73
Die drei Männer kampierten sechzehn Meilen westlich von der Stelle, wo sie Stu zurückgelassen hatten. Sie hatten wieder eine Auswaschung erreicht, aber hier war der Schaden geringer. Sie hatten nur deshalb so wenige Meilen zurückgelegt, weil sie ein wenig den Mut verloren hatten. Und es war schwer zu sagen, ob sie ihn jemals wiedererlangen würden. Die Füße schienen ihnen schwerer geworden zu sein. Sie sprachen kaum miteinander. Und keiner wollte dem anderen ins Gesicht sehen - aus Angst, die eigene Schuld darin widergespiegelt zu sehen.
Sie hatten erst nach Einbruch der Dunkelheit ihr Lager aufgeschlagen und aus Zweigen ein kleines Feuer entfacht. Sie hatten Wasser, aber nichts zu essen. Glen stopfte seinen letzten Tabak in die Pfeife und überlegte sich plötzlich, ob Stu noch Zigaretten hatte. Der Gedanke verdarb ihm den Geschmack an seinem Tabak, und er klopfte seine Pfeife an einem Felsen aus. Zerstreut trat er seinen letzten Krümel Borkum Riff mit dem Fuß weg. Als ein paar Minuten später irgendwo in der Dunkelheit eine Eule schrie, blickte er sich um.
»Sagt mal, wo ist denn Kojak?« fragte er.
»Das ist aber seltsam«, sagte Ralph. »Ich kann mich gar nicht daran erinnern, ihn in den letzten Stunden gesehen zu haben.«
Glen stand auf. »Kojak!« schrie er. »He, Kojak! Kojak!« Einsam hallte das Echo seiner Stimme aus der Wüste zurück. Kein Bellen kam als Antwort. Von Trübsinn überwältigt, setzte er sich wieder hin. Er seufzte leise. Fast über den ganzen Kontinent war Kojak ihm gefolgt. Jetzt war er weg. Es war wie ein böses Omen.
»Glaubst du, daß irgendwas ihn erwischt hat?« fragte Ralph leise. Larry sagte mit ruhiger, nachdenklicher Stimme: »Vielleicht ist er bei Stu geblieben.«
Glen blickte erschrocken auf. »Vielleicht«, meinte er dann und dachte darüber nach. »Das könnte sein.«
Larry warf einen Stein von einer Hand in die andere, hin und her, her und hin. »Stu hat gesagt, daß Gott ihm vielleicht einen Raben schickt, der ihn füttert. Ich bezweifle, daß es hier draußen einen Raben gibt. Also hat er Stu vielleicht statt dessen einen Hund geschickt.«
Im Feuer knackte ein brennender Ast, und Funken sprühten hoch in die Dunkelheit, um kurz in einem hellen Wirbel aufzuglühen und sofort wieder zu erlöschen.
Als Stu die dunkle Gestalt durch die Rinne auf sich zuschleichen sah, schob er sich gegen den Felsen, das Bein steif vor sich ausgestreckt, und nahm mit einer vor Kälte fast tauben Hand einen Felsbrocken auf. Er war kalt bis auf die Knochen. Larry hatte recht gehabt. Zwei oder drei Tage bei diesen Temperaturen hier herumzuliegen würde seinen sicheren Tod bedeuten. Aber jetzt sah es ganz so aus, als ob etwas auf ihn zuschlich, das ihn schon vorher erledigen würde. Kojak war bis Sonnenuntergang bei ihm geblieben und dann weggelaufen. Stu hatte ihn nicht zurückgerufen. Der Hund würde Glen und die anderen schon finden. Vielleicht hatte er eine eigene Rolle in diesem Drama zu spielen. Aber er wünschte sich jetzt, daß Kojak noch ein wenig länger geblieben wäre. Die Pillen waren eine Sache, aber er hatte keine Lust, von einem der Wölfe des dunklen Mannes in Stücke gerissen zu werden.
Er packte den Felsbrocken fester, und die dunkle Gestalt blieb etwa zwanzig Meter entfernt stehen. Dann kam sie wieder näher, ein Schatten, schwärzer als die Nacht.
»Also los, komm schon«, rief Stu heiser.
Der schwarze Schatten wedelte mit dem Schwanz und kam näher.
»Kojak?«
Er war es. Und er hatte etwas im Maul, das er vor Stus Füße fallen ließ. Dann setzte er sich, klopfte mit dem Schwanz auf den Boden und wartete darauf, daß Stu ihn lobte.
»Braver Hund«, sagte Stu verblüfft. »Braver Hund.«
Kojak hatte ihm ein Kaninchen gebracht.
Stu zog sein Taschenmesser, klappte es auf und weidete das Kaninchen mit drei schnellen Schnitten aus. Er nahm die dampfenden Eingeweide und warf sie Kojak zu. »Willst du?« Kojak wollte. Stu zog dem Kaninchen das Fell ab. Der Gedanke, es roh essen zu müssen, tat seinem Magen nicht sehr wohl.
»Holz?« wandte sich Stu ohne viel Hoffnung an Kojak. Überall an der Uferböschung des Wasserlaufes lagen Zweige und Äste, aber in Reichweite gab es keine.
Kojak wedelte mit dem Schwanz und blieb sitzen.
»Holen? H...«
Aber Kojak war weg. Er rannte in östliche Richtung, und als er zurückkam, hatte er ein großes Stück Holz im Maul. Er ließ es neben Stu fallen, bellte und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz.
»Braver Hund«, sagte Stu wieder. »Ich werd' verrückt! Holen, Kojak!«
Mit fröhlichem Gebell verschwand Kojak wieder. Nach zwanzig Minuten hatte er genug Holz für ein großes Feuer gebracht. Stu schnitt Späne von den Ästen, um das Feuer anzünden zu können. Dann schaute er nach, wie viele Streichhölzer er noch hatte. Es waren anderthalb Heftchen. Beim zweiten Streichholz brannte sein Anmachholz, und er achtete sorgfältig darauf, daß es nicht wieder erlosch. Bald brannte ein ordentliches Feuer, und in seinem Schlafsack sitzend, rückte Stu so nahe wie möglich heran. Kojak setzte sich an die andere Seite des Lagerfeuers und legte die Schnauze auf die Pfoten.
Als das Feuer ein wenig heruntergebrannt war, spießte Stu das Kaninchen auf und briet es. Der Geruch war bald so stark und so aromatisch, daß ihm der Magen knurrte. Auch Kojak wurde aufmerksam und beäugte das Kaninchen mit regem Interesse.
»Hälfte für dich und Hälfte für mich, alter Junge, okay?«
Fünfzehn Minuten später nahm er das Kaninchen vom Feuer und schaffte es, den Braten in zwei Teile zu reißen, ohne sich allzusehr die Finger zu verbrennen. Das Fleisch war stellenweise verbrannt, an anderen Stellen noch halb roh, aber es stellte den Büchsenschinken vom Great-Western-Market weit in den Schatten. Er und Kojak verschlangen es... und als sie fertig waren, hörten sie ein markerschütterndes Geheul.
»Mein Gott!« rief Stu, noch immer ein Stück Kaninchenfleisch im Mund. Kojak war aufgesprungen, und seine Nackenhaare sträubten sich. Er knurrte. Steifbeinig schlich er um das Feuer herum, immer noch knurrend. Aber was immer geheult hatte, war verstummt. Stu legte sich hin, einen faustgroßen Felsbrocken in der einen Hand, das Taschenmesser in der anderen. Die Sterne leuchteten kalt und fern und gleichgültig. Er dachte an Fran, aber nicht lange. Der Gedanke war zu schmerzlich, mit vollem Bauch oder nicht. Aber ich werde nicht schlafen, dachte er. jedenfalls nicht lange. Aber dann schlief er doch ein, mit Hilfe einer von Glens Pillen. Und als das Feuer schon fast erloschen war, schlich Kojak herüber und legte sich neben ihn und gab Stu etwas von seiner Wärme. Und so kam es, daß Stu in der ersten Nacht, die er ohne seine Gefährten verbringen mußte, aß, während sie hungerten, und gut schlief, während ihr Schlaf von Alpträumen und dem Gefühl sich rasch nahenden Unheils gestört wurde.
Am vierundzwanzigsten, nach einer Tagesetappe von dreißig Meilen, rastete Larry Underwoods dreiköpfige Pilgergruppe nordöstlich des San Rafael Knob. In dieser Nacht sank die Temperatur unter Null, und sie zündeten ein großes Feuer an. So nahe wie möglich schliefen sie neben der Glut. Kojak war nicht wiedergekommen.
»Wie mag es Stu wohl heute nacht ergehen?« fragte Ralph Larry.
»Er stirbt«, sagte Larry knapp, und seine Worte taten ihm sofort leid, als er die Trauer in Ralphs ehrlichem Gesicht sah. Aber er wußte nicht, wie er diese Worte zurücknehmen konnte, denn was er gesagt hatte, war mit großer Wahrscheinlichkeit wahr.
Er legte sich wieder hin und hatte das seltsame Gefühl, daß es schon morgen war. Was immer sie erwartete, sie hatten es fast schon erreicht.
In der Nacht hatte er Alpträume. In jenem Traum, den er am nächsten Morgen am deutlichsten in Erinnerung hatte, war er mit einer Gruppe namens The Shady Blues Connection auf Tournee. Sie spielten im Madison Square Garden, und das Konzert war ausverkauft. Donnernder Applaus, als sie die Bühne betraten. Larry ging nach vorn, um sein Mikrophon zu justieren, es auf die richtige Höhe zu bringen, doch es ließ sich keinen Millimeter bewegen. Er ging zum Mikro des Leadgitarristen hinüber, aber auch das war wie angeschweißt. Dasselbe mit den Mikros des Baßgitarristen und des Mannes an den Keyboards. Buhrufe und rhythmisches Klatschen erhoben sich in der Menge. Einer nach dem anderen schlichen sich die Musiker der Shady Blues Connection von der Bühne; auf ihren Gesichtern lag ein verstohlenes Grinsen; sie trugen ähnlich poppig-psychedelische Hemden, wie die Byrds sie einst getragen hatten, damals, 1966, als Roger McGuin noch bei jedem Auftritt acht Meilen high gewesen war. Oder achthundert. Und Larry ging noch immer von Mikro zu Mikro in der Hoffnung, eins zu finden, das sich einstellen ließ. Aber die Dinger waren allesamt mindestens drei Meter hoch und wie festgefroren. Sie sahen aus wie Kobras aus rostfreiem Stahl. Irgend jemand in der Menge verlangte lautstark »Baby, Can You Dig Your Man?«. Diesen Song spiel' ich nicht mehr, versuchte Larry zu sagen. Ich hab' ihn seit dem Weltuntergang nicht mehr gespielt. Sie konnten ihn nicht hören, und nun begann die Menge zu singen, zuerst die hinteren Reihen; dann wogte der Gesang nach vorn, wurde lauter und lauter und schriller, bis der ganze Garden erfüllt war von Gebrüll: »Baby Can You Dig Your Man! Baby Can You Dig Your Man! BABY CAN YOU DIG YOUR MAN!«
Larry erwachte; das Geschrei hallte ihm noch in den Ohren. Er war schweißgebadet.
Er brauchte nicht erst Glen zu fragen, was für eine Art Traum das gewesen war oder welche Bedeutung er hatte. Der Traum, in dem man nicht an die Mikrophone herankommt, sie nicht justieren kann, ist nicht ungewöhnlich für einen Rockmusiker - wie auch jener Traum, daß man auf der Bühne steht und plötzlich den Text des Songs vergessen hat. Larry vermutete, daß alle Entertainer in der einen oder anderen Form diesen Traum hatten, bevor - Bevor ihr Auftritt kam.
Es war ein Unzulänglichkeitstraum. Er verdeutlichte die eine, primitive, alles überdeckende Angst: Was, wenn du nicht kannst? Was, wenn du willst, aber nicht kannst? Das Entsetzen, jene Grenze nicht überschreiten zu können, die den Amateur vom Künstler - Sänger, Schriftsteller, Maler, Musiker - trennt.
Du mußt den Leuten etwas bieten, Larry.
Wessen Stimme war das? Die seiner Mutter?
Du bist einer, der nur nimmt, Larry.
Nein, Mom - nein, bin ich nicht. Diesen Song spiel' ich nicht mehr. Seit dem Weltuntergang spiel' ich ihn nicht mehr. Ehrlich.
Er legte sich wieder hin und versank allmählich in Schlaf. Stu hatte recht, war sein letzter Gedanke: Der dunkle Mann wird uns alle zu fassen kriegen. Morgen, dachte er. Was immer uns erwartet, wir sind fast da.
Aber am Fünfundzwanzigsten sahen sie niemanden. Die drei Männer wanderten gemächlich unter dem blauen Himmel dahin und sahen Vögel und Wild, aber keine Menschen.
»Es ist erstaunlich, wie sich die Tiere wieder vermehren«, sagte Glen. »Ich wußte, daß dies ein schneller Prozeß sein würde, und natürlich wird der Winter alles wieder ein wenig zurechtstutzen, aber es ist dennoch erstaunlich. Seit den ersten Ausbrüchen der Seuche sind nur etwa hundert Tage vergangen.«
»Ja, aber es gibt keine Hunde und Pferde mehr«, sagte Ralph. »Das gefällt mir nicht. Sie haben einen Erreger gefunden, der fast alle Menschen getötet hat, aber das reichte offenbar nicht. Er mußte auch noch die beiden beliebtesten Tierarten ausrotten. Er hat die Menschen dahingerafft und ihre besten Freunde gleich dazu.«
»Und die Katzen übriggelassen«, sagte Larry traurig. Ralphs Miene hellte sich auf. »Es gibt doch noch Kojak...«
»Es gab Kojak.«
Das würgte die Unterhaltung ab. Die Spitzkuppen ringsum blickten dräuend auf sie herab. Hier konnten sich Männer mit Gewehren und Ferngläsern verborgen halten. Larrys böse Vorahnungen, daß heute der Tag war, hatte ihn noch nicht verlassen. Immer wenn die Straße anstieg, erwartete er auf der anderen Seite eine Straßensperre. Und wenn das nicht der Fall war, fürchtete er irgendwo einen Hinterhalt. Sie redeten über Pferde. Über Hunde und Büffel. Die Büffel kehrten bereits allmählich zurück, erzählte Ralph ihnen - Nick und Tom Cullen hatten welche gesehen. Der Tag war gar nicht mehr so fern - vielleicht noch zu ihren Lebzeiten -, daß riesige Büffelherden wieder die Prärie bevölkerten.
Larry wußte, daß Ralph recht hatte. Er wußte aber auch, daß es scheißegal war, was sie betraf - vielleicht belief sich die Summe ihrer Lebzeiten auf weniger als zehn Minuten.
Dann war es fast dunkel, und es wurde Zeit, das Lager aufzuschlagen. Noch einmal stieg die Straße an, und Larry dachte: Jetzt. Dort unten werden sie sein.
Aber es war niemand da. Sie kampierten in der Nähe eines grünen Reflektorschildes, auf dem LAS VEGAS 260 stand. Sie hatten heute verhältnismäßig gut gegessen: Taco-Chips, Soda und zwei Slim Jims, die sie untereinander aufgeteilt hatten.
Morgen, dachte Larry wieder und schlief ein. In dieser Nacht träumte er, daß er, Barry Greig und die Tattered Remnants im Madison Square Garden spielten. Es war ihre große Chance - sie eröffneten den Abend für irgendeine Supergruppe, die sich nach einer Stadt benannte. Boston oder vielleicht auch Chicago. Und die Mikrophonständer waren alle mindestens drei Meter hoch, und in wachsender Panik stolperte er von einem zum anderen, und die Leute klatschten wieder rhythmisch und wollten wieder »Baby, Can You Dig Your Man?« hören. Er schaute zur ersten Reihe hinunter, und wie ein eiskalter Wasserguß packte ihn die Angst. Charles Manson saß da, und das Kreuz auf seiner Stirn war zu einer weißen schiefen Narbe verheilt. Er klatschte und schrie. Und auch Richard Speck saß dort unten und schaute Larry unverschämt an, und zwischen seinen Lippen zitterte eine filterlose Zigarette. Hinter ihm saß John Wayne. Und Flagg führte den Chor an.
Morgen, dachte Larry wieder und stolperte unter den heißen Traumlichtern des Madison Square Garden von einem der hohen Mikrophone zum anderen. Wir sehen uns morgen.
Aber es war nicht am nächsten Tag und auch nicht am Tag danach. Am Abend des 27. September kampierten sie in der Stadt Freemont Junction, und es gab reichlich zu essen.
»Ich erwarte immer, daß es bald vorbei ist«, sagte Larry an diesem Abend zu Glen. »Und es wird jeden Tag schlimmer.«
Glen nickte. »Mir geht es ähnlich. Wäre schon komisch, wenn es sich nur um eine Fata Morgana gehandelt hätte, nicht wahr? Nichts als ein böser Traum in unserem kollektiven Bewußtsein.«
Larry sah ihn einen Augenblick überrascht und nachdenklich an. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, dass es nur ein Traum ist.«
Glen lächelte. »Ich auch nicht, junger Mann. Ich auch nicht.«
Am nächsten Tag war es soweit.
Morgens um kurz nach zehn gingen sie eine Steigung hoch, und unter ihnen im Westen, etwa fünf Meilen entfernt, parkten zwei Wagen Motorhaube an Motorhaube. Alles sah genauso aus, wie Larry es erwartet hatte.
»Unfall?« fragte Glen.
Ralph hielt die Hände über die Augen. »Das glaube ich nicht. Dann würden sie anders stehen.«
»Es sind seine Leute«, sagte Larry.
»Ja, das glaube ich auch«, sagte Ralph. »Was sollen wir jetzt tun, Larry?«
Larry nahm sein großes Taschentuch aus der Gesäßtasche und wischte sich damit das Gesicht. Entweder war heute wieder Sommer, oder sie spürten bereits die Hitze der Wüste, die im Südwesten lag. Es mochten knapp dreißig Grad sein.
Aber es ist eine trockene Hitze, dachte er. Ich schwitze nur ein wenig. Nur ganz wenig. Er steckte das Taschentuch wieder ein. Jetzt, wo es endlich soweit war, fühlte er sich gut. Wieder überkam ihn das seltsame Gefühl, daß es sich hier um einen Auftritt handelte, eine Show, die über die Bühne gehen mußte.
»Wir gehen hinunter«, sagte Larry. »Dann werden wir feststellen, ob Gott wirklich auf unserer Seite steht. Okay, Glen?«
»Du bist der Boß.«
Sie gingen weiter. Nach einer halben Stunde waren sie so nahe herangekommen, um erkennen zu können, daß diese Wagen früher der Utah State Police gehört hatten. Mehrere bewaffnete Männer warteten auf sie.
»Ob sie uns erschießen?« fragte Ralph im Plauderton.
»Das weiß ich nicht«, sagte Larry.
»Ein paar von ihren Gewehren haben Zielfernrohre. Die Sonne spiegelt sich in den Linsen. Wenn sie uns abknallen wollen, könnte es ziemlich bald passieren. Wir sind fast in Schußweite.«
Sie setzten ihren Weg fort. Die Männer an der Straßensperre teilten sich in zwei Gruppen auf. Fünf Männer standen vorn und richteten ihre Gewehre auf die drei Leute, die sich ihnen näherten, drei weitere knieten hinter dem Wagen.
»Sind es acht, Larry?«
»Ich zähle auch acht«, sagte Larry. »Wie fühlst du dich?«
»Okay«, sagte Glen.
»Und du, Ralph?«
»Solange wir nur wissen, was wir zu tun haben, wenn's soweit ist«, antwortete Ralph. »Das ist mein einziger Wunsch.«
Larry nahm seine Hand und drückte sie. Dann tat er bei Glen das gleiche.
Sie waren jetzt bis auf weniger als eine Meile herangekommen. »Sie werden uns nicht gleich erschießen«, sagte Ralph. »Sonst hätten sie es längst getan.«
Jetzt waren schon die Gesichter zu erkennen, und Larry schaute interessiert hinüber. Einer trug einen dichten Bart. Ein anderer war noch jung, aber schon fast kahl - schlimm für ihn, dachte Larry. Die Haare müssen ihm schon während der Schulzeit ausgefallen sein. Ein anderer trug ein knallgelbes T-Shirt mit einem grinsenden Kamel darauf, unter dem in altmodischen verschnörkelten Buchstaben das Wort SUPERHUMP - Superbuckel - stand. Wieder einer sah wie ein Buchhalter aus. Er fummelte mit einer 357er Magnum herum und wirkte dreimal so nervös, wie Larry sich jetzt fühlte; genau der Mann, der sich selbst in die Füße schießen würde, wenn er sich nicht endlich beruhigte.
»Sie sehen nicht anders aus als unsere Leute«, sagte Ralph.
»Doch«, antwortete Glen. »Sie tragen alle Gewehre.«
Sie näherten sich dem Wagen bis auf etwa sechs Meter. Larry blieb stehen, und auch die anderen hielten an. Ein Augenblick tödlicher Stille entstand, als Flaggs Männer und Larry und seine Leute sich gegenseitig musterten.
»Hallo«, sagte Larry nach einer Weile freundlich.
Der Kleine, der wie ein Buchhalter aussah, trat vor. Er spielte immer noch mit seiner Magnum. »Seid ihr Glendon Bateman, Lawson Underwood, Stuart Redman und Ralph Brentner?«
»Sag mal, du Trottel«, sagte Ralph, »kannst du nicht zählen?«
Jemand kicherte. Der Buchhaltertyp lief rot an. »Wer fehlt?«
»Stu hatte unterwegs einen Unfall«, sagte Larry. »Und du wirst auch bald einen haben, wenn du nicht aufhörst, mit der Kanone zu spielen.«
Wieder lachten ein paar Leute. Der Buchhalter schaffte es, die Waffe im Gürtel seiner grauen Hose unterzubringen, und er sah jetzt noch lächerlicher aus als vorher. Eine Witzfigur.
»Ich heiße Paul Burlson«, sagte er, »und kraft der mir verliehenen Autorität verhafte ich Sie und fordere Sie auf mitzukommen.«
»In wessen Namen?« fragte Glen sofort.
Burlson sah ihn verächtlich an... aber in seine Verachtung mischte sich noch etwas anderes. »Sie wissen, für wen ich spreche.«
»Dann sag es doch.«
Aber Burlson schwieg.
»Hast du Angst?« fragte Glen ihn. Er betrachtete die acht Männer.
»Hast du solche Angst, daß du nicht einmal seinen Namen auszusprechen wagst? Gut, dann tue ich es für dich. Sein Name ist Randall Flagg, auch bekannt als der dunkle Mann oder der große Mann oder der Wandelnde Geck. Nennen einige von euch ihn nicht so?« Er sprach hell und klar, und seiner Stimme war anzumerken, wie wütend er war. Einige der Männer sahen sich unbehaglich an, und Burlson trat erschrocken einen Schritt zurück. »Nennt ihn Beelzebub, denn auch das ist sein Name. Nennt ihn Nyarlahotep und Ahaz und Astaroth. Nennt ihn R'yelah und Seti und Anubis. Sein Name ist Legion, und er ist ein Abtrünniger der Hölle, und ihr Männer küßt ihm den Arsch.« Er sprach jetzt wieder im Plauderton und lächelte entwaffnend. »Ich finde, das sollte einmal gesagt werden.«
»Packt sie«, sagte Burlson. »Packt sie alle und erschießt den ersten, der sich bewegt.«
Es war seltsam. Ein paar Sekunden lang rührte niemand auch nur eine Hand, und Larry dachte: Sie werden es nicht tun, sie haben vor uns genausoviel Angst wie wir vor ihnen, noch mehr, obwohl sie bewaffnet sind...
Er sah Burlson an und sagte: »Was soll der Unsinn, du Schleimscheißer? Wir wollen ja gehen. Deshalb sind wir gekommen.«
Dann setzten die Männer sich in Bewegung, als hätte Larry den Befehl dazu erteilt. Larry und Ralph wurden auf den Rücksitz eines der Wagen gedrängt, Glen auf den Rücksitz des anderen. Sie saßen hinter einem Gitter aus Stacheldraht, und die Türen hatten innen keine Griffe.
Wir sind verhaftet, dachte Larry. Er stellte fest, daß der Gedanke ihn amüsierte.
Vier Männer zwängten sich auf den Vordersitz. Der Wagen setzte zurück, wendete und fuhr in Richtung Westen. Ralph seufzte.
»Angst?« fragte Larry ganz leise.
»Keine Ahnung. Erst mal bin ich froh, daß ich nicht mehr laufen muß.«
Einer der Männer vor ihnen sagte: »Der alte Mann mit dem großen Maul. Ist er euer Boß?«
»Nein, das bin ich.«
»Wie heißen Sie?«
»Larry Underwood. Dies ist Ralph Brentner. Der andere heißt Glen Bateman.« Er schaute durch die Heckscheibe. Der zweite Wagen war hinter ihnen.
»Was ist mit dem vierten Kerl passiert?«
»Er hat sich das Bein gebrochen. Wir mußten ihn zurücklassen.«
»Verdammtes Pech. Ich heiße Barry Dorgan. Sicherheitspolizei Vegas.«
Larry hätte fast freut mich, Sie kennenzulernen gesagt, und er mußte lächeln. »Wie lange fährt man bis Vegas?«
»Wir können wegen der vielen liegengebliebenen Fahrzeuge nicht allzu schnell fahren. Wir räumen die Straßen von der Stadt her, aber es geht sehr langsam. Wir werden in ungefähr fünf Stunden dort sein.«
»Ist das nichts?« sagte Ralph und schüttelte den Kopf. »Wir sind schon drei Wochen unterwegs, und in einem Wagen sind wir in fünf Stunden da.«
Dorgan drehte sich um, bis er sie anschauen konnte. »Ich begreife nicht, warum Sie zu Fuß gekommen sind. Ich begreife nicht, warum Sie überhaupt gekommen sind. Ich begreife nicht, daß es so enden würde.«
»Man hat uns ausgesandt«, sagte Larry. »Um Flagg zu töten, glaube ich.«
»Dazu wird sich kaum eine Gelegenheit bieten. Sie und Ihre Freunde werden in Vegas sofort ins Stadtgefängnis gebracht. Machen Sie sich keine Hoffnungen. Er ist an Ihnen besonders interessiert, und er wußte, daß Sie kommen.« Er schwieg ein paar Sekunden. »Sie können nur hoffen, daß es schnell erledigt ist«, fuhr er fort. »Aber das glaube ich nicht. Er hatte in letzter Zeit keine besonders gute Laune.«
»Warum nicht?« fragte Larry.
Aber Dorgan schien zu glauben, daß er genug gesagt hatte - vielleicht sogar zuviel. Ohne zu antworten, drehte er sich wieder nach vorn, und Larry und Ralph sahen die Wüste vorbeifliegen. Nach nur drei Wochen war Geschwindigkeit für sie wieder etwas völlig Neues.
Sie erreichten Las Vegas erst nach sechs Stunden. Wie ein märchenhaftes Schmuckstück lag es mitten in der Wüste. Sie sahen viele Leute auf den Straßen. Der Arbeitstag war vorbei, und die Menschen auf den Rasenflächen und Bänken und an den Bushaltestellen genossen die kühle Abendluft. Einige saßen auf den Eingangsstufen einer nun ausgedienten Hochzeitskirche oder einer ebenso überflüssigen Pfandleihe. Sie reckten neugierig die Hälse, als sie die beiden Wagen der Utah State Patrol sahen, und setzten dann ihre Unterhaltungen fort.
Larry blickte sich nachdenklich um. Die Stromversorgung funktionierte, die Straßen waren sauber, und die Spuren der Plünderungen waren beseitigt. »Glen hatte recht«, sagte er. »Beim ihm fahren die Züge pünktlich. Aber ich frage mich, ob man auf diese Weise eine Eisenbahn betreiben kann. Ihr seht alle so aus, als hättet ihr die große Platter, Dorgan.«
Dorgan antwortete nicht.
Sie hatten inzwischen das Stadtgefängnis erreicht und fuhren hinter das Gebäude. Die beiden Polizeifahrzeuge parkten auf dem Betonboden des Hofs. Als Larry ausstieg, hatten sich seine Muskeln so verhärtet, daß er zusammenzuckte. Er sah, daß Dorgan zwei Paar Handschellen mit sich trug.
»He, jetzt langt's aber«, sagte er. »Echt.«
»Tut mir leid. Seine Befehle.«
»Ich habe noch nie Handschellen getragen«, sagte Ralph wütend.
»Vor meiner Ehe hat man mich ein paarmal in die Ausnüchterungszelle gesteckt, aber in Handschellen hat man mich noch nie abgeführt.« Ralph sprach ganz langsam. Sein OklahomaAkzent fiel dadurch besonders auf.
»Ich habe meine Befehle«, sagte Dorgan. »Machen Sie es doch nicht schlimmer, als es sein muß.«
»Deine Befehle«, sagte Ralph. »Ich weiß, wer dir Befehle erteilt. Er hat meinen Freund Nick ermordet. Warum tust du dich mit diesem Höllenhund zusammen? Du scheinst gar kein so übler Kerl zu sein, hab' ich den Eindruck.« Er blickte Dorgan so böse und eindringlich an, daß dieser den Kopf schüttelte und wegschaute.
»Dies ist mein Job«, sagte er, »und den werde ich erledigen. Ende der Diskussion. Streckt die Hände aus, oder wir müssen Gewalt anwenden.«
Larry streckte die Arme aus, und Dorgan legte ihm die Handschellen an. »Was hast du früher gemacht?« fragte Larry neugierig.
»Ich war bei der Polizei in Santa Monica. Kriminalpolizei.«
» Und doch hältst du zu ihm. Das ist... entschuldige, wenn ich es sage, aber das ist wirklich komisch.«
Sie stießen Glen Bateman vorwärts, um ihn zu den anderen zu bringen.
»Was schubst ihr ihn herum?« fragte Dorgan wütend.
»Hättest du dir sechs Stunden lang seinen Scheißdreck anhören müssen, würdest du dasselbe tun«, sagte einer der Männer.
»Ist mir egal, wieviel Scheißdreck ihr euch anhören mußtet. Laßt die Hände von dem Mann.« Dorgan blickte Larry an. »Warum ist es so komisch, daß ich zu ihm halte? Vor Captain Trips war ich zehn Jahre bei der Polizei. Ich habe gesehen, was passiert, wenn Leute wie ihr das Sagen haben.«
»Junger Mann«, sagte Glen freundlich, »Ihre Erfahrungen mit ein paar zusammengeschlagenen Kindern und ein paar Drogenabhängigen rechtfertigen es noch längst nicht, daß Sie sich mit einem Ungeheuer verbünden.«
»Schafft sie weg«, sagte Dorgan betont gleichgültig. »Einzelzellen.
Jeder in einen anderen Trakt.«
»Ich fürchte, Sie werden mit der Wahl, die Sie getroffen haben, nicht leben können, junger Mann«, sagte Glen. »Sie scheinen zu wenig von einem Nazi an sich zu haben.«
Diesmal stieß Dorgan persönlich Bateman vorwärts.
Larry wurde von seinen Freunden getrennt und einen leeren Korridor entlanggeführt, an dessen Wänden Schilder hingen wie NICHT AUF DEN BODEN SPUCKEN und ZU DEN DUSCHRÄUMEN & ZUR ENTLAUSUNG, und eines fiel ihm besonders auf: BETRACHTEN SIE SICH NICHT ALS UNSEREN GAST.
»Gegen eine Dusche hätte ich nichts einzuwenden«, sagte er.
»Vielleicht«, sagte Dorgan. »Wir werden sehen.«
»Was sehen?«
»Wie vernünftig Sie sich verhalten.«
Dorgan schloß am Ende des Korridors eine Zelle auf und ließ Larry eintreten.
»Was ist mit den Armbändern?« fragte Larry und hielt ihm die Hände hin.
»Natürlich.« Dorgan nahm ihm die Handschellen ab. »Besser so?«
»Sehr viel besser.«
»Wollen Sie noch immer duschen?«
»Und ob.« Schlimmer noch, Larry wollte nicht allein gelassen werden; wenn er allein war, würde die Angst zurückkommen. Dorgan holte ein kleines Notizbuch aus der Tasche. »Wie viele seid ihr? In der Freien Zone?«
»Sechstausend«, sagte Larry. »Und jeden Donnerstagabend spielen wir Bingo. Der erste Preis ist ein Puter von zwanzig Pfund.«
»Wollen Sie nun duschen oder nicht?«
»Natürlich will ich duschen«, sagte Larry, aber er glaubte nicht mehr daran, daß Dorgan es ihm gestatten würde.
»Wie viele von euch sind da drüben?«
»Fünfundzwanzigtausend, aber viertausend davon sind unter zwölf und dürfen umsonst ins Drive-in. Wirtschaftlich gesehen ist das natürlich ein Reinfall.«
Mit einer energischen Handbewegung klappte Dorgan sein Notizbuch zu und sah Larry an.
»Ich kann nichts sagen, Mann«, sagte Larry. »Versetz dich doch mal in meine Lage.«
Dorgan schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Ich bin doch nicht bescheuert. Warum seid ihr Jungs bloß hergekommen? Was habt ihr davon? In ein oder zwei Tagen wird er dafür sorgen, daß ihr so tot seid wie Hundescheiße. Und wenn er will, daß ihr redet, dann werdet ihr reden. Wenn er verlangt, daß ihr Step tanzt und euch dabei einen runterholt, dann werdet ihr auch das tun. Ihr müßt verrückt sein.«
»Eine alte Frau hat uns hergeschickt. Mutter Abagail. Wahrscheinlich hast du von ihr geträumt.«
Wieder schüttelte Dorgan den Kopf, aber er blickte Larry nicht an.
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
»Dann soll es auch dabei bleiben.«
»Bist du sicher, daß du mir nichts erzählen willst? Du möchtest doch duschen?«
Larry lachte. »So billig arbeite ich nicht. Schickt eure Spione zu uns rüber. Das heißt, wenn ihr einen finden könnt, der nicht wie ein Wiesel aussieht, wenn jemand Mutter Abagails Namen nennt.«
»Wie du willst«, sagte Dorgan. Er ging unter den mit Draht umhüllten Lampen durch den Korridor zurück, an dessen Ende er durch ein Stahlgittertor trat, das mit einem hohlen Krachen hinter ihm zufuhr. Larry schaute sich um. Wie Ralph war auch er ein paarmal im Knast gewesen. Einmal wegen Volltrunkenheit und einmal, weil er ein paar Gramm Marihuana bei sich hatte. Goldene Jugendzeit.
»Das Ritz ist es nicht gerade«, murmelte er.
Die Matratze auf der Pritsche roch ausgesprochen muffig, und er fragte sich mit makabrem Humor, ob erst Ende Juni oder schon Anfang Juli jemand auf dieser Matratze gestorben war. Die Toilette funktionierte, aber als er das erste Mal die Spülung zog, kam rostiges Wasser heraus. Jemand hatte einen Wildwestroman in der Zelle liegenlassen, ein Taschenbuch. Larry nahm das Buch auf und ließ es wieder fallen. Er setzte sich auf die Pritsche und lauschte in die Stille. Allein zu sein hatte er immer gehaßt - aber eigentlich war er es immer gewesen... bis er in der Freien Zone angekommen war. Und jetzt war es gar nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Schlimm genug, aber er konnte damit fertig werden.
In ein oder zwei Tagen wird er dafür sorgen, daß ihr so tot seid wie Hundescheiße.
Nur: Larry glaubte das nicht. So würde es sich ganz einfach nicht abspielen.
»Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen«, sagte er in die tote Stille des Zellentrakts hinein, und er fand, daß es sich gut anhörte. Er sagte es noch einmal.
Er legte sich auf die Pritsche, und dabei kam ihm der Gedanke, dass er fast schon wieder an der Westküste war. Aber die Reise hatte länger gedauert und sie war seltsamer gewesen, als man es sich je hätte vorstellen können. Und die Reise war noch nicht ganz zu Ende.
»Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen«, sagte er wieder. Dann schlief er ein. Sein Gesicht war ganz ruhig, und kein Traum störte seinen friedlichen Schlaf.
Am nächsten Morgen um zehn Uhr, vierundzwanzig Stunden nachdem sie die Straßensperre von weitem gesehen hatten, suchten Randall Flagg und Lloyd Henreid Glen Bateman auf.
Glen saß mit gekreuzten Beinen auf dem Boden seiner Zelle. Er hatte unter seiner Pritsche ein Stück Holzkohle gefunden und hatte zwischen den in die Wand geritzten männlichen und weiblichen Genitalien, Namen, Telefonnummern und kleinen obszönen Gedichten eine eigene Inschrift hinzugefügt: Ich bin nicht der Töpfer und auch nicht die Töpferscheibe, ich bin des Töpfers Ton; hängt nicht der Wert der endlich erlangten Gestalt ab vom inneren Wert des Tons, der Töpferscheibe und der Kunst des Meisters? Glen bewunderte sein Sprichwort - oder war es ein Aphorismus? -, als die Temperatur in dem verlassenen Zellenblock plötzlich um zehn Grad zu sinken schien. Das Gitter am Ende des Korridors schob sich rasselnd auf. Glen hatte plötzlich keinen Speichel mehr im Mund. Das Stück Holzkohle zerbrach zwischen seinen Fingern.
Schritte kamen den Gang herauf. Andere Schritte, kleiner und unbedeutender, setzten den Kontrapunkt und mühten sich, nicht zurückzubleiben.
Das ist er. Ich werde sein Gesicht sehen.
Plötzlich wurde seine Arthritis schlimmer. Entsetzlich, genauer gesagt. Als wären seine Knochen plötzlich ausgehöhlt und mit gemahlenem Glas gefüllt worden. Und doch drehte er sich mit einem interessierten, erwartungsvollen Lächeln um, als die Schritte vor seiner Zellentür verstummten.
»Da sind Sie ja«, sagte Glen. »Sie sind ja überhaupt nicht das Schreckgespenst, für das wir Sie immer gehalten haben.«
Jenseits der Gitterstäbe standen zwei Männer. Flagg stand von Glen aus gesehen rechts. Er trug Bluejeans und ein weißes Seidenhemd, das unter der trüben Beleuchtung gelblich schimmerte. Er grinste Glen an. Neben ihm stand ein kleinerer Mann, der überhaupt nicht lächelte. Er hatte ein etwas zu kurzes Kinn, und seine Augen waren zu groß für sein Gesicht. Sein Teint war von der Sorte, zu der das Wüstenklima nie freundlich ist: Die Sonne hatte ihm das Gesicht verbrannt, die Haut hatte sich abgeschält, und dann war der nächste Sonnenbrand gekommen. Um den Hals trug er an einer Kette einen schwarzen Stein mit einem roten Fleck. Der Stein hatte ein fettiges, harziges Aussehen.
»Ich möchte Sie gern mit meinem Partner bekannt machen«, sagte Flagg und kicherte. »Lloyd Henreid, darf ich dich mit Glen Bateman bekannt machen, Soziologe, Mitglied des Komitees der Freien Zone und seit Nick Andros' Tod einziges existierendes Mitglied der Gedankenfabrik der Freien Zone.«
»Freut mich«, murmelte Lloyd.
»Was macht Ihre Arthritis, Glen?« fragte Flagg. Das klang mitfühlend, aber in seinen Augen lag heiterer Spott und geheimes Wissen.
Immer wieder ballte Glen die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder.
Niemand würde je ermessen können, wie schwer ihm sein freundliches Lächeln fiel.
Der innere Wert des Tons.
»Gut«, sagte Glen. »Seit ich wieder in einem abgeschlossenen Raum schlafe, ist es viel besser geworden, vielen Dank.«
Flagg lächelte nicht mehr ganz so breit. Glen registrierte bei ihm Überraschung und Wut. Aus Angst geboren?
»Ich habe beschlossen, Sie gehen zu lassen«, sagte Flagg schnell. Wieder lächelte er, strahlend und wie ein Fuchs. Lloyd hielt vor Staunen den Atem an, und Flagg wandte sich ihm zu. »Stimmt's, Lloyd?«
»Äh... natürlich«, sagte Lloyd. »Und ob.«
»Das ist ja sehr schön«, sagte Glen leichthin. Er spürte, wie die Arthritis ihm immer tiefer in die Gelenke fuhr. Sie wurden kalt wie Eis und loderten wie Feuer.
»Man wird Ihnen ein kleines Motorrad zur Verfügung stellen, und Sie können, wann immer Sie wollen, wieder nach Hause fahren.«
»Ich kann natürlich nicht ohne meine Freunde fahren.«
»Natürlich nicht. Sie brauchen mich nur darum zu bitten. Fallen Sie vor mir auf die Knie, und bitten Sie mich darum.«
Glen mußte herzlich lachen. Er warf den Kopf zurück und lachte lange und laut. Und während er lachte, nahmen die Schmerzen in seinen Gelenken immer mehr ab. Er fühlte sich besser, stärker, hatte sich wieder unter Kontrolle.
»Sie sind vielleicht ein Typ«, sagte er. »Ich will Ihnen sagen, was Sie tun können. Suchen Sie sich einen riesigen Sandhaufen und besorgen Sie sich einen großen Hammer. Und dann hämmern Sie sich den ganzen Sand in den Arsch.«
Flaggs Gesicht wurde dunkel. Das Lächeln war verschwunden. Seine Augen, die vorher so dunkel waren wie der Stein, den Lloyd um den Hals trug, schienen jetzt gelb zu glitzern. Er griff mit der Hand an die Verriegelung der Zellentür und umklammerte sie mit den Fingern. Ein elektrisches Summen war zu hören, und zwischen seinen Fingern flackerten Flammen auf. Die Luft roch heiß und verbrannt. Qualmend und schwarz fiel das Schloß zu Boden. Lloyd Henreid stieß einen Schrei aus. Der dunkle Mann griff an die Gitterstäbe und ließ die Tür zurückgleiten.
»Hören Sie auf zu lachen.«
Glen lachte noch lauter.
»Hören Sie auf, mich auszulachen!«
»Sie sind ein Nichts!« sagte Glen und wischte sich die tränenden Augen. Er kicherte immer noch. »Oh, entschuldigen Sie bitte... wir hatten alle solche Angst.. .wir haben Sie für wer weiß wie wichtig gehalten... ich lache genauso sehr über unsere Dummheit wie über Ihren bedauernswerten Mangel an Substanz...«
Flagg wandte sich an seinen Begleiter. »Erschieß ihn, Lloyd.« Sein Gesicht hatte sich grauenhaft verzerrt. Seine Hände hatten sich zu Raubtierklauen gekrümmt.
»Bringen Sie mich doch selbst um, wenn Sie mich schon umbringen wollen«, sagte Glen. »Dazu sind Sie doch gewiß in der Lage. Berühren Sie mich mit dem Finger und halten Sie mein Herz an. Machen Sie das Zeichen des umgekehrten Kreuzes, und verpassen Sie mir eine kräftige Gehirnembolie. Holen Sie Blitze aus dem Himmel, die mich in zwei Teile spalten. Oh... o nein... o nein!«
Brüllend vor Lachen sank Glen auf seine Pritsche.
»Erschieß ihn!« donnerte der dunkle Mann.
Lloyd war blaß und zitterte vor Angst. Er nestelte die Pistole aus seinem Gürtel, und fast wäre sie ihm aus der Hand geglitten. Dann versuchte er, die Waffe auf Glen zu richten. Er mußte sie mit beiden Händen festhalten.
Glen sah Lloyd an und lächelte immer noch. Er hätte genausogut auf einer Cocktail-Party der Fakultät zu Hause in Woodsville, New Hampshire, sein können, wo er sich gerade von einem guten Witz erholte und sich anschickte, wieder ein wenig ernst zu werden.
»Wenn Sie unbedingt jemanden erschießen müssen, Mr. Henreid, dann erschießen Sie ihn.«
»Los, Lloyd.«
Lloyd drückte blindlings ab. In dem geschlossenen Raum hallte das Echo des Schusses besonders laut. Wütend hallte es immer wieder nach. Aber das Geschoß riß zwei Zoll neben Glen nur Betonsplitter aus der Wand, prallte ab, traf etwas anderes und zischte jaulend durch die Luft.
»Kannst du denn gar nichts richtig machen?« brüllte Flagg.
»Erschieß ihn, du Schwachkopf! Er steht doch direkt vor dir!«
»Ich versuch' es ja...«
Glen lächelte immer noch und war bei dem Schuß kaum zusammengezuckt. »Ich wiederhole, wenn du jemanden erschießen mußt, dann erschieß ihn. Er ist in Wirklichkeit gar kein Mensch. Ich habe ihn einem Freund gegenüber mal als letzten Magier des rationalen Denkens geschildert, Mr. Henreid. Das trifft besser auf ihn zu, als ich damals dachte. Aber seine Magie verläßt ihn. Die Dinge gleiten ihm aus der Hand, und er weiß es. Auch du weißt es. Wenn du ihn jetzt erschießt, würdest du uns allen Gott weiß wieviel Blutvergießen und Tod ersparen.«
Flaggs Gesicht zeigte keine Regung mehr. »Erschieß auf jeden Fall einen von uns, Lloyd«, sagte er. »Ich habe dich aus der Zelle geholt, als du schon fast verhungert warst. An Leuten wie ihm wolltest du dich doch rächen. An kleinen Leuten mit großen Klappen.«
»Mister, mich können Sie nicht zum Narren halten«, sagte Lloyd zu Glen. »Es ist so, wie Randy Flagg sagt.«
»Aber er lügt. Du weißt doch, daß er lügt.«
»Er hat mir mehr Wahrheit beigebracht, als es alle anderen in meinem lausigen Leben je versucht haben«, sagte Lloyd und schoss dreimal auf Glen.
Glen wurde herumgerissen und zurückgeschleudert wie eine Puppe. Blut spritzte durch die Luft. Er sank auf die Pritsche und rollte auf den Fußboden. Es gelang ihm noch, sich auf einem Ellenbogen aufzurichten.
»Schon gut, Mr. Henreid«, flüsterte er. »Sie wissen es nicht besser.«
»Halt's Maul, du blöder alter Schwätzer!« brüllte Lloyd. Er feuerte noch einmal, und Glen Batemans Gesicht verschwand. Wieder feuerte er, und Glens Körper zuckte. Ohne Leben. Aber Lloyd drückte noch einmal ab. Er weinte. Tränen rollten über sein wütendes, von der Sonne verbranntes Gesicht. Er dachte an das Kaninchen, das er vergessen und das seine eigenen Pfoten gefressen hatte. Er dachte an Poke und die Leute im weißen Connie. Er dachte an den schönen George. Er erinnerte sich an den Knast in Phoenix und daran, daß er die Füllung seiner Matratze nicht hatte essen können. Er dachte an die Ratte und Trask und Trasks Bein, das zuletzt wie ein Brathähnchen ausgesehen hatte. Wieder drückte er ab, aber die Pistole gab nur ein leeres Klicken von sich.
»Okay«, sagte Flagg leise. »Okay. Gut gemacht. Gut gemacht, Lloyd.«
Lloyd ließ die Pistole auf den Fußboden fallen und sprang ein Stück zurück. »Fassen Sie mich nicht an!« rief er. »Ich habe es nicht für Sie getan!«
»Doch, hast du«, sagte Flagg sanft. »Du glaubst es vielleicht nicht, aber du hast es für mich getan.« Er streckte die Hand aus und ergriff den schwarzen Stein, den Lloyd um den Hals hängen hatte. Er nahm ihn in die Hand, und als er die Hand wieder öffnete, war der Stein verschwunden, und statt dessen hing an der Kette ein kleiner silberner Schlüssel.
»Ich glaube, ich hatte dir das hier versprochen«, sagte der dunkle Mann. »In einem anderen Gefängnis. Er hat unrecht... ich halte meine Versprechungen, nicht wahr, Lloyd?«
»Ja.«
»Die anderen gehen fort. Oder sie haben die Absicht fortzugehen. Ich weiß, wer sie sind. Ich kenne alle Namen. Whitney... Ken... Jenny, o ja, ich kenne alle Namen.«
»Aber warum tun Sie denn...«
»Warum ich nichts dagegen unternehme? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es besser, sie gehen zu lassen. Aber du, Lloyd. Du bist mein guter und getreuer Diener, nicht wahr?«
»Ja«, flüsterte Lloyd. Das endgültige Eingeständnis. »Ja, das bin ich wohl.«
»Ohne mich hättest du höchstens lächerliche Kleinigkeiten geschafft. Selbst wenn du das Gefängnis überlebt hättest. Stimmt's?«
»Ja.«
»Der junge Lauder wußte das. Er wußte, daß ich ihn größer machen konnte. Stärker. Deshalb wollte er zu mir kommen. Aber er hat sich zu viele Gedanken... er hat sich zu viele...« Er sah plötzlich wirr und alt aus. Dann machte er eine ungeduldige Handbewegung, und sein Gesicht war wieder ein einziges Lächeln. »Vielleicht geht es wirklich schief, Lloyd. Vielleicht. Ich kenne die Gründe nicht. Aber der alte Magier kann immer noch mit ein paar Tricks aufwarten, Lloyd. Und jetzt hör zu. Wir haben nicht mehr viel Zeit, wenn wir diese... diese Vertrauenskrise stoppen und im Keim ersticken wollen. Morgen werden Underwood und Brentner erledigt. Jetzt hör mir genau zu...«
Lloyd ging nach Mitternacht ins Bett und schlief erst gegen Morgen ein. Er hatte mit dem Rattenmann gesprochen. Er hatte mit Paul Burlson gesprochen. Mit Barry Dorgan, der ebenfalls der Meinung war, daß der Befehl des dunklen Mannes schon vor Morgengrauen ausgeführt sein könnte und wohl auch sollte. Am neunundzwanzigsten September gegen zehn Uhr abends begannen auf dem Rasen vor dem MGM Grand Hotel die entsprechenden Vorbereitungen. Ein Arbeitstrupp von zehn Männern brachte Schweißgeräte und Hämmer und Bolzen und einen ausreichenden Vorrat an langen Stahlrohren. Vor dem Brunnen des MGM Grand setzten sie die Rohre auf den Ladeflächen zweier Lastwagen zusammen. Die Schweißarbeiten zogen bald eine Menge Neugieriger an.
»Guck mal, Angie-Mom«, rief Dinny. »Ein Feuerwerk.«
»Ja, aber alle braven kleinen Jungs müssen jetzt ins Bett.« Angie Hirschfield zog den Jungen mit sich fort. In ihrem Herzen hatte sich Angst eingenistet. Sie spürte, daß hier etwas Schlimmes stattfinden sollte, vielleicht etwas genauso Schlimmes wie die Supergrippe.
»Will aber nicht! Will die Funken sehen!« jammerte Dinny, aber rasch und energisch zog sie ihn mit sich.
Julie Lawry sprach mit dem Rattenmann. Er war der einzige Bursche in Las Vegas, der ihr zu unheimlich war, als daß sie mit ihm ins Bett gegangen wäre... außer vielleicht im Notfall. Seine schwarze Haut glänzte im blauweißen Licht der Schweißgeräte. Er hatte sich ausstaffiert wie ein äthiopischer Pirat - weiße Seidenhose, eine rote Schärpe und ein Halsband aus Silberdollars um den dürren Hals.
»Was ist das, Ratty?«
»Der Rattenmann weiß es nicht, mein Schatz, aber der Rattenmann kann es sich denken. Ja, das kann er. Das wird schwarze Arbeit morgen, sehr schwarz. Willst du nicht mal schnell mit Ratty ins Gebüsch, mein Schatz?«
»Ja, aber nur, wenn du mir sagst, was das hier soll.«
»Morgen weiß es ganz Las Vegas«, sagte Ratty. »Darauf kannst du deinen süßen kleinen Hintern wetten. Komm mit dem Rattenmann, mein Schatz, und er zeigt dir die neuntausend Namen Gottes.«
Aber zum großen Mißvergnügen des Rattenmannes war Julie inzwischen verschwunden.
Als Lloyd endlich einschlief, war die Arbeit getan, und die Menge hatte sich zerstreut. Auf den Ladeflächen der Lastwagen standen zwei große Käfige. Rechts und links hatten die beiden Käfige je zwei quadratische Löcher. In der Nähe standen vier Autos mit Anhängerkupplungen. An jeder Kupplung war eine Kette befestigt, die sich über den Rasen schlängelte und in einem der quadratischen Löcher an den Käfigen endete. Am Ende jeder Kette hing eine einzelne Handschelle.
Als am 30. September der Morgen dämmerte, hörte Larry das Tor am anderen Ende des Zellentrakts zurückgleiten. Rasch näherten sich Schritte. Larry lag auf seiner Pritsche, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Er hatte in der vergangenen Nacht nicht geschlafen. Er hatte
(nachgedacht? gebetet?)
Es war gleichgültig. Was immer er getan hatte, die alte Wunde in ihm hatte sich geschlossen und störte seinen Frieden nicht mehr. Er hatte gespürt, daß die beiden Menschen, die er sein Leben lang gewesen war - die wirkliche Person und die Idealgestalt - sich zu einem einzigen Menschen verbunden hatten. Dieser Larry hätte seiner Mutter gefallen. Und Rita Blakemoor. Es war ein Larry, dem Wayne Stukey nie hätte erzählen müssen, was Sache ist. Es war ein Larry, den selbst jene längst vergessene Oralhygienikerin gemocht hätte.
Ich werde sterben. Wenn es einen Gott gibt - und inzwischen glaube ich, daß es ihn geben muß -, dann ist es sein Wille. Wir werden alle sterben, und irgendwie wird unser Tod all dem hier ein Ende machen.
Er hatte den Verdacht, daß Glen Bateman schon gestorben war. Am Tag zuvor war im anderen Flügel geschossen worden. Sehr viel geschossen. Es war wohl aus dem Trakt gekommen, in den sie Glen geführt hatten, und nicht aus Ralphs Trakt. Er erinnerte sich noch an die Richtung. Nun, Glen war schon alt gewesen, und die Arthritis hatte ihn geplagt, und was Flagg ihnen für heute morgen zugedacht hatte, konnte nur sehr unangenehm sein.
Die Schritte hatten seine Zelle erreicht.
»Steh auf, du Wunderkind«, rief eine fröhliche Stimme. »Der Rattenmann ist gekommen, um dir deinen blassen Arsch aufzureißen.«
Larry drehte sich um. Ein schwarzer Pirat mit einer Kette aus Silberdollars um den Hals stand vor seiner Zellentür, einen gezogenen Säbel in der Hand. Hinter ihm stand der bebrillte Buchhaltertyp. Er hieß Burlson.
»Was ist los?« fragte Larry.
»Lieber Mann«, sagte der Pirat. »Dies ist das Ende. Das endgültige Ende.«
»Also gut«, sagte Larry und stand auf.
Burlson sprach schnell, und Larry merkte, daß er Angst hatte. »Ich möchte Ihnen noch sagen, daß dies nicht meine Idee war.«
»Wie alles andere hier auch, soweit ich das sehen kann«, sagte Larry. »Wer wurde gestern getötet?«
»Bateman«, sagte Burlson und senkte den Blick. »Er wollte fliehen.«
»Versucht zu fliehen«, murmelte Larry. Er fing an zu lachen. Der Rattenmann lachte mit, lachte ihn aus. Sie lachten gemeinsam. Die Zellentür öffnete sich. Burlson trat mit Handschellen auf Larry zu, und Larry leistete keinen Widerstand. Er hielt nur die Hände hin. Burlson legte ihm die Stahlfesseln an.
»...versucht zu fliehen«, sagte Larry. »Eines Tages wirst du erschossen, wenn du versuchst zu fliehen, Burlson.« Sein Blick zuckte hinüber zum Piraten. »Du auch, Ratty. Ihr werdet einfach auf der Flucht erschossen.« Er fing wieder an zu lachen, aber diesmal lachte der Rattenmann nicht mit. Er blickte Larry düster an und hob den Säbel.
»Nimm das Ding runter, du Arschloch«, sagte Burlson. Sie verließen hintereinander die Zelle. Burlson zuerst, dann Larry, hinter ihm der Rattenmann. Als sie durch die Tür am Ende des Zellentrakts gingen, trafen sie auf fünf andere Männer. Einer von ihnen war Ralph, der ebenfalls Handschellen trug.
»He, Larry«, sagte Ralph trübselig. »Hast du schon gehört? Haben sie es dir gesagt?«
»Ja. Hab's gehört.«
»Diese Schweine. Dabei sind sie fast am Ende, stimmt's?«
»Ja. Stimmt.«
»Hört auf zu quasseln!« knurrte einer der Männer. »Ihr seid fast am Ende. Ihr werdet gleich sehen, was euch erwartet. O Mann, das wird vielleicht 'ne Party!«
»Nein, es ist vorbei«, sagte Ralph beharrlich. »Wißt ihr das nicht? Spürt ihr das nicht?«
Der Rattenmann stieß Ralph, so daß er stolperte. »Halt's Maul!« rief er. »Der Rattenmann will diesen beschissenen faulen Zauber nicht mehr hören.«
»Du bist schrecklich blaß, Ratty«, sagte Larry grinsend. »Schrecklich blaß. Jetzt bist du es, der aussieht wie ranziges Fleisch.«
Der Rattenmann fuchtelte wieder mit dem Säbel, aber diesmal war es keine Drohgebärde. Er sah aus, als ob er Angst hätte. Alle sahen so aus. Es lag etwas Seltsames in der Luft, ein Gefühl, daß sie alle im Schatten eines großen Ereignisses standen, das bald eintreten würde.
Ein olivgrüner Transporter mit der Aufschrift LAS VEGAS COUNTY JAIL an der Seite stand auf dem von der Sonne beschienenen Hof. Larry und Ralph wurden in den Wagen gestoßen. Die Türen wurden zugeschlagen, der Motor wurde angelassen, und die Fahrt ging los.
Sie saßen auf den harten Holzbänken, die mit Handschellen gefesselten Hände zwischen den Knien.
»Ich habe gehört, daß alle Einwohner von Las Vegas kommen werden«, sagte Ralph mit gesenkter Stimme. »Glaubst du, daß sie uns kreuzigen wollen, Larry?«
»Das oder etwas Ähnliches.« Er betrachtete den großen kräftigen Mann. Ralphs schweißgetränkter Hut saß ihm fest auf dem Kopf. Die Feder war zerfetzt und verblichen, aber sie ragte immer noch trotzig aus dem Hutband heraus.
»Hast du Angst, Ralph?«
»Fürchterliche Angst«, sagte Ralph. »Ich konnte noch nie Schmerzen aushalten. Ich hatte sogar Schiß, zum Arzt zu gehen, wenn ich eine Spritze bekommen sollte. Ich wünschte, mir fiele was ein, damit sie die Sache aufschieben. Und was ist mit dir?«
»Ich habe auch Angst. Setz dich doch neben mich.«
Ralph stand auf, und seine Handschellen klirrten. Er setzte sich neben Larry. Eine Weile saßen sie schweigend da. Dann sagte Ralph leise: »Wir haben uns ganz schön lange gemeinsam durchgeschlagen.«
»Das stimmt.«
»Ich möchte bloß wissen, wozu. Er will mit uns eine Show veranstalten. Damit jeder sieht, daß er immer noch der große Boss ist. Haben wir nur deshalb den weiten Weg gemacht?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie schwiegen wieder. Nur das Dröhnen des Motors unterbrach die Stille. Ohne zu sprechen, saßen sie auf der Bank und hielten sich bei den Händen. Larry hatte zwar Angst, aber das Gefühl, mit sich ins reine gekommen zu sein, blieb unerschütterlich.
»Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen«, murmelte er, aber er hatte Angst. Er schloß die Augen, dachte an Lucy. Er dac hte an seine Mutter. Flüchtige Gedanken. Wie er an manch kaltem Morgen aufgestanden war, um sich für die Schule fertig zu machen. Wie er sich mal in der Kirche übergeben hatte. Wie er im Rinnstein ein Pornoheft gefunden und sich gemeinsam mit Rudy die Bilder angesehen hatte; sie beide mußten damals etwa neun Jahre alt gewesen sein. Wie er im ersten Frühling, den er in L. A. verbrachte, mit Yvonne Wetterlin die Baseball-Meisterschaft angeschaut hatte. Er wollte nicht sterben, er hatte Angst zu sterben, aber er hatte seinen Frieden mit sich selbst gemacht, so gut er konnte. Sein Weg ging hier zu Ende, aber er hatte diesen Weg nicht bestimmt, und er war zu der Überzeugung gelangt, daß der Tod nichts weiter war als ein Raum hinter der Bühne, wo man auf einen neuen Auftritt wartet, ja, ein Ort des Wartens, an dem man sich aufhält, bis die Show weitergeht.
Er versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben, sich zu sammeln. Sich bereit zu machen.
Der Wagen hielt an, und die Türen wurden aufgerissen. Helles Sonnenlicht fiel herein, und er und Ralph blinzelten. Der Rattenmann und Burlson sprangen zu ihnen in den Wagen. Zusammen mit den Sonnenstrahlen drang ein leiseres, rauschendes Murmeln in das Wageninnere, und Ralph hob mißtrauisch den Kopf. Aber Larry kannte das Geräusch.
1981 hatten die Tattered Remnants ihren größten Auftritt gehabt - sie spielten im Vorprogramm vor dem Auftritt von Van Haien und Chavez Ravine. Und das Geräusch, das sie vor ihrem Auftritt hörten, war genau wie dieses. Als er jetzt aus dem Wagen sprang, wußte er genau, was er erwarten konnte, und er verzog keine Miene, obwohl er Ralphs leises Keuchen neben sich hörte.
Sie standen auf dem Rasen eines riesigen Hotel-Casinos. Der Eingang war von zwei goldenen Pyramiden flankiert. Auf dem Rasen standen zwei Lastwagen mit einer glatten Ladefläche. Auf jeder dieser Ladeflächen stand ein aus Stahlrohren errichteter Käfig. Um sie herum eine Menschenmenge.
Die Leute bildeten einen großen Kreis um die Lastwagen. Sie standen auf dem Parkplatz des Hotels und auf den Eingangsstufen oder an der Auffahrt, wo früher die Gäste geparkt hatten, während der Portier einen Hotelpagen herbeipfiff. Auch auf der Straße selbst standen Leute. Einige der jüngeren Männer hatten ihre Freundinnen auf die Schultern genommen, damit sie besser sehen konnten. Das Fest konnte beginnen. Die Menschenmenge war wie ein großes Tier, und das leise Gemurmel war der Laut dieses Tieres. Larry schaute sich unter der Menge um, aber wenn ihn ein Blick traf, sah der Betreffende rasch weg. Die Gesichter wirkten blaß, abweisend, vom Tod gezeichnet, und die Leute schienen es zu wissen. Dennoch waren sie hier.
Er und Ralph wurden zu den Käfigen geführt, und Larry sah die Ketten an den Anhängerkupplungen der Wagen. Aber Ralph erkannte als erster ihren Zweck. Schließlich hatte er den größten Teil seines Lebens mit und an Maschinen verbracht.
»Larry«, sagte er heiser. »Sie wollen uns in Stücke reißen!«
»Rein mit euch«, sagte der Rattenmann und blies ihm stinkenden Knoblauchatem ins Gesicht. »Du auch, Wunderknabe. Du und dein Kumpel, ihr macht jetzt 'ne Spazierfahrt.«
Larry stieg auf die Ladefläche.
»Gib mir dein Hemd, Wunderknabe.«
Larry zog sein Hemd aus und stand mit nacktem Oberkörper in der angenehm kühlen Morgenluft. Auch Ralph hatte sein Hemd schon ausgezogen. Das Gemurmel der Menge schwoll an und verstummte wieder. Während des langen Fußmarsches waren sie beide abgemagert, und ihre Rippen waren deutlich zu sehen.
»In den Käfig, Jammerlappen.«
Larry ging rückwärts in den Käfig.
Jetzt gab Barry Dorgan die Befehle. Er ging von einer Ecke zur anderen und überprüfte die Vorrichtungen. In seinem Gesicht spiegelten sich Ekel und Widerwillen.
Die vier Fahrer stiegen in die Wagen und starteten die Motoren. Ralph stand einen Augenblick wie abwesend da. Dann ergriff er eine der angeschmiedeten Handschellen, die in seinen Käfig hineinhingen, und warf sie durch das Loch nach draußen. Sie traf Paul Burlson am Kopf, und ein Raunen ging durch die Menge.
»Tu das lieber nicht noch mal. Ich schicke gleich ein paar Leute rauf, damit sie dich festhalten.«
»Sollen sie doch tun, was sie vorhaben«, sagte Larry zu Ralph. Er blickte zu Dorgan hinunter. »He, Barry. Haben sie dir das bei der Polizei in Santa Monica beigebracht?«
In der Menge wurde gelacht. »Dein Freund und Helfer!« rief ein besonders Mutiger. Dorgan wurde rot, sagte aber nichts. Er schob die Kette ein Stück weiter in Larrys Käfig hinein, und Larry spuckte darauf. Er war selbst erstaunt, daß er noch genug Speichel hatte. Von hinten waren aus der Menge leise Jubelrufe zu hören. Vielleicht kommt es jetzt, dachte Larry. Vielleicht versuchen sie einen Aufstand...
Aber in seinem Herzen glaubte er es nicht. Ihre Gesichter waren zu blaß, zu verschlossen. Die trotzigen Rufe von hinten waren ohne Bedeutung - übermütige junge Leute. Es gab Zweifel - das spürte er -, und es gab Unzufriedenheit. Aber auch das nahm Flagg in Kauf. Diese Leute würden sich mitten in der Nacht davonstehlen, um irgendwo in dem riesigen leeren Raum zu verschwinden, zu dem die Welt geworden war. Und der Wandelnde Geck würde sie ziehen lassen, denn er wußte, daß er nur einen harten Kern brauchte, Leute wie Dorgan und Burlson. Die Deserteure und die mitternächtlichen Davonschleicher konnte man später wieder einfangen, vielleicht, um sie für ihren Mangel an Glauben zu bestrafen. Eine offene Rebellion würde es hier nicht geben.
Dorgan, der Rattenmann und ein dritter Mann traten jetzt in seinen Käfig. Der Rattenmann hatte die an die Ketten geschweißten Handschellen in der Hand, um sie Larry anzulegen.
»Geben Sie die Arme her«, sagte Dorgan.
»Ist Recht und Ordnung nicht eine feine Sache, Barry?«
»Her mit den Armen, verdammt noch mal!«
»Du siehst nicht gut aus, Dorgan - wie geht's deinem Herzen in letzter Zeit?«
»Ich sage es Ihnen zum letzten Mal, mein Freund. Schieben Sie die Hände durch diese Löcher!«
Larry tat es. Sie legten ihm die Fesseln an und drehten den Schlüssel um. Larry blickte nach rechts und sah Ralph in seinem Käfig stehen. Er hielt den Kopf gesenkt und ließ die Arme hängen. Auch ihn hatten sie schon an die Ketten angeschlossen.
»Ihr alle wißt, daß dies ein Verbrechen ist!« rief Larry, und seine durch jahrelanges Singen geübte Stimme hallte überraschend laut und klar über den Platz. »Ich erwarte von euch nicht, daß ihr es verhindert, aber ich erwarte, daß ihr immer daran denkt! Wir werden hier hingerichtet, weil Randall Flagg Angst vor uns hat! Vor uns und den Leuten, von denen wir kommen!« Ein Raunen lief durch die Menge, wurde lauter und lauter. »Vergeßt nicht, auf welche Weise wir gestorben sind! Und denkt daran, daß eines Tages vielleicht auch ihr auf diese Weise sterben werdet, ohne Würde und wie ein Tier im Käfig!«
Wieder ein Raunen, das anschwoll und aus dem Wut herauszuhören war... und dann Stille.
»Larry!« rief Ralph.
Flagg kam die Eingangstreppe des Grand Hotels herunter, und neben ihm erschien Lloyd Henreid. Flagg trug Jeans, ein kariertes Hemd, seine Jeansjacke mit den zwei Ansteckern auf der Tasche und seine abgelaufenen Cowboystiefel. In der plötzlichen Stille war das Klappern der Absätze auf dem Betonpfad das einzige Geräusch. Der dunkle Mann grinste.
Larry starrte auf ihn nieder. Flagg blieb zwischen beiden Käfigen stehen und blickte zu ihm auf. Sein Grinsen war von einem düsteren Charme. Er hatte sich vollständig unter Kontrolle, und Larry wußte plötzlich, daß dies der entscheidende Moment war, die Apotheose seines Lebens.
Flagg wandte sich von ihnen ab und trat vor sein Volk. »Lloyd«, sagte er leise, und Lloyd, der blaß und krank aussah, reichte Flagg ein Papier, das wie ein Pergament zusammengerollt war. Der dunkle Mann entrollte es und fing an zu sprechen. Er hatte eine tiefe, sonore und angenehme Stimme, die durch die Stille drang, wie eine kleine silbrige Welle über einen dunklen Teich läuft. »Hiermit verkünde ich, daß dies ein gültiges Urteil ist, das ich, Randall Flagg, am dreißigsten September neunzehnhundertneunzig, nunmehr das Jahr eins nach der Seuche, mit meinem Namen unterzeichnet habe.«
»Du heißt nicht Flagg!« brüllte Ralph. In der Menge entstand entsetztes Geraune. »Warum nennst du ihnen nicht deinen richtigen Namen?«
Flagg überging den Zwischenruf. »Hiermit verkünde ich, daß diese Männer, Lawson Underwood und Ralph Brentner, Spione sind, die in böser Absicht und um Aufruhr zu schüren nach Las Vegas gekommen sind und sich heimlich und im Schutz der Dunkelheit in diese Stadt geschlichen haben...«
»Das ist sehr gut«, sagte Larry, »zumal wir am hellichten Tag über die Route 70 gekommen sind.« Er hob die Stimme zu einem Brüllen.
»Sie haben uns auf der Interstate festgenommen! Nennt man das heimlich und im Schutz der Dunkelheit?«
Auch diesen Einwurf ertrug Flagg geduldig, als spürte er, daß Ralph und Larry das Recht hatten, sich zu den Vorwürfen zu äußern... wenn es auch an der Situation nichts änderte.
Er fuhr fort: »Hiermit verkünde ich, daß die Sabotagetrupps dieser Leute für die Bombenanschläge auf die Hubschrauber in Indian Springs verantwortlich sind und damit auch für den Tod von Carl Hough, Bill Jamieson und Cliff Benson. Sie sind des Mordes schuldig.«
Larrys Blick traf sich mit dem eines Mannes, der vorn in der Menge stand. Es war Stan Bailey, der die Anlage in Indian Springs leitete, wenn Larry das auch nicht wußte. Er sah Verblüffung und Erstaunen im Gesicht des Mannes, der dann etwas Lächerliches sagte, das sich ungefähr wie Eimermann anhörte.
»Hiermit verkünde ich, daß diese Leute noch weitere Spione zu uns geschickt haben, die inzwischen getötet wurden. Das Urteil lautet denn auch darauf, daß diese Männer auf angemessene Weise vom Leben zum Tod befördert werden. Sie werden zerrissen. Jeder von euch hat die Pflicht, dieser Hinrichtung beizuwohnen, auf daß er sie niemals vergesse und anderen berichten kann, was er hier heute gesehen hat.«
Wieder grinste Flagg, und es sollte ein besorgtes Lächeln werden, aber es strahlte nicht mehr Wärme und Herzlichkeit aus als das Grinsen eines Haifisches.
»Eltern mit Kindern sind entschuldigt.«
Er wandte sich den Fahrzeugen zu, deren Motoren liefen und kleine Abgaswolken in die Luft bliesen. Als er das tat, entstand vorn in der Menge plötzlich Bewegung. Ein Mann drängte sich auf den freien Platz an den beiden Wagen. Er war groß und sein Gesicht war fast so weiß wie seine Küchenschürze. Der dunkle Mann hatte Lloyd die Papierrolle zurückgegeben und Lloyds Hände zuckten nervös, als Whitney Horgan auf ihn zutrat. Er zerriß die Rolle, und das Geräusch war in der Stille deutlich zu hören.
»He, Leute!« rief Whitney.
Ein aufgeregtes Gemurmel lief durch die Menge; Whitney zitterte am ganzen Körper. Ruckartig bewegte sich sein Kopf hin und her. Flagg betrachtete Whitney mit einem bösartigen Lächeln. Dorgan wollte sich auf den Koch stürzen, aber Flagg winkte ab.
»Das ist ein Unrecht!« schrie Whitney. »Und ihr alle wißt es!«
In der Menge entstand tödliche Stille, als hätten sich alle Anwesenden in Grabsteine verwandelt.
Whitneys Kehle bewegte sich wie in Krämpfen. Sein Adamsapfel fuhr auf und ab wie ein Affe an einer Stange.
»Wir waren einst Amerikaner!« brüllte Whitney zum Schluß. »Und so handeln keine Amerikaner. Ich war nichts Besonderes, ich war nur Koch, aber ich weiß, daß Amerikaner so nicht handeln. Sie hören nicht auf ein mörderisches Ungeheuer in Cowboystiefeln...«
Man hörte förmlich, wie die Leute von Las Vegas vor Entsetzen den Atem anhielten. Larry und Ralph tauschten verblüffte Blicke.
»Und genau das ist er!« rief Whitney. Die Schweißtropfen liefen ihm wie Tränen über das Gesicht. »Und ihr wollt zuschauen, wie diese beiden Jungs vor euren Augen in zwei Teile gerissen werden? So wollt ihr ein neues Leben anfangen? Mit einem so scheußlichen Unrecht? Ich sage euch, ihr werdet für den Rest eures Lebens Alpträume haben!«
Die Menge murmelte Zustimmung.
»Wir müssen das verhindern«, sagte Whitney. »Seid ihr euch darüber klar? Wir brauchen Zeit, um darüber nachzudenken, was... was...«
»Whitney.« Eine Stimme glatt wie Seide und kaum mehr als ein Flüstern, aber sie reichte, um den Koch vollends zum Schweigen zu bringen. Er drehte sich zu Flagg um. Seine Lippen bewegten sich lautlos, und sein Blick war so starr wie der einer Makrele. Jetzt floss ihm der Schweiß in Strömen über das Gesicht.
»Whitney, du hättest schweigen sollen.« Er sprach immer noch leise, aber seine Stimme erreichte dennoch jedes Ohr. »Ich hätte dich gehen lassen... warum auch hätte ich dich hierbehalten sollen?«
Whitneys Lippen bewegten sich immer noch, und immer noch brachte er keinen Laut hervor.
»Komm her, Whitney.«
»Nein«, flüsterte Whitney, und niemand außer Lloyd und Ralph und Larry und vielleicht Barry Dorgan hörte seine Weigerung. Aber seine Füße bewegten sich, als hätten sie das Wort nicht gehört. Seine zerfransten, ausgetretenen Mokassins flüsterten durch das Gras, und wie ein Geist bewegte er sich auf den dunklen Mann zu. Die Menge starrte mit offenem Mund und stumpfem Blick.
»Ich kannte deine Pläne«, sagte der dunkle Mann. »Ich wußte, was du tun wolltest, bevor du es tatest. Ich hätte dich davonkriechen lassen, bis ich bereit gewesen wäre, dich zurückzuholen. Vielleicht in einem Jahr, vielleicht erst in zehn. Aber das liegt jetzt alles hinter dir, Whitney. Glaub mir.«
Endlich fand Whitney seine Stimme wieder, und die Worte sprudelten wie ein Schrei hervor. »Du bist gar kein Mensch! Du bist eine Art... Teufel!«
Flagg streckte den Zeigefinger der linken Hand aus, so daß er fast Whitney Horgans Kinn berührte. »Ja, das stimmt«, sagte er so leise, daß nur Lloyd und Larry Underwood ihn hörten. »Das bin ich.«
Eine kleine blaue Feuerkugel, nicht größer als ein Ping-Pong-Ball, sprang mit einem schwachen Ozongeknister von Flaggs Fingerspitze.
Ein Herbstwind von Seufzern rauschte durch die Menge. Whitney schrie - aber er bewegte sich nicht. Die Feuerkugel sprang ihm an das Kinn. Plötzlich roch es ekelhaft nach brennendem Fleisch. Die Kugel bewegte sich über den Mund, schmolz die Lippen zusammen und erstickte den Schrei. Whitneys Augen traten aus den Höhlen. Dann fuhr sie über eine Wange, grub eine verbrannte und verätzte Furche.
Sie schloß seine Augen.
Sie blieb über seiner Stirn hängen, und Larry hörte Ralph sprechen, der immer wieder dasselbe sagte. Larry fiel ein, und sie machten es zu einer Litanei: »Ich fürchte mich nicht vor dem Bösen... ich fürchte mich nicht vor dem Bösen... ich fürchte mich nicht vor dem Bösen...«
Jetzt rollte die Kugel von Whitneys Stirn nach oben, und es roch scharf nach brennendem Haar. Sie rollte über seinen Hinterkopf und hinterließ einen grotesken kahlen Streifen. Whitney taumelte und stürzte zu Boden, gnädigerweise aufs Gesicht.
Von der Menge her kam ein fast zischendes Geräusch: Aaaahhhh. Es war das Geräusch, das die Leute am vierten Juli von sich geben, wenn das Feuerwerk besonders prächtig ist. Die blaue Feuerkugel hing jetzt in der Luft und war größer geworden und so hell, daß man sie nur mit zusammengekniffenen Augen betrachten konnte. Der dunkle Mann zeigte darauf, und sie bewegte sich langsam auf die Menge zu. Die Leute in der ersten Reihe, unter ihnen die totenblasse Jenny Engstrom, schauderten zurück.
Mit Donnerstimme forderte Flagg sie heraus: »Ist noch jemand da, der mit meinem Urteil nicht einverstanden ist? Dann soll er es jetzt sagen!«
Die Antwort war Schweigen.
Flagg schien zufrieden. »Dann wollen wir...«
Plötzlich wandte sich ein Kopf nach dem anderen von ihm ab. Ein überraschtes Raunen erhob sich, wurde immer lauter. Flagg schien geradezu schockiert vor Überraschung. Jetzt waren aus der Menge Rufe zu hören, und wenn man auch die Worte nicht verstand, so merkte man den Leuten doch ihre Verblüffung an. Die Feuerkugel bewegte sich unruhig in der Luft.
Das Summen eines Elektromotors drang Larry in die Ohren. Und aus der Menge hörte er wieder diesen seltsamen Namen, der jetzt von Mund zu Mund ging: Mann... Eimermann... Müll... Mülli... Wie in Antwort auf Flaggs Herausforderung drängte sich jemand durch die Menge.
Flagg spürte Entsetzen in die Kammern seines Herzens sickern. Es war das Entsetzen vor etwas Unbekanntem und Unerwartetem. Er hatte alles vorausgesehen, sogar Whitneys närrische Stegreifrede. Die Menge - seine Menge - teilte sich und schrak zurück. Ein markerschütternder Schrei stieg auf, klar und schrill. Jemand rannte davon. Dann noch jemand. Und dann brach die Menge auseinander, rannten die ohnehin emotional aufgewühlten Menschen davon.
»Bleibt stehen!« schrie Flagg, so laut er konnte, aber es war zwecklos.
Die Menge war jetzt wie ein starker Wind, und nicht einmal der dunkle Mann konnte dem Wind gebieten. Eine schreckliche, ohnmächtige Wut stieg in ihm auf und bildete mit seiner Angst eine neue, flüchtige Mischung. Wieder war etwas schiefgegangen, in letzter Minute schiefgegangen, wie bei dem alten Mann in Oregon und der Frau, die sich am Fensterglas die Kehle durchschnitt... und Nadine... Nadine, die vom Dach gestürzt war...
Sie rannten in alle Himmelsrichtungen, über den Rasen des MGM Grand Hotel, quer über die Straße und zum Strip hinüber. Sie hatten den letzten Gast gesehen, der wie eine gräßliche Vision aus einer Horrorgeschichte aufgetaucht war. Vielleicht hatten sie auch das häßliche Gesicht einer letzten, schrecklichen Vergeltung gesehen.
Und sie hatten gesehen, was der zurückgekehrte Wanderer mitgebracht hatte.
Als die Menge auseinandergestoben war, sah Randall Flagg es auch, genau wie Larry und Ralph und der vor Schreck erstarrte Lloyd Henreid, der noch immer die zerrissene Rolle in der Hand hielt. Es war Donald Merwin Elbert, jetzt als Mülleimermann bekannt, jetzt und immerdar, in alle Ewigkeit, halleluja, Amen.
Er saß am Steuer eines langen staubigen Elektrokarrens. Die schweren Batterien waren fast leer, und der Karren summte und dröhnte und ruckte. Der Mülleimermann hüpfte in der offenen Kabine wie eine Marionette hin und her.
Er war im letzten Stadium der Strahlenkrankheit. Sein Haar war ausgefallen. Seine Arme, die aus den Fetzen seines Hemdes herausstanden, waren von offenen Schwären bedeckt. Sein Gesicht war eine breiige rote Kraterlandschaft, aus der ein von der Wüste gebleichtes Auge mit einer fürchterlichen, jämmerlichen Intelligenz hervorstarrte. Er hatte keine Zähne mehr. Seine Fingernägel fehlten. Seine Augenlider waren zerfetzte Lappen.
Er sah aus wie ein Mann, der diesen Elektrokarren aus dem brennenden Schlund der Hölle herausgefahren hatte. Flagg sah ihn kommen und stand wie erstarrt. Seine frische Farbe war verschwunden. Sein Gesicht war plötzlich ein Fenster aus blassem, klarem Glas.
Begeistert stieg jetzt die Stimme des Mülleimermanns aus seiner dürren Brust: »Ich habe es gebracht... ich habe dir das Feuer gebracht... bitte... es tut mir leid...«
Jetzt war es Lloyd, der sich bewegte. Er ging einen Schritt vorwärts, dann noch einen. »Mülli... Müll, Baby...« Seine Stimme war ein Krächzen.
Mit seinem einzigen Auge suchte er Lloyd und hatte Mühe, ihn zu erkennen. »Lloyd? Bist du das?«
»Ich bin es, Müll.« Lloyd zitterte am ganzen Körper, wie vorhin Whitney gezittert hatte. »He, was hast du da? Ist es...?«
»Es ist die Große Bombe«, sagte Müll glücklich. »Es ist die ABombe.« Er schaukelte auf seinem Sitz hin und her wie ein Bekehrter bei einer Wiedererweckungsfeier. »Die Atombombe, das große Feuer, mein Leben für dich!«
»Bring sie weg, Müll«, flüsterte Lloyd. »Sie ist gefährlich. Sie... sie ist heiß. Bring sie weg...«
»Sag ihm, daß er sie wegschaffen soll, Lloyd«, winselte der dunkle Mann, der jetzt der blasse Mann war. »Er soll sie dorthin bringen, wo er sie geholt hat. Er soll...«
Mülleimers Auge blickte erstaunt. »Wo ist er?« fragte er, und seine Stimme stieg zu einem gequälten Heulen an. »Wo ist er? Er ist weg!
Wo ist er? Was hast du mit ihm gemacht?«
Lloyd unternahm eine letzte Anstrengung. »Müll, du mußt das Ding wegschaffen. Du mußt...«
Und plötzlich brüllte Ralph: »Larry! Larry! Die Hand Gottes!« Ralph war vor Freude wie von Sinnen. Seine Augen leuchteten. Er zeigte zum Himmel.
Larry blickte hinauf. Er sah die Feuerkugel, die Flagg von seinem Finger geschnippt hatte. Sie war zu gewaltiger Größe angewachsen. Sie stand am Himmel. Mit unruhigen Bewegungen sank sie auf den Mülleimermann herab. Sie sprühte haarfeine Funken, und Larry nahm dumpf wahr, daß die Luft jetzt so mit Elektrizität aufgeladen war, daß sich ihm jedes einzelne Haar am Körper sträubte.
Und das Ding am Himmel sah aus wie eine Hand.
»Neeeiiin!« heulte der dunkle Mann.
Larry schaute zu ihm hinüber... aber Flagg war nicht mehr da. Er hatte den Eindruck, daß etwas Unheimliches vor der Stelle stand, an der eben noch Flagg gestanden hatte. Etwas Zusammengesunkenes, Geducktes, fast Gestaltloses - etwas mit riesigen gelben Augen mit den Pupillenschlitzen einer Katze. Dann war es verschwunden.
Larry sah Flaggs Kleider - die Jacke, die Jeans, die Stiefel. Sie standen aufrecht, und sie waren leer. Sekundenlang behielten sie noch die Form des Körpers, der in ihnen gesteckt hatte. Dann sanken sie zusammen.
Das knisternde blaue Feuer stürzte jetzt aus der Luft auf den gelben Elektrokarren, den der Mülleimermann irgendwie von der Nellis Range nach Las Vegas gefahren hatte. Er war kahl geworden und hatte Blut gespuckt und schließlich seine eigenen Zähne erbrochen, als die tödliche Strahlung sich immer tiefer in ihn hineinfraß - aber nie war er in seinem Entschluß wankend geworden, dem dunklen Mann die Bombe zu bringen.
Die blaue Kugel suchte den hinteren Teil des Karrens, wurde von ihm angezogen.
»O Scheiße, wir sind alle im Arsch!« brüllte Lloyd Henreid. Er legte die Hände über den Kopf und sank zu Boden.
O Gott, ich danke Dir, dachte Larry. Erlöse uns von dem Bösen, erlöse uns v
Schweigendes weißes Licht erfüllte die Welt. Und das heilige Feuer verzehrte Gerechte und Ungerechte zugleich.