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Auszüge aus dem Protokoll der
Sitzung des ständigen Komitees der Freien Zone
19. August 1990
Diese Sitzung fand in Stu Redmans und Fran Goldsmiths Wohnung statt. Alle Mitglieder des Komitees der Freien Zone waren anwesend. Stu Redman gratulierte uns allen, einschließlich sich selbst, zu unserer Wahl in das ständige Komitee. Er stellte den Antrag, einen Dankesbrief an Harold Lauder abzufassen und von jedem Mitglied des Komitees unterzeichnen zu lassen. Dieser wurde einstimmig angenommen.
Stu: »Wenn wir die alten Sachen erledigt haben, hat Glen Bateman ein paar neue Themen. Ich weiß ebensowenig, worum es sich handelt, wie ihr, aber ich nehme an, eines davon hat mit der nächsten öffentlichen Versammlung zu tun. Richtig, Glen?«
Glen: »Ich warte ab, bis ich dran bin.«
Stu: »Typisch Platte. Der Hauptunterschied zwischen einem Betrunkenen und einem alten glatzköpfigen Collegeprofessor ist der, daß der Professor wartet, bis er an der Reihe ist, bevor er einem das Ohr vollschwätzt.«
Glen: »Danke für diese Perlen der Weisheit, Ost-Texaner.«
Fran sagte, sie würde sehen, daß Stu und Glen sich prächtig amüsierten, aber ob sie nicht vielleicht doch zur Sache kommen konnten, da ihre Lieblingssendungen im Fernsehen alle um neun anfingen. Diese Bemerkung erntete mehr Gelächter, als sie wahrscheinlich verdient hatte.
Der erste richtige Tagesordnungspunkt waren unsere Kundschafter im Westen. Zur Erinnerung, das Komitee hat entschieden, Richter Farris, Tom Cullen und Dayna Jürgens zu schicken. Stu schlug vor, wer den jeweiligen Kandidaten nominiert habe, solle ihm auch den Vorschlag unterbreiten - will heißen, Larry Underwood fragt den Richter, Nick wird mit Tom reden müssen - mit Ralph Brentners Hilfe - und Sue wird mit Dayna reden.
Nick sagte, es könnte ein paar Tage erfordern, mit Tom zu arbeiten, und Stu sagte, damit wäre wohl das Thema angeschnitten, wann man sie schicken sollte. Larry sagte, man könnte sie nicht zusammen schicken, sonst würden sie möglicherweise alle zusammen erwischt werden. Er führte weiter aus, daß sowohl der Richter wie auch Dayna sicher vermuten würden, daß wir mehr als einen Spion geschickt hätten, aber wenn sie keine Namen wüßten, könnten sie auch nichts ausplaudern. Fran meinte, plaudern wäre kaum das richtige Wort, wenn man überlegte, was der Mann im Westen mit ihnen anstellen konnte - wenn es ein Mann war. Glen: »Ich an deiner Stelle würde nicht alles so schwarz sehen, Fran. Wenn wir unserem Gegenspieler auch nur ein Minimum an Intelligenz unterstellen, wird er wissen, daß wir unseren Agenten - so könnte man sie wohl nennen - keine Informationen mitgeben, die wir als seinen Interessen dienlich betrachten. Er wird wissen, daß ihm Folter wenig nützen wird.«
Fran: »Du meinst, er wird ihnen wahrscheinlich die Köpfe streicheln und sie ermahnen, es nicht noch mal zu tun? Ich könnte mir denken, er foltert sie einfach aus dem Grund, weil ihm Folter gefällt. Was sagst du dazu?«
Glen: »Ich glaube, dazu kann ich nicht viel sagen.«
Stu: »Die Entscheidung wurde getroffen, Frannie. Wir waren uns alle einig, daß wir unsere Leute in eine gefährliche Situation schicken, und wir wissen auch alle, daß uns die Entscheidung nicht leichtgefallen ist.«
Glen schlug vor, daß wir uns vorbehaltlich auf folgenden Zeitplan einigen: Der Richter bricht am 26. August auf, Dayna am 27. und Tom am 28.; keiner weiß von den anderen, jeder benützt eine andere Straße. Damit bliebe auch genügend Zeit, mit Tom zu arbeiten, fügte er hinzu.
Nick sagte, mit Ausnahme von Tom Cullen, der durch posthypnotische Suggestion gesagt bekommen würde, wann er zurückkommen mußte, würden die anderen sich auf ihren gesunden Menschenverstand verlassen und den Zeitpunkt für ihre Rückkehr selbst bestimmen müssen, aber das Wetter könnte zu einem Faktor werden - in der ersten Oktoberwoche kann es in den Bergen schon heftig schneien. Nick schlug vor, ihnen zu raten, sich nicht länger als drei Wochen im Westen aufzuhalten.
Fran meinte, sie könnten nach Süden ausweichen, wenn in den Bergen früh Schnee fiel, aber Larry widersprach und gab zu bedenken, daß die Sangre-deCristo-Kette im Wege war, wenn sie nicht bis runter nach Mexiko auswichen. Wenn sie das machten, würden wir sie wahrscheinlich erst im Frühjahr wiedersehen. Larry sagte, wenn das der Fall war, sollte man dem Richter lieber einen Vorsprung geben. Er schlug den 21. August vor, übermorgen. Damit war das Thema Kundschafter - oder Spione, wenn man so will - abgehandelt.
Dann wurde Glen das Wort erteilt; ich zitiere jetzt die Tonbandaufzeichnung:
Glen: »Ich möchte beantragen, daß wir eine weitere öffentliche Versammlung für den 25. August einberufen und schlage einige Punkte vor, die auf dieser Versammlung angesprochen werden sollten.
Zu Anfang möchte ich auf etwas hinweisen, das euch vielleicht überraschen wird. Wir haben angenommen, daß sich etwa sechshundert Leute in der Zone aufhalten; Ralph hat über die größeren Gruppen, die eingetroffen sind, bewundernswert genau Buch geführt, und auf diesen Zahlen basieren unsere Schätzungen der Bevölkerungszahl. Aber es sind auch Leute tröpfchenweise eingetrudelt, manchmal bis zu zehn pro Tag. Ich bin darum heute mit Leo Rockway zum Chautauqua-Auditorium gegangen, und wir haben die Stühle gezählt. Es sind sechshundertsieben Stück. Sagt euch das etwas?«
Sue Stern meinte, das könnte nicht stimmen, denn viele, die keinen Sitzplatz bekamen, hätten in den Gängen gesessen oder hinten gestanden. Dann verstanden wir alle, worauf Glen hinaus wollte, und man könnte sagen, das Komitee war wie vom Donner gerührt. Glen: »Wir können nicht abschätzen, wie viele Stehplätze und Sitzplätze in den Gängen belegt waren, aber ich kann mich noch gut an die Versammlung erinnern und würde sagen, hundert wäre eine ziemlich zurückhaltende Schätzung. Ihr seht also, wir haben schon über siebenhundert Menschen hier in der Zone. Als Folge der Entdeckung, die Leo und ich heute gemacht haben, würde ich beantragen, daß wir als einen Punkt auf die Tagesordnung der nächsten Versammlung ein Volkszählungskomitee setzen.«
Ralph: »Hol's der Teufel! Das hat aber gesessen!«
Glen: »Es ist nicht deine Schuld. Du hast schätzungsweise ein halbes Dutzend Eisen im Feuer, und wir sind uns alle einig, daß du sie hervorragend geschmiedet hast...«
Larry: »Das kann man wohl sagen.«, Glen: »...aber selbst wenn nur vier Vereinzelte täglich eingetroffen sind, macht das fast dreißig pro Woche. Meiner Schätzung nach sind es aber eher zwölf bis vierzehn. Wißt ihr, sie kommen nicht einfach zu einem von uns und stellen sich vor, und da Mutter Abagail nicht da ist, haben sie keinen Anlaufpunkt nach ihrem Eintreffen.«
Daraufhin unterstützte Fran Goldsmith Glens Antrag, daß das Komitee ein Volkszählungskomitee auf die Tagesordnung der Sitzung am 25. August setzen sollte. Besagtes Komitee sollte dafür verantwortlich sein, jeden Einwohner der Freien Zone zu erfassen. Larry: »Ich bin auch dafür, wenn es einen stichhaltigen, praktischen Grund dafür gibt. Aber...«
Nick: »Aber was, Larry?«
Larry: »Nun, haben wir nicht genügend anderes, um das wir uns Sorgen machen müssen, auch ohne Korinthenkackerei und kleinkarierte Bürokratie?«
Fran: »Mir fällt gleich ein stichhaltiger Grund ein, Larry.«
Larry: »Was für einer?«
Fran: »Nun, wenn Glen recht hat, bedeutet das, wir brauchen für die nächste Versammlung einen größeren Saal. Das ist eines. Wenn wir bis zum fünfundzwanzigsten achthundert Menschen hier haben, bekommen wir die nie alle ins Chautauqua Auditorium gequetscht.«
Ralph: »Herrgott, daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht. Ich habe euch ja gesagt, daß ich für diese Arbeit nicht geeignet bin.«
Stu: »Ruhig, Ralph, du machst das großartig.«
Sue: »Und wo sollen wir die verdammte Versammlung abhalten?«
Glen: »Moment mal, Moment mal. Eins nach dem anderen. Es ist ein Antrag eingebracht worden!«
Es wurde 7:0 beschlossen, das Volkszählungskomitee auf die Tagesordnung der nächsten öffentlichen Versammlung zu setzen. Stu schlug daraufhin vor, wir sollten die Versammlung am 25. August im Munzinger Auditorium der C.U. abhalten, das eine größere Kapazität hat - wahrscheinlich über tausend.
Dann bat Glen wieder ums Wort, das ihm erteilt wurde. Glen: »Bevor wir fortfahren, möchte ich noch darauf hinweisen, dass es noch einen guten Grund für das Volkszählungskomitee gibt, und der ist wichtiger als die Frage, wieviel Snacks und Chipstüten wir zu den Versammlungen mitbringen müssen. Wir sollten wissen, wer kommt, aber wir sollten auch wissen, wer geht. Ich glaube nämlich, daß auch welche gehen, wißt ihr. Vielleicht ist es nur Paranoia, aber ich könnte schwören, daß es Gesichter gibt, an die ich mich gewöhnt habe, die einfach nicht mehr da sind. Wie auch immer, als wir im Chautauqua Auditorium fertig waren, sind Leo und ich zu Charlie Impenings Haus gefahren. Und wißt ihr was? Das Haus ist leer, Charlies Sachen sind fort, und Charlies BSA auch.«
Aufruhr des Komitees, auch Schimpfworte, die zwar durchaus phantasievoll waren, aber in diesem Protokoll nichts zu suchen haben.
Daraufhin fragte Ralph, was es uns nützen würde, zu wissen, wer geht. Er sagte, wenn Leute wie Impening sich auf die Seite des dunklen Mannes schlagen wollten, sollten wir doch froh sein, daß wir sie los sind. Mehrere Mitglieder des Komitees spendeten Ralph Beifall, der wie ein Schuljunge errötete, wie ich hinzufügen möchte. Sue: »Nein, ich verstehe Glen. Es wäre wie ein konstanter Informationsabfluß.«
Ralph: »Und was können wir machen? Sie ins Gefängnis stecken?«
Glen: »So häßlich es sich anhören mag, ich glaube, wir sollten ernsthaft darüber nachdenken.«
Fran: »Nein, Sir. Spione schicken... damit werde ich fertig. Aber Leute, die hierhergekommen sind, einsperren, weil ihnen nicht gefällt, was wir machen? Himmel, Glen! Das sind Polizeistaatmethoden!«
Glen: »Ja, genau darauf läuft es hinaus. Aber unsere Situation hier ist äußerst prekär. Du bringst mich in eine Position, wo ich Repressionen befürworten muß, und das ist ziemlich unfair. Ich habe nur gefragt, ob ihr es angesichts unseres Gegenspielers dulden wollt, daß Informationen abfließen.«
Fran: »Es gefällt mir trotzdem nicht. In den fünfziger Jahren hatte Joe McCarthy den Kommunismus. Wir haben den dunklen Mann. Wie schön für uns.«
Glen: »Fran, möchtest du das Risiko eingehen, daß jemand mit einer Information von entscheidender Wichtigkeit von hier verschwindet? Zum Beispiel, daß Mutter Abagail fort ist.«
Fran: »Das kann Charlie Impening ihm sagen. Was haben wir sonst für Informationen von entscheidender Wichtigkeit, Glen? Wandern wir nicht größtenteils ahnungslos und unbedarft durch die Gegend?«
Glen: »Soll er unsere zahlenmäßige Stärke erfahren? Wie wir im technischen Bereich vorankommen? Daß wir nicht einmal einen Arzt haben?«
Fran sagte, das wäre ihr lieber, als Leute einzusperren, weil ihnen nicht gefällt, wie wir die Angelegenheiten in die Hand nehmen. Stu beantragte, daß wir die Diskussion darüber, Leute wegen andersartiger Meinungen einzusperren, vertagen sollten. Der Antrag wurde mit Glens Gegenstimme verabschiedet.
Glen: »Ihr solltet euch lieber damit abfinden, daß ihr euch früher oder später damit auseinandersetzen müßt, wahrscheinlich früher. Schlimm genug, daß Charlie Impening Flagg sein Herz ausschütten kann. Ihr müßt euch fragen, ob ihr das, was Impening weiß, mit einem theoretischen Faktor X multiplizieren wollt. Gut, vergeßt es, ihr habt abgestimmt, die Sache ist vom Tisch. Aber noch etwas... wir sind ohne zeitliche Begrenzung gewählt, ist das schon jemandem aufgefallen? Wir wissen nicht, ob wir sechs Wochen, sechs Monate oder sechs Jahre im Amt sind. Mein Vorschlag wäre ein Jahr... damit dürfte das Ende vom Anfang erreicht sein, um Harolds Ausdruck zu gebrauchen. Ich würde den Zeitraum von einem Jahr auch gerne auf der Tagesordnung der nächsten Sitzung sehen.
Jetzt noch ein Punkt, dann bin ich fertig. Regierung durch Stadtversammlungen - das haben wir grundsätzlich momentan hier, mit uns als gewählten Repräsentanten der Stadt - wird noch eine Weile prima funktionieren, bis wir dreitausend Leute oder so hier haben, aber wenn die Sache zu groß wird, werden sich hauptsächlich Cliquen und Leute einfinden, die ein Anliegen haben... Trinkwasserfluoridierung macht unfruchtbar, Leute, die eine bestimmte Flagge wollen, und so weiter. Mein Vorschlag wäre, dass wir uns alle die Köpfe darüber zerbrechen, wie wir Boulder bis Winter, spätestens nächsten Frühling, in eine Republik verwandeln können.«
Glens letzter Vorschlag wurde formlos diskutiert, aber während dieser Versammlung wurde noch nichts unternommen. Nick bat ums Wort und gab Ralph etwas zum Lesen.
Nick: »Ich schreibe das am Morgen des 19. und möchte es Ralph heute abend geben, damit er es als letzten Punkt vorliest. Manchmal ist es schwer, stumm zu sein, aber ich habe versucht, alle möglichen Folgen meines Vorschlags durchzudenken. Ich möchte auf die Tagesordnung unserer nächsten öffentlichen Versammlung gerne folgende Anfrage setzen: Ob die Freie Zone ein Ministerium für Recht und Ordnung mit Stu Redman als Chef einberufen soll.«
Stu: »Wie kannst du mich mit so was überfallen, Nick?«
Glen: »Interessant. Geht auf das zurück, was wir gerade besprochen haben. Laß ihn zu Ende lesen - Stuart, du bekommst noch Gelegenheit zu sprechen. «
Nick: »Sitz dieses Ministeriums für Recht und Ordnung sollte das County-Gerichtsgebäude von Boulder sein. Stu bekommt die Macht, bis zu dreißig Mann als Ordnungshüter zu ernennen, bei mehr als dreißig muß die Mehrheit des Komitees der Freien Zone die Zustimmung erteilen, bei mehr als siebzig muß die Mehrheit der Freien Zone in einer öffentlichen Sitzung zustimmen. Das ist eine Resolution, die ich auf der nächsten Tagesordnung sehen möchte. Wir können selbstverständlich zustimmen, bis wir schwarz im Gesicht sind, wenn Stu nicht mitmacht.«
Stu: »Stimmt genau!«
Nick: »Wir sind so groß geworden, daß wir ein Gesetz brauchen. Ohne geht es nicht mehr. Wir hatten den Fall des jungen Gehringer, der mit seinem Fastcar die Pearl Street auf und ab gerast ist. Zuletzt hat er einen geparkten Wagen gerammt und Glück gehabt, daß er mit einer Stirnwunde davongekommen ist. Er hätte sich oder andere umbringen können. Jeder, der ihn gesehen hat, wußte genau, dass es nur Ärger geben wird, M-O-N-D, und das buchstabiert man Ärger, wie Tom sagen würde. Aber keiner hat ihn aufgehalten, weil keiner sich dazu befugt glaubte. Das war nur ein Fall. Dann Rieh Moffat. Wahrscheinlich wissen einige von euch, wer Rieh ist, aber für diejenigen, die es nicht wissen, er ist wahrscheinlich der einzige schwere Alkoholiker der Zone. Wenn er nüchtern ist, ist er ein passabler Kerl, aber wenn er getrunken hat, wird er völlig unberechenbar, und er ist oft betrunken. Vor drei oder vier Tagen hat er sich vollaufen lassen und beschlossen, jede Schaufensterscheibe in der Arapahoe einzuschlagen. Als er ein bißchen nüchtern geworden war, habe ich mit ihm darüber gesprochen - natürlich auf meine Art, ihr wißt schon, schriftlich -, und er hat sich ziemlich geschämt. Er deutete hinter sich und sagte: >Sieh dir das an. Das war ich. Überall Glas auf dem Gehweg. Und wenn sich nun ein Kind verletzt? Dann bin ich schuld.<«
Ralph: »Dafür habe ich kein Verständnis. Gar keins.«
Fran: »Komm schon, Ralph. Jeder weiß, daß Alkoholismus eine Krankheit ist.«
Ralph: »Daß ich nicht lache, Krankheit! Mangel an Selbstbeherrschung, das ist es.«
Stu: »Und ich rufe euch beide zur Ordnung. Regt euch wieder ab.«
Ralph: »Tut mir leid, Stu. Ich werde mich damit begnügen, Nicks Brief hier vorzulesen.«
Fran: »Und ich bin mindestens zwei Minuten still, Herr Vorsitzender. Ich verspreche es.«
Nick: »Langer Rede kurzer Sinn, ich habe Rieh einen Besen besorgt, und er hat das meiste zusammengefegt. Sogar recht ordentlich. Aber er hatte recht zu fragen, warum ihn keiner daran gehindert hat. Früher konnte ein Mann wie Rieh hochprozentiges Zeug gar nicht bekommen; Leute wie Rieh waren Wermutbrüder. Aber heute warten unglaubliche Mengen Schnaps in den Läden nur darauf, daß sie von den Regalen geholt werden. Im übrigen bin ich der Meinung, daß er spätestens nach dem zweiten Fenster hätte aufgehalten werden müssen, aber er hat auf der Südseite der Straße über drei Blocks hinweg sämtliche Fenster eingeschlagen. Er hat nur aufgehört, weil er müde wurde. Und noch ein Beispiel: Wir hatten einen Fall, wo ein Mann, dessen Namen ich nicht nennen will, herausgefunden hat, daß seine Frau, deren Namen ich ebenfalls nicht nenne, ihr Mittagsschläfchen mit einer dritten Partei verbracht hat. Ich glaube, ihr wißt alle, wen ich meine.«
Sue: »Ja, ich glaube auch. Groß mit den Fäusten.«
Nick: »Jedenfalls hat der fragliche Mann die dritte Partei zusammengeschlagen, und danach die Frau. Ich denke, es kommt uns nicht so sehr darauf an, wer recht oder unrecht hatte...«
Glen: »Da täuschst du dich, Nick.«
Stu: »Laß den Mann ausreden, Glen.«
Glen: »Das werde ich, aber auf den Punkt möchte ich noch einmal zurückkommen.«
Stu: »Gern. Weiter, Ralph.«
Ralph: »Jawoll - ist sowieso bald zu Ende.«
Nick: »... entscheidend ist, der fragliche Mann hat ein Verbrechen begangen, Tätlichkeiten und Prügel, und er läuft frei herum. Von den drei Fällen machen sich Normalbürger deswegen am meisten Sorgen. Wir haben eine Schmelztiegelgesellschaft, einen regelrechten Eintopf; es wird zu allen möglichen Konflikten und Unstimmigkeiten kommen. Ich glaube, keiner von uns möchte eine Situation wie in einem Grenzposten hier. Stellt euch einmal vor, der Mann hätte sich einen Fünfundvierziger aus der Pfandleihe geholt und die beiden nicht zusammengeschlagen, sondern erschossen. Dann hätten wir einen Mörder, der frei herumläuft.«
Sue: »Mein Gott, Nicky, was soll das sein? Das Wort zum Sonntag?«
Larry: »Klar, klingt nicht schön, aber er hat recht. Es gibt in der Armee ein altes Sprichwort, das lautet: >Was schiefgehen kann, geht auch schief.<«
Nick: »Stu ist unser privater und öffentlicher Sprecher, was bedeutet, die meisten sehen ihn schon als Autoritätsfigur. Und ich persönlich finde, Stu ist ein guter Mann.«
Stu: »Danke für die netten Worte, Nick. Ich glaube, dir ist nie aufgefallen, daß ich Plateausohlen trage. Aber im Ernst - ich nehme die Nominierung an, wenn ihr es wollt. Ich will den elenden Job eigentlich nicht - soweit ich mich an Texas erinnern kann, besteht Polizeiarbeit hauptsächlich darin, sich die Kotze vom Hemd zu wischen, wenn ein Typ wie Rieh Moffat einen vollgereihert hat, oder Dummköpfe wie den kleinen Gehringer von der Straße abzukratzen. Ich möchte nur, daß wir, wenn es in der öffentlichen Versammlung angesprochen wird, ebenfalls einen Zeitraum von einem Jahr festlegen, wie beim Komitee. Und ich möchte klarstellen, daß ich nach Ablauf dieses Jahres abtrete. Wenn das akzeptabel ist, okay.«
Glen: »Ich glaube, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, daß es das ist. Ich möchte Nick für seinen Antrag danken und fürs Protokoll festhalten, daß ich dies für einen Geniestreich halte. Ich unterstütze den Antrag.«
Stu: »Okay, der Antrag wurde gestellt. Eine Diskussion?«
Fran: »Ja, ich wünsche eine Diskussion. Ich hab' eine Frage. Was ist, wenn dir jemand den Kopf wegpustet?«
Stu: »Ich glaube nicht...«
Fran: »Nein, du glaubst nicht. Du glaubst es nicht. Aber was wird Nick mir erzählen, wenn es sich herausstellt, daß ihr alle falsch denkt? Oh, tut mir leid, Fran. Wird er das sagen? Dein Mann liegt mit einem Einschußloch im Kopf unten im Gerichtsgebäude; wir haben wohl einen Fehler gemacht. Heilige Maria und Josef, ich bekomme ein Baby, und ihr wollt, daß er Pat Garett spielt!«
Es folgte eine Diskussion von zehn Minuten, die teilweise irrelevant war, und eure pflichtbewußte Protokollführerin Fran fing an zu weinen, hatte sich aber bald wieder in der Gewalt. Die Abstimmung, Stu zum Marshal der Freien Zone zu machen, ging 6:1 aus, und diesmal änderte Fran ihre Meinung nicht. Glen bat noch einmal ums Wort, bevor die Sitzung geschlossen wurde.
Glen: »Dies sind wieder ein paar Gedanken, über die wir nicht abstimmen müssen, aber nachdenken sollten. Ich möchte den letzten der drei Fälle aufgreifen, die Nick beschrieben hat. Er beschrieb den Fall und sagte abschließend, es ginge nicht darum, wer recht oder unrecht hat. Ich finde, da irrt er sich. Stu ist einer der gerechtesten Männer, die ich je kennengelernt habe. Aber die Einhaltung von Gesetzen ohne Gerichte ist keine Gerechtigkeit. Es wäre Volksjustiz, Faustrecht. Nehmen wir an, der Mann, den wir alle kennen, hätte einen Fünfundvierziger gehabt und seine Frau und ihren Geliebten erschossen. Und nehmen wir weiter an, Stu als unser Marshal hätte ihn am Schlafittchen gepackt und in den Bunker gesteckt. Was dann? Wie lange könnten wir ihn eingesperrt lassen? Von Rechts wegen könnten wir ihn überhaupt nicht einsperren, denn in der Verfassung, die wir gestern abend angenommen haben, steht ausdrücklich, daß ein Mann als unschuldig zu gelten hat, bis seine Schuld vor einem ordentlichen Gericht erwiesen wurde. Nun wissen wir natürlich alle, daß wir ihn einsperren würden, wenn er frei herumläuft! Wir würden es also tun, obwohl es gegen die Verfassung wäre, denn wenn Sicherheit und Verfassungsmäßigkeit nicht zu vereinbaren sind, muß Sicherheit den Vorrang haben. Wir müssen also Sicherheit und Verfassungsmäßigkeit so schnell wie möglich in Übereinstimmung bringen. Wir müssen über eine Gerichtsbarkeit nachdenken.«
Fran: »Das ist sehr interessant, und ich stimme zu, daß wir darüber nachdenken sollten, aber ich möchte an dieser Stelle den Antrag einbringen, daß wir die Sitzung beenden. Es ist spät, und ich bin sehr müde.«
Ralph: »Mann, den Antrag unterstütze ich. Sprechen wir nächstesmal über Gerichte. Ich habe momentan soviel im Kopf, dass mir ganz schwindlig ist. Den Staat neu zu erfinden ist viel schwieriger, als es am Anfang ausgesehen hat.«
Larry: »Amen.«
Stu: »Der Antrag, die Sitzung zu beenden, wurde gestellt. Seid ihr einverstanden, Leute?«
Der Antrag wurde mit 7:0 Stimmen angenommen.
Frances Goldsmith, Protokollführerin
Fran und Stu hatten die anderen zur Tür gebracht und standen noch beisammen in der lauen Sommernacht. Frans Augen waren noch rot vom Weinen während der Versammlung, und Stu fand, daß sie noch nie so müde ausgesehen hatte.
»Diese Sache mit dem Marshal...« fing er an.
»Stu, darüber möchte ich nicht reden.«
»Jemand muß es machen, Liebes. Und Nick hat recht. Ich bin die logische Wahl.«'
»Scheiß auf die Logik. Was ist mit mir und dem Kind? Siehst du in uns keine Logik, Stu?«
»Ich weiß genau, was du dir für dein Kind wünschst«, sagte er leise.
»Hast du es mir nicht oft genug gesagt? Du willst, daß es in eine Welt geboren wird, die nicht total verrückt ist. Du willst, daß er - oder sie - in Sicherheit aufwächst. Das will ich auch. Aber darüber wollte ich vor den anderen nicht sprechen. Das geht nur dich und mich etwas an. Du und das Baby seid der Hauptgrund, weshalb ich okay gesagt habe.«
»Das weiß ich«, sagte sie mit leiser, erstickter Stimme. Er legte ihr die Finger unters Kinn und hob ihr Gesicht hoch. Er lächelte sie an, und auch sie versuchte zu lächeln. Es war ein müdes Lächeln, Tränen liefen ihr über die Wangen, aber es war besser als gar kein Lächeln.
»Es wird schon alles gut werden«, sagte er.
Sie schüttelte langsam den Kopf, und ein paar Tränen flogen in die warme Dunkelheit.
»Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Nein, das kann ich nicht glauben.«
Sie lag bis tief in die Nacht wach und dachte, daß Wärme nur durch Feuer entsteht - Prometheus wurde dafür die Leber ausgehackt - und Liebe immer Blutzoll fordert.
Eine seltsame Gewißheit, daß sie eines Tages in Blut waten würden, stahl sich über sie wie eine schleichende Betäubung. Bei diesem Gedanken legte sie schützend die Hände auf den Bauch und mußte zum ersten Mal seit Wochen wieder an ihre Träume denken: an den dunklen Mann mit seinem Grinsen... und dem verbogenen Kleiderbügel.
Harold Lauder beteiligte sich nicht nur in seiner Freizeit mit einer Gruppe von ausgesuchten Freiwilligen an der Suche nach Mutter Abagail, er arbeitete auch im Beerdigungskomitee mit, und am 21. August saß er mit fünf anderen Männern, die alle Gummistiefel und Schutzkleidung und dicke Latexhandschuhe trugen, hinten auf einem Kipplastwagen. Der Leiter des Beerdigungskomitees, Chad Nords, war draußen auf dem Beerdigungsplatz Nr. 1, wie er ihn mit fast schauerlicher Gelassenheit nannte. Dieser lag zehn Meilen südwestlich von Boulder in einem Gebiet, wo früher Kohle im Tagebau gewonnen wurde. Der Platz lag so kahl und öde wie Mondgebirge unter der glühenden Augustsonne. Chad hatte den Posten widerwillig angenommen, weil er früher Assistent eines Bestattungsinstituts in Morristown, New Jersey, gewesen war.
»Dies hat nichts mit einem Beerdigungsunternehmen zu tun«, hatte er heute morgen im Greyhound-Busbahnhof zwischen Arapahoe und Walnut Street gesagt, wo das Komitee seine Operationsbasis hatte. Er zündete sich mit einem Streichholz eine Winston an und grinste den zwanzig Männern zu, die um ihn saßen. »Das heißt, es ist ein Unternehmen, aber kein Geschäft, wenn ihr versteht, was ich meine.«
Das erntete gequältes Lächeln, und das von Harold Lauder war das breiteste. Sein Magen knurrte ständig, denn er hatte nicht gewagt zu frühstücken. Er war nicht sicher gewesen, daß er nicht alles wieder von sich geben würde, wenn er an die vor ihm liegende Arbeit dachte. Er hätte sich auch an der Suche nach Mutter Abagail beteiligen können, und kein Mensch hätte ein Widerwort gemurmelt, obwohl jeder denkende Mensch in der Zone (falls es außer ihm denkende Menschen in der Freien Zone gab, was fraglich war) es natürlich für eine recht komische Freizeitbeschäftigung hielt, in den Tausenden von Quadratmeilen großen Wäldern und Ebenen um Boulder nach ihr zu suchen. Und es war sehr gut möglich, daß sie Boulder überhaupt nicht verlassen hatte; daran schien niemand gedacht zu haben (aber das überraschte Harold überhaupt nicht). Sie hätte sich in einem Haus in den Randbezirken einrichten können, und sie würden sie nie finden, wenn sie nicht jedes Haus einzeln durchsuchten. Weder Redman noch Andres hatten protestiert, als Harold vorschlug, nur abends und an Wochenenden nach ihr zu suchen, was Harold verriet, daß auch sie den Fall für abgeschlossen hielten.
Er hätte sich damit begnügen können, aber wer macht sich in einer Gemeinschaft am schnellsten beliebt? Wem traut man am meisten? Natürlich dem Mann, der die Dreckarbeit macht, und das auch noch lächelnd. Der Mann, der die Arbeit tut, vor der man sich selbst gern drückt.
»Es ist, als würde man Klafterholz vergraben«, hatte Chad zu ihnen gesagt. »Wenn es euch gelingt, es so zu sehen, ist alles okay. Manche werden vielleicht gleich am Anfang kotzen müssen. Das ist keine Schande; aber versucht, es irgendwo zu machen, wo die anderen euch nicht dabei zusehen müssen. Wenn ihr gekotzt habt, fällt es auch leichter, so zu denken: Klafterholz. Nur Klafterholz.«
Die Männer sahen einander unbehaglich an.
Chad teilte sie in drei Gruppen zu sechs Mann auf. Er und die beiden überzähligen Männer bereiteten die Plätze für die Leichen vor. Jeder der drei Gruppen wurde ein bestimmter Stadtteil zugeteilt. Harolds Gruppe sollte den Tag in Table Mesa verbringen, wo sie sich von der Abfahrt Denver-Boulder langsam nach Westen vorarbeiteten. Martin Drive hinauf zur Kreuzung Broadway. Thirty-ninth Street hinunter, Fortieth Street wieder hinauf, an Reihenhäusern entlang, die vor dreißig Jahren zur Zeit von Boulders Bevölkerungsboom gebaut worden waren, einstöckige Häuser mit Souterrain.
Chad hatte aus dem hiesigen Arsenal der Nationalgarde Gasmasken besorgt, aber die benötigten sie erst nach dem Mittagessen (Mittagessen? Was für ein Mittagessen? Das von Harold bestand aus einer Dose Berry's Apfelkuchenfüllung; mehr brachte er nicht hinunter), als sie die Kirche der Heiligen der letzten Tage am unteren Table Mesa Drive betraten. Dorthin waren sie von der Seuche gezeichnet gekommen, dort waren sie gestorben, über siebzig, und der Gestank war grauenhaft.
»Klafterholz«, hatte einer der Männer aus Harolds Gruppe mit hoher, angewiderter, pieksender Stimme gesagt, und Harold drehte sich um und stolperte an ihm vorbei nach draußen. Er lief hinter ein hübsches Ziegelgebäude, das in Wahljahren als Wahllokal gedient hatte, dort kam ihm Berry's Apfelkuchenfüllung wieder hoch, und er stellte fest, daß Norris recht gehabt hatte: ohne sie ging es ihm besser.
Sie mußten zweimal fahren und brauchten fast den ganzen Nachmittag, bis die Kirche leer war. Zwanzig Männer, dachte Harold, um alle Leichen in Boulder zu beseitigen. Das ist fast komisch. Die meisten früheren Bewohner Boulders waren zwar aus Angst vor dem metereologischen Institut wie die Kaninchen geflohen, aber dennoch... selbst wenn sie die Beerdigungstrupps mit dem Anwachsen der Bevölkerung verstärkten, würden sie es gerade so schaffen, vor den ersten schweren Schneefällen alle Leichen unter die Erde zu bekommen (er selbst würde dann natürlich nicht mehr hier sein), und die meisten Leute würden nie erfahren, wie groß die Gefahr einer neuen Seuche war - eine, gegen die sie nicht immun waren.
Das Komitee der Freien Zone hat so tolle Einfälle, dachte er voll Verachtung. Und das Komitee würde es schaffen... natürlich nur, solange sie Harold Lauder hatten, der darauf achtete, daß sie die Schnürsenkel gebunden hatten. Dafür war der gute alte Harold gut genug, aber nicht so gut, daß sie ihn in ihr gottverdammtes ständiges Komitee aufgenommen hätten. Himmel, nein. Er war nie gut gewesen, nicht einmal gut genug, um ein Mädchen zum Klassenfest der High School von Ogunquit einzuladen. Gott nein, wir wollen doch nicht Harold Lauder. Wir wollen nicht vergessen, Leute - und jetzt kommen wir zu der sprichwörtlichen Stelle, wo das altbekannte Säuge- und Haustier zur letzten Ruhe gebettet ist -, daß es keine logische Frage ist, nicht einmal eine Frage des gesunden Menschenverstands. In letzter Analyse handelt es sich ganz einfach um einen verdammten Schönheitswettbewerb.
Nun, jemand erinnert sich. Jemand schreibt die Punkte auf, Jungs. Und der Name dieses Jemand lautet - könnten wir bitte einen Trommelwirbel haben, Maestro? - Harold Emery Lauder. Er ging in die Kirche zurück, wischte sich den Mund ab, grinste, so gut er konnte, und nickte den anderen zu, daß er weitermachen konnte. Jemand klopfte ihm auf den Rücken; Harolds Grinsen wurde breiter, und er dachte: Eines Tages wirst du dafür deine Hand verlieren, Scheißhaufen.
Ihre letzte Tour machten sie um Viertel nach vier, den Lastwagen voll mit den letzten Leichen der letzten Tage. In der Stadt mußte der Lastwagen den liegengebliebenen Fahrzeugen ausweichen, aber auf der Colorado-119 waren den ganzen Tag Abschleppfahrzeuge im Einsatz gewesen und hatten liegengebliebene Autos in den Straßengraben auf beiden Seiten geschafft. Dort lagen sie wie weggeworfenes Spielzeug eines Riesenkindes.
Am Beerdigungsplatz parkten schon die beiden anderen orangefarbenen Laster. Die Männer standen neben den Fahrzeugen, hatten die Handschuhe ausgezogen, und ihre Fingerspitzen waren weiß und runzlig, weil sie den ganzen Tag unter Gummi geschwitzt hatten. Sie rauchten und unterhielten sich unzusammenhängend. Die meisten waren blaß.
Norris und seine beiden Helfer hatten inzwischen eine Wissenschaft daraus gemacht. Sie rollten eine große Plastikplane auf dem Felsboden aus. Norman Kellogg, der Mann aus Louisiana, der Harolds Laster fuhr, setzte bis zum Rand der Plane zurück. Die hintere Ladeklappe knallte herunter, die ersten Leichen purzelten wie steife Puppen auf die Plastikplane. Harold hätte sich gern abgewandt, fürchtete aber, die anderen könnten es als Schwäche auslegen. Es machte ihm nicht allzuviel aus, sie herauspurzeln zu sehen; es war das Geräusch, das ihn fertigmachte. Das Geräusch, das sie machten, wenn sie auf ihrem zukünftigen Leichentuch aufprallten.
Der Motor des Kippers dröhnte tiefer; die Hydraulik jaulte, als die Ladefläche sich hob. Jetzt rollten die Leichen wie ein grotesker menschlicher Regen herunter. Harold empfand einen Augenblick Mitleid, so tief, daß es schmerzte. Klafterholz, dachte er. Wie recht Norris hatte. Mehr ist nicht von ihnen übriggeblieben. Nur... Klafterholz.
»Ho!« schrie Chad Norris, und Kellogg fuhr den Kipper weg und machte ihn aus. Chad und seine Helfer sprangen mit Harken auf die Plane, und jetzt drehte sich Harold um und tat so, als wollte er nach Zeichen von Regen am Himmel sehen, und er war nicht der einzige - aber er hörte das Geräusch, das ihn bis in seine Träume verfolgen sollte, und das war das Klimpern des Kleingelds, das aus den Taschen der toten Männer und Frauen fiel, während Chad und seine Helfer die Leichen mit den Harken gleichmäßig verteilten. Die Münzen, die auf Plastik fielen, erzeugten ein Geräusch, das Harold auf absurde Weise an ein Flohhüpfspiel erinnerte. Der ekelerregende süßliche Geruch von Verwesung stieg in die warme Luft auf. Als er wieder hineinsah, zogen die drei die Enden der schweren Plane über die Leichen, daß ihre Armmuskeln sich spannten, und grunzten dabei vor Anstrengung. Ein paar Männer, darunter auch Harold, kamen ihnen zu Hilfe. Zwanzig Minuten später war dieser Teil der Arbeit erledigt, die Plastikplane lag auf dem Boden wie eine riesige Gelatinekapsel. Norris stieg ins Fahrerhaus einer hellgelben Planierraupe und ließ den Motor an. Der zerschrammte Schieber sank herab. Die Planierraupe rollte vorwärts.
Ein Mann namens Weizak, ebenfalls von Harolds Laster, verließ die Szene mit den ruckartigen Schritten einer schlecht geführten Marionette. Eine Zigarette zitterte zwischen seinen Fingern. »Mann, das kann ich nicht sehen«, sagte er, als er an Harold vorbeiging. »Es ist wirklich komisch. Bis heute war mir nicht bewußt, daß ich Jude bin.«
Die Planierraupe schob und rollte das große Plastikpaket in eine lange rechteckige Grube. Chad setzte zurück, stellte den Motor ab und kletterte herunter. Er winkte den Männern, sich um ihn zu versammeln, ging zu einem der Lastwagen und stellte einen Fuß auf das Trittbrett.
»Keine Durchhalteparolen«, sagte er, »aber ihr habt verdammt gut gearbeitet. Ich schätze, wir haben heute fast tausend Einheiten weggeschafft.«
Einheiten, dachte Harold.
»Ich weiß, was diese Arbeit einem Mann abverlangt. Das Komitee hat versprochen, vor Ende der Woche noch zwei Leute zu schicken, aber ich weiß, das ändert nichts daran, wie euch zumute ist - mir übrigens auch. Ich will nur sagen, wenn einer von euch genug hat, wenn er glaubt, daß er es keinen Tag mehr aushaken kann, dann muß er mir auf der Straße nicht aus dem Weg gehen. Aber wenn ihr meint, daß ihr es nicht schafft, ist es verdammt wichtig, daß ihr morgen einen Ersatzmann stellt. Für mich ist dies die wichtigste Aufgabe in der Zone. Jetzt ist es nicht so schlimm, aber wenn nächsten Monat die Regenfälle einsetzen und wir in Boulder immer noch zwanzigtausend Leichen liegen haben, werden die Leute krank. Wenn ihr denkt, daß ihr es schafft, sehen wir uns morgen früh im Busbahnhof.«
»Ich bin da«, sagte jemand.
»Ich auch«, sagte Norman Kellogg. »Wenn ich heute abend sechs Stunden gebadet habe.« Gelächter.
»Rechnen Sie mit mir«, schloß sich Weizak an.
»Mit mir auch«, sagte Harold ruhig.
»Es ist eine Dreckarbeit«, sagte Norris mit leiser, bewegter Stimme.
»Ihr seid gute Leute. Ich bezweifle, daß die anderen je erfahren, wie gut.«
Harold verspürte Zusammengehörigkeitsgefühl, Kameradschaft, und kämpfte ängstlich dagegen an. Das gehörte nicht zum Plan.
»Wir sehen uns morgen, Hawk«, sagte Weizak und drückte ihm kurz die Schulter.
Harold grinste erschrocken und abwehrend. Hawk? War das ein Witz? Natürlich, ein schlechter. Billiger Sarkasmus. Den dicken, pickligen Harold Lauder >Habicht< zu nennen. Er spürte, wie der alte schwarze Haß in ihm hochkam, diesmal gegen Weizak gerichtet, aber dann verschwand er in plötzlicher Verwirrung. Er war nicht mehr dick. Man konnte ihn nicht einmal mehr untersetzt nennen. Seine Pickel waren während der letzten sieben Wochen verschwunden. Weizak wußte nicht, daß er früher das Gespött der Schule gewesen war. Weizak wußte nicht, daß Harolds Vater ihn einmal gefragt hatte, ob er homosexuell sei. Weizak wußte nicht, daß er das Kreuz gewesen war, das seine allseits beliebte Schwester tragen mußte. Und wenn er es gewußt hätte, wäre es Weizak wahrscheinlich scheißegal gewesen.
Harold stieg auf die Ladefläche eines der Laster; in seinem Kopf herrschte heilloses Durcheinander. Plötzlich erschienen ihm der alte Kummer, die alten Kränkungen und die unbeglichenen Rechnungen so wertlos wie das Papiergeld, an dem sämtliche Registrierkassen Amerikas erstickten.
Konnte das wahr sein? Konnte das wirklich wahr sein? Er fühlte sich panisch einsam, ängstlich. Nein, entschied er schließlich. Es konnte nicht wahr sein. Bedenke: Wenn ein Mann einen so starken Willen hat, daß er der schlechten Meinung, die andere von ihm haben, widerstehen kann, wenn er es erträgt, daß sie ihn für schwul halten, für lästig oder bloß ein altes Arschloch, dann muß er stark genug sein, Widerstand aufzubieten gegen...
Gegen was?
Ihre gute Meinung?
War diese Art von Logik nicht... nun, diese Art von Logik war Irrsinn, oder nicht?
Ein altes Zitat ging ihm durch den gequälten Verstand, der Ausspruch eines Generals, der im Zweiten Weltkrieg dafür eingetreten war, die Amerikaner japanischer Abstammung zu internieren. Diesem General wurde erklärt, daß es an der Westküste, wo die meisten eingebürgerten Japaner lebten, keinen Sabotageakt gegeben hatte. Der General hatte geantwortet: »Gerade die Tatsache, daß es keine Sabotageakte gegeben hat, ist eine bedenkliche Entwicklung. «
War das so?
War er so?
Der Kipper fuhr auf den Parkplatz des Busbahnhofs. Harold sprang über die Wagenseite und überlegte, daß sich auch seine Geschicklichkeit um tausend Prozent verbessert hatte, entweder durch das Abnehmen oder die ständige körperliche Betätigung oder beides.
Der Gedanke kam hartnäckig wieder und wollte sich nicht verdrängen lassen: Ich könnte ein Segen für diese Gemeinschaft sein.
Aber sie hatten ihn ausgeschlossen.
Das spielt keine Rolle. Ich habe Verstand genug, das Schloß der Tür zu knacken, die sie mir vor der Nase zugeschlagen haben. Und ich glaube, wenn sie erst aufgeschlossen ist, werde ich auch den Mut haben, sie zu öffnen.
Aber...
Hör auf! Hör auf! Du könntest genausogut Handschellen und Fußketten mit diesem einen Wort darauf tragen. Aber! Aber! Aber! Kannst du nicht damit aufhören, Harold? Kannst du, um Himmels willen, nicht von deinem ach so hohen Roß heruntersteigen?
»He, Mann, alles in Ordnung?«
Harold zuckte zusammen. Es war Norris, der aus dem Büro des Fahrdienstleiters kam, das er in Beschlag genommen hatte. Er sah müde aus.
»Ich? Mir geht es gut. Ich habe nur nachgedacht.«
»Mir scheint, wenn du nachdenkst, kommt immer was dabei raus.«
Harold schüttelte den Kopf. »Stimmt nicht.«
»Nicht?« Chad ließ es dabei bewenden. »Kann ich dich irgendwo absetzen?«
»Hm -hmm. Ich hab' den Chopper.«
»Weißt du was, Hawk? Ich glaube, die meisten Jungs kommen morgen wirklich wieder.«
»Ja, ich auch.« Harold ging zu seinem Motorrad und stieg auf. Er stellte fest, daß ihm sein neuer Spitzname gegen seinen Willen gefiel.
Norris schüttelte den Kopf. »Das hätte ich mir nie träumen lassen. Ich dachte mir, wenn sie sehen, wie die Arbeit tatsächlich ist, würden ihnen tausend andere Dinge einfallen, die sie zu tun haben.«
»Ich will dir sagen, was ich glaube«, sagte Harold. »Ich glaube, es ist einfacher, eine Dreckarbeit für sich selbst zu machen als für andere. Manche Männer haben zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben für sich gearbeitet.«
»Ja, ich glaube, da ist was dran. Wir sehn uns dann morgen, Hawk.«
»Um acht«, bestätigte Harold und fuhr über die Arapahoe zum Broadway. Rechts sah er eine Gruppe, größtenteils Frauen, die mit einem Abschleppwagen und Seilwinde ein Lastwagengespann aus dem Weg räumten, das sich quergestellt hatte und teilweise die Straße versperrte. Eine beachtliche Menschenmenge sah zu. Die Stadt wächst, dachte Harold. Ich kenne nicht einmal die Hälfte dieser Leute.
Er fuhr nach Hause und machte sich Gedanken über das Problem, das er längst gelöst zu haben glaubte. Als er daheim war, parkte eine kleine weiße Vespa am Bordstein. Und eine Frau saß auf den Stufen zur Eingangstür.
Sie stand auf, als Harold den Gehweg entlangkam, und streckte die Hand aus. Sie war eine der bemerkenswertesten Frauen, die Harold je gesehen hatte - er hatte sie natürlich schon vorher gesehen, aber noch nie so nahe.
»Ich bin Nadine Cross«, sagte sie. Sie hatte eine tiefe, fast rauhe Stimme. Ihr Händedruck war fest und kühl. Harolds Blick glitt kurz über ihren Körper, eine Angewohnheit, die Mädchen haßten, wie er wußte, die er aber nicht lassen konnte. Ihr schien es nichts auszumachen. Sie trug eine leichte Baumwollhose, die sich eng um ihre langen Beine schmiegte, und eine ärmellose Bluse aus einem hellblauen Seidenstoff. Und keinen BH darunter. Wie alt mochte sie sein? Dreißig? Fünfunddreißig? Eher jünger. Sie war vor ihrer Zeit grau geworden.
Überall? fragte der ewig geile (und scheinbar ewig jungfräuliche) Teil seines Verstands, und sein Herz schlug etwas schneller.
»Harold Lauder«, sagte er lächelnd. »Sie sind mit Larry Underwoods Gruppe gekommen, richtig?«
»Stimmt.«
»Sie sind Stu und Frannie und mir durch die endlose Weite gefolgt, soweit ich weiß. Larry hat mich letzte Woche besucht und mir eine Flasche Wein und ein paar Schokoriegel gebracht.«
Seine Worte hatten einen falschen Klang, und er wußte plötzlich genau, ihr war klar, daß er sie abgeschätzt und in Gedanken ausgezogen hatte. Er bekämpfte den Impuls, sich die Lippen zu lecken, was ihm gelang... wenigstens vorerst. »Ein verdammt netter Kerl.«
»Larry?« Sie lachte leise, ein seltsames und irgendwie geheimnisvolles Geräusch. »Ja, Larry ist ein Prinz.«
Sie sahen sich einen Moment an, und Harold war noch nie von einer Frau angesehen worden, deren Augen so offen und zugleich fragend waren. Er spürte wieder seine Erregung und die warme Nervosität im Bauch.
»Nun«, sagte er. »Was kann ich heute nachmittag für Sie tun, Miss Cross?«
»Erst einmal können Sie mich Nadine nennen. Und Sie könnten mich zum Abendessen einladen. Dann wären wir schon ein Stück weiter.«
Das Gefühl der nervösen Erregung breitete sich aus. »Darf ich Sie zum Abendessen einladen, Nadine?«
»Sehr gern«, sagte sie und lächelte. Als sie die Hand auf seinen Unterarm legte, verspürte er ein Kribbeln wie einen elektrischen Schlag. Sie sah ihn unverwandt an. »Vielen Dank.«
Er fummelte den Haustürschlüssel ins Schloß und dachte: Jetzt wird sie mich gleich fragen, warum ich meine Tür abschließe, und ich werde murmeln und stottern und nach einer Antwort suchen und wie ein Trottel dastehen.
Aber Nadine fragte nicht.
Er kochte das Essen nicht; das übernahm sie.
Harold hatte schon den Punkt erreicht, wo er es für unmöglich hielt, eine halbwegs vernünftige Mahlzeit aus Dosen zu bereiten, aber Nadine gelang es recht gut. Plötzlich erinnerte er sich voll Abscheu daran, mit welcher Arbeit er den Tag verbracht hatte, und er bat sie, sich zwanzig Minuten allein zu beschäftigen (wahrscheinlich war sie aus rein weltlichen Gründen hier, beschwichtigte er sich verzweifelt), während er duschte.
Als er zurückkam - er hatte sich geschrubbt und mit zwei Eimern Wasser geduscht -, machte sie sich schon in der Küche zu schaffen. Auf dem Gaskocher sprudelte fröhlich das Wasser. Als er die Küche betrat, schüttete sie eine halbe Tasse Hörnchen in den Topf. In einer Pfanne auf dem anderen Brenner brutzelte etwas; er roch französische Zwiebelsuppe, Rotwein und Pilze. Sein Magen knurrte. Die ekelhafte Arbeit des Tages hatte plötzlich ihre Macht über seinen Appetit verloren.
»Riecht phantastisch«, sagte er. »Es wäre nicht nötig gewesen, aber ich will mich nicht beschweren.«
»Es ist Filet Stroganoff«, sagte sie und wandte sich ihm lächelnd zu.
»Es ist selbstverständlich nur ein Notbehelf, fürchte ich. Dosenfleisch gehört nicht zu den empfohlenen Zutaten, wenn sie das Gericht in den besten Restaurants der Welt zubereiten, aber...« Sie zuckte die Achseln und wies damit auf die Unzulänglichkeiten hin, unter denen sie alle zu leiden hatten.
»Nett, daß Sie das tun.«
»Gern geschehen.« Sie sah ihn wieder mit diesem fragenden Blick an, wandte sich ihm halb zu, und der seidige Stoff der Bluse straffte sich über ihren Brüsten und brachte sie reizvoll zur Geltung. Er spürte, wie ihm heiße Röte den Hals emporkroch und bemühte sich krampfhaft, keine Erektion zu bekommen. Er fürchtete, seine Willenskraft würde für diese Aufgabe nicht ausreichen. Er fürchtete sogar, sie würde nicht einmal annähernd ausreichen. »Wir werden gute Freunde sein«, sagte sie.
»Wir... werden?«
»Ja.« Sie wandte sich wieder dem Herd zu, schien das Thema abgeschlossen zu haben und ließ Harold in einem wahren Dschungel von Möglichkeiten zurück.
Danach beschränkte sich ihre Unterhaltung ausschließlich auf Triviales... Klatsch der Freien Zone, mehr nicht. Aber davon gab es schon genügend. Einmal, beim Essen, versuchte er noch einmal, sie zu fragen, was sie hergeführt hatte, aber sie lächelte nur und schüttelte den Kopf. »Ich sehe einen Mann gern essen.«
Einen Moment dachte Harold, sie würde von einem anderen sprechen, aber dann merkte er, daß sie ihn meinte. Und er aß; er nahm drei Portionen Stroganoff, und das Dosenfleisch beeinträchtigte den Geschmack nach Harolds Meinung überhaupt nicht. Die Unterhaltung schien wie von selbst zu laufen und ließ ihm Zeit, den Löwen in seinem Bauch zu füttern und sie dabei anzusehen.
Für eine bemerkenswerte Frau hatte er sie gehalten? Sie war wunderschön.
Reif und wunderschön. Ihr Haar, das sie zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, damit sie leichter kochen konnte, war mit weißen Strähnen durchsetzt, nicht grauen, wie er zuerst gedacht hatte. Sie hatte ernste, dunkle Augen, und wenn sie ohne Bedenken in seine eigenen sahen, wurde Harold schwindlig. Ihre Stimme klang tief und vertraulich. Ihr Klang beeinflußte ihn allmählich auf eine Weise, die unangenehm und doch zugleich auf beinahe quälende Weise erfreulich war.
Als sie mit dem Essen fertig waren, wollte er aufstehen, aber sie kam ihm zuvor. »Kaffee oder Tee?«
»Wirklich, ich könnte...«
»Sie könnten, aber Sie werden nicht. Kaffee, Tee... oder mich?« Sie lächelte, aber es war nicht das Lächeln von jemand, der eine oberflächliche frivole Bemerkung gemacht hat (»frivoles Gerede« hätte seine gute alte Mom gesagt und mißbilligend den Mund verkniffen), sondern ein leises, träges Lächeln, so vollmundig wie ein Sahnehäubchen auf einem cremigen Dessert. Und wieder dieser fragende Blick.
Harolds Gedanken wirbelten durcheinander, und er erwiderte mit fast wahnwitziger Lässigkeit: »Die beiden letzteren«, und hatte alle Mühe, ein pubertäres Kichern zu unterdrücken.
»Nun, fangen wir mit Tee für zwei an«, sagte Nadine und ging zum Gaskocher.
Kaum hatte sie ihm den Rücken zugedreht, schoß Harold heißes Blut in den Kopf und machte sein Gesicht zweifellos so purpurn wie rote Bete. Ein schöner Schwerenöter bist du! schalt er sich hektisch. Du hast dich wie ein blöder Narr benommen und eine völlig unschuldige Bemerkung falsch interpretiert, und damit hast du wahrscheinlich eine gute Gelegenheit verpatzt. Geschieht dir recht. Geschieht dir völlig recht!
Als sie die dampfenden Teetassen zum Tisch trug, hatte Harolds hektische Röte etwas nachgelassen und er hatte sich wieder besser unter Kontrolle. Das Schwindelgefühl hatte sich unvermittelt in Verzweiflung verwandelt, und ihm war (nicht zum ersten Mal), als wären sein Körper und Geist kantiperkantaper in den Wagen einer riesigen Achterbahn aus reinsten Gefühlen gestoßen worden. Es gefiel ihm nicht, aber er konnte die Fahrt nicht mehr anhalten. Wenn sie sich überhaupt für mich interessiert hat, dachte er (und wieso sollte sie denn, fügte er düster hinzu), habe ich das wahrscheinlich durch meinen Pennälerwitz gründlich kaputtgemacht. Nun, so etwas war ihm schon früher passiert, und er konnte wohl mit dem Wissen leben, daß er es wieder geschafft hatte. Sie sah ihn mit diesen beunruhigend offenen Augen über den Rand der Teetasse an und lächelte wieder, und das Quentchen Gelassenheit, das er hatte aufbringen können, zerstob augenblicklich wieder.
»Kann ich irgendwas für Sie tun?« fragte er. Es hörte sich wie eine tumbe Zweideutigkeit an, aber etwas mußte er ja sagen, denn es mußte ja auch einen Grund geben, weshalb sie hier war. Er spürte, wie sein eigenes Lächeln in seiner Verwirrung von den Lippen verschwand.
»Ja«, sagte sie und stellte entschlossen die Teetasse ab. »Ja, das können Sie. Vielleicht können wir etwas füreinander tun. Können wir ins Wohnzimmer gehen?«
»Klar.« Seine Hände zitterten, als er die Tasse auf den Tisch stellte und sich erhob; fast hätte er etwas verschüttet. Als er ihr ins Wohnzimmer folgte, sah er, wie glatt der Stoff der Hose an ihren Gesäßbacken klebte. Er hatte einmal gelesen, daß das glatte Aussehen der Hose einer Frau an der Stelle unterbrochen ist, wo der Slip durchdrückt, wahrscheinlich in einem der Magazine, die er in seinem Schlafzimmerschrank hinter den Schuhkartons versteckt hatte, und in den Magazinen stand weiter, wenn eine Frau wirklich glatt und nahtlos aussehen wollte, mußte sie einen Tanga oder gar nichts drunter tragen.
Er schluckte; versuchte es wenigstens. Ein dicker Kloß schien ihm im Hals zu stecken.
Das Wohnzimmer war düster, nur vom Licht erhellt, das durch die heruntergelassenen Jalousien hereinfiel. Es war nach halb sieben; draußen ging der Abend in die Dämmerung über. Harold trat an eines der Fenster, um die Jalousie hochzuziehen und mehr Licht hereinzulassen, aber sie legte die Hand auf seinen Arm. Er drehte sich mit trockenem Mund zu ihr um.
»Nein, laß sie unten. Das ist intimer.«
»Intimer?« krächzte Harold. Seine Stimme war wie die eines altersschwachen Papageis.
»Damit ich das machen kann«, sagte sie und kam sanft in seine Arme.
Sie hatte den Körper frei und offen an seinen gepreßt, das erste Mal, daß ihm so etwas geschah, und sein Erstaunen war total. Durch ihre blaue Seidenbluse und sein weißes Baumwollhemd spürte er die beiden Brüste einzeln an seinem Leib. Ihr Bauch lag fest und doch verletzlich an seinem und wich nicht vor seiner Erektion zurück. Sie roch angenehm, vielleicht Parfüm, vielleicht ihr eigener Geruch, der ihm wie ein Geheimnis vorkam, das dem Zuhörer plötzlich offenbart wird. Seine Hände fanden ihr Haar und wühlten sich hinein.
Schließlich hörte der Kuß auf, aber sie wich nicht zurück. Ihr Körper blieb heiß wie leise glimmendes Feuer an seinem. Sie war etwa zehn Zentimeter kleiner als er und hatte das Gesicht zu ihm hochgewendet. Vage kam ihm der Gedanke, daß dies eine der amüsantesten Ironien seines Lebens war: Nun, da die Liebe - oder ein ausreichendes Faksimile davon - ihn schließlich gefunden hatte, war es, als wäre er seitlich zwischen die Seiten der Liebesgeschichte in einer Frauenzeitschrift geschlittert. Die Verfasser solcher Geschichten, hatte er einmal in einem anonymen Brief an Redbook geschrieben, waren eines der wenigen schlagkräftigen Argumente für Geburtenkontrolle.
Aber jetzt hielt sie das Gesicht zu ihm hoch gewandt, ihre Lippen waren feucht und halb geöffnet, die Augen strahlend und fast... fast... ja, fast sternenglänzend. Das einzige Detail, das sich nicht mit der Darstellung der heilen Welt in Redbook vertrug, war sein Ständer, der wahrhaft erstaunlich war.
»Jetzt«, sagte sie. »Auf dem Sofa.«
Irgendwie gelangten sie dorthin und lagen ineinander verschlungen darauf; ihr Haar ging auf und wallte über ihre Schultern; ihr Parfüm schien allgegenwärtig. Er hatte die Hände auf ihren Brüsten, und es machte ihr nichts aus; sie wand und räkelte sich sogar, so daß seine Hände besseren Zugriff hatten. Er liebkoste sie nicht; in seiner hektischen Begierde begrapschte er sie nur.
»Du bist Jungfrau«, sagte Nadine. Keine Frage... und es war einfacher, nicht lügen zu müssen. Er nickte.
»Dann machen wir das zuerst. Nächstes Mal wird es langsamer. Besser.«
Sie knöpfte seine Jeans auf, und sie klafften bis zum Reißverschluss auseinander. Sie strich sanft mit dem Zeigefinger dicht unter dem Nabel über seinen Bauch. Harold erschauerte und zuckte unter ihrer Berührung zusammen.
»Nadine...«
»Pssst!« Ihr Gesicht war im Haar verborgen, was es unmöglich machte, ihren Ausdruck zu lesen.
Der Reißverschluß wurde heruntergezogen, und das »lächerliche Ding«, das durch die weiße Baumwollhose, in die es gehüllt war (Gott sei Dank hatte er sich nach dem Duschen umgezogen), noch lächerlicher wirkte, schnellte heraus wie ein Jack-in-the-Box. Das »lächerliche Ding« merkte gar nicht, wie komisch es wirkte, denn sein Anliegen war todernst. Das Anliegen von Jungfrauen ist immer todernst - nicht Lust, sondern Erfahrung.
»Meine Bluse...«
»Kann ich...?«
»Ja, ich will es. Und dann kümmere ich mich um dich.«
Kümmere ich mich um dich. Die Worte hallten in seinem Verstand wie Steine, die in einen Brunnen geworfen worden waren, und dann saugte er gierig an ihrer Brust und kostete ihren salzigen, süßen Geschmack.
Sie atmete heftig ein. »Harold, das ist schön.«
Kümmere ich mich um dich, dröhnten und polterten die Worte in seinem Verstand.
Sie glitt mit der Hand ins Taillenband seiner Unterhose, und seine Jeans rutschten mit einem Klirren von Schlüsseln bis zu den Knöcheln hinunter.
»Steh auf«, flüsterte sie, und er gehorchte.
E s dauerte nicht einmal eine Minute. Er schrie auf, weil er nicht anders konnte, so heftig war der Höhepunkt. Es war, als hätte jemand ein Streichholz an das gesamte Nervensystem dicht unter der Haut gehalten, Nerven, die sich vereinigten und das empfindsame Netz seiner Lenden bildeten. Er verstand, warum so viele Schriftsteller einen Zusammenhang zwischen Orgasmus und Tod herstellten.
Dann legte er sich im Halbdunkel zurück, hatte den Kopf auf dem Sofa, seine Brust hob und senkte sich, sein Mund war offen. Er hatte Angst, nach unten zu sehen. Ihm war, als müßten Samentropfen überall hingespritzt sein.
Junger Mann, wir sind auf Öl gestoßen!
Er sah sie verlegen an, weil er so unbeherrscht gekommen war. Aber sie lächelte ihn mit ruhigen, dunklen Augen an, die alles zu wissen schienen, den Augen eines sehr jungen Mädchens in einem viktorianischen Gemälde. Eines Mädchens, das vielleicht zuviel über seinen Vater wußte.
»Tut mir leid«, murmelte er.
»Warum? Was?« Sie nahm den Blick nicht von seinem Gesicht.
»Du hast nicht viel davon gehabt.«
»Au contraire. Ich hatte durchaus meine Befriedigung.« Aber er glaubte nicht, daß er das genau gemeint hatte. Bevor er darüber nachdenken konnte, fuhr sie fort: »Du bist jung. Wir können es so oft machen, wie du willst.«
Er sah sie sprachlos an - außerstande zu sprechen.
»Aber eines mußt du wissen.« Sie legte sanft eine Hand auf ihn. »Du hast mir gesagt, du bist eine Jungfrau. Nun, ich auch.«
»Du...« Sein fassungsloser Gesichtsausdruck mußte komisch gewesen sein, denn sie warf den Kopf zurück und lachte.
»Ist in deiner Philosophie kein Platz für Jungfräulichkeit, Horatio?«
»Nein... doch... aber...«
»Ich bin eine Jungfrau. Und das werde ich auch bleiben. Denn es steht einem anderen zu, mich... mich zu entjungfern.«
»Wem?«
»Du weißt, wem.«
Er sah sie an und fror plötzlich am ganzen Körper. Sie gab den Blick unbewegt zurück.
»Ihm?«
Sie wandte sich halb ab und nickte.
»Aber ich kann dir vieles zeigen«, sagte sie, sah ihn aber immer noch nicht an. »Wir können vieles machen. Sachen, von denen du nicht einmal ge... nein, das nehme ich zurück. Vielleicht hast du davon geträumt, aber du hast dir nie träumen lassen, daß du sie einmal machen würdest. Wir können spielen. Wir können uns daran berauschen. Wir können darin waten. Wir können ...« Sie verstummte, und dann sah sie ihn an, ein so listiger und sinnlicher Blick, daß er spürte, wie er sich wieder regte. »Wir können alles machen - alles - außer dieser Kleinigkeit. Und diese Kleinigkeit ist auch gar nicht so wichtig, oder?«
Bilder wirbelten schwindlig durch seinen Verstand. Seidenschals... Stiefel... Leder... Gummi. Herrgott. Phantasien eines Schulknaben. Eine unheimliche Art sexuelles Solitaire. Aber es war alles irgendwie ein Traum, nicht? Eine von einer Phantasie gezeugte Phantasie, die Ausgeburt eines dunklen Traums. Er wollte alles, wollte sie, aber er wollte noch mehr.
Die Frage war, mit wieviel würde er sich begnügen?
»Du kannst mir alles sagen«, meinte sie. »Ich bin deine Mutter, deine Schwester, deine Hure, deine Sklavin. Du mußt es mir nur sagen, Harold.«
Wie das in seinem Verstand hallte! Wie es ihn berauschte!
Er machte den Mund auf, und die Stimme, die herauskam, war so tonlos wie eine Glocke mit Sprung. »Aber für einen Preis. Ist es nicht so? Für einen Preis. Weil nichts umsonst ist. Nicht einmal jetzt, wo alles herumliegt und nur darauf wartet, daß man es aufhebt.«
»Ich will, was du willst«, sagte sie. »Ich weiß, was in deinem Herzen ist.«
»Das weiß niemand.«
»Was in deinem Herzen ist, steht in deinem Hauptbuch. Ich könnte es dort lesen - ich weiß, wo es ist -, aber das ist nicht nötig.«
Er zuckte zusammen und sah sie schuldbewußt an.
»Es war unter dem losen Stein dort«, sagte sie und deutete zum Kamin, »aber du hast es weggebracht. Jetzt ist es hinter der Isolierung auf dem Speicher.«
»Woher weißt du das? Woher weißt du das?«
»Ich weiß es, weil er es mir gesagt hat. Er... man könnte sagen, er hat mir einen Brief geschrieben. Und was wichtiger ist, er hat mir von dir erzählt, Harold. Wie der Cowboy dir die Frau weggenommen und dann dafür gesorgt hat, daß du nicht ins Komitee der Freien Zone kommst. Er will, daß wir zusammen sind, Harold. Und er ist großzügig. Von jetzt an, bis zu unserem Aufbruch von hier, haben wir eine Atempause, du und ich.«
Sie faßte ihn an und lächelte.
»Von jetzt an ist Spielzeit, verstehst du?«
»Ich...«
»Nein«, antwortete sie, »du verstehst nicht. Noch nicht. Aber du wirst verstehen, Harold. Du wirst.«
Der irrsinnige Gedanke ging ihm durch den Kopf, ihr zu befehlen, ihn Hawk zu nennen.
»Und später, Nadine? Was will er später?«
»Was du willst. Und was ich will. Was du fast mit Redman gemacht hast, als du den ersten Abend nach der alten Frau gesucht hast... aber in einem viel größeren Maßstab. Und wenn das vollbracht ist, können wir zu ihm gehen, Harold. Wir können bei ihm sein. Wir können bei ihm bleiben.« Sie schloß halb in Verzückung die Augen. Paradoxerweise war es womöglich die Tatsache, daß sie den anderen liebte, sich aber ihm hingeben wollte - und es vielleicht sogar genoß -, die sein Verlangen heiß und drängend wieder auflodern ließ.
»Und wenn ich nein sage?« Seine Lippen waren kalt, äschern. Sie zuckte die Schultern; ihre Brüste wogten aufreizend. »Das Leben geht weiter, Harold, oder nicht? Ich werde einen Weg finden, zu tun, was ich tun muß. Du wirst weiterleben. Früher oder später wirst du ein Mädchen finden, das... diese Kleinigkeit für dich machen wird. Aber diese Kleinigkeit ist nach einer Weile langweilig. Sehr langweilig.«
»Woher willst du das wissen?« fragte er und grinste sie schief an.
»Ich weiß es, weil Sex Leben in kleinem Maßstab ist, und das Leben ist langweilig - Zeit, die man in verschiedenen Wartezimmern verbringt. Du hast hier vielleicht deine kleinen Triumphe, Harold, aber zu welchem Ziel? Alles in allem wird es ein schäbiges, banales Leben sein, und du wirst dich immer an mich ohne Bluse erinnern und dich fragen, wie ich ohne alles ausgesehen haben könnte. Du wirst dich fragen, wie es gewesen wäre, wenn ich schmutzige Worte zu dir gesagt hätte... oder wenn ich Honig über deinen ganzen... Körper... geschüttet und dann abgeleckt hätte... und du wirst dich fragen...«
»Hör auf«, sagte er. Er zitterte am ganzen Leib.
Aber sie hörte nicht auf.
»Ich glaube, du wirst dich auch fragen, wie es auf seiner Seite der Welt gewesen wäre«, sagte sie. »Das vielleicht mehr als alles andere.«
»Ich...«
»Entscheide dich, Harold. Soll ich die Bluse wieder an- oder alles andere ausziehen?«
Wie lange dachte er nach? Er wußte es nicht. Später war er nicht einmal mehr sicher, ob er sich überhaupt mit der Frage gequält hatte. Aber als er sprach, schmeckten die Worte in seinem Mund wie der Tod: »Ins Schlafzimmer. Gehen wir ins Schlafzimmer.«
Sie lächelte ihn an, ein solches Lächeln des Triumphs und sinnlicher Verlockungen, daß er davor und vor seiner begierigen Reaktion darauf erschauerte.
Sie nahm seine Hand.
Und Harold Lauder ergab sich in sein Schicksal.