17
Starkey stand vor Monitor Nummer zwei und betrachtete den Techniker zweiter Klasse Frank D. Bruce eingehend. Als wir Bruce zuletzt gesehen hatten, lag er mit dem Gesicht in einem Teller Rindfleischsuppe. Daran hat sich nichts geändert, ausgenommen die positive Identifizierung. Situation normal, alles im Eimer.
Nachdenklich und mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, wie ein General, der die Truppe inspiziert, wie General Black Jack Pershing, sein Jugendidol, ging Starkey zum Monitor Nummer vier, wo sich die Situation zum Besseren gewendet hatte. Dr. Emmanuel Ezwick lag immer noch tot auf dem Boden, aber die Zentrifuge war stehengeblieben. Um 19:40 Uhr gestern abend waren zarte Rauchwölkchen aus der Zentrifuge emporgestiegen. Um 19:55 Uhr hatten die Lautsprecher in Ezwicks Labor ein Geräusch, eine Art Wunga-Wunga-Wunga, übermittelt, das sich allmählich in ein volleres, tieferes und befriedigenderes Ronk! Ronk! Ronk! verwandelt hatte. Um 21:07 Uhr hatte die Zentrifuge ihr letztes Ronk geronkt und war langsam zur Ruhe gekommen. Hatte nicht Newton gesagt, daß es irgendwo, hinter dem fernsten Stern, einen Körper geben mochte, der vollkommen in Ruhe war? Newton hatte mit allem recht behalten, überlegte Starkey, außer mit der Entfernung. Man mußte nicht so weit gehen. Projekt Blau war vollkommen in Ruhe. Starkey war sehr froh. Die Zentrifuge war die letzte Illusion von Leben gewesen, und das Problem, auf das er Steffens Hauptcomputer angesetzt hatte (Steffen hatte ihn angesehen, als wäre er verrückt, und ja, dachte Starkey, vielleicht war er es auch), war: Wie lange, konnte man annehmen, lief die Zentrifuge? Die Antwort, die nach 6,6 Sekunden erfolgte, hatte gelautet: ± DREI JAHRE; WAHRSCHEINLICHE FEHLFUNKTION IN DEN NÄCHSTEN ZWEI WOCHEN 0,009%; TEILE WAHRSCHEINLICHSTER FEHLFUNKTION: LAGER 38%;HAUPTMOTOR: 16%; ALLE ANDEREN: 54%. Es war ein schlauer Computer. Nachdem Ezwicks Zentrifuge den Geist aufgegeben hatte, hatte Starkey Steffens den Computer noch einmal befragen lassen. Der Computer rief die Datenbank des Maschinensystems ab und gab an, daß tatsächlich die Lager der Zentrifuge ausgebrannt waren.
Nicht vergessen, dachte Starkey, während sein Piepser hinter ihm frenetisch zu piepsen anfing. Das Geräusch von Lagern im letzten Stadium des Zusammenbruchs ist Ronk-ronk-ronk.
Er ging zur Sprechanlage und drückte den Knopf, der den Piepser ausschaltete. »Ja, Len.«
»Billy, ich habe einen dringenden Anruf von einem unserer Teams in einer Stadt namens Sipe Springs, Texas. Fast vierhundert Meilen von Arnette entfernt. Sie sagen, sie müssen mit dir sprechen; sie brauchen eine Stabsentscheidung. «
»Worum geht es, Len?« fragte er ruhig. Er hatte in den vergangenen zehn Stunden über sechzehn »Schlappmacher« genommen und fühlte sich, allgemein gesprochen, großartig. Keine Spur von Ronk.
»Drück auf den Knopf.«
»Lieber Gott«, sagte Starkey geduldig. »Stell sie durch.«
Man hörte dumpfes statisches Rauschen; im Hintergrund war eine unverständliche Stimme zu vernehmen.
»Kleinen Moment«, sagte Len.
Die statischen Geräusche ließen langsam nach.
»...Löwe, Team Löwe, hören Sie uns, Basis Blau? Hören Sie uns? Eins... zwei... drei... vier... hier spricht Team Löwe...«
»Ich höre Sie, Team Löwe«, sagte Starkey. »Hier spricht Basis Blau, Nummer eins.«
»Das Problem ist unter >Blumentopf< im Kodebuch kodiert«, sagte die blecherne Stimme. »Wiederhole, >Blumentopf<.«
»Verdammt noch mal, ich weiß, was >Blumentopf< ist«, sagte Starkey. »Wie ist die Situation?«
Die blecherne Stimme aus Sipe Springs redete fast fünf Minuten ununterbrochen. Die Situation als solche war unwichtig, dachte Starkey, weil der Computer sie vor zwei Tagen informiert hatte, dass genau diese Situation (in der einen oder anderen Form) bis Ende Juni eintreten würde. 88% Wahrscheinlichkeit. Die Einzelheiten spielten keine Rolle. Wenn es zwei Beine und Gürtelschlaufen hatte, war es eine Hose. Farbe nebensächlich.
Ein Arzt in Sipe Springs hatte ein paar naheliegende Vermutungen angestellt, und zwei Reporter einer Tageszeitung in Houston hatten die Geschehnisse in Sipe Springs mit denen in Arnette, Verona, Commerce City und einer Stadt namens Polliston, Kansas, in Verbindung gebracht. Das waren die Orte, wo sich das Problem so schnell so sehr verschlimmert hatte, daß die Armee geschickt worden war, um sie unter Quarantäne zu stellen. Der Computer hatte eine Liste von fünfundzwanzig anderen Städten in zehn Staaten ausgespuckt, wo sich Anzeichen von Blau zeigten.
Die Situation in Sipe Springs war nicht wichtig, weil sie nicht einmalig war. Die Chance auf etwas Einmaliges hatten sie in Arnette gehabt - jedenfalls beinahe -, und dort hatten sie es vermasselt. Entscheidend war, daß die »Situation« nun zum ersten Mal auf etwas anderem als gelbem Kanzleipapier der Armee gedruckt erscheinen würde; das heißt, falls Starkey keine Schritte unternahm. Er hatte noch nicht entschieden, ob er das tun sollte oder nicht.
Aber als die blecherne Stimme zu reden aufhörte, wurde Starkey klar, daß er die Entscheidung doch schon gefällt hatte. Er hatte sie vielleicht schon vor zwanzig Jahren gefällt.
Entscheidend war die Frage, was wichtig war. Und wichtig war nicht die Tatsache der Krankheit; nicht die Tatsache, daß die Integrität von Atlanta irgendwie zunichte gemacht worden war und sie die gesamte Präventivoperation einer sehr viel weniger kompetenten Einrichtung in Stovington, Vermont, übertragen mußten; nicht die Tatsache, dass sich Blau in der tückischen Verkleidung einer gewöhnlichen Erkältung ausbreitete.
»Wichtig ist...«
»Bitte wiederholen, Basis Blau Nummer eins«, sagte die Stimme ängstlich. »Wir haben nichts empfangen.«
Wichtig war, daß ein bedauerlicher Unfall stattgefunden hatte. Starkey reiste in Gedanken zweiundzwanzig Jahre in der Zeit zurück, ins Jahr 1968. Er war im Offiziersclub in San Diego gewesen, als die Nachricht über Calley und was in My Lai Vier passiert war, hereingekommen war. Starkey hatte mit vier anderen Männern Poker gespielt, von denen zwei mittlerweile im Generalstab saßen. Das Pokerspiel war im Verlauf der Diskussion darüber, was dieser Zwischenfall dem Militär antun würde - nicht einem Teil, sondern dem Militär als Ganzem, zumal in der Hexenjagd-Atmosphäre von Washingtons viertem Stand -, vollkommen vergessen worden. Und einer der Runde, ein Mann, der jetzt direkt zu dem erbärmlichen Wurm durchwählen konnte, der sich seit dem 20. Januar 1989 als oberster Boß verkleidet hatte, hatte die Karten sorgfältig auf den grünen Filztisch gelegt und gesagt: Meine Herren, ein bedauerlicher Unfall hat stattgefunden. Und wenn ein bedauerlicher Unfall stattfindet, der mit einer Abteilung des Militärs der Vereinigten Staaten zu tun hat, fragen wir nicht nach den Ursachen, sondern überlegen uns, wie wir ihn am besten vertuschen können. Die Armee ist Mutter und Vater für uns. Denn wenn man seine Mutter vergewaltigt vorfindet oder seinen Vater überfallen und ausgeraubt, bedeckt man zuerst einmal ihre Blöße, bevor man die Polizei ruft oder selbst Ermittlungen anstellt. Weil man sie liebt.
Starkey hatte weder vorher noch nachher jemals jemanden so gut reden hören.
Jetzt schloß er die unterste Schublade seines Schreibtischs auf und holte den dünnen blauen Ordner hervor, der mit rotem Klebeband zugeklebt war. Der Schriftzug auf dem Umschlag lautete: WENN DAS SIEGEL ERBROCHEN IST, UNVERZÜGLICH ALLE SICHERHEITSKRÄFTE BENACHRICHTIGEN. Starkey brach das Siegel.
»Sind Sie noch da, Basis Blau Nummer eins?« fragte die Stimme.
»Wir empfangen Sie nicht. Wiederhole, empfangen nicht.«
»Ich bin hier, Löwe«, sagte Starkey. Er blätterte zur letzten Seite des Buchs und fuhr mit dem Finger eine Spalte mit der Überschrift EXTREME VERDECKTE GEGENMASSNAHMEN entlang. »Löwe, hören Sie mich?«
»Wir empfangen Sie, Basis Blau Nummer eins.«
»Troja«, sagte Starkey mit großem Nachdruck. »Ich wiederhole, Löwe: Troja. Bitte wiederholen Sie. Kommen.«
Schweigen. Ein fernes Murmeln der Statik. Starkey erinnerte sich ganz kurz an Walkie-talkies, die sie als Kinder selbst gemacht hatten, aus zwei DelMonte-Blechdosen und zwanzig Meter gewachster Schnur.
»Ich fordere Sie nochmals auf...«
»Großer Gott!« stöhnte eine sehr junge Stimme in Sipe Springs.
»Wiederholen Sie, mein Junge«, sagte Starkey.
»T-Troja«, sagte die Stimme. Dann, fester: »Troja.«
»Ausgezeichnet«, sagte Starkey ruhig. »Gott segne Sie, mein Junge. Ende und Aus.«
»Und Sie, Sir. Ende und aus.«
Ein Klicken, gefolgt von lauter Statik, gefolgt von einem weiteren Klicken, Stille und schließlich Len Creightons Stimme: »Billy?«
»Ja, Len.«
»Ich habe die ganze Unterhaltung aufgezeichnet.«
»Prima, Len«, sagte Starkey müde. »Du mußt tun, was du für richtig hältst. Selbstverständlich.«
»Du verstehst nicht, Billy«, sagte Len. »Du hast richtig gehandelt. Glaubst du, ich wüßte das nicht?«
Starkey ließ die Augen zufallen. Einen Augenblick ließen ihn die vielen lieben Schlaffmacher im Stich. »Gott segne dich auch, Len«, sagte er mit beinahe brechender Stimme. Er schaltete ab und stellte sich wieder vor Monitor zwei. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken wie Black Jack Pershing bei der Inspektion der Truppe. Er betrachtete Frank D. Bruce und dessen letzte Ruhestätte. Nach einer Weile hatte er sich wieder beruhigt.
Fährt man über die US 36 von Sipe Springs in Richtung Südosten, dann fährt man in die ungefähre Richtung von Houston, das eine Tagesfahrt entfernt ist. Das Auto, das über den Highway donnerte, mit achtzig Meilen die Stunde, war ein drei Jahre alter Pontiac Bonneville, und als er über die Hügelkuppe kam und den Ford ohne Nummernschilder sah, der die Straße versperrte, kam es beinahe zum Unfall.
Der Fahrer, ein sechsunddreißigjähriger Reporter einer großen Houstoner Tageszeitung, trat auf die bremskraftverstärkte Bremse, und die Reifen fingen an zu quietschen, die Schnauze des Pontiac neigte sich erst zur Straße, rutschte nach links weg und machte eine Drehung um hundertachtzig Grad.
»Großer Gott!« schrie der Fotograf auf dem Beifahrersitz, ließ die Kamera auf den Wagenboden fallen und zog panisch den Sicherheitsgurt über.
Der Fahrer ließ die Bremse los, lenkte verzweifelt gegen und merkte, wie die linken Reifen im weichen Boden am Straßenrand abschmierten. Er trat aufs Gas, der Bonneville reagierte mit neuerlichem Schlingern und kam wieder auf die Fahrbahn. Blauer Rauch stieg von den Reifen auf. Aus dem Radio plärrte unablässig:
»Baby, can you dig your man,
He's a righteous man,
Baby, can you dig your man?«
Er stieg wieder auf die Bremse und der Bonneville kam inmitten der heißen nachmittäglichen Öde schlingernd zum Stillstand. Der Fahrer sog keuchend und voller Entsetzen den Atem ein und stieß ihn in Form eines abgehackten Hustens wieder aus. Er wurde wütend. Er legte den Rückwärtsgang ein und fuhr auf den Ford und die beiden Männer zu, die dahinter warteten.
»Hör mal«, sagte der Fotograf nervös. Er war dick und seit der neunten Klasse nicht mehr in eine Schlägerei verwickelt gewesen.
»Hör mal, vielleicht sollten wir besser...«
Er wurde grunzend nach vorne geschleudert, als der Reporter den Pontiac wieder mit quietschenden Bremsen zum Stehen brachte, den Schalthebel mit einer groben Handbewegung auf Parkstellung hieb und ausstieg.
Er ballte die Hände zu Fäusten und ging auf die beiden jungen Männer hinter dem Ford zu.
»Also gut, ihr Wichser!« brüllte er. »Ihr hättet uns fast umgebracht, und mich würde interessieren...«
Er hatte gedient, vier Jahre in der Armee. Freiwilliger. Er konnte die Gewehre gerade noch als die neuen M-3As identifizieren, als sie sie hinter dem Ford vorzogen. Er blieb erschrocken unter der heißen texanischen Sonne stehen und pinkelte sich in die Hose. Er fing an zu schreien und warf sich in Gedanken herum, um zum Bonneville zurückzulaufen, aber seine Füße setzten sich nie in Bewegung. Die Männer eröffneten das Feuer auf ihn, die Kugeln pusteten ihm Brust und Unterleib weg. Als er auf die Knie sank und mit erhobenen Händen stumm um Gnade flehte, traf ihn eine Kugel zwei Zentimeter über dem linken Auge und riß ihm die Schädeldecke weg.
Der Fotograf, der über den Rücksitz gespäht hatte, begriff nicht ganz, was geschehen war, bis die beiden jungen Männer mit ihren Gewehren über den Leichnam des Reporters stiegen und auf ihn zukamen.
Er rutschte über den Vordersitz des Pontiac, warme Speichelbläschen sammelten sich in seinen Mundwinkeln. Der Zündschlüssel steckte noch. Er ließ den Motor an und fing in dem Augenblick an zu schreien, als sie das Feuer eröffneten. Er spürte, wie der Wagen nach rechts rutschte, als hätte ein Riese gegen den linken Hinterreifen getreten; das Lenkrad tanzte wild in seinen Händen. Der Fotograf wurde auf und ab geschüttelt, während der Bonneville mit dem platten Reifen über die Fahrbahn hoppelte. Eine Sekunde später trat der Riese gegen die andere Seite des Autos. Der Tanz wurde wilder. Funken stoben vom Asphalt hoch. Der Fotograf winselte. Die Hinterreifen des Pontiac schlingerten und flatterten wie schwarze Lumpen. Die beiden jungen Männer liefen zu dem Ford zurück, dessen Seriennummer unter vielen im Fuhrpark des Pengaton aufgelistet war, und einer wendete ihn in einem engen, schlingernden Kreis. Der Bug wippte heftig, als sie von der Straße abkamen und über den toten Reporter fuhren. Der Sergeant auf dem Beifahrersitz pustete ein verblüfftes Niesen gegen die Windschutzscheibe.
Vor ihnen torkelte der Pontiac wie eine Waschmaschine auf den beiden Platten dahin, die Motorhaube wippte auf und ab. Der dicke Fotograf am Steuer fing an zu weinen, als er den dunklen Ford im Rückspiegel immer größer werden sah. Er hatte das Gaspedal bis zum Boden durchgetreten, aber der Pontiac schaffte nicht mehr als vierzig Stundenmeilen und fuhr Slalom von einer Straßenseite zur anderen. Im Radio war Larry Underwood von Madonna abgelöst worden. Madonna versicherte, daß sie ein »material girl« war. Der Ford setzte sich an die Seite des Bonneville, und für eine Sekunde kristallklarer Hoffnung dachte der Fotograf, die Kerle würden einfach Gas geben, am Wüstenhorizont verschwinden und ihn in Ruhe lassen.
Dann scherte der Ford wieder ein, und die wild schwankende Schnauze des Pontiac rammte die Stoßstange. Metall kreischte auf Metall. Der Kopf des Fotografen prallte gegen das Lenkrad, Blut spritzte ihm aus der Nase.
Mit entsetzten, ungelenken Blicken über die Schulter schlitterte er über den warmen Plastiksitz, als wäre es eine Rutschbahn, und stieg auf der Beifahrerseite aus. Er lief die Böschung hinunter. Unten war ein Stacheldrahtzaun; er sprang darüber, schwebte hoch und höher, wie ein Segelflieger, und er dachte: Ich schaffe es. Ich kann ewig laufen...
Er fiel auf der anderen Seite herunter und verfing sich mit einem Bein im Stacheldraht. Er schrie gellend auf und versuchte immer noch, das Hosenbein loszureißen, als die beiden jungen Männer mit gezückten Gewehren die Böschung herunt erkamen.
Warum, wollte er sie fragen, aber er brachte nur ein leises, hilfloses Krächzen heraus, und dann machte sein Gehirn einen Abgang hinten zum Schädel hinaus.
An diesem Tag wurde kein Artikel über die Krankheit oder irgendwelche anderen Probleme in Sipe Springs, Texas, gedruckt.