57
Larry und Leo saßen vor dem Haus auf dem Bordstein. Larry trank ein warmes Hamm's-Bier, Leo ein warmes Orange Spot. Heutzutage konnte man in Boulder trinken, was man wollte, wenn es in einer Dose war und man sich nicht daran störte, es warm zu trinken. Von draußen drang das konstante griesgrämige Dröhnen des Lawnboy. Lucy mähte den Rasen. Larry hatte sich angeboten, das zu machen, aber Lucy hatte den Kopf geschüttelt. »Sieh zu, daß du herausfindest, was mit Leo los ist.« Es war der letzte Tag im August. Am Tag, nachdem Nadine bei Harold eingezogen war, war Leo nicht zum Frühstück gekommen. Larry hatte den Jungen nur mit einer Unterhose bekleidet und mit dem Daumen im Mund in seinem Zimmer gefunden. Er war wortkarg und feindselig. Larry war erschrockener gewesen als Lucy, denn sie wußte nicht, wie Leo gewesen war, als Larry ihn kennengelernt hatte. Damals war sein Name Joe gewesen, und er hatte ein Messer geschwungen. Seitdem war fast eine Woche verstrichen, und Leo ging es ein wenig besser, aber er war noch nicht wieder voll da und wollte nicht darüber reden, was passiert war.
»Diese Frau hat etwas damit zu tun«, hatte Lucy gesagt und den Tankverschluß des Rasenmähers zugeschraubt.
»Nadine? Wie kommst du darauf?«
»Ich wollte es nicht erwähnen, aber sie war gestern da, als du mit Leo am Cold Creek zum Angeln warst. Sie wollte den Jungen sehen. Ich war froh, daß ihr beide weg wart.«
»Lucy...«
Sie hatte ihm rasch einen Kuß gegeben, und er hatte die Hand unter das Oberteil ihres Kleides geschoben und sie zärtlich gedrückt. »Ich habe dich einmal falsch beurteilt«, sagte sie. »Ich glaube, das wird mir ewig leid tun. Aber Nadine Cross werde ich nie mögen. Mit der stimmt etwas nicht.«
Larry antwortete nicht, aber er vermutete, daß Lucys Urteil wahrscheinlich zutreffend war. An jenem Abend vor King Sooper's hatte Nadine sich tatsächlich wie eine Verrückte aufgeführt.
»Noch etwas - als sie hier war, hat sie ihn nicht Leo genannt. Sie hat den anderen Namen benützt. Joe.«
Er sah sie mit leerem Blick an, während sie den automatischen Starter umdrehte und den Lawnboy anließ.
Jetzt, eine halbe Stunde nach diesem Gespräch, trank er sein Hamm's und sah zu, wie Leo mit dem Ping-Pong-Ball spielte, den er an dem Tag gefunden hatte, als sie beide zu Harold gegangen waren, wo Nadine jetzt lebte. Der kleine weiße Ball war schmutzig, aber noch nicht eingebeult. Tock-tock-tock auf dem Pflaster. Bällchen-Bällchen-hüpf, sieh-mal-wie-wir-spielen.
Leo (er war jetzt Leo, oder nicht?) hatte Harolds Haus an dem Tag nicht betreten wollen.
Das Haus, in dem Nadine-Mom jetzt wohnte.
»Möchtest du Angeln gehen, Junge?« bot Larry plötzlich an.
»Keine Fische«, sagte Leo. Er sah Larry mit seinen seltsamen, meerwassergrünen Augen an. »Kennst du Mr. Ellis?«
»Klar.«
»Er sagt, wir können das Wasser trinken, wenn die Fische zurückkommen. Es trinken, ohne...« Er gab ein heulendes Geräusch von sich und bewegte die Finger vor den Augen. »Du weißt schon.«
»Ohne es zu kochen.«
»Ja.«
Tock-tock-tock.
»Ich mag Dick. Ihn und Laurie. Geben mir immer was zu essen. Er hat Angst, daß sie es nicht können, aber ich glaube doch.«
»Was nicht können?«
»Ein Baby machen. Dick glaubt, er könnte zu alt sein. Aber ich glaube das nicht.«
Larry wollte gerade fragen, wie Leo und Dick auf das Thema gekommen waren, ließ es aber sein. Die Antwort war natürlich: gar nicht. Über etwas so Persönliches wie ein Baby machen würde Dick niemals mit einem kleinen Jungen sprechen. Leo hatte einfach... hatte es einfach gewußt.
Tock-tock-tock.
Ja, Leo wußte Dinge... vielleicht durch Intuition. Er hatte nicht in Harolds Haus gehen wollen und etwas über Nadine gesagt... Larry wußte nicht mehr genau, was... aber er hatte sich an das Gespräch erinnert und war sehr besorgt gewesen, als er hörte, daß Nadine zu Harold gezogen war. Es war, als wäre der Junge in Trance gewesen, als...
(-tock-tock-tock-)
Larry sah zu, wie der Ping-Pong-Ball auf und ab hüpfte, und plötzlich blickte er in Leos Gesicht. Die Augen des Jungen waren dunkel und sahen in die Ferne. Das Geräusch des Rasenmähers war ein weit entferntes, einschläferndes Summen. Die Sonne schien hell und warm. Und Leo war wieder in Trance, als hätte er Larrys Gedanken gelesen und einfach darauf reagiert...
Leo war den Elefanten sehen gegangen.
Ganz beiläufig sagte Larry: »Ja, ich glaube, sie können ein Baby machen. Dick ist höchstens fünfundfünfzig. Cary Grant hat eins gemacht, als er fast siebzig war, glaube ich.«
»Wer ist Cary Grant?« fragte Leo. Der Ball hüpfte auf und ab, auf und ab.
(Berüchtigt. Der unsichtbare Dritte.)
»Weißt du das nicht?« fragte er Leo.
»Er war Schauspieler«, sagte Leo. »Er hat in Berüchtigt gespielt. Und in Der Unsichtbare.«
(Der unsichtbare Dritte.)
»Der unsichtbare Dritte, meine ich«, sagte Leo in zustimmendem Tonfall. Er nahm keinen Blick von dem hüpfenden Ping-Pong-Ball.
»Das stimmt«, sagte er. »Wie geht es Nadine-Mom, Leo?«
»Sie nennt mich Joe. Für sie bin ich Joe.«
»Oh.« Ein kalter Schauer kroch Larry langsam über den Rücken.
»Es ist jetzt schlimm.«
»Schlimm?«
»Es ist mit beiden schlimm.«
»Nadine und...«
(Harold?)
»Ja, er.«
»Sind sie nicht glücklich?«
»Er hält sie zum Narren. Sie glauben, er will sie.«
»Er?«
»Er.« Das Wort hing in der stillen Sommerluft.
Tock-tock-tock.
»Sie werden nach Westen gehen«, sagte Leo.
»Mein Gott«, murmelte Larry. Jetzt war ihm sehr kalt. Wollte er noch mehr davon hören? Es war, als würde man auf einem Friedhof stehen und sehen, wie eine Gruft aufgeht, aus der sich eine Hand streckt...
Was es auch ist, ich will es nicht hören, ich will es nicht wissen.
»Nadine-Mom will glauben, daß es deine Schuld ist«, sagte Leo.
»Sie will glauben, daß du sie zu Harold getrieben hast. Aber sie hat absichtlich gewartet, bis du Lucy-Mom zu sehr liebst. Sie hat gewartet, bis sie sicher war. Es ist, als ob er den Teil ihres Gehirns ausradiert, der Recht und Unrecht unterscheiden kann. Ganz allmählich radiert er diesen Teil aus. Und wenn er weg ist, wird sie so verrückt sein wie alle im Westen. Vielleicht noch verrückter.«
»Leo...« flüsterte Larry, und Leo antwortete sofort:
»Sie nennt mich Joe. Für sie bin ich Joe.«
»Soll ich dich Joe nennen?« fragte Larry zweifelnd.
»Nein.« Das Wort klang wie ein Flehen. »Nein, bitte nicht.«
»Du vermißt Nadine-Mom, nicht wahr, Leo?«
»Sie ist tot«, sagte Leo mit erschreckender Nüchternheit.
»Bist du darum so spät in die Nacht weggeblieben?«
»Ja.«
»Und hast du deshalb nicht gesprochen?«
»Ja.«
»Aber jetzt sprichst du.«
»Jetzt habe ich dich und Lucy-Mom, mit denen ich sprechen kann.«
»Ja, natürlich...«
»Aber nicht für immer«, sagte der Junge wütend. »Nicht für immer, wenn du nicht mit Frannie sprichst! Sprich mit Frannie! Sprich mit Frannie!«
»Über Nadine?«
»Nein!«
»Über was? Über dich?«
Leos Stimme wurde lauter, schriller. »Es ist alles aufgeschrieben! Du weißt es! Frannie weiß es! Sprich mit Frannie!«
»Das Komitee...«
»Nicht das Komitee! Das Komitee kann dir nicht helfen, es kann keinem helfen, das Komitee ist aus den alten Zeiten, und er lacht über dieses Komitee, weil es aus den alten Zeiten ist, und die alten Zeiten sind seine Zeiten, weißt du, Frannie weiß es, und wenn ihr miteinander sprecht, könnt ihr...«
Leo schlug den Ball hart auf - TOCK! - und er sprang hoch über seinen Kopf, kam herunter und rollte weg. Mit trockenem Mund sah Larry dem Ball nach, und sein Herz klopfte garstig in der Brust.
»Ich hab' den Ball fallen lassen«, sagte Leo und lief ihn holen. Larry beobachtete ihn.
Frannie, dachte er.
Die beiden saßen auf dem Podium des Musikpavillons und ließen die Beine baumeln. Es war eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit, und ein paar Leute gingen noch durch den Park, manche Hand in Hand. Die Stunde der Kinder ist auch die Stunde der Liebenden, dachte Frannie zusammenhanglos. Larry hatte ihr gerade alles erzählt, was Leo in Trance gesagt hatte, und ihre Gedanken wirbelten durcheinander.
»Was meinst du?« fragte Larry.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte sie leise. »Aber was passiert ist, gefällt mir überhaupt nicht. Traumvisionen. Eine alte Frau, die eine Weile die Stimme Gottes ist und dann in die Wildnis geht. Und jetzt scheint ein kleiner Junge Telepath zu sein. Es ist ein Leben wie im Märchen. Manchmal glaube ich, die Supergrippe hat uns zwar verschont, aber alle in den Wahnsinn getrieben.«
»Er hat gesagt, ich soll mit dir sprechen. Das tue ich.«
Sie antwortete nicht.
»Nun«, sagte Larry, »wenn dir etwas einfällt...«
»Aufgeschrieben«, sagte Frannie leise. »Er hat recht, der Junge. Ich glaube, das ist die ganze Wurzel des Übels. Wenn ich nicht so dumm gewesen wäre, so verblendet, alles aufzuschreiben... ach, Scheiße!«
Larry sah sie erstaunt an. »Wovon redest du?«
»Es geht um Harold«, sagte sie, »und ich habe Angst. Ich habe es Stu nicht gesagt. Ich habe mich geschämt. Es war so dumm, das Tagebuch zu führen... und Stu... er mag Harold sogar... alle in der Freien Zone mögen Harold, auch du.« Sie stieß ein Lachen aus, das von Tränen erstickt wurde. »Immerhin war er dein... dein geistiger Führer auf dem Weg hierher, oder nicht?«
»Ich komme da nicht ganz mit«, sagte Larry langsam. »Kannst du mir sagen, wovor du Angst hast?«
»Das ist es ja - ich weiß es eigentlich gar nicht.« Sie sah ihn mit tränenfeuchten Augen an. »Ich glaube, ich sollte dir erzählen, was ich kann, Larry. Ich muß mit jemand reden... Gott weiß, ich kann es nicht mehr in mir behalten, und Stu... Stu ist vielleicht nicht derjenige, der es hören sollte. Jedenfalls nicht als erster.«
»Schieß los, Fran.«
Sie erzählte ihm ihre ganze Geschichte, angefangen mit jenem Junitag, an dem Harold in Roy Brannigans Cadillac vor ihrem Haus in Ogunquit vorgefahren war. Während sie sprach, nahm das letzte helle Tageslicht allmählich einen blauen Schimmer an. Die Liebespaare verschwanden eins nach dem anderen aus dem Park. Eine schmale Mondsichel zog am Himmel auf. In dem Wohnblock auf der anderen Seite des Canyon Boulevard waren einige ColemanLampen angezündet worden. Sie erzählte ihm von der Botschaft am Scheunendach und daß sie geschlafen hatte, als Harold sein Leben riskierte, um als letzte Zeile ihren Namen zu schreiben. Davon, wie sie Stu in Fabyan getroffen hatten, und von Harolds übertriebener abweisender Reaktion. Sie erzählte ihm von ihrem Tagebuch und dem Daumenabdruck. Als sie fertig war, war es schon nach neun; die Grillen zirpten. Schweigen senkte sich über sie, und sie wartete ängstlich darauf, daß Larry es brach. Aber er saß gedankenverloren da.
Schließlich sagte er: »Bist du dir über diesen Fingerabdruck ganz sicher? Bist du fest davon überzeugt, daß er von Harold stammt?«
Sie zögerte nur einen Augenblick: »Ja. Ich habe sofort gewußt, dass es Harolds Daumenabdruck war.«
»Diese Scheune, wo er seine Botschaft geschrieben hat«, sagte Larry. »An dem Abend, an dem wir uns kennengelernt haben, habe ich dir doch gesagt, daß ich oben war, nicht? Und daß Harold seine Initialen in einen Balken geschnitzt hatte?«
»Ja.«
»Es waren nicht nur seine Initialen. Es waren auch deine. In einem Herz. Wie es ein verliebter kleiner Junge in die Schulbank einritzt.«
Sie wischte sich mit beiden Händen die Augen. »Was für ein Schlamassel«, sagte sie heiser.
»Du bist nicht für Harold Lauders Tun verantwortlich, Mädchen.« Er nahm mit beiden Händen ihre Hand und hielt sie fest. Er sah sie an.
»Glaub einem alten, mit allen Wassern gewaschenen Haudegen wie mir«, sagte er. »Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Wenn du das machst...« Er drückte so fest zu, daß es weh tat, aber seine Stimme blieb leise. »Wenn du das machst, dann wirst du tatsächlich verrückt. Man hat genug damit zu tun, daß einem selbst die Socken nicht rutschen, man kann sich nicht auch noch um die anderer Leute kümmern.«
Er nahm seine Hand weg, und sie schwiegen eine Weile.
»Glaubst du, Harold haßt Stu so, daß er ihn umbringen möchte?«
»Ja«, sagte sie. »Das halte ich tatsächlich für möglich. Vielleicht das ganze Komitee. Aber ich weiß nicht, was...«
Er legte die Hand auf ihre Schulter und brachte sie mit einem festen Griff zum Schweigen. Er hatte in der Dunkelheit die Haltung verändert, die Augen aufgerissen. Seine Lippen bewegten sich lautlos.
»Larry? Was...«
»Als er nach unten gegangen ist«, murmelte Larry. »Er ist runtergegangen, um einen Korkenzieher oder so was zu holen.«
»Was?«
Er wandte sich ihr langsam zu, als wäre sein Kopf an einem rostigen Scharnier befestigt. »Weißt du«, sagte er, »es gibt vielleicht eine Möglichkeit, alles zu klären. Ich kann es nicht garantieren, denn ich habe nicht in das Buch hineingesehen, aber es paßt so wunderbar zusammen... Harold liest dein Tagebuch und erfährt nicht nur eine Menge, er hat auch eine gute Idee... Verdammt, vielleicht war er eifersüchtig, daß du zuerst drauf gekommen bist. Haben nicht alle guten Schriftsteller Tagebuch geführt?«
»Willst du damit sagen, daß Harold ein Tagebuch hat?«
»An dem Tag, als ich ihm den Wein brachte, ist er in den Keller gegangen und ich habe mich in seinem Wohnzimmer umgesehen. Er sagte, er wolle ein paar Möbel aus Chrom und Leder hineinstellen, und ich versuchte, mir vorzustellen, wie das aussehen würde. Dabei habe ich den losen Stein am Kamin bemerkt...«
»JA!« schrie sie so laut, daß er zusammenzuckte. »An dem Tag, an dem ich mich eingeschlichen habe... und Nadine Cross gekommen ist... saß ich auf dem Kamin... ich erinnere mich an den losen Stein.«
Sie sah Larry an. »Da haben wir es wieder. Als ob uns etwas in die richtige Richtung führt...«
»Zufall«, sagte er, hörte sich aber unbehaglich an.
»Wirklich? Wir waren beide in Harolds Haus. Wir haben beide den losen Stein bemerkt. Und jetzt sind wir beide hier. Ist das Zufall?«
»Ich weiß nicht.«
»Was war unter dem Stein?«
»Ein Hauptbuch«, sagte er langsam. »Stand jedenfalls auf dem Umschlag. Ich habe nicht hineingesehen. Damals habe ich gedacht, es hätte ebensogut der früheren Besitzer des Hauses gehören können wie Harold. Aber wenn, hätte es Harold dann nicht gefunden? Wir haben beide den losen Stein bemerkt. Nehmen wir an, er findet es. Selbst wenn der Kerl, der vor der Grippe dort gewohnt hat, es mit kleinen Geheimnissen vollgeschrieben hätte - um wieviel er das Finanzamt betrogen hat, Sex-Phantasien mit seiner Tochter und was sonst noch alles -, es wären nicht Harolds Geheimnisse gewesen. Kapierst du das?«
»Ja, aber...«
»Nicht unterbrechen, wenn Inspektor Underwood kombiniert, ungezogenes kleines Mädchen. Wenn die Geheimnisse nicht Harolds Geheimnisse waren, warum hätte er das Hauptbuch dann wieder unter den Stein legen sollen? Weil es seine Geheimnisse waren. Das war Harolds Tagebuch.«
»Glaubst du, es ist noch da?«
»Vielleicht. Ich finde, wir sollten mal nachsehen.«
»Jetzt?«
»Morgen. Dann ist er mit dem Beerdigungskomitee unterwegs, und Nadine hilft nachmittags im Kraftwerk.«
»Also gut«, sagte sie. »Meinst du, ich sollte es Stu erzählen?«
»Warum warten wir nicht noch? Es ist sinnlos, Panik zu machen, solang wir nicht sicher sind. Vielleicht ist das Buch weg. Vielleicht ist es nur eine Liste dessen, was er sich vorgenommen hat. Es könnte völlig harmlos sein. Oder Harolds politischen Meisterplan enthalten. Oder vielleicht ist es verschlüsselt geschrieben.«
»Daran habe ich gar nicht gedacht. Was werden wir tun, wenn... wir etwas Wichtiges finden?«
»Dann werden wir vor dem Komitee der Freien Zone darüber sprechen müssen. Ein weiterer Grund dafür, es schnell über die Bühne zu bringen. Wir treffen uns am zweiten. Das Komitee wird sich darum kümmern.«
»Wirklich?«
»Ja, ich bin überzeugt«, sagte Larry, mußte aber gleichzeitig daran denken, was Leo über das Komitee gesagt hatte.
Sie glitt vom Rand des Pavillons auf den Boden. »Jetzt geht es mir besser. Danke, daß du gekommen bist, Larry.«
»Wo wollen wir uns treffen?«
»In dem kleinen Park gegenüber von Harolds Haus. Wie war's damit, morgen nachmittag um ein Uhr?«
»Gut«, sagte Larry. »Bis dann also.«
Frannie ging heim, leichteren Herzens als seit Wochen. Wie Larry gesagt hatte, waren die Alternativen jetzt ziemlich klar. Das Hauptbuch bewies vielleicht, daß ihre Befürchtungen allesamt unbegründet waren. Und wenn es das Gegenteil bewies... Nun, wenn es das Gegenteil bewies, sollte das Komitee entscheiden. Wie Larry sie erinnert hatte, trafen sie sich am Abend des zweiten bei Nick und Ralph am Ende der Baseline Road.
Als sie nach Hause kam, saß Stu im Schlafzimmer, hatte einen Kugelschreiber in der einen und einen voluminösen Lederband in der anderen Hand. Auf den Schutzumschlag des Bandes war in Gold geprägt: Einführung ins Strafrecht von Colorado.
»Schwere Lektüre«, sagte sie und küßte ihn auf den Mund.
»Ach.« Er warf das Buch durchs Zimmer; es landete polternd auf der Kommode. »AI Bundell hat es vorbeigebracht. Er und sein Justizkomitee legen echt los, Fran. Er möchte zum Komitee der Freien Zone sprechen, wenn wir uns übermorgen treffen. Was hast du gemacht, schönes Kind?«
»Mit Larry Underwood geredet.«
Er sah sie einen Moment eindringlich an. »Fran - hast du geweint?«
»Ja«, sagte sie und hielt seinem Blick stand. »Aber jetzt geht es mir besser. Viel besser.«
»Geht's um das Baby?«
»Nein.«
»Um was dann?«
»Das sage ich dir morgen abend. Ich werde dir alles sagen, was mir so durch den sogenannten Kopf gegangen ist. Bis dahin keine Fragen. Klar?«
»Ist es etwas Ernstes?«
»Stu, das weiß ich nicht.«
Er sah sie lange, lange Zeit an.
»Also gut, Frannie«, sagte er. »Ich liebe dich.«
»Ich weiß. Ich liebe dich auch.«
»Bett?«
Sie lächelte. »Wer erster ist.«
Der erste September dämmerte grau und regnerisch, ein trostloser Tag, den man getrost vergessen konnte - den aber kein Bewohner der Freien Zone jemals vergaß. Das war der Tag, an dem im Norden von Boulder der Strom wieder anging... jedenfalls für kurze Zeit. Zehn vor zwölf sah Brad Kitchner im Kontrollraum des Kraftwerks Stu, Nick, Ralph und Jack Jackson an, die alle hinter ihm standen. Brad lächelte nervös und sagte: »Heil Maria, Gnadenreiche, hilf und stell mir diese Weiche.«
Er legte heftig zwei Schalthebel um. In der riesigen, höhlenartigen Halle unter ihnen heulten zwei Versuchsgeneratoren auf. Die fünf Männer traten an die riesige Wand aus polarisiertem Glas und sahen nach unten, wo ungefähr hundert Männer und Frauen standen, die auf Brads Befehl alle Schutzbrillen trugen.
»Wenn wir etwas verkehrt gemacht haben, sollen lieber zwei als zweiundfünfzig hochgehen«, hatte Brad ihnen schon vorher gesagt. Die Generatoren heulten lauter.
Nick stieß Stu mit dem Ellenbogen an und deutete zur Decke des Kontrollraums. Stu sah hoch und fing an zu grinsen. Die Neonlampen unter den durchsichtigen Scheiben glühten schwach auf. Die Generatoren drehten hoch, erreichten ein hohes, gleichmäßiges Summen und pendelten sich ein. Die versammelten Arbeiter unten in der Halle fingen spontan an zu applaudieren. Manche zuckten dabei zusammen; ihre Hände waren zerschnitten und wund, weil sie Stunde für endlose Stunde Kupferdraht gewickelt hatten.
Die Neonlampen leuchteten jetzt hell und normal.
Für Nick war das Gefühl das genaue Gegenteil der Angst, die er empfunden hatte, als in Shoyo die Lichter ausgegangen waren - kein Gefühl des Begrabenwerdens, sondern der Wiederauferstehung. Die beiden Generatoren versorgten nur einen kleinen Teil im Norden Boulders um die North Street mit Energie. In der Gegend wohnten Leute, die nichts von dem Test heute morgen wußten, und viele rannten davon, als wären alle Teufel der Hölle hinter ihnen her.
Fernsehgeräte erwachten zu flimmerndem Leben. In einem Haus in der Spruce Street sprang ein Mixer an und versuchte Käse und Eier zu verrühren, die schon lange eingetrocknet waren. Der Motor des Mixers war nach kurzer Zeit überlastet und verschmorte. In einer verlassenen Garage setzte sich eine Kreissäge in Bewegung und spuckte Sägemehl aus ihren Eingeweiden. Auf einigen Herden fingen die Heizplatten an zu glühen. Marvin Gaye sang aus den Lautsprechern eines Oldie-Plattenladens mit Namen The Wax Museum; die Worte, die von einem Jive-Disco-Rhythmus begleitet wurden, schienen wie ein Traum einer zum Leben erwachten Vergangenheit zu sein: »Let's dance... let's shout... get funky what it's all about... let's dance... let's shout...«
In der Maple Street ging ein Trafo hoch; ein fröhlicher Regen purpurner Fünkchen sank herab ins feuchte Gras und erlosch. Im Kraftwerk fing einer der Generatoren in einer höheren, verzweifelteren Tonlage an zu winseln. Er begann zu rauchen. Leute wichen beinahe panisch davor zurück. Der eklig-süße Geruch von Ozon erfüllte die Halle. Ein durchdringender Alarmton erklang.
»Zu hoch!« brüllte Brad. »Das Miststück überdreht! Überlastung!«
Er rannte durch den Raum und riß beide Schalthebel wieder hoch. Das Heulen der Generatoren ließ nach, aber erst nach einem Knall und Schreien, die vom Panzerglas gedämpft wurden.
»Heiliger Himmel«, sagte Ralph. »Einer brennt.«
Die Neonröhren über ihnen verblaßten zu schmalen weißen Lichtstreifen und gingen dann ganz aus. Brad riß die Tür zur Halle auf und trat auf die Plattform. Die riesige Halle warf das Echo seiner Worte zurück: »Schaum dort rüber! Beeilung!«
Mehrere Feuerlöscher wurden auf die Generatoren gerichtet, das Feuer gelöscht. Der Ozongeruch hing immer noch in der Luft. Die anderen drängten sich zu Brad auf die Plattform.
Stu legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid, daß es so gekommen ist, Mann«, sagte er.
Brad drehte sich grinsend zu ihm um. »Leid? Warum?«
»Nun, er hat Feuer gefangen, oder nicht?« sagte Jack.
»Scheiße, ja! Und wie! Und irgendwo um die North Street ist jetzt ein Trafo im Arsch. Wir haben eins vergessen, verdammt, wir haben es vergessen. Sie sind krank geworden und gestorben, aber sie haben es nicht mehr geschafft, vorher ihre Elektrogeräte auszuschalten. Überall in Boulder sind Fernsehgeräte, Herde und Heizdecken eingeschaltet. Eine gewaltige Netzbelastung. Diese Generatoren sind so konstruiert, daß sie umschalten, wenn die Belastung an einer Stelle hoch und an der anderen gering ist. Das hat der da unten auch versucht, aber alle anderen waren abgeschaltet, kapiert?« Brad war fahrig vor Aufregung. »Gary! Ihr wißt doch noch, wie Gary, Indiana, niedergebrannt ist?«
Sie nickten.
»Bin nicht sicher, wir können nie sicher sein, aber was hier passiert ist, könnte auch dort passiert sein. Könnte sein, daß der Strom nicht schnell genug ausgeblieben ist. Unter den richtigen Umständen kann ein Kurzschluß in einer Heizdecke ausgereicht haben, so wie Mrs. O'Learys Kuh, die in Chicago eine Laterne umgetreten hat. Die Gennies haben versucht, auf andere umzuschalten, aber es waren keine da. Also sind sie durchgeschmort. Wir haben Glück, daß das passiert ist, das ist meine Meinung - glaubt mir.«
»Wenn du das sagst«, meinte Ralph zweifelnd.
Brad sagte: »Wir müssen die Arbeit noch mal machen, aber nur an einem Motor. Wir kommen ins Geschäft. Aber...« Brad hatte angefangen, mit den Fingern zu schnippen, eine unbewußte Geste der Aufregung. »Wir können den Saft erst wieder einschalten, wenn wir sicher sind. Können wir noch einen Arbeitstrupp bekommen? Ein Dutzend Leute, oder so?«
»Wahrscheinlich«, sagte Stu. »Wofür?«
»Einen Abschalttrupp. Nur ein paar Leute, die durch Boulder gehen und alles abschalten, was angelassen worden ist. Wir können erst wieder wagen, den Saft einzuschalten, wenn das passiert ist. Wir haben keine Feuerwehr, Mann.« Brad lachte ein wenig irre.
»Wir haben morgen abend eine Versammlung des Komitees der Freien Zone«, sagte Stu. »Du kannst vorbeikommen und erklären, warum du sie brauchst. Dann wirst du deine Männer bekommen. Bist du sicher, daß so eine Überlastung nicht wieder vorkommt?«
»Ziemlich sicher, ja. Wenn nicht soviel eingeschaltet gewesen wäre, wäre es auch heute nicht passiert. Da wir gerade davon sprechen, jemand sollte nach Nord-Boulder und nachsehen, ob es abbrennt.«
Niemand war sicher, ob Brad einen Witz gemacht hatte oder nicht. Wie sich herausstellte, waren mehrere kleine Feuer ausgebrochen, hauptsächlich an Heizgeräten. Aber im Nieselregen breitete sich keines aus. Und später erinnerten sich die Leute nur noch daran, daß der erste September 1990 der Tag gewesen war, als der Strom wieder anging - wenn auch nur dreißig Sekunden oder so.
Eine Stunde später fuhr Fran mit dem Fahrrad zum Eben G. Fine Park gegenüber von Harolds Haus. Am Nordende des Parks, gleich hinter den Picknicktischen, blubberte der Boulder Stream munter dahin. Der Nieselregen des Morgens wurde zu leichtem Dunst.
Sie sah sich nach Larry um, fand ihn nicht und stellte das Rad ab. Sie ging durch das feuchte Gras zu den Schaukeln, als eine Stimme sagte: »Hier drüben, Fran.«
Verblüfft sah sie zu dem Gebäude, in dem sich die Damen- und Herrentoiletten befanden, und verspürte einen Augenblick völlig verwirrte Angst. Eine hochgewachsene Gestalt stand im Schatten des kurzen Durchgangs zwischen den beiden öffentlichen Toiletten, und einen Moment dachte sie...
Dann kam die Gestalt heraus, und es war Larry, der verblichene Jeans und ein Khakihemd trug. Fran entspannte sich.
»Habe ich dir angst gemacht?« fragte er.
»Ein bißchen.« Sie setzte sich auf eine Schaukel, ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder. »Ich habe nur eine Gestalt gesehen, die dort im Dunkeln stand...«
»Tut mir leid. Ich dachte, es wäre sicherer, obwohl man von Harolds Haus nicht hierher sehen kann. Wie ich gesehen habe, bist du auch mit dem Fahrrad gekommen.«
Sie nickte. »Leiser.«
»Ich hab' meins dort in dem Schuppen versteckt.« Er deutete mit dem Kinn zu einem offenen Gebäude mit Flachdach beim Spielplatz. Frannie schob das Rad zwischen Schaukeln und Rutschbahn hindurch zu dem Schuppen. Drinnen roch es stickig und abgestanden. Der Schuppen war ein Treffpunkt für Jugendliche gewesen, die zu jung oder zu high zum Fahren waren, vermutete sie. Es wimmelte von Bierflaschen und Zigarettenkippen. In der Ecke hinten lag ein zusammengeknüllter Damenschlüpfer, in der vorne befanden sich die Überreste einer kleinen Feuerstelle. Sie stellte das Rad neben dem von Larry ab und kam rasch wieder heraus. In dem Schatten, wo ihr der Geruch von längst schal gewordenem Sex in die Nase stieg, konnte sie sich nur zu leicht vorstellen, daß der dunkle Mann mit seinem verbogenen Kleiderbügel hinter ihr stand.
»Ein regelrechtes Holiday Inn, was?« sagte Larry trocken.
»Nicht das, was ich mir unter einer freundlichen Umgebung vorstelle«, sagte Fran erschauernd. »Was immer dabei herauskommt, Larry, ich will Stu heute abend alles erzählen.«
Larry nickte. »Ja, und nicht nur, weil er im Komitee ist. Er ist auch der Marshal. «
Fran sah ihn besorgt an. Ihr wurde zum ersten Mal klar, daß diese Expedition Harold ins Gefängnis bringen konnte. Sie hatten vor, ohne Durchsuchungsbefehl oder so in sein Haus einzudringen und herumzuschnüffeln.
»Schlimm«, sagte sie.
»Nicht gut, was?« stimmte er zu. »Wollen wir es abblasen?«
Sie dachte lange nach und schüttelte dann den Kopf.
»Gut. Ich finde, wir müssen es erfahren, so oder so.«
»Bist du sicher, daß sie beide weg sind?«
»Ja. Ich habe Harold heute morgen mit einem der Lastwagen des Beerdigungskomitees wegfahren sehen. Und alle Leute im Kraftwerkstrupp sind zum Probelauf eingeladen worden.«
»Bist du sicher, daß sie hingegangen ist?«
»Es würde doch verdammt komisch aussehen, wenn nicht, oder?«
Frannie dachte darüber nach und nickte. »Wahrscheinlich schon. Stu hat übrigens gesagt, sie hoffen, daß sie den größten Teil der Stadt bis zum sechsten wieder mit Strom versorgen können.«
»Das wird ein Tag werden«, sagte Larry und dachte daran, wie schön es sein würde, mit einer großen Fender-Gitarre und einem noch größeren Verstärker im Shannon's oder Broken Drum zu sitzen und etwas zu spielen - irgend etwas, wenn es nur unkompliziert war und einen schweren Rhythmus hatte - bei voller Lautstärke. Vielleicht »Gloria« oder »Walkin' the Dog«. Irgend etwas, nur nicht »Baby, Can You Dig Your Man?«
»Vielleicht«, sagte Fran, »sollten wir uns trotzdem eine Ausrede überlegen. Für alle Fälle.«
Larry grinste schief. »Willst du etwa sagen, wir verkaufen Zeitschriftenabos, wenn einer zurückkommt?«
»Ha-ha, Larry.«
»Nun, wir könnten sagen, daß wir gekommen sind, um das zu berichten, was du mir gerade gesagt hast, von wegen Strom wieder einschalten. Wenn sie da ist.«
Fran nickte. »Ja, das wäre gut.«
»Mach dir nichts vor, Fran. Sie wäre selbst dann argwöhnisch, wenn wir ihr sagen würden, daß Jesus Christus gerade wiedergekommen ist und auf dem Wasserturm hin und her läuft.«
»Wenn sie schuldig ist.«
»Ja. Wenn sie schuldig ist.«
»Komm«, sagte Fran nach kurzem Zögern. »Gehen wir.«
Sie brauchten die Ausrede nicht. Lautes, anhaltendes Klopfen an Vorder- und Hintertür überzeugte sie davon, daß Harolds Haus tatsächlich leer war. Um so besser, dachte Frannie - je mehr sie über ihre Ausrede nachdachte, um so dünner kam sie ihr vor.
»Wie bist du reingekommen?« fragte Larry.
»Durchs Kellerfenster.«
Sie gingen zur Seite des Hauses, und Larry zog und zerrte vergeblich an dem Fenster, während Frannie Schmiere stand.
»Damals vielleicht«, sagte er, »aber jetzt ist es abgeschlossen.«
»Nein, es klemmt nur. Laß mich versuchen.«
Aber sie hatte auch nicht mehr Glück. Irgendwann zwischen ihrem ersten heimlichen Besuch und heute hatte Harold das Fenster verriegelt.
»Was machen wir jetzt?« fragte sie.
»Laß uns einbrechen.«
»Larry, das merkt er doch.«
»Soll er. Wenn er nichts zu verbergen hat, wird er denken, daß es nur ein paar Kinder waren, die Fensterscheiben von leeren Häusern eingeschlagen haben. Mit den runtergelassenen Rollos sieht es eindeutig leer aus. Und wenn er etwas zu verbergen hat, dann wird es ihm eine Menge Kopfzerbrechen machen, aber das geschieht ihm dann auch recht. Richtig?«
Sie sah zweifelnd drein, hinderte ihn aber nicht, als er sein Hemd auszog, um Hand und Unterarm wickelte und das Kellerfenster eindrückte. Glas fiel klirrend nach innen; er tastete nach dem Riegel.
»Hab' ihn.« Er drückte ihn zurück und schob das Fenster auf. »Sei vorsichtig, Mädchen. Bitte keine Fehlgeburten in Harold Lauders Keller.«
Er griff ihr unter die Arme und half ihr herunter. Sie sahen sich gemeinsam im Kellerraum um. Die Krocketschläger standen Wache. Auf dem Tischhockey lagen Schnipsel von bunten Stromkabeln.
»Was ist das?« sagte sie und hob ein Stück auf. »Das war vorher nicht da.«
Er zuckte die Achseln. »Vielleicht bastelt Harold an einer Mausefalle.«
Er angelte sich den Karton, der unter dem Tisch stand. Auf dem Deckel hieß es: DELUXE REALISTIC WALKIE-TALKIE SET, BATTERIES NOT INCLUDED. Larry öffnete den Karton, aber das Gewicht hatte ihm schon verraten, daß er leer war.
»Er baut keine Mausefallen, sondern Walkie-talkies«, sagte Fran.
»Nein, dies war kein Bausatz. Diese Dinger kauft man fertig. Vielleicht wollte er es irgendwie umbauen. Das würde Harold ähnlich sehen. Weißt du noch, wie Stu sich über den Walkie-talkie-Empfang geärgert hat, als er und Harold und Ralph Mutter Abagail gesucht haben?«
Sie nickte, aber etwas an diesen Drahtabfällen machte ihr Sorgen. Larry ließ den Karton auf den Boden fallen und machte eine Bemerkung, die er später als den größten Irrtum seines Lebens ansehen sollte. »Ist nicht wichtig«, sagte er. »Gehen wir.«
Sie gingen die Treppe hinauf, aber diesmal war die obere Tür abgeschlossen. Sie sah ihn an, und Larry zuckte die Achseln. »Wir sind soweit gekommen, richtig?«
Fran nickte.
Larry stieß ein paarmal mit der Schulter gegen die Tür, um den Riegel auf der anderen Seite zu prüfen, dann warf er sich kräftig dagegen. Sie hörten ein metallisches Knacken, ein Klirren, und die Tür sprang auf. Larry bückte sich und hob Schrauben und Riegel vom Linoleumfußboden der Küche auf. »Das schraube ich wieder an, und er wird nichts merken. Das heißt, wenn ich einen Schraubenzieher auftreibe.«
»Wozu die Mühe? Er wird das eingeschlagene Fenster sehen.«
»Das stimmt. Aber wenn der Riegel wieder an der Tür ist, wird er... warum lachst du?«
»Bring meinetwegen den Riegel wieder an. Aber wie willst du ihn von der Kellerseite zumachen?«
Er dachte darüber nach und sagte: »Verdammt, wenn ich etwas hasse, dann neunmalkluge Weiber.« Er warf den Riegel auf den Küchentresen. »Sehen wir unter dem Kaminstein nach.«
Sie gingen in das halbdunkle Wohnzimmer, und Fran spürte, wie Angst in ihr hochkroch. Beim letzten Mal hatte Nadine keinen Schlüssel gehabt. Diesmal schon, wenn sie zurückkam. Es wäre ein schlechter Witz, wenn Stus erste Amtshandlung als Marshai darin bestehen sollte, seine eigene Frau wegen Einbruchs festzunehmen.
»Dort drüben, nicht«, sagte Larry und zeigte auf den Kamin.
»Ja. Beeil dich.«
»Die Möglichkeit ist ohnehin groß, daß er es anderswo versteckt hat.« Das hatte Harold auch. Nadine hatte es wieder unter dem losen Kaminstein verstaut. Das wußten Larry und Fran natürlich nicht, aber als Larry den losen Kaminstein weggezogen hatte, lag das Buch in dem Hohlraum darunter, und das Wort HAUPTBUCH glänzte ihnen in goldgeprägten Buchstaben entgegen. Sie sahen es beide an. Plötzlich schien es heißer, stickiger und dunkler in dem Zimmer zu sein.
»Nun«, sagte Larry. »Wollen wir es bewundern oder lesen?«
»Lies du«, sagte Fran. »Ich will es nicht einmal anfassen.«
Larry nahm es aus der Vertiefung und wischte automatisch den weißen Steinstaub vom Einband. Er blätterte es wahllos durch. Es war mit einem Filzstift beschrieben worden, der unter dem kämpferischen Markennamen Hardhead in den Handel gekommen war. Mit ihm hatte Harold mit gedrängter winziger Schrift schreiben können - der Schrift eines äußerst gewissenhaften Mannes, vielleicht eines Besessenen. Es gab keine Absätze. Rechts und links war nur ein winziger Rand, aber dieser Rand war so gleichmäßig und gerade, daß er mit dem Lineal hätte gezogen sein können.
»Ich brauche drei Tage, um das alles zu lesen«, sagte Larry und blätterte zum Anfang des Buches zurück.
»Halt«, sagte Fran und griff über seinen Arm, um ein paar Seiten zurückzublättern. Hier war der gleichmäßig fließende Text durch einige scharf umrandete Stellen unterbrochen. Die umrandeten Stellen schienen jeweils eine Art Motto darzustellen:
Seinem Stern zu folgen bedeutet, sich einer höheren Macht, einer Vorsehung auszuliefern; aber ist es nicht dennoch möglich, dass dieser Akt der Selbstentäußerung den Zugang zu noch größerer Macht erschließt? Dein GOTT, dein TEUFEL hat den Schlüssel zum Leuchtturm; ich habe mich in den letzten zwei Monaten sehr intensiv damit auseinandergesetzt; aber jedem von uns hat er die Verantwortung des NAVIGIERENS selbst überlassen.
HAROLD EMERY LAUDER
»Tut mir leid«, sagte Larry. »Das ist mir zu hoch. Verstehst du das?«
Fran schüttelte langsam den Kopf. »Ich vermute, Harold will damit ausdrücken, daß Gehorchen genauso ehrenhaft ist wie Befehlen. Aber als Sprichwort kann es >Spare in der Zeit, dann hast du in der Not< gewiß nicht verdrängen.«
Larry blättert e noch ein Stück nach vorn und fand vier oder fünf weitere umrandete Maximen, unter denen in Großbuchstaben Harolds Name stand. »Puuuh«, sagte Larry. »Sieh dir das an, Frannie.«
Es heißt, die beiden großen Sünden der Menschen seien Stolz und Haß. Wirklich? Ich ziehe es vor, beide für große Tugenden zu halten. Auf Haß und Stolz zu verzichten hieße, sich zugunsten der Welt zu verändern. Edler ist es, wenn ich sie mir zu eigen mache und ihnen freien Lauf lasse, denn dann muß sich die Welt zu meinen Gunsten verändern. Das Leben ist ein großes Abenteuer.
HAROLD EMERY LAUDER
»Das kann nur ein zutiefst verwirrter Geist geschrieben haben«, sagte Fran. Ihr war kalt.
»Das ist die Denkweise, die uns in diese Lage gebracht hat«, stimmte Larry zu. Er blätterte ganz bis zum Anfang zurück. »Wir verlieren Zeit. Mal sehen, was wir damit anfangen können.«
Keiner von beiden wußte, was sie zu erwarten hatten. Sie hatten nur die umrandeten Stellen gelesen und den einen oder anderen Satz. Harolds überladener Stil (der Schachtelsatz schien mit Harold im Sinn erfunden worden zu sein) sagte ihnen wenig bis gar nichts. Was sie am Anfang des Hauptbuchs lasen, war ein ziemlicher Schock für sie.
Das Tagebuch fing ganz oben auf der ersten rechten Seite an. Diese war ordentlich mit einer eingekreisten 1 gekennzeichnet. Dort war ein Absatz, der einzige Absatz in dem ganzen Buch, soweit Frannie das sagen konnte, von den in Kästchen gesetzten Motti einmal abgesehen. Sie lasen den ersten Satz und hielten dabei das Hauptbuch zwischen sich wie Kinder bei der Chorprobe, und Fran sagte mit leiser, erstickter Stimme »Oh!«, wich zurück und preßte leicht eine Hand auf den Mund.
»Fran, wir müssen das Buch mitnehmen«, sagte Larry.
»Ja...«
»Und es Stu zeigen. Ich weiß nicht, ob Leo recht hat und sie auf der Seite des dunklen Mannes stehen, aber Harold ist in einer gefährlichen Geistesverfassung. Das sieht man.«
»Ja«, sagte sie wieder. Sie fühlte sich schwach, ausgelaugt. So ging das Thema Tagebücher also zu Ende. Es war, als hätte sie es von dem Augenblick an gewußt, als sie den großen, verschmierten Daumenabdruck sah, und sie mußte sich immer wieder sagen, nicht ohnmächtig werden, bloß nicht ohnmächtig werden.
»Fran? Frannie? Alles in Ordnung?«
Larrys Stimme. Von weit her.
Der erste Satz in Harolds Hauptbuch lautete: In diesem herrlichen Sommer nach der Apokalypse wird es mein allergrößtes Vergnügen sein, endlich Mr. Stuart Redman, dieses Arschloch, umzubringen, und, wer weiß, vielleicht sie auch.
»Ralph? Ralph Brentner, bist du zu Hause? Huuu-huuu, jemand daheim?«
Sie stand auf den Eingangsstufen und sah zum Haus. Auf dem Hof standen keine Motorräder, nur ein paar Fahrräder neben dem Haus. Ralph hätte sie gehört, aber sie mußte an den Stummen denken. Den Taubstummen. Man konnte schreien, bis man schwarz wurde, und er würde sich nicht melden, obwohl er vielleicht da war.
Nadine nahm die Einkaufstasche von einer Hand in die andere, griff nach der Tür und stellte fest, sie war nicht abgeschlossen. Sie ging aus dem feinen Nieselregen hinein. Jetzt stand sie in einem kleinen Vorraum. Vier Stufen führten zur Küche hinauf, eine Treppe in den Keller hinunter, wo laut Harold Nick seine Wohnung hatte. Nadine setzte ihr freundlichstes Gesicht auf, ging nach unten und legte sich zurecht, was sie sagen würde, falls er zu Hause sein sollte.
Ich bin gleich reingekommen, weil ich dachte, daß du mein Klopfen nicht hören würdest. Wir möchten gern wissen, ob wir wegen des beschädigten Motors eine Spätschicht einlegen müssen. Hat Brad etwas gesagt?
Unten waren nur zwei Zimmer. Das eine war ein Schlafzimmer, so schlicht wie eine Mönchszelle. Das andere war ein Arbeitszimmer. Dort standen ein Schreibtisch, ein Sessel, ein Papierkorb und ein Bücherregal. Auf der Schreibtischplatte lagen viele lose Zettel, die sie müßig durchsah. Die meisten sagten ihr nicht viel - es waren wohl Nicks Äußerungen während eines Gesprächs (wahrscheinlich schon, aber sollten wir ihn nicht fragen, ob das auch einfacher geht? stand auf einem). Auf anderen hatte er verschiedene Gedanken notiert. Einige erinnerten sie an die umrandeten Stellen in Harolds Hauptbuch, seine Wegweiser zu einem besseren Leben, wie er sie mit einem sarkastischen Lächeln genannt hatte.
Auf einem stand: Muß mit Glen über Volkswirtschaft reden. Weiss einer von uns, wie Handel anfängt? Warenknappheit? Ein veränderter Markt? Individuelle Fähigkeiten! Das mag ein Schlüsselwort sein. Was ist, wenn Brad Kitchner plötzlich nicht mehr umsonst arbeiten will? Oder der Doktor? Womit sollten wir ihn bezahlen? Hmmm. Auf einem anderen: Schutz der Gemeinschaft ist ein zweischneidiges Schwert.
Auf einem anderen: Immer wenn wir über Recht und Gesetz reden, habe ich Alpträume und denke an Shoyo. Ich sah sie sterben. Ich sah, wie Childress sein Essen durch die Zelle warf. Das Gesetz, das Gesetz, wie machen wir es nur mit dem gottverdammten Gesetz? Todesstrafe. Lustiger Gedanke. Wenn Brad den Strom erst wieder eingeschaltet hat, wie lange wird es dann dauern, bis jemand einen elektrischen Stuhl fordert?
Sie wandte sich von den Zetteln ab - widerwillig. Es war faszinierend, die Papiere eines Mannes durchzusehen, der nur in Schriftzeichen denken konnte (einer ihrer College-Professoren pflegte zu sagen, daß der Denkprozeß ohne Artikulation nie vollständig sein könne), aber sie hatte ihr Ziel hier unten schon fast erreicht. Nick war nicht hier, niemand war hier. Noch länger zu bleiben hieße, das Glück herauszufordern.
Sie ging wieder nach oben. Harold hatte ihr gesagt, daß sie sich wahrscheinlich im Wohnzimmer versammeln würden. Es war ein riesiges, mit einem dicken weinroten Teppich ausgelegtes Zimmer, das von einem freistehenden Kamin beherrscht wurde, dessen Abzug wie eine Felssäule durch die Decke führte. Die Westwand war ein einziges großes Panoramafenster, durch das man eine herrliche Aussicht auf die Flatirons hatte. Sie kam sich den Blicken ausgesetzt wie ein Käfer an der Wand vor. Sie wußte, daß die Außenseite der Thermoplexscheibe isoliert war, so daß man draußen ein Bild wie in einem Spiegel sah, aber der psychologische Eindruck war trotzdem, entblößt zu sein. Sie wollte es schnell hinter sich bringen. An der Südseite des Zimmers fand sie, was sie suchte, einen großen Schrank, den Ralph nicht ausgeräumt hatte. Im Schrank hingen Mäntel, und in der hinteren Ecke lagen Schuhe und Wollsachen und Handschuhe fast einen Meter hoch aufgestapelt.
Rasch nahm sie die Lebensmittel aus der Einkaufstasche. Sie waren nur Tarnung und bildeten nur eine Schicht. Unter den Dosen mit Tomatenpüree und Sardinen stand der Hush-Puppies-Schuhkarton mit Dynamit und Walkie-talkie darin.
»Wird es auch funktionieren, wenn ich den Karton in den Schrank stelle?« hatte sie gefragt. »Wird die zusätzliche Wand die Wucht der Explosion nicht mindern?«
»Nadine«, hatte Harold geantwortet, »wenn das Gerät funktioniert, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln, dann zerstört es das ganze Haus und die nähere Umgebung. Du mußt es irgendwohin stellen, wo es vor der Sitzung nicht gefunden wird. Ein Schrank wäre gut. Die zusätzliche Wand wird wie Schrapnellsplitter wirken. Ich verlasse mich ganz auf dein Urteil, Liebes. Es wird sein wie in dem alten Märchen vom tapferen Schneiderlein. Sieben auf einen Streich. Nur haben wir es in diesem Fall mit sieben politischen Fliegen zu tun.«
Nadine stellte den Schuhkarton in die Schrankecke und versteckte ihn unter den Sachen. Dann machte sie die Schranktür zu. Da. Fertig. So oder so.
Sie verließ rasch das Haus, ohne sich noch einmal umzusehen, und versuchte die innere Stimme zu ignorieren, die Stimme, die ihr sagte, sie solle umkehren und die Drähte zwischen den Sprengkapseln und dem Walkie-talkie lösen. Denn war es nicht Wahnsinn, der vor ihr lag, vielleicht weniger als zwei Wochen entfernt? War Wahnsinn nicht die logische Konsequenz?
Sie stellte die Tasche mit den Lebensmitteln auf den Gepäckträger der Vespa und trat den Starter. Und während der ganzen Fahrt sagte die Stimme in ihr: Du wirst sie doch nicht dort stehen lassen? Du wirst doch die Bombe nicht dort stehen lassen?
In einer Welt, in der schon so viele sterben mußten...
Sie legte sich in die Kurve, sah abe r kaum, wohin sie fuhr. Tränen nahmen ihr die Sicht.
... ist es die größte Sünde, einem Menschen das Leben zu nehmen.
In diesem Fall sieben Menschenleben. Nein, mehr, denn das Komitee wollte sich von Angehörigen verschiedener Unterkomitees Bericht erstatten lassen.
An der Ecke Baseline und Broadway hielt sie an und dachte, sie würde umkehren und zurückfahren. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie spürte, wie eine Schwärze sich um ihre Augen legte. Es war, als würde ein dunkler Vorhang langsam zugezogen, der in einer leichten Brise flatterte. Hin und wieder kam ein stärkerer Windstoß, der Vorhang bewegte sich heftiger, und sie sah an seinem Saum ein wenig Licht, einen kleinen Ausschnitt dieser verlassenen Straßenkreuzung.
Aber immer wieder verdeckte der Vorhang ihr die Sicht, bis sie zuletzt ganz darin eingehüllt war. Sie war blind, sie war taub, sie hatte keinen Tastsinn mehr. Die denkende Kreatur, das Nadine-Ego, trieb in einem warmen schwarzen Kokon wie Meerwasser, wie Fruchtwasser.
Und sie spürte, wie er in sie hineinkroch.
Ein Schrei baute sich in ihr auf, aber sie hatte keinen Mund, mit dem sie schreien konnte.
Penetration: Entropie.
Sie wußte nicht, was diese beiden Worte zusammengenommen bedeuteten; sie wußte nur, daß sie richtig waren.
Sie hatte noch niemals so etwas empfunden. Später fielen ihr Vergleiche ein, um es zu beschreiben, aber sie verwarf sie einen nach dem anderen wieder.
Man schwimmt, und plötzlich gerät man mitten im warmen Wasser in eine Stelle, wo es lähmend eiskalt ist.
Man hat Novokain bekommen, und der Zahnarzt zieht einen Zahn. Dieser löst sich schmerzlos aus dem Kiefer. Man spuckt Blut in das weiße Emaillebecken. Man hat ein Loch; man ist ausgehöhlt worden. Man kann die Zunge in das Loch schieben, in dem eine Sekunde vorher ein Teil von einem selbst gelebt hat.
Man betrachtet sein Gesicht im Spiegel. Man betrachtet es lange. Fünf Minuten, zehn, fünfzehn. Ohne zu blinzeln. Man sieht mit einer Art intellektuellem Entsetzen, wie das Gesicht sich verändert, wie das Gesicht von Lon Chaney jr. in einem Werwolf-Film. Man wird sich selbst ein Fremder, ein olivhäutiger Doppelgänger, eine psychotische Vampirin mit blasser Haut und Fischaugen.
Es war eigentlich nichts von diesen Dingen, aber es hatte von allem einen leichten Geschmack.
Der dunkle Mann drang in sie ein, und er war kalt.
Als Nadine die Augen aufschlug, dachte sie zuerst, sie wäre in der Hölle.
Die Hölle war weiß, These zu des dunklen Mannes Antithese. Sie sah weißes, elfenbeinfarbenes, ausgebleichtes Nichts. Weiß-weißweiß. Es war die weiße Hölle, und sie war überall.
Sie betrachtete das Weiß (es war unmöglich, hinein zu sehen) fasziniert, gequält, mehrere Minuten lang, bis sie merkte, daß sie den Sattel der Vespa zwischen den Schenkeln spüren konnte und an der Peripherie ihres Sichtfelds eine andere Farbe - grün - auftauchte. Mit einem Ruck riß sie die Augen aus ihrem leeren, starren Blick. Sie sah sich um. Ihr Mund war offen, zitterte; die Augen selbst waren benommen und voller Entsetzen. Der dunkle Mann war in ihr gewesen, Flagg war in ihr gewesen, und als er gekommen war, hatte er sie vom Fenster ihrer fünf Sinne verdrängt, von ihren Verbindungen zur Wirklichkeit. Er hatte sie verscheucht wie ein Mann ein kleines Tier. Und hatte sie hierher gebracht... wohin? Sie sah zum Weiß und stellte fest, daß es die riesige, leere Leinwand eines Autokinos vor dem Hintergrund des verregneten weißen Spätnachmittagshimmels war. Als sie sich umdrehte, sah sie die Snack-Bar. Sie war scheußlich fleischfarben rosa gestrichen. Folgende Worte waren darauf geschrieben: WILLKOMMEN IM HOLIDAY TWIN! LASSEN SIE SICH HEUTE NACHT UNTER DEN STERNEN UNTERHALTEN! Die Dunkelheit hatte sich Ecke Baseline und Broadway über sie gesenkt. Jetzt war sie weit draußen an der 28th Street, fast jenseits der Stadtgrenze nach... Longmont, nicht?
Ein Nachgeschmack von ihm war immer noch in ihr, weit hinten in ihrem Verstand, wie kalter Schleim auf einem Fußboden. Sie war von Pfosten umgeben, Stahlpfosten, gleich Wächtern, jeder einen Meter fünfzig hoch, auf jedem befand sich ein Set Autokinolautsprecher. Unter ihren Füßen war Kies, aber Gras und Löwenzahn wuchsen dazwischen. Sie vermutete, die Geschäfte gingen seit etwa Mitte Juni oder so schlecht im Holiday Twin. Man konnte sagen, daß es für die Unterhaltungsbranche sozusagen ein toter Sommer gewesen war.
»Warum bin ich hier?« flüsterte sie.
Sie redete nur laut, führte Selbstgespräche; sie rechnete nicht mit einer Antwort. Als sie eine Antwort bekam, entrang sich ihrem Hals ein Entsetzensschrei.
Alle Lautsprecher fielen auf einmal von den Lautsprecherpfosten auf den unkrautüberwucherten Kies. Sie gaben ein lautes, verstärktes PLATSCH! von sich - ein Geräusch, als wäre ein Leichnam auf Kies geplumpst.
» NADINE«, plärrten die Lautsprecher, und es war seine Stimme, und wie sie da erst schrie! Sie riß die Hände zum Kopf, preßte die Handflächen auf die Ohren, aber sämtliche Lautsprecher ertönten auf einmal; sie konnte sich nicht vor der monströsen Stimme verbergen, die voll beängstigender Fröhlichkeit und grausiger, komischer Lust war.
»NADINE, NADINE; O WIE ICH LIEBE WIE ICH DICH LIEBE NADINE, MEIN SCHOSSTIER, MEIN HÜBSCHES...«
»Hör auf!« kreischte sie zurück und überanstrengte die Stimmbänder mit der Wucht ihres Schreis, aber dennoch war ihre Stimme leise im Vergleich zu diesem gewaltigen Brüllen. Dennoch verstummte seine Stimme einen Augenblick. Es herrschte Schweigen. Die heruntergefallenen Lautsprecher sahen sie vom Kies an wie die Facettenaugen gigantischer Insekten.
Nadine nahm langsam die Hände von den Ohren.
Du bist verrückt geworden, tröstete sie sich. Das ist alles. Die Belastung des Wartens... und Harolds Spielchen... zuletzt die Bombe verstecken... das alles hat dich wahnsinnig gemacht, Teuerste, und du bist übergeschnappt. Wahrscheinlich ist es so besser.
Aber sie war nicht verrückt geworden, das wußte sie.
Dies war schlimmer, als verrückt zu sein.
Wie um das zu beweisen, ertönten die Lautsprecher nun mit der gestrengen und doch beinahe weinerlichen Stimme eines Rektors, der die Studentenschaft der High School wegen eines gemeinsam begangenen Streiches zurechtweist. »NADINE, SIE WISSEN ES.«
»Sie wissen es«, wiederholte sie wie ein Papagei. Sie war nicht sicher, wer »sie« waren oder was sie wußten, aber sie war ziemlich sicher, daß es unumkehrbar war.
»DU WARST DUMM. GOTT LIEBT VIELLEICHT DUMMHEIT, ICH NICHT.«
Die Worte knisterten und rollten in den Spätnachmittag davon. Plötzlich klebte ihre Kleidung an der Haut, das Haar haftete feucht an den blassen Wangen, und sie fing an zu zittern.
Dumm, dachte sie. Dumm, dumm. Ich weiß, was das Wort bedeutet, glaube ich. Es bedeutet Tod.
»SIE WISSEN ALLES... NUR NICHTS VON DEM SCHUHKARTON, DEM DYNAMIT.«
Lautsprecher. Überall Lautsprecher, die vom weißen Kies zu ihr hochsahen, sie zwischen Löwenzahnblüten ansahen, welche sich wegen des Regens geschlossen hatten.
»GEHT ZUM SUNRISE AMPHITHEATER. BLEIBT DORT BIS MORGEN ABEND. BIS SIE SICH TREFFEN. DANN DARFST DU MIT HAROLD KOMMEN. ZU MIR KOMMEN.«
Jetzt empfand Nadine eine einfache, strahlende Dankbarkeit. Sie waren dumm gewesen... aber sie hatten auch eine zweite Chance gewährt bekommen. Sie waren so wichtig, daß sein Eingreifen gerechtfertigt war. Und bald, sehr bald, würde sie bei ihm sein... und dann würde sie wahnsinnig werden, da war sie ganz sicher, und dies alles würde keine Rolle mehr spielen.
»Sunrise Amphitheater könnte zu weit sein«, sagte sie. Ihre Stimmbänder waren irgendwie verletzt, sie konnte nur noch krächzen. »Es ist vielleicht zu weit für das...« Für was? Sie überlegte. Oh! O ja! Richtig! »Für das Walkietalkie. Das Signal.«
Keine Antwort.
Die Lautsprecher lagen auf dem Kies und starrten sie an, Hunderte. Sie trat den Kickstarter der Vespa; der Motor erwachte hustend zum Leben. Das Echo ließ sie zusammenzucken. Es hörte sich an wie Gewehrfeuer. Sie wollte weg von diesem schrecklichen Ort, weg von den glotzenden Lautsprechern.
Mußte weg.
Sie kippte das Motorrad zu sehr, als sie um die Einlaßschranke herum fuhr. Auf einer asphaltierten Oberfläche hätte sie es vielleicht halten können, aber die Hinterreifen der Vespa rutschten im Kies unter ihr weg, sie fiel, biß sich die Lippen blutig und schürfte die Wange auf. Sie stand mit aufgerissenen, ängstlichen Augen auf und fuhr weiter. Sie zitterte am ganzen Körper.
Jetzt war sie in der Gasse, wo die Autos zum Kino fuhren, und das Kartenhäuschen, das wie eine kleine Mautkabine aussah, war direkt vor ihr. Sie würde hinausfahren. Sie würde entkommen. Sie verzog dankbar den Mund.
Hinter ihr erwachten Hunderte Lautsprecher auf einmal plärrend zum Leben, und jetzt sang die Stimme, ein gräßlicher, unmelodischer Gesang: »I'LL BE SEEING YOU... IN ALL THE OLD FAMILIAR PLACES... THAT THIS HEART OF MINE EMBRACES... ALL DAU THROOOOO...«
Nadine schrie mit ihrer brüchigen Stimme.
Gewaltiges, monströses Gelächter, dann ein dunkles und steriles Kichern, welches die ganze Erde auszufüllen schien.
»MACH'S GUT, NADINE«, dröhnte die Stimme. »MACH'S GUT, MEINE TEUERSTE, MEINE HERZALLERLIEBSTE.«
Dann war sie auf der Straße und floh in Richtung Boulder, was die Vespa an Geschwindigkeit hergab, und ließ die körperlose Stimme und die glotzenden Lautsprecher hinter sich... aber sie würde sie auf immer und ewig in ihrem Herzen tragen.
Sie wartete eine Ecke von der Bushaltestelle entfernt auf Harold. Als er sie sah, wurde sein Gesicht starr und verlor alle Farbe.
»Nadine...« flüsterte er. Die Frühstücksdose fiel ihm aus der Hand und schlug klappernd aufs Pflaster.
»Harold«, sagte sie. »Sie wissen es. Wir müssen...«
»Dein Haar, Nadine, mein Gott, dein Haar...«
»Hör mir zu!«
Er schien sich wieder in der Gewalt zu haben. »A-also gut. Was?«
»Sie sind in dein Haus gegangen und haben dein Buch gefunden. Sie haben es mitgenommen.«
Widerstreitende Gefühle in Harolds Gesicht: Wut, Entsetzen, Scham. Ganz langsam verschwanden sie und ein gefrorenes Grinsen erschien in Harolds Gesicht. »Wer? Wer war es?«
»Ich weiß nicht alles, und es spielt auch keine Rolle. Fran Goldsmith war dabei. Das weiß ich genau. Vielleicht Bateman oder Underwood. Keine Ahnung. Aber sie werden dich holen, Harold.«
»Wie kannst du das wissen?« Er packte sie grob an den Schultern und erinnerte sich daran, daß sie das Buch wieder unter den Kaminstein gelegt hatte. Er schüttelte sie wie eine Puppe, aber Nadine sah ihn unerschrocken an. Sie hatte an diesem langen Tag Schlimmerem gegenübergestanden als Harold Lauder. »Du Miststück, wie kannst du das wissen?«
»Er hat es mir gesagt.«
Harold ließ die Hände sinken.
»Flagg?« Ein Flüstern. »Er hat es dir gesagt. Er hat mit dir gesprochen? Und das ist dabei passiert?« Harolds Grinsen war schauderhaft, das Grinsen des reitenden Sens enmannes.
»Wovon redest du denn?«
Sie standen vor einem Installationsgeschäft. Wieder nahm Harold sie bei den Schultern und drehte ihr Gesicht zum Glas hin. Nadine betrachtete lange ihr Spiegelbild.
Ihr Haar war weiß geworden. Ganz weiß. Es hatte keine einzige schwarze Strähne mehr.
Oh, wie ich liebe, wie ich dich liebe, Nadine.
»Komm«, sagte sie. »Wir müssen die Stadt verlassen.«
»Jetzt?«
»Nach Einbruch der Dunkelheit. Bis dahin verstecken wir uns und besorgen uns die Camping-Ausrüstung, die wir für unterwegs brauchen.«
»Nach Westen?«
»Noch nicht. Nicht vor morgen abend.«
»Vielleicht will ich gar nicht mehr«, flüsterte Harold. Er betrachtete immer noch ihr Haar.
Sie legte seine Hand darauf. »Zu spät, Harold«, sagte sie.