. Auf seiner Seite des Autos verschwanden die letzten zehn Zentimeter Böschung außer Sichtweite. Er sah ein langgezogenes Panorama blaugrauer Pinien und riesiger Felsblöcke. Er konnte sich vorstellen, wie die Breitreifen des Coupes noch acht Zentimeter vom Abgrund entfernt waren... noch vier...
»Noch ein Zentimeter«, sang Kid mit aufgerissenen Augen und breitem Grinsen. »Nur... noch... einer.«
Dann ging alles sehr schnell. Mülleimermann spürte, wie der rechte Hinterreifen des Autos plötzlich nach außen und steil abwärts rutschte. Er hörte eine abstürzende Lawine, erst kleine Kiesel, dann größere Steine. Er schrie. Kid fluchte gräßlich, schaltete in den ersten Gang und trat das Gaspedal durch. Links, wo sie sich millimeterweise am umgestürzten Wrack eines VWBus vorbeigetastet hatten, ertönte das Knirschen von Metall auf Metall.
»Flieg!« schrie Kid. »Flieg wie ein Vogel! Flieg! Gottverdammt, FLIEG!«
Die Hinterreifen des Coupe drehten durch. Einen Augenblick schienen sie sich noch mehr dem Abgrund zuzuneigen. Dann schnellte das Auto vorwärts, nach oben, und sie waren wieder auf der Straße, auf der anderen Seite des Unfalls, und gaben Gas.
»Ich hab' dir doch gesagt, daß wir es schaffen!« schrie Kid triumphierend. »Gottverdammt! Harn wir's nicht geschafft? Habn wir's nicht geschafft, Mülli, elender, feiger Schwanzlutscher?«
»Wir haben es geschafft«, sagte der Mülleimermann leise. Er zitterte am ganzen Körper. Er konnte es nicht verhindern. Und dann sagte er zum zweiten Mal, seit er Kid getroffen hatte, unwissentlich das einzige, das ihm das Leben rettete - hätte er es nicht gesagt, hätte Kid ihn zweifellos erschossen; für ihn wäre es eine seltsame Form von Feier gewesen. »Gut gefahren, Sportsfreund«, sagte er. Er hatte in seinem ganzen Leben noch niemanden »Sportsfreund« genannt.
»Ach... so gut auch wieder nicht«, sagte Kid verächtlich. »Es gibt mindestens noch zwei im Land, die das geschafft hätten. Glaubste die Heißescheiße ?«
»Wenn du meinst, Kid.«
»Brauchst mir nichts zu sagen, Süßer, ich sag's dir. Und weiter geht's. Augen zu und durch.«
Aber sie fuhren nicht lange weiter. Fünfzehn Minuten später mußte das Coupe des Kid endgültig anhalten, achtzehnhundert Meter oder mehr von seinem Ausgangspunkt in Shreveport, Louisiana, entfernt.
»Das kann ich nicht glauben«, sagte Kid. »Verflucht noch mal... das kann ich nicht... GLAUBEN!«
Er riß die Fahrertür auf und sprang hinaus, ohne die noch viertelvolle Flasche Rebell Yell aus der Hand zu geben.
»RUNTER VON MEINER STRASSE!« brüllte Kid und tanzte in seinen grotesken hochhackigen Stiefeln herum, eine winzige zerstörerische Naturgewalt, wie ein Erdbeben in der Flasche.
»RUNTER VON MEINER STRASSE, IHR WICHSER, IHR SEID TOT, IHR GEHÖRT ALLE AUF 'N FRIEDHOF, IHR HABT AUF MEINER STRASSE NICHTS ZU SUCHEN!«
Er warf die Flasche Rebell Yell, die sich überschlug und bernsteinfarbene Flüssigkeit verspritzte. An der Flanke eines alten Porsche zerschellte sie in tausend Scherben. Kid stand schweigend da, keuchte und wippte leicht auf den Schuhsohlen. Diesmal war das Problem keine Kleinigkeit wie ein Unfall mit vier Wagen. Diesmal bildete der Verkehr an sich das Problem. Hier wurden die Fahrspuren in östliche und westliche Richtung von einem etwa zehn Meter breiten begrünten Mittelstreifen getrennt, und das Coupe hätte es möglicherweise von einer Seite des Highway auf die andere geschafft, aber der Zustand war auf beiden Fahrspuren derselbe: Auf den vier Fahrspuren stand sechsspurig der Verkehr, Stoßstange an Stoßstange und Seite an Seite. Die Standspuren waren so verstopft wie die Fahrbahn. Ein paar Fahrer hatten sogar versucht, auf dem Mittelstreifen selbst weiterzukommen, obwohl dieser uneben und voller Felsbrocken war, die wie Drachenzähne aus dem grauen Boden ragten. Vielleicht hätten hohe Geländewagen mit Allradantrieb hier Erfolg gehabt, aber Müll sah nur einen Friedhof mit schrottreifem, zerschelltem und verbeultem Blech aus Detroit. Es war, als wären alle Fahrer gleichzeitig vom selben Wahnsinn überkommen worden und hätten beschlossen, hier hoch auf der I-70 ein wahnsinniges Carambolagerennen zu veranstalten. Colorado Rocky Mountain High, dachte der Mülleimermann, I've seen it raining Chevies in the sky - ich habe gesehen, wie es Chevies vom Himmel regnete. Er kicherte fast und hielt sich hastig den Mund zu. Wenn Kid ihn jetzt kichern hörte, würde er höchstwahrscheinlich nie wieder kichern.
Kid kam mit seinen hochhackigen Stiefeln zurückgestapft, das sorgfältig coiffierte Haar glänzte. Sein Gesicht war das eines Zwergbasilisken. Wut loderte in den Augen. »Ich lass' das Scheißauto nicht hier«, sagte er. »Kapiert? Auf keinen Fall. Ich lass' es nicht hier. Lauf los, Mülli. Lauf los und sag mir, wie weit der elende Stau geht. Vielleicht ein LKW auf der Straße, ich weiß nicht. Wir können nicht umkehren. Der Straßenrand ist abgestürzt, wir würden runterrutschen. Wenn es ein umgestürzter Lastwagen ist, ist es mir scheißegal. Ich fahr' jedes einzelne Miststück über den Rand hinunter. Das kann ich, und diese Heißescheiße solltest du besser glauben. Beeil dich, Junge.«
Müll widersprach nicht. Er ging vorsichtig, zwischen den liegengebliebenen Autos durch, die Straße entlang. Er war bereit, sich zu ducken und wegzulaufen, sollte Kid schießen. Aber Kid schoß nicht. Als Mülleimer eine seiner Meinung nach sichere Entfernung zurückgelegt hatte (d. h. außer Revolverreichweite), kletterte er auf einen Tanklastzug und sah zurück. Kid, Miniaturpunkt aus der Hölle, auf die Entfernung von einer halben Meile tatsächlich nur noch so groß wie eine Puppe, lehnte mürrisch an der Seite seines Autos und trank. Mülleimermann überlegte, ob er winken sollte, kam aber zum Ergebnis, daß das doch keine so gute Idee war.
Der Mülleimermann begann seinen Fußmarsch an diesem Tag gegen zehn Uhr dreißig MDT vormittags. Er kam langsam voran und mußte häufig über Hauben und Dächer von Autos klettern, so dicht standen sie, und als er das erste TUNNEL-GESPERRT-Schild erreichte, war es bereits Viertel nach drei nachmittags. Er hatte etwa zwölf Meilen zurückgelegt. Zwölf Meilen waren nicht viel - nicht für jemand, der zwanzig Prozent des Landes auf dem Fahrrad durchquert hatte -, aber wenn man die Hindernisse bedachte, waren zwölf Meilen recht eindrucksvoll. Er hätte schon längst umkehren und Kid sagen können, daß es unmöglich war... das heißt, wenn er je die Absicht gehabt hätte, wieder umzukehren. Was er selbstverständlich nicht hatte. Der Mülleimermann hatte nie viel über Geschichte gelesen (nach der Elektroschocktherapie war ihm das Lesen irgendwie schwergefallen), aber er mußte auch nicht wissen, daß in alten Zeiten Könige und Kaiser Überbringer schlechter Nachrichten häufig aus simpler Pikiertheit töten ließen. Was er wußte, war ausreichend: Er hatte genügend von Kid gesehen, um zu wissen, daß er nicht noch mehr sehen wollte.
Er stand da und betrachtete das Schild, schwarze Buchstaben auf orangefarbenem, rautenförmigem, Grund. Es war umgefahren worden und lag unter dem Reifen eines Yugo, der wie der älteste der Welt aussah. TUNNEL GESPERRT. Welcher Tunnel? Er sah voraus, schirmte die Augen ab und dachte, er könnte etwas sehen. Er ging dreihundert Meter weiter, kletterte über Autos, wenn es erforderlich war, und kam zu einem beunruhigenden Wirrwarr verkeilter Fahrzeuge und Leichen. Manche Autos und Lastwagen waren bis auf die Achsen niedergebrannt. Bei vielen handelte es sich um Armeefahrzeuge. Viele Leichen trugen Khaki. Hinter diesem Schauplatz eines Kampfes - Müll war sicher, daß es sich darum handelte - begann der Verkehrsstau wieder. Und dahinter verschwand der Verkehr Richtung West und Ost in den beiden dunklen Löc hern eines Tunnels, den ein in den Fels geschraubtes Schild als EISENHOWER TUNNEL identifizierte.
Er trat mit klopfendem Herzen näher, wußte aber nicht recht, was er eigentlich vorhatte. Der in den Fels hineingetriebene Doppelschacht schüchterte ihn ein, und als er näherkam, wurde daraus regelrechtes Entsetzen. Er hätte voll und ganz verstanden, was Larry Underwood vor dem Lincoln Tunnel empfunden hatte; in diesem Augenblick waren sie unwissentlich verwandte Seelen, in nacktem Grausen vereint.
Der Hauptunterschied war der, daß der Fußgängerweg im Lincoln Tunnel hoch über der Straße lag, hier dagegen so niedrig, dass manche Autos tatsächlich versucht hatten, an der Seite zu fahren, zwei Reifen auf dem Fußweg und zwei auf der Straße. Der Tunnel war zwei Meilen lang. Man konnte ihn nur durchqueren, indem man in völliger Finsternis von Auto zu Auto kroch. Das würde Stunden dauern.
Der Mülleimermann spürte, wie seine Eingeweide zu Wasser wurden.
Er sah lange Zeit in den Tunnel hinein. Larry Underwood hatte seinen Tunnel vor mehr als einem Monat trotz seiner Angst betreten. Nach reiflicher Überlegung drehte sich der Mülleimermann um und ging mit hängenden Schultern und zuckenden Mundwinkeln Richtung Kid zurück. Er machte nicht nur kehrt, weil es keine mühelose Möglichkeit zu gehen gab oder weil der Tunnel so lang war (Müll hatte sein ganzes Leben in lowa verbracht und keine Ahnung, wie lang der Eisenhower Tunnel war). Larry Underwood war von Eigennutz getrieben (möglicherweise beherrscht) worden, von der simplen Logik des Überlebens. New York war eine Insel, er mußte runter. Der Tunnel war der schnellste Weg. Also wollte er, so schnell es ging, hindurch, so wie man sich die Nase zuhielt und schnell schluckte, wenn man wußte, die Medizin schmeckte schlecht. Der Mülleimermann war eine geschlagene Kreatur und daran gewöhnt, die Hiebe und Knüffe des Schicksals und seiner eigenen unerklärlichen Natur hinzunehmen... und zwar mit gesenktem Kopf. Seine katastrophale Begegnung mit The Kid hatte ihn darüber hinaus entmannt, sie war fast einer Gehirnwäsche gleichgekommen. Er war mit Geschwindigkeiten dahingebraust, die Gehirnschäden hervorrufen konnten. Er war unter Todesdrohung gezwungen worden, eine Dose Bier in einem Zug leerzutrinken und sich hinterher nicht zu übergeben. Er war zu Analverkehr mit einem Revolverlauf gezwungen worden. Er wäre fast dreihundert Meter tief vom Straßenrand abgestürzt. Konnte er es, als krönenden Abschluß, da noch ertragen, durch ein Loch im Berg zu kriechen, ein Loch, in dem er wer weiß welche Schrecken der Dunkelheit kennenlernen mochte? Nein. Andere vielleicht, aber nicht der Mülleimermann. Zudem besaß die Vorstellung umzukehren eine gewisse Logik. Zugegeben, es war die Logik des Geschlagenen und halb Wahnsinnigen, aber sie besaß dennoch ihre ureigene perverse Faszination. Er war nicht auf einer Insel. Wenn er den ganzen restlichen heutigen und den morgigen Tag zurückgehen mußte, um eine Straße zu finden, die über den Berg führte, anstatt durch ihn hindurch, würde er es auf sich nehmen. Richtig, er mußte an Kid vorbei, aber er dachte, Kid könnte seine Meinung geändert haben und schon aufgebrochen sein, obwohl er das Gegenteil geschworen hatte. Vielleicht war er sturzbetrunken. Vielleicht war er auch (obwohl Müll bezweifelte, daß ihm so außergewöhnliches Glück widerfahren würde) schon tot. Schlimmstenfalls konnte Müll, sofern Kid noch da war, noch beobachtete und wartete, einfach abwarten, bis es dunkel wurde, und dann an ihm vorbeischleichen wie ein (Wiesel) kleines Tier im Unterholz. Dann würde er einfach weiter nach Osten gehen, bis er die Straße gefunden hatte, die er suchte.
Er kam zu dem Tanklastwagen, von dem er Kid und dessen mythisches Coupe zuletzt gesehen hatte; auf dem Rückweg war er schneller vorangekommen. Diesmal kletterte er nicht hinauf, wo er als Silhouette vor dem Abendhimmel leicht zu sehen gewesen wäre, sondern kroch auf Händen und Knien von einem Auto zum anderen und versuchte, ganz leise zu sein. Vielleicht war Kid wach und wachsam. Bei einem wie Kid konnte man nie wissen... und es zahlte sich nicht aus, Risiken einzugehen. Er wünschte sich, er hätte die Waffe eines der Soldaten mitgenommen, obwohl er in seinem ganzen Leben noch nie geschossen hatte. Er kroch weiter; die spitzen Steine auf der Straße bohrten sich schmerzhaft in seine Klauenhand. Es war acht Uhr, die Sonne war hinter den Bergen untergegangen.
Müll duckte sich hinter die Haube des Porsche, an den Kid die Whiskeyflasche geworfen hatte, und spähte vorsichtig darüber. Ja, da war Kids Coupe mit der glänzenden Goldbemalung, der konvexen Scheibe und der Haifischflosse, die in den blutergußfarbenen Himmel stach. Kid saß zusammengesunken hinter dem fluoreszierenden Lenkrand und hatte die Augen zu und den Mund offen. Mülleimers Herz klopfte einen trommelnden Siegestanz in der Brust. Hackevoll! verkündete sein Herz in zwei Schlägen. Hackevoll! Bei Gott! Hackevoll! Müll dachte, er könnte zwanzig Meilen östlich sein, bis Kid mit seinem Kater aufwachte.
Trotzdem war er vorsichtig. Er huschte von einem Auto zum nächsten wie ein Wasserfloh, der über die ruhige Oberfläche eines Teichs hüpft, umrundete das Coupe links, hastete über die immer breiteren Lücken. Jetzt lag das Coupe bei neun Uhr links von ihm, jetzt bei sieben und jetzt bei sechs, direkt hinter ihm. Jetzt nur noch Entfernung zwischen sich und diesen verrückten...
»Bleib bloß stehen, du brunzdummer Schwanzlutscher.«
Müll erstarrte auf Händen und Knien. Er machte Pipi in die Hose, sein Verstand verwandelte sich in eine irre flatternde Amsel der Panik.
Er drehte sich um, die Sehnen in seinem Hals ächzten wie Türangeln in einem Spukhaus. Und da stand Kid. Er trug jetzt ein irisierendes grünes Hemd und ein Paar sonnengebleichte Cordhosen. In jeder Hand einen Fünfundvierziger, das Gesicht eine Grimasse aus Hass und Wut.
»Ich wollte gerade den Weg da runter abchecken«, hörte Mülleimermann sich sagen. »Um sicherzugehen, daß der Weg frei ist.«
»Klar, auf Händen und Knien, Pißnelke. Ich werd' deinen verdammten Weg freimachen. Steh auf.«
Müll kam irgendwie auf die Füße und blieb auf denselben, indem er sich am Türgriff eines Autos rechts von sich festhielt. Die beiden Mündungen der 45er von Kid sahen genauso aus wie die beiden Röhren des Eisenhower Tunnel. Jetzt sah er dem Tod ins Auge. Das wußte er. Diesmal gab es keine passenden Worte, ihm zu entgegnen.
Er sprach ein stummes Gebet zum dunklen Mann: Bitte... wenn es dein Wille ist... mein Leben für dich!
»Was ist da oben?« fragte Kid. »Ein Unfall?«
»Ein Tunnel. Völlig verstopft. Darum bin ich zurückgekommen, um es dir zu sagen. Bitte...«
»Ein Tunnel«, stöhnte Kid. »Beim kahlköpfigen Heiland!« Seine Miene wurde wieder finster. »Lügst du mich an, elende Tunte?«
»Nein! Ich schwöre es! Auf dem Schild stand Leesenhoover Tunnel. Ich glaube, das stand da, aber ich habe Mühe mit langen Worten. Ich...«
»Halt die Klappe. Wie weit?«
»Acht Meilen. Vielleicht mehr.«
Kid schwieg einen Moment und sah nach Westen über die Straße. Dann betrachtete er Mülleimer mit glitzernden Augen. »Willste mir weismachen, daß der Stau acht Meilen lang ist? Verlogener Drecksack!« Kid spannte die Hähne beider Revolver halb. Müll, der halb gespannt nicht von ganz gespannt und ganz gespannt nicht von einer Tüte Wanzen hätte unterscheiden können, kreischte wie eine Frau und legte die Hände vor die Augen.
»Ungelogen!« schrie er. »Ungelogen! Ich schwöre es! Ich schwöre es!«
Kid sah ihn lange Zeit an. Schließlich ließ er die Hähne der Revolver wieder sinken.
»Ich bring' dich um, Mülli«, sagte er lächelnd. »Ich puste dir dein jämmerliches Licht aus. Aber vorher gehen wir zu dem Unfall von heute morgen zurück. Du wirst den VW-Bus über den Rand schieben. Dann kehr' ich um und such 'nen anderen Weg. Ich geh' nicht ohne mein Scheißauto«, fügte er quengelnd hinzu. »Auf keiheinen Fall.«
»Bitte, bring mich nicht um«, flüsterte Müll. »Bitte nicht.«
»Wenn du den VW in weniger als fünfzehn Minuten über den Rand bringst, vielleicht nicht«, sagte Kid. »Glaubste die Heißescheiße?«
»Ja«, sagte Müll. Aber er hatte tief in die unnatürlich glitzernden Augen sehen können und glaubte es ganz und gar nicht. Sie gingen zu der Unfallstelle zurück, Mülleimermann mit wackligen Knien voraus. Kid schritt trippelnd aus, seine Lederjacke ächzte leise in ihren geheimen Falten. Ein vages, fast liebliches Lächeln umspielte seinen Puppenmund.
Als sie die Unfallstelle erreichten, war die Dämmerung fast vorbei. Der VW Bus lag auf der Seite, die Leichen der drei oder vier Insassen bildeten ein Durcheinander von Armen und Beinen, das gnädigerweise in der zunehmenden Dunkelheit kaum zu sehen war. Kid ging an dem Bus vorbei zum Straßenrand und betrachtete die Stelle, wo sie zehn Stunden vorher vorbeigeschrammt waren. Eine Reifenspur des Coupe war noch da, aber die andere war zusammen mit der Böschung abgestürzt.
»Nee«, sagte Kid endgültig. »Hier kommen wir nie vorbei, wenn wir vorher nicht gründlich aufräumen. Brauchste mir nicht zu sagen, ich sag's dir.«
Einen Augenblick spielte Mülleimer mit dem Gedanken, auf Kid loszustürmen und ihn über den Rand zu stoßen. Dann drehte Kid sich um. Er hatte die Revolver gezogen und beiläufig auf Mülls Leibesmitte gerichtet.
»Aber Mülli. Hast böse Gedanken gehabt. Und keine Ausreden. Ich kann dich lesen wie ein offenes Buch.«
Mülleimer schüttelte heftig widersprechend den Kopf hin und her.
»Mach keinen Fehler mit mir, Mülli. Um nichts auf der Welt solltest du das machen. Und jetzt schieb diesen Bus weg. Du hast fünfzehn Minuten.«
In der Nähe parkte ein Austin auf dem unterbrochenen Mittelstreifen. Kid machte die Beifahrertür auf, zerrte beiläufig den aufgedunsenen Leichnam eines Teenagermädchens heraus (ihr Arm riß in seiner Hand ab, er warf ihn geistesabwesend weg wie ein Mann, der einen Truthahnknochen abgenagt hat) und setzte sich auf den Beifahrersitz, so daß die Füße draußen auf dem Asphalt blieben. Er gestikulierte gutgelaunt mit den Revolvern zu der geduckten, schlotternden Gestalt des Mülleimermanns.
»Zeit läuft, Kumpel.« Er warf den Kopf zurück und sang: »Oh... da kommt Johnny mit dem Fimmel in der Hand, hat nur ein Ei und geht Los zum Ro-dee-Oh... ganz recht, Mülli, elender Waschlappen, mach dich dran, nur noch zwölf Minuten übrig... und links rechts links rechts, komm schon, alter Dummkopf, setz dich in Bewegung...«
Müll lehnte sich gegen den Bus. Spannte die Beine an und drückte. Der Bus glitt vielleicht fünf Zentimeter Richtung Abgrund. In seinem Herzen wuchs wieder Hoffnung - dieses unverwüstliche Unkraut des menschlichen Herzens. Kid war irrational, impulsiv, Carley Yates und seine Billardkumpel hätten gesagt, verrückter als eine Scheißhausratte. Vielleicht würde der Irre ihn wirklich leben lassen, wenn er den Bus tatsächlich über den Rand stoßen und damit Platz für Kids kostbares Coupe schaffen konnte.
Vielleicht.
Er senkte den Kopf, packte den Rand der Karosserie des VW und schob mit aller Kraft. Schmerzen loderten in seinem erst kürzlich verbrannten Arm auf, er wußte, gleich würde das empfindliche neue Gewebe aufplatzen. Dann würden die Schmerzen zur Qual werden. Der Bus bewegte sich sieben Zentimeter. Schweiß troff von Mülleimers Stirn und rann ihm in die Augen, wo er wie warmes Motorenöl brannte.
»Oh, da kommt Johnny mit dem Pimmel in der Hand, hat nur ein Ei und geht LOS zum Ro-dee-Oh« sang Kid. »Und allemannlinks, allemannr...«
Das Lied brach ab wie ein trockener Zweig. Mülleimermann sah erschrocken auf. Kid war vom Beifahrersitz des Austin aufgestanden. Er hatte Müll das Profil zugekehrt und starrte über ihre Hälfte der Straße zu den östlichen Fahrspuren. Dahinter erhob sich ein Felshang voll Gestrüpp, der den halben Himmel verdeckte.
»Scheiße, was war denn das?« flüsterte Kid.
»Ich hab' nichts geh...«
Aber dann hörte er etwas. Er hörte das leise Prasseln von Geröll und Steinen auf der anderen Seite des Highway. Seine Träume fielen ihm so unvermittelt heftig wieder ein, daß sein Blut gefror und sämtliche Spucke in seinem Mund verdampfte.
»Wer ist da?« brüllte Kid. »Antworte! Antworte, verdammt, oder ich schieße!«
Und er bekam Antwort, aber nicht von einer menschlichen Stimme. Ein Heulen schwoll in der Nacht an wie eine heisere Sirene, das zuerst anstieg und dann rasch zu einem tiefen, kehligen Knurren sank.
»Heiliger Jesus!« sagte Kid mit plötzlich dünner Stimme. Wölfe kamen den Hang herunter und überquerten den weißen Streifen am Rand des Highway, hagere graue Gebirgswölfe mit roten Augen und aufgerissenen, geifernden Mäulern. Es waren mehr als zwei Dutzend. Mülleimer machte in der Ekstase des Entsetzens wieder Pipi in die Hose.
Kid kam um die Karosserie des Austin herum, legte die Fünfundvierziger an und fing an zu feuern. Flammen loderten aus den Mündungen; die Schüsse hallten von den Bergwänden wider, bis es sich anhörte, als wäre eine ganze Artillerie im Einsatz. Mülleimermann schrie auf und steckte die Zeigefinger in-die Ohren. Der Nachtwind verwehte den frischen, beißenden, heißen Revolverrauch. Schießpulvergestank stach in der Nase. Die Wölfe kamen ungerührt näher, nicht schneller und nicht langsamer. Ihre Augen... der Mülleimermann konnte den Blick nicht von ihren Augen nehmen. Es waren nicht die Augen gewöhnlicher Wölfe; davon war er überzeugt. Es waren die Augen ihres Herrn, dachte er. Ihres Herrn und seines Herrn. Plötzlich fiel ihm sein Gebet wieder ein, und er hatte keine Angst mehr. Er nahm die Finger aus den Ohren. Er achtete nicht auf die Nässe, die sich in seinem Schritt ausbreitete. Er fing an zu lächeln.
Kid hatte beide Revolver leergeschossen und damit drei Wölfe niedergestreckt. Er steckte die Waffen ins Halfter, ohne auch nur einen Versuch zu machen, sie nachzuladen, und wandte sich nach Westen. Er ging etwa zehn Schritte, dann blieb er stehen. Auf den Fahrspuren nach Westen kamen ebenfalls Wölfe daher, sie schlichen zwischen den dunklen Formen der liegengebliebenen Fahrzeuge dahin wie vereinzelte Nebelschwaden. Einer hob die Schnauze himmelwärts und heulte. Ein zweiter Schrei gesellte sich dazu, ein dritter zum zweiten, schließlich ein ganzer Chor zum dritten. Dann trotteten sie weiter.
Kid wich zurück. Jetzt versuchte er, einen Revolver zu laden, aber die Kugeln fielen ihm aus den nervösen Fingern. Plötzlich gab er auf.
Die Waffe fiel ihm aus der Hand und polterte auf die Straße. Die Wölfe stürmten auf ihn zu, als wäre das ein Signal gewesen. Kid warf sich mit einem schrillen, dünnen Angstschrei herum und lief zu dem Austin. Beim Laufen fiel der zweite Revolver aus dem tiefhängenden Halfter und polterte auf die Straße. Mit tiefem, bedrohlichem Knurren sprang der erste Wolf auf ihn zu, als Kid sich eben in den Austin warf und die Tür zuschlug.
Er schaffte es gerade. Der Wolf prallte von der Tür ab, knurrte und rollte die roten Augen auf gräßliche Weise. Die anderen gesellten sich zu ihm, Augenblicke später war der Austin von Wölfen umzingelt. Kids Gesicht im Inneren war ein kleiner weißer Mond, der heraussah.
Dann kam einer der Wölfe auf den Mülleimermann zu; er hatte den dreieckigen Kopf gesenkt, die Augen glühten wie Sturmlampen.
Mein Leben für dich...
Müll ging ihm festen Schrittes und überhaupt nicht ängstlich entgegen. Er streckte die verbrannte Hand aus, und der Wolf leckte sie. Nach einem Augenblick ließ er sich zu Mülls Füßen nieder und legte den zotteligen, buschigen Schwanz um die Schnauze. Kid starrte ihn mit offenem Mund an.
Mülleimermann lächelte ihm in die Augen und zeigte ihm den Mittelfinger.
Beide Mittelfinger.
Und er schrie: »Hol dich der Teufel! Du bist fertig! Hast du verstanden? GLAUBSTE DIE HEISSESCHEISSE? FERTIG! BRAUCHSTE MIR NICHT ZU SAGEN, ICH SAG'S DIR!«
Der Wolf schloß das Maul sanft um Mülls gute Hand. Dieser sah nach unten. Der Wolf stand wieder und zog ihn sanft weiter. Zog ihn nach Westen.
»Gut«, sagte Mülleimer gelassen. »Okay, Junge.«
Er setzte sich in Marsch, und der Wolf fiel gleich hinter ihm ein und folgte ihm wie ein gut abgerichteter Hund. Als sie weitergingen, kamen fünf andere zwischen den liegengebliebenen Autos hervor und gesellten sich zu ihnen. Jetzt ging ihm ein Wolf voraus, zwei an seiner Seite, einer hinter ihm, als wäre er ein Würdenträger mit Eskorte.
Er blieb einmal stehen und sah über die Schulter. Er vergaß nie, was er sah: einen Ring Wölfe, die geduldig in einem grauen Kreis um den Austin herumsaßen, und die blasse Scheibe von Kids Gesicht, der herausstarrte und hinter dem Fenster den Mund bewegte. Die Wölfe schienen Kid anzugrinsen, die Zungen hingen ihnen aus den Mäulern. Sie schienen ihn zu fragen, wie lange es denn noch dauern würde, bis er den dunklen Mann mit einem Arschtritt aus dem ollen Lost Wages hinausbeförderte. Wie lange genau?
Der Mülleimermann fragte sich, wie lange diese Wölfe um den kleinen Austin herumsitzen und ihn mit einem Ring aus Zähnen umzingeln würden. Die Antwort lautete selbstverständlich, solange es eben erforderlich sein würde. Zwei Tage, drei, vielleicht sogar vier. Kid würde drinnen sitzen und nach draußen schauen. Nichts zu essen (es sei denn das Teenagermädchen hatte einen Passagier gehabt), nichts zu trinken, die Innentemperatur im Wagen durch den Treibhauseffekt nachmittags wahrscheinlich bis zu fünfzig Grad. Die Schoßhündchen des dunklen Mannes würden warten, bis Kid verhungerte oder wahnsinnig genug war, die Tür aufzumachen und einen Fluchtversuch zu wagen. Der Mülleimermann kicherte in der Dunkelheit. Kid war nicht besonders groß. Er würde nicht mehr als einen Happen für jeden abgeben. Und was sie bekamen, konnte durchaus Gift für sie sein.
»Hab' ich recht?« schrie er und meckerte zu den funkelnden Sternen hinauf. »Ihr braucht mir nicht zu sagen, ob ihr diese Heißescheiße glaubt! Verflucht noch mal, ich sag's EUCH!«
Seine geisterhafte graue Eskorte trottete ernst neben ihm dahin und schenkte den Schreien des Mülleimermanns keine Beachtung. Als sie das Coupe von Kid erreicht hatten, trottete der Wolf hinter ihm hin, schnupperte an einem der Breitreifen, dann grinste er sardonisch, hob ein Bein und machte Pipi daran.
Mülleimermann fing an zu lachen. Er lachte, bis ihm Tränen aus den Augen quollen und seine rissigen, stoppeligen Wangen hinabliefen. Sein Wahnsinn wollte jetzt wie ein feiner Rollbraten nur noch, dass ihn die Wüstensonne garkochte und abrundete, ihm den letzten Hauch köstlichen Aromas verlieh.
Sie gingen weiter, der Mülleimermann und seine Eskorte. Als der Verkehr dichter wurde, krochen sie entweder mit am Boden schleifenden Bäuchen unter Autos durch oder sprangen über Motorhauben und Dächer in seiner Nähe - geschmeidige, stumme Begleiter mit roten Augen und weißen Zähnen. Als sie den Eisenhower Tunnel kurz nach Mitternacht erreichten, zögerte der Mülleimermann nicht, sondern schritt wacker ins klaffende Maul der Westseite hinein. Wie konnte er jetzt Angst haben? Wie konnte er sich mit solchen Wächtern fürchten?
Es war ein langer Weg, und er hatte, noch ehe er richtig begonnen hatte, schon jegliches Zeitgefühl verloren. Er tastete sich blind von einem Auto zum nächsten. Einmal griff er mit der Hand in etwas Nasses und ekelerregend Weiches, gefolgt von einem gräßlichen Wusch stinkenden Gases. Nicht einmal da zauderte er. Von Zeit zu Zeit sah er rote Augen in der Dunkelheit; sie waren stets vor ihm und führten ihn stets weiter.
Später nahmen seine Sinne frischere Luft wahr, er sputete sich so sehr, daß er einmal das Gleichgewicht verlor, von der Haube eines Autos herunterfiel und sich den Kopf schmerzhaft an der Stoßstange des nächsten anschlug. Wenig später sah er auf und erblickte wieder Sterne über sich, die jetzt vor der einsetzenden Dämmerung verblaßten. Er war draußen.
Seine Wächter waren verschwunden. Aber Mülleimer sank auf die Knie und sprach ein langes, wirres und zusammenhangloses Dankgebet. Er hatte die Hand des dunklen Mannes am Werk gesehen, und zwar überdeutlich.
Trotz allem, was er durchgemacht hatte, seit er vergangenen Morgen aufgewacht war und gesehen hatte, wie Kid seine Frisur im Fenster des Zimmers im Golden Motel bewunderte, war Müll so aufgekratzt, daß er nicht schlafen konnte. Statt dessen ging er weiter und liess den Tunnel hinter sich. Der Verkehr hatte sich auch auf der Westseite des Tunnels gestaut, aber nach zwei Meilen dünnte er soweit aus, daß man bequem gehen konnte. Jenseits des Mittelstreifens, auf den Fahrspuren nach Osten, erstreckte sich der Strom der Fahrzeuge, die den Tunnel passieren wollten, endlos. Am Nachmittag kam er vom Vail-Paß herunter nach Vail selbst und ging an den Wohnhäusern und Apartmentblocks für Singles vorbei. Inzwischen hatte die Müdigkeit ihn fast überwältigt. Er schlug ein Fenster ein, machte eine Tür auf und fand ein Bett. Dann wußte er bis zum frühen nächsten Morgen nichts mehr.
Das Schöne an religiösem Wahn ist, daß er die Macht hat, alles zu erklären. Wenn Gott (oder Satan) erst einmal als Ursache für alles akzeptiert wird, was in der Welt der Sterblichen geschieht, bleibt nichts dem Zufall überlassen... oder dem Wandel. Wenn erst einmal beschwörende Floskeln wie »wir sehen nun wie in einem dunklen Spiegel« oder »geheimnisvoll und unerforschlich sind seine Wege« angewendet werden, kann man die Logik frohen Herzens über Bord werfen. Religiöser Wahn ist einer der wenigen unfehlbaren Methoden, auf die Unbillen der Welt zu reagieren, weil er reinen Zufall vollkommen ausschließt. Für den wahren religiösen Fanatiker geschieht alles mit einem Sinn.
Aus diesem Grund war es nicht verwunderlich, daß der Mülleimermann auf der Straße westlich von Vail zwanzig Minuten lang mit einer Krähe sprach und überzeugt war, daß sie ein Sendbote des dunklen Mannes war... oder der dunkle Mann selbst. Die Krähe betrachtete ihn lange von ihrem Aussichtspunkt auf einem Telefonmast und flog erst weg, als sie sich langweilte oder Hunger hatte... oder als Mülleimers endloser Schwall von Lobpreisungen und Loyalitätsbekundungen versiegt war.
In der Nähe von Grand Junction besorgte er sich ein neues Fahrrad, und am 25. Juli hatte er das westliche Utah auf der Route 4 hinter sich gelassen, die die I-89 im Osten mit der nach Südwesten verlaufenden 115 verbindet, welche vom Norden von Salt Lake City bis nach San Bernadino, Kalifornien, verläuft. Und als sich der Vorderreifen seines neuen Fahrrads plötzlich entschied, sich vom Gestell zu trennen und auf sich allein gestellt in die Wüste zu rollen, wurde der Mülleimermann über die Lenkstange geschleudert und landete auf dem Kopf, ein Sturz, der ihm den Schädel hätte brechen müssen (er fuhr vierzig, als es passierte, und hatte keinen Helm auf). Dennoch konnte er weniger als fünf Minuten später aufstehen und mit verzerrtem Gesicht seinen kleinen schlurfenden Tanz ausführen, während ihm Blut aus einem halben Dutzend Kratzern und Schürfwunden ins Gesicht floß, und singen: »Cii-a-bo-la, mein Leben für dich, Ci-a-bo-la, bumpty, bumpty, bump!«
Es gibt für die seelisch Geschlagenen oder Geschundenen wirklich keinen besseren Trost als eine gute, kräftige Dosis von »Dein Wille geschehe«.
Am 7. August kam Lloyd Henreid in das Zimmer, das der ausgetrocknete und halb im Delirium befindliche Mülleimermann tags zuvor zugewiesen bekommen hatte. Es war ein schönes Zimmer im dreißigsten Stock des MGM Grand. Es hatte ein rundes Bett mit Seidenlaken und an der Decke einen runden Spiegel, der genauso groß wie das Bett zu sein schien.
Mülleimer sah Lloyd an.
»Wie geht es dir, Müll?« fragte Lloyd und sah ihn auch an.
»Gut«, sagte der Mülleimermann. »Besser.«
»Essen, Wasser und Ruhe, mehr hast du nicht gebraucht«, sagte Lloyd. »Ich hab' dir saubere Kleidung gebracht. Die Größe mußte ich schätzen.«
»Sieht gut aus.« Müll hatte sich seine Kleidergröße nie merken können. Er nahm die Jeans und das Baumwollhemd, die Lloyd ihm anbot.
»Komm runter frühstücken, wenn du angezogen bist«, sagte Lloyd. Er redete fast unterwürfig mit ihm. »Wir essen fast alle im Speisesaal.«
»Okay. Klar.«
Im Speisesaal war das Summen der Unterhaltungen zu hören, und er blieb draußen um die Ecke stehen, weil er es plötzlich mit der Angst bekam. Wenn er eintrat, würden sie ihn ansehen. Sie würden ihn ansehen und lachen. Jemand würde im hinteren Teil des Saals anfangen zu kichern, jemand anders würde einstimmen, und dann würde der ganze Saal ein Aufruhr prustenden Gelächters und deutender Finger sein.
He, versteckt die Streichhölzer, der Mülleimermann kommt!
He, Müll! Was hat die alte Oma Semple gesagt, als du ihren Rentenscheck verbrannt hast?
Pinkelst du oft ins Bett, Müll?
Schweiß brach ihm am ganzen Körper aus, und er fühlte sich schmutzig, obwohl er geduscht hatte, nachdem Lloyd gegangen war. Er erinnerte sich an sein Gesicht im Badezimmerspiegel, das mit langsam heilendem Schorf bedeckt war, den zu hageren Körper, die für die gähnenden Höhlen zu kleinen Augen. Ja, sie würden lachen. Er lauschte dem Summen der Gespräche, dem Klirren vo n Silberbesteck und dachte, daß er sich einfach davonschleichen sollte.
Dann dachte er daran, wie der Wolf so behutsam seine Hand genommen und ihn von der Metallgruft des Kid weggeführt hatte, und er reckte die Schultern und trat ein.
Ein paar Leute sahen kurz auf und wandten sich dann wieder dem Essen und ihren Gesprächen zu. Lloyd saß an einem großen Tisch mitten im Saal, hob einen Arm und winkte ihm zu. Müll bahnte sich unter einer erloschenen Keno-Anzeigentafel den Weg zwischen den Tischen hindurch. Drei weitere Männer saßen an dem Tisch. Sie aßen alle Rührei mit Schinken.
»Bedien dich«, sagte Lloyd. »Es ist eine Art Wasserbad.«
Der Mülleimermann nahm ein Tablett und bediente sich. Der Mann hinter dem Tresen, der groß war und das schmutzige Weiß eines Kochs trug, beobachtete ihn.
»Sind Sie Mr. Horgan?« fragte der Mülleimermann schüchtern. Horgan grinste und entblößte lückenhafte Zähne. »Ja, aber wir kommen nicht weiter, wenn du mich so nennst, Junge. Nenn mich Whitey. Geht's dir etwas besser? Als du hergekommen bist, haste wie der Zorn Gottes ausgesehen.«
»Ja, viel besser.«
»Greif bei den Eiern zu. Soviel du willst. Aber paß mit den Fritten auf. Die Dinger sind alt und zäh. Schön, daß du da bist, Junge.«
»Danke«, sagte Müll.
Er ging wieder zu Lloyds Tisch.
»Müll, das hier ist Ken DeMott. Der Junge mit der kahlen Stelle ist Hector Drogan. Und der Bengel hier, der im Gesicht züchten will, was ihm ums Arschloch herum wild wächst, nennt sich Ace High.«
Alle nickten ihm zu.
»Das ist unser neuer Junge«, sagte Lloyd. »Sein Name ist Mülleimermann.«
Ringsum wurden Hände geschüttelt. Müll machte sich über die Eier her. Er sah den jungen Mann mit dem flaumigen Bart an und sagte mit leiser, höflicher Stimme: »Würden Sie mir bitte das Salz reichen, Mr. High?«
Sie sahen einander einen Moment überrascht an, dann prusteten sie alle vor Lachen. Müll sah sie an und spürte Panik in der Brust aufsteigen, und dann hörte er das Lachen, hörte es wirklich, mit dem Herzen wie mit den Ohren, und begriff, daß nichts Böses dabei war. Hier würde ihn niemand fragen, warum er statt der Kirche lieber die Schule niedergebrannt hatte. Niemand würde ihn wegen dem Rentenscheck der alten Oma Semple aufziehen. Er konnte auch lächeln, wenn er wollte. Und er lächelte.
»Mr. High«, kicherte Hector Drogan. »O Ace, eben bist du aber drangekriegt worden. Mr. High. Ich lach' mich tot. Minister Haaaaiii. Mann, das ist vielleicht ein Knüller.«
Ace High gab Mülleimer das Salz. »Nur Ace, Mann. Darauf hör' ich immer. Du nennst mich nicht Mr. High und ich nenn' dich nicht Mr. Mann, abgemacht?«
»Okay«, sagte Mülleimermann immer noch lächelnd. »Prima.«
»Oh, Mr. Hiiiigh!« sagte Heck Drogan mit schriller Falsettstimme. Dann fing er wieder an zu lachen. »Ace, das wird dir ewig anhängen. Ich schwor's dir.«
»Vielleicht, aber ich werd' auf jeden Fall das Beste draus machen«, sagte Ace High und stand mit seinem Teller auf, um sich noch Eier zu holen. Dabei legte er Müll einen Moment die Hand auf die Schulter. Die Hand war warm und fest. Es war eine freundliche Hand, die nicht drückte oder kniff.
Der Mülleimermann verschlang die Eier und fühlte sich innerlich gut und warm. Dieses warme Hochgefühl war seiner Natur so fremd, daß es ihm fast wie eine Krankheit vorkam. Er versuchte beim Essen, es zu isolieren und zu verstehen. Er sah auf, betrachtete die Gesichter ringsum und glaubte zu verstehen, was es war. Glücklichsein.
Was für gute Menschen, dachte er.
Und dem dicht auf den Fersen: Ich bin daheim.
An diesem Tag durfte er sich noch ungestört ausschlafen, aber am nächsten wurde er zusammen mit zahlreichen anderen mit einem Bus zum Damm von Boulder gefahren. Dort verbrachten sie den Tag damit, Kupferdraht um die Spulen ausgebrannter Motoren zu wickeln. Er arbeitete an einer Bank mit Blick aufs Wasser - Lake Mead - und niemand überwachte ihn. Der Mülleimermann vermutete, daß es keine Vorarbeiter oder so jemanden gab, weil alle ihre Arbeit so sehr liebten wie er auch.
Am nächsten Tag erfuhr er, daß es anders war.
Es war Viertel nach zehn am Morgen. Der Mülleimermann saß auf seiner Bank und wickelte Kupferdraht, aber sein Verstand war eine Million Meilen entfernt, während die Finger ihre Arbeit machten. Er komponierte im Geiste einen Lobespsalm für den dunklen Mann. Er hatte sich überlegt, daß er ein großes Buch besorgen wollte (wahrhaftig ein BUCH), in das er alle Gedanken über ihn eintrug. Vielleicht wollten die Leute so ein Buch einmal lesen. Leute, die so für ihn empfanden wie der Mülleimermann.
Ken DeMott kam zu seiner Bank, und Ken sah unter der Wüstenbräune blaß und ängstlich aus. »Komm mit«, sagte er.
»Feierabend. Wir fahren nach Vegas zurück. Alle. Die Busse warten draußen.«
»Hm? Warum?« Der Mülleimermann blinzelte zu ihm hoch.
»Ich weiß nicht. Es ist sein Befehl. Lloyd hat ihn durchgegeben. Setz deinen Arsch in Bewegung, Mülli. Man stellt besser keine Fragen, wenn es um den Hartgesottenen geht.«
Also stellte er auch keine. Draußen parkten drei Schulbusse der Stadt Las Vegas mit laufenden Motoren auf dem Hoover Drive. Männer und Frauen stiegen ein. Es wurde wenig gesprochen; die vormittägliche Fahrt zurück nach Las Vegas stand in krassem Widerspruch zu den sonstigen Arbeitsgepflogenheiten. Keine Geplänkel, kaum Unterhaltungen und keine Anzüglichkeiten, wie sie zwischen den etwa zwanzig Frauen und dreißig Männern üblich geworden waren. Alle waren in sich selbst versunken. Als sie sich der Stadt näherten, hörte Mülleimermann einen der Männer, der auf der anderen Seite des Mittelgangs gegenüber saß, leise zu seinem Nachbarn flüstern: »Es ist Heck. Heck Drogan. Herrgott, wie kommt diese Spukgestalt nur immer wieder auf alles?«
»Sei still«, sagte der andere und warf dem Mülleimermann einen mißtrauischen Blick zu.
Müll wich seinem Blick aus und betrachtete die Wüstenlandschaft, die vor dem Fenster vorbeizog. Erstmals wieder verspürte er einen Hauch von Angst.
»Mein Gott«, sagte eine Frau, als sie aus dem Bus ausstiegen, aber sie war die einzige, die eine Bemerkung machte.
Mülleimermann sah sich verwirrt um. Es sah aus, als wären alle versammelt, alle in Cibola. Alle waren zurückbeordert worden, mit Ausnahme einiger Kundschafter, die von der mexikanischen Halbinsel bis West-Texas überall sein konnten. Sie hatten sich um den Springbrunnen herum im Halbkreis versammelt, sechs oder sieben Reihen hintereinander, alles in allem etwa vierhundert Personen. Manche der hinteren standen auf Hotelstühlen, damit sie besser sehen konnten, und bis der Mülleimermann nahe genug war, dachte er, sie würden den Springbrunnen betrachten. Aber als er den Hals streckte, konnte er sehen, daß etwas auf dem Rasen vor dem Springbrunnen lag; freilich nicht, was es war. Eine Hand ergriff ihn am Ellbogen. Es war Lloyd. Sein Gesicht sah blaß und angespannt aus. »Ich hab' nach dir gesucht. Er will dich später sehen. Aber vorher haben wir das. Herrgott, wie ich das hasse. Komm mit. Ich brauche Hilfe, und du bist auserwählt.«
Der Kopf des Mülleimermanns kreiste. Er wollte ihn sehen! Ihn! Aber vorher kam noch dieses... was auch immer.
»Was, Lloyd? Was ist es?«
Lloyd antwortete nicht. Er hielt den Mülleimermann immer noch sanft am Arm und führte ihn zum Springbrunnen. Die Menge teilte sich vor ihnen, schrak beinahe vor ihnen zurück. Die schmale Gasse, durch die sie schritten, schien mit einer stummen, kalten Schicht Abscheu und Angst isoliert zu sein.
In vorderster Front stand Whitey Horgan. Er rauchte eine Zigarette. Er stand mit einem seiner Hush Puppies auf dem Gegenstand, den Müll vorher nicht richtig sehen konnte. Es war ein Kreuz aus Holz. Der vertikale Balken war etwa dreieinhalb Meter lang. Es sah wie ein linkisches kleines t aus.
»Alle da?« fragte Lloyd.
»Ja«, sagte Whitey. »Sieht so aus. Winky hat den Rundruf gestartet. Neun Leute sind nicht im Bundesstaat. Flagg hat gesagt, um die sollen wir uns nicht kümmern. Wie kommst du klar, Lloyd?«
»Mir geht's gut«, sagte Lloyd. »Na ja... gut nicht, aber ich werd's überstehen - du weißt schon.«
Whitey nickte in Richtung Mülleimermann. »Wieviel weiß der Junge?«
»Ich weiß gar nichts«, sagte der Mülleimermann verwirrter denn je. Hoffnung, Ehrfurcht und Grauen fochten einen dubiosen Kampf in ihm aus. »Was soll das? Jemand hat etwas über Heck gesagt...«
»Ja, es ist Heck«, sagte Lloyd. »Er hat Koks geschnüffelt. Scheißschlag, wie ich diese Scheißschläge hasse. Los doch, Whitey, sag ihnen, sie sollen ihn rausbringen.«
Whitey entfernte sich von Lloyd und Müll und trat dabei über ein rechteckiges Loch im Boden. Das Loch war mit Beton ausgeschalt. Es hatte gerade die richtige Größe und Tiefe, um das untere Ende des Kreuzes aufzunehmen. Als Whitney »Whitey« Horgan die breiten Stufen zwischen den Goldpyramiden hinaufging, spürte Müll, wie die ganze Spucke in seinem Mund austrocknete. Er drehte sich plötzlich um, zuerst zu der schweigenden Menge, die sichelförmig unter dem blauen Himmel wartete, dann zu Lloyd, der blaß und stumm dastand, das Kreuz betrachtete und an einem Pickel am Kinn klaubte.
»Du... wir... nageln ihn da dran?« brachte Mülleimermann schließlich heraus. »Geht es darum?«
Plötzlich griff Lloyd in die Tasche seines verblichenen Hemdes.
»Weißt du, ich hab' was für dich. Er hat es mir gegeben, damit ich es dir gebe. Ich kann dich nicht zwingen, es zu nehmen, aber es ist mein Glück, daß mir noch eingefallen ist, es dir überhaupt anzubieten. Möchtest du es?«
Er zog eine feine Goldkette aus der Brusttasche, an deren Ende ein schwarzer Gagat hing. Der Stein hatte einen roten Makel, wie der von Lloyd. Er ließ ihn vor den Augen des Mülleimermanns baumeln wie ein Hypnotiseur sein Amulett.
Die Wahrheit stand in Lloyds Augen zu lesen und war zu deutlich, als daß man sie nicht erkennen konnte; der Mülleimermann wußte, er konnte niemals weinen und hadern - nicht vor ihm, nicht vor sonstwem, aber besonders nicht vor ihm - und behaupten, er hätte es nicht begriffen gehabt. Nimm das und du nimmst alles, sagten Lloyds Augen. Und was gehört zu allem? Nun, selbstverständlich Heck Drogan. Heck und das betonierte Loch im Boden, das Loch, das gerade groß genug ist, daß der Stamm von Hecks Kreuz hineinpaßt.
Er griff langsam danach. Seine Hand verharrte, gerade bevor die ausgestreckten Finger die Goldkette berühren konnten.
Das ist meine letzte Chance. Meine letzte Chance, Donald Merwin Elbert zu sein.
Aber eine andere Stimme, die mit größerer Autorität sprach (aber mit einer gewissen Sanftheit, gleich einer kühlenden Hand auf einer fiebrigen Stirn), sagte ihm, daß die Entscheidung schon längst gefallen war. Wenn er sich jetzt für Donald Merwin Elbert entschied, würde er sterben. Er hatte den dunklen Mann aus freiem Willen gesucht (wenn es so etwas für die Mülleimermänner dieser Welt überhaupt gibt) und seine Hilfe angenommen. Der dunkle Mann hatte ihn davor bewahrt, von Kid ermordet zu werden (daß der dunkle Mann Kid eigens zu diesem Zweck geschickt haben könnte, daran dachte der Mülleimermann gar nicht), und das bedeutete sicher, daß sein Leben jetzt dem dunklen Mann geschuldet war... dem Mann, den manche hier den Wandelnden Geck nannten. Sein Leben! Hatte er selbst es nicht immer wieder angeboten?
Aber deine Seele... hast du auch deine Seele angeboten?
Mitgefangen, mitgehangen, dachte der Mülleimermann und legte behutsam eine Hand um die Goldkette und die andere um den dunklen Stein. Der Stein war kalt und glatt. Er hielt ihn einen Moment in der Faust, um festzustellen, ob er warm werden würde. Aber Müll glaubte nicht, daß ihm das gelingen würde, und damit hatte er recht. Also legte er ihn um den Hals, wo er auf der Haut lag wie eine winzige Eiskugel.
Aber das eiskalte Gefühl machte ihm nichts aus.
Das eiskalte Gefühl war Ausgleich für das Feuer, das unablässig in seinem Innern loderte.
»Sag dir einfach, daß du ihn nicht kennst«, sagte Lloyd. »Heck, meine ich. So mache ich es immer. Das macht es leichter. Es...«
Zwei der breiten Hoteltüren gingen auf. Panische, entsetzte Schreie drangen zu ihnen herüber. Die Menge seufzte.
Neun kamen die Stufen herunter. Hector Drogan war in der Mitte. Er kämpfte wie ein Tiger im Netz. Sein Gesicht war totenbleich, abgesehen von den zwei hektischen roten Flecken auf den Wangenknochen. Schweiß floß ihm in Strömen von jedem Zentimeter Haut. Er war splitternackt. Fünf Männer hielten ihn. Einer war Ace High, der Junge, den Heck wegen seines Namens gehänselt hatte.
»Ace!« brabbelte Hector. »He, Ace, was meinst du? Der Junge braucht nur ein bißchen Hilfe, ja? Sag ihnen, sie sollen damit aufhören, Mann - ich kann clean werden, ich schwöre bei Gott, ich kann es bleibenlassen. Was meinst du? Ein bißchen Hilfe! Bitte, Ace!«
Ace High sagte nichts; sein Griff um Hecks fuchtelnden Arm wurde nur noch fester. Das reichte als Antwort aus. Hector Drogan fing wieder an zu schreien. Er wurde unbarmherzig über den Vorplatz zum Springbrunnen gezogen.
Hinter ihm gingen drei Männer in einer Reihe wie bei einer feierlichen Unternehmerbeerdigung: Whitey Horgan, der eine große Reisetasche trug; ein Mann namens Roy Hoopes mit einer Leiter; und Winky Winks, ein kahler Mann, dessen Augen ständig zuckten. Winky trug ein Klemmbrett mit einem maschinenbeschriebenen Blatt Papier darauf.
Heck wurde zum Fuß des Kreuzes gezerrt. Ein schrecklicher gelber Angstgestank ging von ihm aus; seine Augen waren verdreht, so dass das schmutzige Weiß zu sehen war - wie die Augen eines Pferdes, das bei Gewitter im Freien gelassen wurde.
»He, Mülli«, sagte er heiser, während Roy Hoopes hinter ihm die Leiter aufstellte. »Mülleimermann. Sag ihnen, sie sollen es abblasen, Kumpel. Sag ihnen, ich kann clean werden. Sag ihnen, so ein Schrecken ist besser als alle Rehabilitation der Welt. Sag es ihnen, Mann.«
Der Mülleimermann sah auf seine Füße. Als er den Hals beugte, fiel der schwarze Stein nach vorne und baumelte in seinem Gesichtsfeld. Der rote Makel, das Auge, schien ihn starr anzusehen.
»Ich kenne dich nicht«, murmelte er.
Aus dem Augenwinkel sah er Whitey auf einem Knie, eine Zigarette im Mundwinkel, das linke Auge wegen des Rauchs zugekniffen. Er machte die Reisetasche auf. Er holte spitze Holznägel heraus. Mülleimer stellte entsetzt fest, daß sie fast so groß wie Zeltheringe wirkten. Whitey legte sie ins Gras und holte einen großen Holzhammer aus der Reisetasche.
Trotz der murmelnden Stimmen ringsum schienen die Worte des Mülleimermanns den panischen Nebel in Hector Drogans Verstand durchdrungen zu haben. »Was meinst du damit, du kennst mich nicht?« schrie er wild. »Wir haben vor zwei Tagen zusammen gefrühstückt! Du hast den Bengel hier Mr. High genannt! Was soll das heißen, du kennst mich nicht, du feiger kleiner Lügner?«
»Ich kenne dich überhaupt nicht«, wiederholte der Mülleimermann, diesmal etwas deutlicher. Und er empfand fast so etwas wie Erleichterung. Vor ihm stand tatsächlich nur ein Fremder, ein Fremder, der ein wenig wie Carley Yates aussah. Er griff mit der Hand nach dem Stein und hielt ihn fest umklammert. Die Kälte beruhigte ihn noch mehr.
»Lügner!« schrie Heck. Er wehrte sich wieder, seine Muskeln spannten und wölbten sich, Schweiß rann ihm über die Arme und die nackte Brust. »Lügner! Du kennst mich! Du kennst mich doch, du Lügner!«
»Nein, ich kenne dich nicht. Ich kenne dich nicht und will dich auch nicht kennen.«
Heck fing wieder an zu schreien. Die vier Männer, die ihn hielten, keuchten außer Atem.
»Los«, sagte Lloyd.
Heck wurde nach hinten gezogen. Einer der Männer, die ihn hielten, stellte ihm ein Bein und brachte ihn zu Fall. Er landete halb auf dem Kreuz und halb daneben. Derweil hatte Winky angefangen, mit schriller Stimme, die wie eine Kreissäge durch Hecks Heulen schnitt, den maschinengeschriebenen Text vom Klemmbrett abzulesen.
»Achtung Achtung Achtung! Auf Befehl von Randall Flagg, dem Führer des Volkes und Obersten Staatsbürger, wird dieser Mann mit Namen Hector Alonzo Drogan durch Kreuzigung hingerichtet; die Strafe wird wegen Drogenkonsums verhängt.«
»Nein! Nein! Nein!« schrie Heck als panische Kontrapunkte. Sein schweißnasser, schlüpfriger linker Arm entglitt dem Griff von Ace, und Müll kniete sich instinktiv darauf und klemmte den Arm wieder fest, so daß das Handgelenk gegen den Balken des Kreuzes gedrückt wurde. Einen Moment später kniete Whitey neben Mülleimer und hatte den Hammer und zwei grobe Holznägel in der Hand. Die Zigarette hing ihm immer noch im Mundwinkel. Er sah wie ein Mann aus, der kleinere Zimmermannsarbeiten in seinem Garten ausführt.
»Ja, gut, halt ihn genau so fest, Müll. Ich nagle ihn an. Dauert nicht lange.«
»Drogenmißbrauch ist in der Gesellschaft des Volkes nicht gestattet, weil er verhindert, daß der Benutzer seine Kraft voll und ganz in den Dienst der Gesellschaft stellt«, deklamierte Winky. Er redete schnell, wie ein Auktionator; seine Augen blinzelten und zuckten und flatterten. »In diesem speziellen Fall wurde der Angeklagte Hector Drogan mit Drogengeschirr und einem großen Vorrat Kokain erwischt.«
Mittlerweile hatten Hecks Schreie eine Tonlage erreicht, bei der Kristall zerschellen konnte, wäre Kristall in der Nähe gewesen. Er warf den Kopf von einer Seite auf die andere. Schaum stand ihm vor dem Mund. Blutrinnsale liefen an seinen Armen herab, als sie zu sechst, einschließlich des Mülleimermanns, das Kreuz in die Betongrube hoben. Jetzt zeichnete sich die Silhouette von Hector Drogan gegen den Himmel ab; er hatte den Kopf schmerzverzerrt nach hinten gebeugt.
»...geschieht zum Besten dieser Gesellschaft des Volkes«, schrie Winky unablässig. »Diese Botschaft endet mit einer ernsten Warnung und Grüße an die Menschen in Las Vegas. Diese Auflistung wahrer Tatsachen soll über dem Kopf des Missetäters angenagelt und mit dem Siegel des Obersten Staatsbürgers mit Namen RANDALL FLAGG versehen werden.«
»Großer Gott, das tut WEH!« schrie Hector Drogan über ihnen. »Mein Gott mein Gott mein Gott Gott Gott!«
Die Menge blieb fast eine Stunde, weil jeder Angst hatte, er könnte als derjenige in Erinnerung bleiben, der zuerst gegangen war. Viele Gesichter drückten Mißfallen aus, viele andere eine dumpfe Art von Erregung... aber wenn es eine gemeinsame Empfindung gab, dann Angst.
Aber der Mülleimermann hatte keine Angst. Weshalb auch? Er hatte den Mann ja nicht gekannt.
Er hatte ihn nie gekannt.
Es war Viertel nach zehn an diesem Abend, als Lloyd ins Zimmer des Mülleimermanns kam. Er sah Müll an und sagte: »Du bist angezogen. Gut. Ich dachte mir, du wärst vielleicht schon zu Bett gegangen.«
»Nein«, sagte der Mülleimermann. »Ich bin noch auf. Warum?«
Lloyd sprach mit gedämpfter Stimme weiter. »Es ist soweit, Mülli. Er will dich sehen. Flagg.«
»Er...?«
»Ja.«
Der Mülleimermann war gebannt. »Wo ist er ? Mein Leben für ihn, o ja...«
»Oberster Stock«, sagte Lloyd. »Er kam rein, als wir gerade Drogans Leichnam verbrannt hatten. Von der Küste. Er war da, als Whitey und ich vom Steinbruch zurückgekommen sind. Niemand sieht ihn je kommen oder gehen, Müll, aber man weiß immer, wenn er wieder fort ist. Oder wenn er zurückkommt. Los, gehen wir.«
Vier Minuten später kam der Fahrstuhl im obersten Stockwerk an, und der Mülleimermann stieg mit strahlendem Gesicht und rollenden Augen aus. Lloyd nicht.
Müll drehte sich zu ihm um. »Kommst du nicht...?«
»Nein, er will dich allein sprechen. Viel Glück, Müll.«
Und bevor er noch etwas sagen konnte, glitten die Fahrstuhltüren zu und Lloyd war weg.
Der Mülleimermann drehte sich um. Er stand in einer geräumigen, prächtigen Halle. Es gab nur zwei Türen... und die am Ende ging langsam auf. Drinnen war es dunkel. Aber Müll sah eine Gestalt in der Tür stehen. Und Augen. Rote Augen.
Mit langsam in der Brust klopfendem Herzen und einem trockenen Gefühl im Mund ging der Mülleimermann dieser Gestalt entgegen. Dabei schien die Luft immer kälter und kälter zu werden. Gänsehaut bildete sich auf seinen von der Sonne verbrannten Armen. Irgendwo tief in seinem Innern drehte sich der Leichnam von Donald Merwin Elbert in seinem Grab herum und schien zu schreien. Dann war es wieder still.
»Der Mülleimermann«, sagte eine tiefe und angenehme Stimme.
»Wie gut, daß du gekommen bist. Sehr gut.«
Die Worte fielen ihm wie Staub aus dem Mund: »Mein... mein Leben für dich.«
»Ja«, sagte die Gestalt in der Tür begütigend. Die Lippen öffneten sich, das Grinsen entblößte weiße Zähne. »Aber ich glaube nicht, daß es so weit kommen wird. Komm rein. Laß dich ansehen.«
Mit leuchtenden Augen und einem Gesicht so schlaff wie das eines Schlafwandlers trat der Mülleimermann ein. Die Tür ging zu; sie standen im Halbdunkel. Eine schrecklich heiße Hand schloß sich um Mülleimers eiskalte... und plötzlich fühlte er sich ganz ruhig. Flagg sagte: »In der Wüste gibt es Arbeit für dich, Müll. Großartige Arbeit. Wenn du willst.«
»Alles«, flüsterte der Mülleimermann. »Alles.«
Randall Flagg lehnte einen Arm um Mülls abgemagerte Schultern.
»Ich werde dich Feuer legen lassen«, sagte er. »Komm, wir trinken etwas und unterhalten uns darüber.«
Und am Ende wurde es ein gewaltiges Feuer.