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Es war Viertel vor zwölf. Die Dunkelheit draußen drückte gleichmäßig gegen das winzige Fenster. Deitz saß allein in seinem Bürokabuff, hatte die Krawatte aufgezogen und den Kragenknopf geöffnet. Die Füße hatte er auf dem unpersönlichen Metallschreibtisch liegen, und er hielt ein Mikrofon in der Hand. Auf dem Schreibtisch drehten sich die Spulen eines alten WollensakTonbands unablässig.
»Hier spricht Colonel Deitz«, sagte er. »Ort: Anlage Atlanta, Kode PB-2. Dies ist Bericht Nr. 16, Kartei Projekt Blau, Nebenkartei Prinzessin/Prinz. Dieser Bericht, Kartei und Nebenkartei sind streng geheim, Geheimcode 2-2-3,nur zur Einsicht. Wenn Sie nicht befugt sind, die Akte einzusehen, Pfoten weg, Jack.«
Er verstummte und machte einen Moment die Augen zu. Die Bandspulen liefen ungehindert weiter und wurden allen korrekten elektrischen und magnetischen Veränderungen unterzogen.
»Prinz hat mir heute abend eine Höllenangst gemacht«, sagte er schließlich. »Ich will mich nicht darüber auslassen, es steht in Denningers Bericht. Er wird mehr als bereitwillig jede Einzelheit aufzeichnen. Zudem wird meine Unterredung mit Prinz selbstverständlich auf der Telekommunikations-Disc gespeichert, die auch die Transkribierung dieses Bandes enthalten wird, das um 23:45 Uhr aufgenommen wird. Ich war so entnervt, daß ich ihm am liebsten eine runtergehauen hätte, und hätte vor Angst fast in die Hosen gemacht. Aber jetzt nehme ich's ihm nicht mehr übel. Der Mann hat mir nur gezeigt, wie es ist, in seiner Haut zu stecken, und ich weiß jetzt genau, wie ihm zumute sein muß. Er ist ein ziemlich kluger Bursche, wenn man erst einmal hinter sein Gary -CooperÄußeres geblickt hat, und ein verdammt eigensinniger Hurensohn. Wenn er Lust hat, wirft er alle möglichen Knüppel zwischen die Beine, die er finden kann. Er hat keine nahen Angehörigen in Arnette oder sonstwo, daher können wir kaum Druck auf ihn ausüben.
Denninger hat Freiwillige - behauptet er jedenfalls -, die nur zu gerne reingehen und ihn zur Zusammenarbeit prügeln würden, und es könnte dazu kommen. Aber wenn mir eine weitere Bemerkung gestattet ist, ich glaube, dazu könnte mehr Gewalt erforderlich sein, als Denninger vermutet. Vielleicht viel mehr. Offiziell bin ich nach wie vor dagegen. Meine Mutter hat immer gesagt, mit Zuckerbrot macht man die Leute gefügiger als mit Peitsche, und daran glaube ich immer noch.
Und nochmals offiziell, seine Virus-Tests zeigen immer noch keinen Befall. Werdet selber schlau daraus.«
Er machte wieder eine Pause und kämpfte gegen das Eindösen. In den vergangenen zweiundsiebzig Stunden hatte er nur vier geschlafen.
»Meldungen bis zwoundzwanzig-null-null Uhr«, sagte er förmlich und hob einen Stapel Meldungen auf. »Henry Carmichael ist gestorben, während ich mit Prinz gesprochen habe. Der Polizist, Joseph Robert Briggs, ist vor einer halben Stunde gestorben. Das wird nicht in Dr. D.s Bericht stehen, aber bei diesem Sterbefall hätte er beinahe grüne Äpfel geschissen. Briggs zeigte unerwartete positive Reaktionen auf das Serum mit der Bezeichnung... äh...« Er wühlte in seinen Unterlagen. »Da haben wir's. 63-A-3. Vergleichen Sie Unterkartei, wenn Sie wollen. Briggs' Fieber ging zurück, die charakteristischen Schwellungen der Drüsen im Hals ließen nach, er hatte Hunger und aß ein pochiertes Ei und eine Scheibe Toast ohne Butter. Redete vernünftig, wollte wissen, wo er war, und so weiter und so fort, schubidubah. Gegen zwoundzwanzig-null-null Uhr brach dann das Fieber mit unerwarteter Heftigkeit wieder aus. Delirium. Er hat die Bandagen am Bett zerrissen und ist im Zimmer herumgetorkelt, hat geschrien, gehustet, Rotz rausgepustet, einfach alles. Dann ist er umgekippt und gestorben. Wumms. Das Team ist der Meinung, das Serum hat ihn umgebracht. Es besserte seinen Zustand zwar eine Weile, aber sein Zustand verschlechterte sich schon wieder, ehe es ihn umbrachte. Das heißt für uns, zurück ans Reißbrett.«
Pause.
»Das Schlimmste habe ich mir bis zuletzt aufgehoben. Wir können aus Prinzessin wieder die gute alte Eva Hodges, weiblich, vier Jahre alt, kaukasischer Herkunft, machen. Am Spätnachmittag hat sich ihre Kutsche und das Vierergespann wieder in einen Kürbis und gewöhnliche Küchenmäuse verwandelt. Wenn man sie ansah, hätte man denken können, sie wäre vollkommen normal, nicht einmal ein Schniefen. Sie ist natürlich traurig, sie vermißt ihre Mutter. Ansonsten ist sie in Ordnung. Aber sie hat es. Der Blutdruck nach dem Essen, das einzige halbwegs zuverlässige diagnostische Mittel, das Denninger hat, sank erst und stieg dann wieder. Vor dem Essen hat mir Denninger ihre Sputum-Objektträger gezeigt - als Appetitzügler sind Sputumproben wirklich erste Sahne, glauben Sie mir -, und sie wimmeln von diesen veränderlichen Erregern, die laut Denninger gar keine Erreger sind, sondern Inkubatoren. Mir ist unbegreiflich, wie er wissen kann, was dieses Ding ist und wo es sitzt, und trotzdem nichts dagegen machen kann. Er wirft mir jede Menge Fachchinesisch um die Ohren, aber ich glaube, er selbst versteht es auch nicht.«
Deitz zündete sich eine Zigarette an.
»Und wie ist der Stand heute nacht? Wir haben eine Krankheit, die verschiedene deutlich unterscheidbare Stadien aufweist... aber manche Menschen können ein Stadium überspringen, manche Menschen springen ein Stadium zurück; manche beides. Einige bleiben ziemlich lange in einem Stadium, andere schießen durch alle vier wie ein geölter Blitz. Eines unserer zwei Versuchskaninchen ist nicht mehr clean. Das andere ist ein dreißigjähriger Hinterwäldler, der so gesund zu sein scheint wie ich. Denninger hat schätzungsweise dreißig Millionen Tests mit ihm durchgeführt und konnte bisher nur vier Abnormalitäten feststellen: Der Mann scheint ungewöhnlich viele Leberflecke am Körper zu haben. Er hat leichten Bluthochdruck, aber nicht so ernst, daß man Medikamente verabreichen müßte. Unter Streß zuckt sein linkes Auge leicht. Und Denninger sagt, er träumt wesentlich häufiger als üblich - fast jede Nacht. Das wissen sie durch das Standard-EEG, das sie vor Redmans Streik gemacht haben. Das war's. Ich kann nichts damit anfangen, Dr. Denninger nicht und auch nicht die Leute, die Dr. Dementos Arbeit überprüfen.
Ich habe Angst, Starkey. Ich habe Angst, weil nur ein sehr schlauer Arzt, dem alle Fakten bekannt sind, bei den Leuten draußen, die infiziert sind, etwas anderes als eine gewöhnliche Erkältung feststellen wird. Herrgott, niemand geht mehr zum Arzt, wenn er nicht schwere Lungenentzündung, einen verdächtigen Knoten in der Titte oder schlimmes Nesselfieber hat. Kaum einer macht sich mehr die Mühe, sich untersuchen zu lassen. Und darum bleiben die Leute daheim, trinken jede Menge Tee, legen sich ins Bett und sterben. Und bevor sie sterben, stecken sie jeden an, der zu ihnen ins Zimmer kommt. Wir gehen alle davon aus, daß der Prinz - ich glaube, ich habe irgendwo seinen richtigen Namen gebraucht, aber in unserer momentanen Lage ist mir das scheißegal - es heute nacht, morgen oder spätestens übermorgen auch bekommt. Und bis jetzt hat sich keiner erholt, der es bekommen hat. Diese Arschlöcher in Kalifornien haben ihre Aufgabe für meinen Geschmack ein wenig zu gut ausgeführt.
Deitz, SZ Atlanta, Block 2, Ende des Berichts.«
Er schaltete das Tonband ab und sah es lange an. Dann zündete er sich noch eine Zigarette an.