25
Nick Andros schob einen der Vorhänge zur Seite und blickte hinaus auf die Straße. Von hier, aus dem ersten Stock im Haus des verstorbenen John Baker, sah man links die ganze Innenstadt von Shoyo, und rechts die Route 63, die aus der Stadt hinausführte. Die Main Street war völlig verlassen. Ein elend aussehender Hund sass mitten auf der Straße, ließ den Kopf hängen; seine Flanken blähten sich, weißer Schaum tropfte ihm aus dem Maul auf das in der Hitze flimmernde Pflaster. Einen halben Block weiter lag ein anderer Hund in der Gosse - tot.
Die Frau hinter ihm stöhnte laut und kehlig, aber Nick hörte sie nicht. Er zog den Vorhang wieder zu, rieb sich einen Moment die Augen und ging dann zu der Frau, die aufgewacht war. Jane Baker war in mehrere Decken eingemummt, denn vor ein paar Stunden hatte sie plötzlich angefangen zu frieren. Jetzt lief ihr Schweiß in Strömen übers Gesicht, und sie hatte die Decken weggestrampelt - Nick stellte verlegen fest, daß sie das dünne Nachthemd stellenweise so durchgeschwitzt hatte, daß es durchsichtig war. Aber sie sah ihn nicht, und er bezweifelte, ob die Tatsache, daß sie halbnackt war, in diesem Stadium überhaupt noch eine Rolle spielte. Sie lag im Sterben.
»Johnny, bring die Schüssel, ich glaube, ich muß mich übergeben!« rief sie.
Er holte die Schüssel unter dem Bett hervor und stellte sie ihr hin, aber die Frau strampelte und stieß sie mit einem hohlen Poltern, das er auch nicht hören konnte, auf den Fußboden. Er hob sie auf, hielt sie fest und sah die Frau an.
»Johnny!« kreischte sie. »Ich kann mein Nähkästchen nicht finden!
Es steht nicht im Schrank!«
Er schenkte ihr aus dem Krug auf dem Nachttisch ein Glas Wasser ein und hielt es ihr an die Lippen, aber sie schlug wieder um sich und hätte es ihm fast aus der Hand geschlagen. Er stellte es in ihre Reichweite, bis sie sich beruhigt hatte.
Seine Stummheit war ihm noch nie so bitter bewußt gewesen wie in den letzten zwei Tagen. Am Dreiundzwanzigsten, als Nick hier ins Haus gekommen war, war der Methodistenpfarrer Braceman bei ihr gewesen. Er las ihr im Wohnzimmer aus der Bibel vor, aber er wirkte nervös und schien nicht schnell genug wieder gehen zu können. Nick konnte sich denken, warum. Das Fieber gab ihr ein rosiges, mädchenhaftes Aussehen, das nicht zu ihrem schmerzlichen Verlust paßte. Vielleicht hatte der Pfarrer geglaubt, sie wolle ihn anmachen, aber wahrscheinlicher war, daß er seine Familie zusammenrufen und möglichst schnell über Land verschwinden wollte. In einer kleinen Stadt verbreiten sich Neuigkeiten rasch, und auch andere hatten schon beschlossen, Shoyo zu verlassen.
Seit Braceman vor etwa achtundvierzig Stunden das Wohnzimmer der Bakers verlassen hatte, war alles zu einem Alptraum geworden. Mrs. Baker ging es schlechter, so viel schlechter, daß Nick befürchtet hatte, sie würde vor Sonnenuntergang sterben.
Um so schlimmer, daß er nicht bei ihr bleiben konnte. Er mußte ja immer wieder zum Truck Stop hinunter, um seinen drei Gefangenen etwas zu essen zu besorgen, aber Vince Hogan hatte nicht essen können. Er lag im Delirium. Mike Childress und Billy Warner wollten raus, aber Nick brachte es nicht über sich, sie freizulassen. Nicht aus Angst; er glaubte nicht, daß sie Zeit damit vergeuden würden, ihn zusammenzuschlagen, um sich zu rächen; sie würden, wie die anderen, so schnell wie möglich aus Shoyo verschwinden wollen. Aber er hatte die Verantwortung. Er hatte einem Mann sein Wort gegeben, der jetzt tot war. Und früher oder später würde die State Patrol die Dinge in die Hand nehmen und die Gefangenen abholen.
In der untersten Schublade von Bakers Schreibtisch fand er den ins Halfter gerollten Fünfundvierziger. Nach einem Augenblick des Nachdenkens schnallte er sich die Waffe um. Als er nach unten schaute und den Holzgriff des schweren Colts an seiner mageren Hüfte sah, kam er sich lächerlich vor - aber das Gewicht war beruhigend.
Am Nachmittag des Dreiundzwanzigsten hatte er Vinces Zellentür aufgeschlossen und ihm provisorische Eispackungen auf Brust, Stirn und Hals gelegt. Vince hatte die Augen aufgeschlagen und Nick so elend und flehentlich angesehen, daß Nick gewünscht hatte, er könnte etwas sagen - wie er es zwei Tage später bei Mrs. Baker wünschte -, irgend etwas, um den Mann mit ein paar Worten zu trösten. Es wird schon wieder gut oder ich glaube, das Fieber läßt bald nach hätte schon gereicht.
Die ganze Zeit, während er sich um Vince kümmerte, schrien Billy und Mike ihn an. Solange er sich über den kranken Mann beugte, war das egal, aber jedesmal wenn er hochsah, blickte er in ihre ängstlichen Gesichter, und ihre Lippen formten Worte, die stets auf dasselbe hinausliefen: Bitte, laß uns raus. Nick hielt sich wachsam von ihnen fern. Er war noch nicht erwachsen, aber alt genug zu wissen, daß Panik Männer gefährlich machte.
Am Nachmittag war er auf fast leeren Straßen hin- und hergewandert und hatte immer damit gerechnet, Vince Hogan an einem oder Mrs. Baker am anderen Ende tot vorzufinden. Er hielt nach Dr. Soames'
Auto Ausschau, sah es aber nicht. An diesem Nachmittag hatten einige Geschäfte noch geöffnet gehabt, auch die Texaco-Tankstelle, aber er war mehr und mehr davon überzeugt, daß die Stadt sich zusehends entvölkerte. Die Leute schlichen auf Holzfällerpfaden durch die Wälder oder wateten vielleicht sogar den Shoyo Stream hinauf, der durch Smackover floß und schließlich in der Stadt Mount Holly herauskam. Nach Einbruch der Dunkelheit würden noch mehr Leute die Stadt verlassen, dachte Nick.
Die Sonne war gerade untergegangen, als er das Haus der Bakers erreichte, wo Jane zitternd im Bademantel in der Küche umherschlurfte und Tee aufbrühte. Sie schaute Nick dankbar an, als er hereinkam, und er sah, daß sie kein Fieber mehr hatte.
»Ich möchte Ihnen danken, daß Sie auf mich aufgepaßt haben«, sagte sie ruhig. »Es geht mir schon viel besser. Möchten Sie eine Tasse Tee?« Und dann brach sie in Tränen aus.
Er ging zu ihr, denn er hatte Angst, sie könnte das Bewußtsein verlieren.
Sie hielt sich an seinen Armen fest und legte den Kopf an seine Schulter, ihr dunkles Haar fiel über den hellblauen Morgenmantel.
»Johnny«, sagte sie in der dunklen Küche. »Oh, mein armer Johnny.«
Wenn ich nur sprechen könnte, dachte Nick unglücklich. Aber er konnte sie nur festhalten und durch die Küche zu einem Stuhl am Tisch führen.
»Der Tee...«
Nick deutete auf sich und half ihr, sich zu setzen.
»Ja, gut«, sagte sie. »Es geht mir wirklich besser. Viel besser. Es ist nur, daß... daß...« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Nick machte ihnen heißen Tee und brachte ihn an den Tisch. Eine Weile tranken sie schweigend. Sie hielt die Tasse mit beiden Händen, wie ein Kind. Schließlich stellte sie sie ab und sagte: »Wie viele in der Stadt haben es, Nick?«
»Das weiß ich nicht mehr«, schrieb Nick. »Es ist ziemlich schlimm.«
»Hast du den Doktor gesehen?«
»Seit heute morgen nicht mehr.«
»Am wird sich völlig verausgaben, wenn er nicht aufpaßt«, sagte sie.
»Er wird doch vorsichtig sein, oder, Nick? Sich nicht völlig verausgaben?«
Nick nickte und versuchte zu lächeln.
»Was ist mit-Johns Gefangenen? Hat die Patrol sie schon abgeholt?«
»Nein«, schrieb Nick. »Hogan ist sehr krank. Ich tue, was ich kann. Die anderen wollen, daß ich sie rauslasse, bevor Hogan sie ansteckt.«
»Laß sie nicht raus!« sagte sie energisch. »Ich hoffe, daß du nicht mal im Traum daran denkst.«
»Nein«, schrieb Nick und fügte nach einem Augenblick hinzu: »Sie sollten wieder ins Bett gehen. Sie brauchen Ruhe.«
Sie lächelte ihn an, und als sie den Kopf bewegte, sah er die dunklen Flecken unter ihrem Kinn - und fragte sich unbehaglich, ob sie wirklich schon übern Berg war.
»Ja. Ich werde rund um die Uhr schlafen. Irgendwie kommt es mir unrecht vor zu schlafen, wo John tot ist... ich kann kaum glauben, daß er tot ist, weißt du. Ich stolpere immer wieder über den Gedanken, wie über etwas, das ich nicht aufgeräumt habe.« Er nahm ihre Hand und drückte sie. Sie lächelte müde. »Vielleicht findet sich mit der Zeit etwas anderes, wofür es sich zu leben lohnt. Hast du schon das Abendessen für deine Gefangenen geholt, Nick?«
Nick schüttelte den Kopf.
»Das solltest du aber. Warum nimmst du nicht Johns Auto?«
»Ich kann nicht fahren«, schrieb Nick. »Trotzdem danke. Ich werde zum Truck Stop laufen. Es ist nicht weit, und morgen sehe ich nach Ihnen, wenn es recht ist.«
»Ja«, sagte sie. »Gut.«
Er stand auf und deutete streng auf die Teetasse.
»Jeden Tropfen«, versprach sie.
Er war schon halb aus der Tür, als er ihre zögernde Berührung am Arm spürte.
»John...«, sagte sie, brach ab und zwang sich, weiterzusprechen.
»Ich hoffe, sie... haben ihn in die Leichenhalle nach Curtis gebracht. Von dort aus haben Johns und meine Familie immer ihre Toten bestattet. Glauben Sie, daß man ihn dort hingebracht hat?«
Nick nickte. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie fing wieder an zu schluchzen.
Als er sich an diesem Abend von ihr verabschiedet hatte, ging er direkt zum Truck Stop. Ein Schild GESCHLOSSEN hing schief im Fenster. Er war um das Haus herum zum Wohnwagen gegangen, aber da war ebenfalls alles dunkel gewesen. Unter diesen Umständen hielt er einen kleinen Einbruch für gerechtfertigt; das Geld in Sheriff Bakers Kasse würde reichen, den Schaden zu ersetzen.
Er schlug die Scheibe am Türgriff des Restaurants ein und ging hinein. Selbst bei eingeschalteter Beleuchtung war es unheimlich hier drin; die Musikbox war dunkel und tot, niemand stand am Billardtisch oder den Videospielen, die Nischen waren leer, die Hocker nicht besetzt. Der Grill war mit der Haube abgedeckt. Nick ging nach hinten und briet auf dem Gasherd ein paar Hamburger, die er in eine Plastiktüte tat. Dazu eine Flasche Milch und einen halben Apfelkuchen, der unter einer Plastikglocke auf dem Tresen stand. Dann ging er wieder ins Gefängnis, nachdem er einen Zettel auf den Tresen gelegt hatte, wer hier eingedrungen war und warum.
Vince Hogan war tot. Er lag zwischen schmelzendem Eis und nassen Handtüchern auf dem Boden seiner Zelle. Er hatte im Todeskampf die Hände an den Hals gelegt, als hätte er sich gegen einen unsichtbaren Würger gewehrt. Seine Fingerspitzen waren blutig. Fliegen ließen sich auf ihm nieder und summten wieder davon. Sein Hals war so schwarz und geschwollen wie ein Luftballon, den ein übermütiges Kind bis zum Zerplatzen aufgepumpt hatte.
»Läßt du uns jetzt raus?« fragte Mike Childress. »Er ist tot, du verdammter Taubstummer, bist du nun zufrieden? Ist das deine Rache? Und ihn hat's jetzt auch erwischt.« Er deutete auf Billy Warner.
Billy Warners Gesicht war entsetzt. Er hatte hektische rote Flecken auf Hals und Wangen; die Ärmel seines Baumwollhemds, an denen er sich oft die Nase abgewischt hatte, waren rotzverkrustet und steif.
»Das ist eine Lüüge!« sang er hysterisch. »Eine Lüge, eine Lüge, eine gott-ver-damm-te Lüüge! Das ist eine Lü...« Er fing plötzlich an zu niesen, so heftig, daß er sich zusammenkrümmte und eine volle Ladung Speichel und Schleim ve rsprühte.
»Siehst du?« fragte Mike. »Bist du jetzt zufrieden, du verdammter taubstummer Schwachkopf? Laß mich raus! Ihn kannst du behalten, wenn du willst, aber mich nicht. Das ist Mord. Nichts anderes, kaltblütiger Mord!«
Nick schüttelte den Kopf, und Mike bekam einen Wutanfall. Er warf sich gegen das Gitter seiner Zelle, verletzte sich das Gesicht und schlug sich die Knöchel beider Hände blutig. Er sah Nick mit aufquellenden Augen an, während er sich nochmals die Stirn aufschlug.
Nick wartete, bis Mike sich ausgetobt hatte, dann schob er mit dem Besenstiel das Essen unter der Tür durch. Billy Warner glotzte seinen Teller einen Augenblick stumpfsinnig an, dann fing er an zu essen.
Mike warf sein Glas Milch gegen die Gitterstäbe. Es zerplatzte, die Milch spritzte in alle Richtungen. Er warf seine beiden Hamburger gegen die mit Sprüchen gezierte hintere Wand der Zelle. Einer blieb in einem Flecken Senf, Ketchup und Tunke kleben, der auf groteske Weise fröhlich aussah, wie ein Gemälde von Jackson Pollock. Er stampfte auf seinem Stück Apfelkuchen herum und zermatschte es. Apfelstücke flogen überallhin. Der weiße Plastikteller zersplitterte.
»Ich bin im Hungerstreik!« brüllte er. »Im verdammten Hungerstreik!
Ich esse nichts! Eher wirst du mir den Pimmel lutschen, bevor ich runterwürge, was du angeschleppt hast, du gottverdammtes taubstummes, schwachsinniges Arschloch. Du wirst...«
Nick wandte sich ab, und sofort trat Stille ein. Er ging ins Büro zurück und wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte Angst. Wenn er Auto fahren könnte, hätte er die beiden selbst nach Camden gebracht. Aber er konnte nicht fahren. Und er mußte auch an Vince denken. Er konnte ihn nicht einfach als Futter für die Fliegen liegenlassen. Vom Büro gingen zwei Türen ab. Hinter der einen befand sich ein Kleiderschrank. Hinter der anderen führte eine Treppe hinab. Nick ging hinunter und sah, daß es da eine Kombination von Keller und Lagerraum gab. Hier unten war es kühl. Es würde reichen, wenigstens eine Zeitlang.
Er ging wieder nach oben. Mike saß auf dem Fußboden und sammelte verdrossen zerquetschte Apfelstücke auf, die er abwischte und aß. Er sah Nick nicht an.
Nick nahm die Leiche in die Arme und versuchte, sie hochzuheben. Der widerliche Gestank, der von dem Leichnam ausging, veranlaßte seinen Magen, Handstand und Purzelbaum zu machen. Vince war zu schwer für ihn. Er betrachtete die Leiche einen Augenblick hilflos und merkte, daß die beiden anderen jetzt an den Zellentüren standen und mit einem Ausdruck grausiger Faszination zusahen. Nick konnte sich vorstellen, was sie dachten. Vince war einer von ihnen gewesen, vielleicht ein Windbeutel, aber trotzdem ihr Kumpel. Er war gestorben wie eine Ratte in der Falle, an einer fürchterlichen Krankheit, die sie nicht verstanden. Nick fragte sich an diesem Tag nicht zum ersten Mal, wann er anfangen würde zu niesen und Fieber und diese seltsamen Schwellungen am Hals zu bekommen. Er packte Vince Hogans fleischige Unterarme und schleifte ihn aus der Zelle. Wegen des Gewichts auf den Schultern war Vinces Gesicht ihm zugewandt, und er schien Nick anzustarren und ihn wortlos zu bitten, er solle doch vorsichtig sein und ihn nicht zu sehr schütteln.
Nick brauchte zehn Minuten, den Leichnam des kräftigen Mannes die steile Treppe hinunterzuschaffen. Keuchend legte Nick ihn auf den Beton unter den Neonleuchten und bedeckte ihn rasch mit einer abgewetzten Armeedecke von der Pritsche in seiner Zelle. Dann versuchte er zu schlafen, aber der Schlaf kam erst in den frühen Morgenstunden, als der 13. Juni schon zum 14. geworden war, zu gestern. Seine Träume waren immer sehr lebhaft gewesen, und manchmal hatte er Angst vor ihnen. Er hatte selten ausgesprochene Alpträume gehabt, aber in letzter Zeit waren sie immer geheimnisvoller geworden, und er hatte das Gefühl, dass nichts darin war, was es zu sein schien, und daß die normale Welt sich in einen Ort verwandelt hatte, wo Babys hinter geschlossenen Fensterläden geopfert wurden und in verschlossenen Kellerräumen unablässig riesige schwarze Maschinen dröhnten.
Und hinzu kam natürlich seine ureigene Angst - eines Tages selbst damit aufzuwachen.
Er schlief dann doch ein wenig und hatte einen Traum, den er jüngst schon einmal gehabt hatte: das Maisfeld, der Geruch von warmen, wachsenden Dingen, das Gefühl, daß etwas - oder jemand - sehr Gutes und Schützendes in der Nähe war. Ein Gefühl, zu Hause zu sein. Aber dieses Gefühl verwandelte sich in kaltes Entsetzen, als er merkte, daß etwas in dem Mais hockte und ihn beobachtete. Er dachte: Mama, es sind Wiesel im Hühnerstall!, und er wachte im Licht des frühen Morgens auf, am ganzen Körper schweißbedeckt.
Er setzte Kaffeewasser auf und sah nach seinen beiden Gefangenen.
Mike Childress war in Tränen aufgelöst. Hinter ihm klebte der Hamburger mit seinem Leim allmählich trocknender Zutaten noch immer an der Wand.
»Bist du jetzt zufrieden? Ich hab' es auch. Hast du dir das gewünscht? Ist das deine Rache? Hör mal, wie ich atme. Klingt wie 'n alter Güterzug, der sich 'nen Berg rauf quält!«
Nicks erste Sorge war Billy Warner gewesen, der im Koma auf seiner Pritsche lag. Sein Hals war geschwollen und schwarz, die Brust hob und senkte sich krampfartig.
Nick eilte ins Büro zurück, sah zum Telefon und fegte es in einem Ansturm von Wut und Schuldgefühlen vom Tisch auf den Fußboden, wo es sinnlos am Ende seiner Schnur liegenblieb. Er schaltete die Heizplatte aus und lief die Straße hinunter zum Haus der Bakers. Er läutete scheinbar eine Stunde, bis Jane, im Morgenmantel, endlich erschien. Der Fieberschweiß stand ihr wieder im Gesicht. Sie war nicht im Delirium, aber sie sprach langsam und undeutlich und hatte Blasen an den Lippen.
»Nick, kommen Sie rein. Was ist denn?«
»Hogan ist gestern abend gestorben. Ich glaube, Billy Warner stirbt auch. Er ist sehr krank. Haben Sie Dr. Soames gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf, zitterte in der leichten Zugluft, nieste und schwankte ein wenig. Nick legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie zu einem Stuhl. Er schrieb: »Können Sie für mich seine Praxis anrufen?«
»Ja, natürlich. Bringen Sie mir das Telefon, Nick. Ich scheine... in der Nacht einen Rückfall gehabt zu haben.«
Er brachte ihr das Telefon, und sie wählte Soames' Nummer. Nachdem sie den Hörer über eine halbe Minute ans Ohr gehalten hatte, wußte er, daß niemand antworten würde.
Sie versuchte es in seiner Wohnung, dann bei seiner Sprechstundenhilfe. Keine Antwort.
»Ich versuch's bei der State Patrol«, sagte sie, aber nachdem sie eine einzige Ziffer gewählt hatte, legte sie den Hörer wieder auf die Gabel. »Ich glaube, Ferngespräche kann man immer noch nicht führen. Wenn ich die Eins gewählt habe, macht es immer nur tut -tuttut.« Sie lächelte blaß und weinte wieder hilflos. »Armer Nick«, sagte sie. »Und ich arme Frau. Wir sind alle so arm. Können Sie mir nach oben helfen? Ich fühle mich so schwach und kann kaum atmen. Ich glaube, ich werde bald bei John sein.« Er sah sie an und wünschte sich, er könnte sprechen. »Ich werde mich hinlegen, wenn Sie mir helfen.«
Er half ihr die Treppe hinauf und schrieb: »Ich komme wieder.«
»Danke, Nick. Sie sind ein guter Junge...« Sie war schon im Begriff einzuschlafen.
Nick verließ das Haus, blieb auf dem Gehweg stehen und fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Wenn er Auto fahren könnte, könnte er etwas unternehmen. Aber so...
Er sah ein Kinderfahrrad auf dem Rasen eines Hauses auf der anderen Straßenseite liegen. Er ging hinüber, betrachtete das Haus, vor dem es lag, dessen Rollos heruntergelassen waren (wie bei den Häusern in seinen Träumen), schließlich klopfte er an die Tür.
Niemand kam aufmachen, obwohl er mehrmals klopfte. Er ging wieder zu dem Fahrrad. Es war klein, aber nicht so klein, dass er nicht damit fahren konnte, sofern es ihn nicht störte, daß seine Knie an die Handgriffe stießen. Er würde albern aussehen, gewiß, aber er war nicht sicher, ob überhaupt noch jemand in Shoyo war, der ihn sehen konnte... und selbst wenn, glaubte er nicht, daß vielen zum Lachen zumute sein würde.
Er stieg auf das Fahrrad und radelte unbeholfen die Main Street entlang, am Gefängnis vorbei, dann auf der Route 63 nach Osten, dorthin, wo Joe Rackman die Soldaten gesehen hatte, die sich als Straßenarbeiter tarnten. Wenn sie tatsächlich Soldaten und noch da waren, würde Nick sie darum bitten, sich um Billy Warner und Mike Childress zu kümmern. Das heißt, wenn Billy noch lebte. Wenn die Männer Shoyo unter Quarantäne gestellt hatten, dann war Shoyos Krankheit sicher ihre Schuld.
Er brauchte eine Stunde, um zu der Baustelle zu radeln, das Fahrrad schlingerte trunken über den Mittelstreifen hin und her, und seine Knie stießen mit monotoner Regelmäßigkeit gegen die Handgriffe. Aber als er dort ankam, waren die Soldaten, Straßenarbeiter oder was auch immer sie waren, verschwunden. Ein paar Warnlichter standen noch da, manche blinkten auch noch. Und zwei orangefarbene Sägeböcke. Die Straße war aufgerissen, aber Nick glaubte, daß sie trotzdem passierbar war, wenn man auf die Stoßdämpfer seines Autos nicht allzuviel Rücksicht nahm.
Er erblickte aus dem Augenwinkel ein schwarzes, waberndes Etwas, gleichzeitig erhob sich ein leichter Wind, nur eine schwache Sommerbrise, aber ausreichend, daß sie den schweren, ekelerregenden Geruch von Verwesung zu ihm trug. Das schwarze, sich bewegende Etwas war eine Wolke Fliegen, die sich ständig neu formierten. Er schob das Fahrrad zum Straßengraben auf der anderen Seite. Dort lagen die Leichen von vier Männern neben einem funkelnden neuen Abwasserrohr. Ihre Gesichter und geschwollenen Hälse waren schwarz. Nick wußte nicht, ob sie Soldaten waren oder nicht, und er ging nicht näher hin. Du mußt dich einfach umdrehen und weggehen, sagte er sich. Du brauchst keine Angst zu haben, sie sind tot, und Tote können einem nichts tun. Aber als er zwanzig Meter vom Graben entfernt war, rannte er schon, und dann radelte er von Panik erfüllt nach Shoyo zurück. Am Stadtrand fuhr er über einen Stein und machte eine Bruchlandung mit dem Rad, Er flog über die Lenkstange, schlug sich den Kopf an und schürfte sich die Hände auf. Trotzdem verweilte er nur einen Augenblick mitten auf der Straße, am ganzen Körper zitternd.
Die nächsten anderthalb Stunden an diesem Morgen, gestern morgen, klopfte Nick an Türen und drückte auf Klingelknöpfe. Irgend jemand mußte gesund sein, sagte er sich. Er selbst fühlte sich gut, und er konnte sicher nicht der einzige sein. Es mußte jemanden geben, einen Mann oder eine Frau oder vielleicht einen Teenager mit einem Anfängerführerschein, und er oder sie würde sagen: Ja, klar doch. Bringen wir sie nach Camden. Wir nehmen den Kombi. Oder Ähnliches.
Aber sein Klopfen oder Klingeln wurde nur etwa ein dutzendmal beantwortet. Die Türen öffneten sich so weit, wie die Kette es zuließ, und ein krankes, aber hoffnungsvolles Gesicht erschien im Spalt, sah Nick, und die Hoffnung erstarb. Der Kopf machte eine verneinende Bewegung, dann wurde die Tür wieder zugemacht. Wenn Nick sprechen könnte, hätte er den Leuten gesagt: Wenn ihr gehen könnt, könnt ihr auch fahren. Wenn ihr meine Gefangenen nach Camden bringt, kommt ihr selbst dorthin, und da ist ein Krankenhaus. Dort wird man euch gesundpflegen. Aber er konnte nicht sprechen. Einige fragten ihn, ob er Dr. Soames gesehen hatte. Ein Mann riß im Fieberwahn die Tür seines kleinen Ranchhauses weit auf, stürzte nur in Unterhosen auf die Veranda und versuchte, Nick zu packen. Er sagte, er wolle tun, »was ich schon in Houston mit dir hätte tun sollen«. Er hielt Nick für jemand namens Jenner. Er torkelte auf der Veranda hinter Nick her wie ein Zombie in einem drittklassigen Horrorfilm. Seine Genitalien waren schrecklich geschwollen; seine Unterhose sah aus, als hätte jemand eine Honigmelone hineingesteckt. Schließlich fiel er krachend auf die Veranda, und Nick beobachtete ihn mit Herzklopfen vom Rasen aus. Der Mann schüttelte müde die Faust und kroch ins Haus zurück, ohne die Tür zu schließen.
Aber die meisten Häuser waren dunkel und geheimnisvoll, und zuletzt konnte er nicht mehr. Das traumgleiche Gefühl des Geheimnisvollen überkam ihn, und es wurde unmöglich, den Gedanken abzuschütteln, daß er an Gräber klopfte, daß er klopfte, um die Toten zu wecken, und die Toten früher oder später antworten würden. Es half nicht viel, sich zu vergegenwärtigen, daß die meisten Häuser leerstanden, ihre Bewohner nach Camden oder El Dorado oder Texarkana geflohen waren.
Er ging zum Haus der Bakers zurück. Jane Baker schlief fest, ihre Stirn war kühl. Aber diesmal hatte er nicht mehr so viel Hoffnung. Es war Mittag. Nick ging zum Truck Stop zurück und spürte jetzt, dass er in der Nacht wenig geschlafen hatte. Sein ganzer Körper schmerzte vom Sturz mit dem Rad. Bakers Fünfundvierziger schlug ihm gegen die Hüfte. Im Truck Stop machte er zwei Dosen Suppe heiß und füllte sie in Thermosflaschen. Die Milch im Kühlschrank schien noch gut zu sein, daher nahm er auch davon eine Flasche. Billy Warner war tot, und als Mike Nick sah, kicherte er hysterisch und deutete mit dem Finger auf ihn: »Zwei sind weg und einer übrig!
Zwei sind weg und einer übrig! Du bekommst deine Rache, stimmt's? Stimmt's?«
Nick schob vorsichtig mit dem Besenstiel die Thermosflasche mit Suppe unter der Tür durch, dann ein großes Glas Milch. Mike trank die Suppe in kleinen Schlucken direkt aus der Thermosflasche. Nick nahm seine eigene Thermosflasche und setzte sich im Flur hin. Er würde Billy nach unten schaffen, aber zuerst mußte er etwas essen. Er hatte Hunger. Während er seine Suppe trank, sah er Mike nachdenklich an.
»Willst du wissen, wie es mir geht?« fragte Mike.
Nick nickte.
»Genauso wie heute morgen, als du weggegangen bist. Ich muß ein Pfund Rotz ausgehustet haben.« Er sah Nick hoffnungsvoll an.
»Meine Mutter hat immer gesagt, wenn man so viel Rotz aushustet, wird es besser. Vielleicht habe ich es nicht so schlimm, hm? Hältst du das für möglich?«
Nick zuckte die Achseln. Alles war möglich.
»Ich hab' eine Konstitution wie ein Messingadler«, sagte Mike. »Ich glaube, es ist nichts. Ich glaube, ich überstehe es. Hör zu, Mann, lass mich raus. Bitte. Ich flehe dich an, verdammt.«
Nick dachte darüber nach.
»Herrgott, du hast doch die Waffe. Ich will nichts von dir. Ich will nur raus aus der Stadt. Aber erst will ich nach meiner Frau sehen...«
Nick deutete auf Mikes linke Hand, an der kein Ring steckte.
»Ja, wir sind geschieden, aber sie ist immer noch in der Stadt, draußen an der Ridge Road. Ich möchte gern nach ihr sehen. Was meinst du, Mann?« Mike fing an zu weinen. »Gib mir eine Chance. Laß mich nicht in diesem Rattenloch eingesperrt.«
Nick stand langsam auf, ging ins Büro und öffnete die Schublade. Die Schlüssebwaren da. Die Logik des Mannes war unerbittlich. Es war sinnlos zu glauben, daß jemand kommen und sie aus dieser schrecklichen Lage befreien würde. Er nahm die Schlüssel und ging zurück. Er hielt denjenigen hoch, den Big John Baker ihm gezeigt hatte, den mit dem weißen Band. Er warf ihn Mike Childress durch die Gitterstäbe zu.
»Danke«, stammelte Mike. »Oh, danke. Es tut mir leid, daß wir dich zusammengeschlagen haben, ich schwöre bei Gott, es war Rays Idee, Vince und ich haben noch versucht, ihm das auszureden, aber wenn Ray trinkt, dreht er durch...« Er rasselte mit dem Schlüssel im Schloß. Nick trat ein paar Schritte zurück, die Hand am Griff des Revolvers.
Die Zellentür ging auf, Mike kam heraus. »Das hab' ich ernst gemeint«, sagte er. »Ich will nur raus aus der Stadt.« Er schob sich an Nick vorbei, ein Grinsen umspielte seine Lippen. Dann schoß er durch die Tür zwischen dem kleinen Zellentrakt und dem Büro. Nick lief hinterher und sah noch, wie Mike die Bürotür von außen zumachte.
Nick ging nach draußen. Mike stand am Bordstein, stützte sich mit der Hand auf eine Parkuhr und blickte die verlassene Straße entlang.
»Mein Gott«, flüsterte er und sah Nick mit fassungslosem Gesicht an. »Alles? Alles?«
Nick nickte, die Hand immer noch am Griff der Waffe. Mike wollte etwas sagen, aber es wurde ein Hustenanfall daraus. Er hielt sich die Hand vor den Mund, dann wischte er sich die Lippen ab.
»Ich zieh' Leine«, sagte er. »Wenn du schlau bist, machst du das auch, Stummer. Das ist wie der Schwarze Tod oder so was.«
Nick zuckte die Achseln, und Mike machte sich auf den Weg. Er ging immer schneller, bis er fast rannte. Nick beobachtete ihn, bis er nicht mehr zu sehen war, und ging dann wieder hinein. Er sah Mike nie wieder. Ihm war leichter ums Herz, und er war plötzlich sicher, dass er richtig gehandelt hatte. Er legte sich auf die Pritsche und schlief fast sofort ein.
Er schlief den ganzen Nachmittag auf der Koje ohne Wolldecken, wachte verschwitzt auf und fühlte sich ein wenig besser. Über den Hügeln tobten Gewitter - er konnte den Donner nicht hören, sah aber die blauweißen Gabeln der Blitze, die sich in die Hügel bohrten -, aber bis nach Shoyo war an diesem Abend nichts vorgedrungen. Nach Anbrach der Dämmerung ging er auf der Main Street zu Paulie's Radio und TV und unternahm noch einen seiner schuldbewußten Raubzüge. Er legte einen Zettel neben die Registrierkasse und schleppte einen tragbaren Sony-Fernseher ins Gefängnis. Er machte ihn an und schaltete einen Kanal nach dem anderen durch. Der örtliche Sender der CBS strahlte nur eine Mitteilung aus: SCHWIERIGKEITEN MIT DEM UKW-RELAIS BITTE BLEIBEN SIE AUF EMPFANG! Die ABC zeigte I Love Lucy, und NBC brachte die Wiederholung einer Folge aus der laufenden Serie um ein selbstbewußtes junges Mädchen, das unbedingt Mechanikerin beim Stock-Car-Rennen werden wollte. Texarkana, ein unabhängiger Sender, der hauptsächlich alte Filme, Quizsendungen und religiöse Heuler Marke Jack Van Impe zeigte, hatte abgeschaltet.
Nick machte den Fernseher aus, ging zum Truck Stop und bereitete Suppe und Sandwiches für zwei Personen. Es hatte für ihn etwas Unheimliches an sich, daß alle Straßenlampen noch angingen, die sich inmitten von weißen Lichtpfützen in beide Richtungen der Main Street erstreckten. Auf dem Weg zu Jane Bakers Haus kam eine Meute von etwa drei oder vier Hunden auf ihn zu, offenbar ausgehungert und gefräßig, weil sie rochen, was er im Korb hatte. Nick zog den Fünfundvierziger, aber er brachte es nicht übers Herz abzudrücken, bis einer der Hunde versuchte, ihn zu beißen. Er feuerte, und die Kugel schlug fünf Schritte entfernt vom Beton ab und hinterließ einen silbernen Bleistreifen. Er hörte den Knall nicht, aber er spürte das dumpfe Pochen der Vibration. Die Hunde stoben auseinander und liefen weg.
Jane schlief, ihre Stirn und Wangen waren heiß, ihr Atem ging schwer und langsam. Nick fand, sie sah ganz verfallen aus. Er nahm einen kalten Waschlappen und wischte ihr das Gesicht ab. Er stellte ihr das Essen auf den Nachttisch, ging nach unten ins Wohnzimmer und schaltete Bakers großes Farbfernsehgerät an.
CBS sendete die ganze Nacht nicht. NBC sendete das reguläre Programm, aber das Bild des örtlichen Senders der ABC verschwamm immer wieder, manchmal war nur Schnee auf dem Bildschirm, dann plötzlich war das Bild wieder klar. Über den ABCKanal kamen nur Wiederholungen, als sei die Verbindung zur Sendezentrale abgeschnitten. Das war unwichtig. Nick wartete auf die Nachrichten.
Als sie kamen, war er völlig verblüfft. Zuerst wurde über die »SuperGrippe-Epidemie« berichtet, wie man es jetzt nannte, aber die Nachrichtensprecher beider Sender sagten, man sei im Begriff, sie unter Kontrolle zu bringen. Das Seuchenkontrollzentrum in Atlanta habe einen Impfstoff entwickelt, Anfang nächster Woche könne man sich vom Arzt eine Spritze geben lassen. Besorgniserregend sei die Krankheit in New York, San Francisco, Los Angeles und London ausgebrochen, aber sie habe überall eingedämmt werden können. In einigen Gebieten, fuhr der Sprecher fort, hätten öffentliche Versammlungen vorläufig gestrichen werden müssen.
In Shoyo, dachte Nick, war die ganze Stadt gestrichen worden. Wer hielt hier wen zum Narren?
Der Nachrichtensprecher schloß mit der Meldung, in den Ballungsgebieten unterliege der Reiseverkehr gewissen Beschränkungen, die aber aufgehoben werden sollten, sobald der neue Impfstoff allgemein zur Verfügung stand. Dann meldete der Sprecher einen Flugzeugabsturz in Michigan und verlas die Kommentare einiger Kongreßabgeordneter zu der die Bürgerrechte der Homosexuellen betreffenden Entscheidung des Obersten Bundesgerichts.
Nick schaltete das Gerät aus und ging auf die Veranda der Bakers. Er setzte sich auf die Hollywoodschaukel. Die Schaukelbewegung wirkte beruhigend auf ihn, und das Quietschen der rostigen Stellen, die John Baker immer wieder zu ölen vergessen hatte, konnte er nicht hören. Er beobachtete Glühwürmchen, die unregelmäßige Lichtmuster in die Dunkelheit zeichneten. Blitze fuhren durch die Wolken am Horizont, so daß sie aussahen, als hätten sie ihre eigenen Glühwürmchen, wahre Ungeheuer von Glühwürmchen, so groß wie Dinosaurier. Die Nacht war stickig und schwül.
Weil das Fernsehen für Nick lediglich ein visuelles Medium war, hatte er bei der Nachrichtensendung einiges bemerkt, was anderen vielleicht nicht aufgefallen wäre. Man hatte keine Filmausschnitte gezeigt, keinen einzigen. Man hatte keine Baseballergebnisse gebracht, vielleicht weil keine Baseballspiele stattgefunden hatten. Einen vagen Wetterbericht, und die Karte der Hoch- und Tiefdruckgebiete war ausgeblieben. Es war, als hätte das Meteorologische Bundesamt den Laden dichtgemacht. Nick vermutete, daß das tatsächlich der Fall war.
Beide Nachrichtensprecher hatten nervös und aufgeregt gewirkt. Einer war offensichtlich erkältet, er hatte einmal ins Mikrophon gehustet und sich anschließend entschuldigt. Beide Sprecher hatten vor der Kamera ständig nach rechts und links gesehen... als wäre jemand bei ihnen im Studio, der darauf achtete, daß sie nichts falsch machten.
Das war am Abend des 24. Juni; er schlief unruhig auf der vorderen Veranda der Bakers, und seine Träume waren sehr schlimm. Und jetzt, am Nachmittag des folgenden Tages, sah er Jane Baker sterben, diese wunderbare Frau... und er konnte ihr kein tröstendes Wort sagen.
Sie zupfte an seiner Hand. Nick betrachtete ihr blasses, erschöpftes Gesicht. Die Haut war jetzt trocken, der Schweiß verdunstet, was ihm allerdings weder Trost noch Zuversicht spendete. Sie starb. Er kannte die Anzeichen inzwischen.
»Nick«, sagte sie lächelnd. Sie nahm eine seiner Hände zwischen die ihren. »Ich möchte Ihnen nochmals danken. Niemand will ganz alleine sterben, oder?«
Er schüttelte heftig den Kopf, und sie begriff, daß er damit ihrer Bemerkung nicht zustimmte, sondern nachdrücklich widersprach.
»Doch, ich sterbe«, entgegnete sie. »Machen Sie sich nichts draus.
Dort im Schrank hängt ein Kleid, Nick. Ein weißes. Sie erkennen es an...« Ein Hustenanfall unterbrach sie. »... an den Spitzen. Das habe ich im Zug getragen, als wir in die Flitterwochen gefahren sind. Es paßt mir noch... jedenfalls hat es gepaßt. Inzwischen dürfte es mir etwas zu groß sein, weil ich abgenommen habe, aber das macht nichts. Es war immer mein Lieblingskleid. John und ich waren am Lake Ponchetrain. Das waren die beiden glücklichsten Wochen meines Lebens. John hat mich immer glücklich gemacht. Denken Sie an das Kleid, Nick? Ich möchte darin begraben werden. Es ist Ihnen doch nicht peinlich, mich... mich anzuziehen, oder?«
Er schluckte heftig, schüttelte den Kopf und sah auf die Tagesdecke. Sie schien seine Mischung aus Traurigkeit und Unbehagen zu spüren, denn sie erwähnte das Kleid nicht noch einmal. Statt dessen sprach sie von anderen Dingen - heiter, fast kokett. Sie hatte an der High School einen Vortragswettbewerb gewonnen und war daraufhin zum staatlichen Wettbewerb von Arkansas geschickt worden, und dort war ihr der knappe Slip heruntergerutscht und um die Knöchel liegengeblieben, als sie gerade den brausenden Höhepunkt von Shirley Jacksons »Die Teufelsbraut« erreicht hatte. Sie erzählte von ihrer Schwester, die als Mitglied einer Missionarsgruppe der Baptisten Vietnam besucht hatte und nicht mit einem oder zwei Adoptivkindern zurückgekommen war, sondern gleich mit dreien. Von einem Campingausflug, den sie und John vor drei Jahren gemacht hatten, und wie ein wütender Elch in Hitze sie auf einen Baum gejagt und den ganzen Tag da oben festgehalten hatte.
»Wir saßen auf dem Ast und haben geturtelt«, sagte sie schläfrig, »wie ein paar High-School-Kids auf dem Balkon. Meine Güte, war er in einem Zustand, als wir wieder runter konnten... Er... wir... haben uns geliebt... so sehr geliebt... Liebe sorgt dafür, daß die Welt sich dreht, das war immer meine Meinung... nur die Liebe ermöglicht es Männern und Frauen, in einer Welt aufrecht zu stehen, in der die Schwerkraft sie immer nach unten zieht... niederdrücken will... damit sie kriechen... wir haben... uns so sehr geliebt...«
Sie döste ein und schlief, bis er sie wieder weckte, indem er den Vorhang zurückzog oder vielleicht nur auf eine quietschende Diele trat; sie war im Delirium.
»John!« schrie sie jetzt mit verschleimter Stimme. »O John, ich kapier' diese elende Lenkradschaltung nie! John, du mußt mir helfen! Du mußt...«
Ihre Worte verstummten in einem langen, rasselnden Keuchen, das er zwar nicht hören konnte, aber trotzdem spürte. Ein dünnes Rinnsal dunkelroten Blutes floß ihr aus einem Nasenloch. Sie fiel aufs Kissen zurück, ihr Kopf schnappte einmal, zweimal, dreimal hin und her, als hätte sie eine lebenswichtige Entscheidung getroffen und die Antwort war nein.
Dann lag sie still.
Nick legte die Hand schüchtern auf ihren Hals, die Innenseite des Handgelenks zwischen die Brüste. Nichts. Sie war tot. Die Uhr auf dem Nachttisch tickte gewichtig, aber keiner der beiden hörte sie. Er legte einen Moment den Kopf auf die Knie und weinte auf die ihm eigene stumme Weise. Du kannst nicht mehr machen als die Tränen kurz rauslassen, hatte Rudy einmal zu ihm gesagt, aber in einer Seifenopernwelt macht sich das gut.
Er wußte, was als nächstes kam, wollte es aber nicht tun. Es war nicht fair, schrie ein Teil von ihm. Es war nicht seine Sache. Aber da sonst niemand da war - möglicherweise im Umkreis von Meilen nicht -, mußte er es wohl oder übel erledigen. Entweder das, oder er mußte sie hier liegen und verwesen lassen, und das brachte er nicht fertig. Sie war freundlich zu ihm gewesen, und er hatte nicht viele Menschen getroffen, von denen er das sagen konnte, ob krank oder gesund. Er sollte wohl besser gleich damit anfangen. Je länger er hier saß und nichts tat, desto mehr würde ihm vor der Aufgabe grauen. Er wußte, wo das Bestattungsinstitut Curtis war - drei Blocks weiter, einen Block westlich. Und draußen war es sicher heiß.
Er zwang sich, aufzustehen und zum Schrank zu gehen, und er hoffte, das weiße Flitterwochenkleid wäre nur Teil ihres Deliriums gewesen. Aber es war da. Es war durch die Jahre etwas vergilbt, aber er erkannte es trotzdem. An den Spitzen. Er holte es heraus und legte es auf die Bank am Fußende des Bettes. Er betrachtete das Kleid, betrachtete die Frau und dachte: Heute wird es ihr mehr als nur etwas zu groß sein. Die Krankheit, was auch immer sie sein mochte, war grausamer zu ihr gewesen, als sie geahnt hatte... aber das ist wohl besser so.
Er ging widerstrebend zu ihr und zog ihr das Nachthemd aus. Als sie nackt vor ihm lag, verschwand das Grauen, und er empfand nur Mitleid - ein Mitleid, das so tief in ihm saß, daß es schmerzte und er wieder zu weinen anfing, während er ihren Leichnam wusch und ankleidete, so wie sie auf dem Weg zum Lake Ponchetrain gekleidet gewesen war. Und als sie angezogen war wie an diesem besagten Tag, nahm er sie auf die Arme und trug sie in Spitzen, oh, in Spitzen, zum Bestattungsinstitut; er trug sie wie ein Bräutigam, der seine Braut auf den Armen über eine endlose Schwelle trug.