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Es war der späte Abend des 27. Juli. Sie lagerten auf einem Platz, den ein von Sommerstürmen halb demoliertes Schild als das Messegelände von Kunkle auswies. Kunkle selbst, Kunkle, Ohio, lag südlich von ihnen. Dort hatte es offenbar gebrannt, der größte Teil von Kunkle war zerstört. Stu sagte, es wäre wahrscheinlich ein Blitz gewesen. Harold hatte naturlich widersprochen. Wenn Stu sagte, daß ein Löschwagen der Feuerwehr rot war, dann führte Harold Lauder Fakten und Zahlen an, die bewiesen, daß die meisten heutzutage grün waren.
Sie seufzte und drehte sich um. Sie konnte nicht schlafen. Sie hatte Angst vor dem Traum.
Links von ihr standen die fünf Motorräder in einer Reihe auf den Kickständern, das Mondlicht spiegelte sich in Chrornteilen und Auspuffrohren. Als hätte sich eine Gruppe Hell's Angels heute abend diesen Platz für ein Treffen ausgesucht. Nicht, daß die Angels so harmlose Maschinen wie diese Hondas und Yamahas fahren würden, überlegte sie. Sie fuhren »Hogs«... oder war das etwas, das nur sie in alten Motorradepen von American-International aufgeschnappt hatte? The Wild Angels. The Devil's Angels. Hell's Angels on Wheels. Als sie noch die High School besuchte, waren Motorradfilme in den Drive-lns - den Autokinos - das Schärfste gewesen: Wells Drive-In, Sanford Drive-In, South Portland Twin, du zahlst dein Geld und hast die Wahl. Jetzt waren sie kaputt, alle Drive-lns waren kaputt, ganz zu schweigen von den Hell's Angels und den guten alten American-International-Pictures. Schreib es in dein Tagebuch, Frannie, sagte sie sich und drehte sich auf die andere Seite. Nicht heute abend. Heute abend wollte sie schlafen, Träume oder nicht.
Zwanzig Schritte von ihr entfernt konnte sie die anderen sehen, die in ihren Schlafsäcken knackten wie Hell's Angels nach einer riesigen Bier-Party, der Party, bei der alle im Film vögelten, außer Peter Fonda und Nancy Sinatra. Harold, Stu, Glen Bateman, Mark Braddock, Perion McCarthy. Nehmen Sie heute abend Sominex und schlaaaaafen Sie...
Sie waren nicht auf Sominex, sondern jeder bekam eine halbe Tablette Veronal. Stu war auf den Gedanken gekommen, als die Träume richtig schlimm und alle schlecht gelaunt wurden und einander auf die Nerven gingen. Bevor er es den anderen gegenüber erwähnte, hatte er Harold beiseite genommen, denn die beste Methode, Harold zu schmeicheln, war, ihn um seine Meinung zu fragen, und außerdem wußte Harold einfach gewisse Dinge. Das war sehr gut, aber andererseits war es auch ein wenig unheimlich, als würde ein fünftklassiger Gott mit ihnen reisen - mehr oder weniger allwissend, aber seelisch labil und möglicherweise jederzeit kurz vor dem Durchdrehen. Harold hatte sich in Albany, wo sie Mark und Perion getroffen hatten, eine zweite Waffe besorgt, und jetzt trug er beide Pistolen überkreuzt an den Hüften wie ein neuer Johnny Ringo. Harold tat ihr leid, aber allmählich bekam sie Angst vor ihm. Sie fragte sich immer öfter, ob Harold nicht eines Nachts ausrasten und anfangen würde, mit seinen Pistolen herumzuballern. Sie mußte oft an den Tag zurückdenken, als sie Harold im Garten angetroffen hatte, wo er seelisch völlig zusammengebrochen in der Badehose den Rasen gemäht und dabei geweint hatte.
Sie wußte genau, wie Stu mit ihm darüber geredet hatte, sehr ruhig, beinahe verschwörerisch: Harold, diese Träume sind ein Problem. Ich habe da eine Idee, aber ich weiß nicht genau, wie ich sie verwirklichen kann... ein leichtes Beruhigungsmittel... aber es müßte genau die richtige Dosis sein. Zu viel, und wir würden nicht aufwachen, wenn es Ärger gibt. Was schlägst du vor?
Harold hatte vorgeschlagen, es mit einer Tablette Veronal zu versuchen, das man in jedem Drugstore bekommen konnte, und wenn diese den Traumzyklus unterbrach, konnte man es mit einer Dreivierteltablette probieren, dann mit einer halben. Stu hatte auch heimlich mit Glen Bateman gesprochen, um einen anderen Standpunkt zu hören, und das Experiment war gemacht worden. Bei einer Vierteltablette kamen die Träume wieder, und so blieb es bei einer halben.
Jedenfalls für die anderen.
Frannie nahm jeden Abend ihre halbe Tablette in Empfang, schluckte sie aber nicht. Sie wußte nicht, ob Veronal dem Baby schaden konnte oder nicht, wollte aber kein Risiko eingehen. Es hieß, daß selbst Aspirin den Chromosomen gefährlich werden konnte. So mußte sie die Träume erleiden - erleiden, das war das richtige Wort. Einer der Träume war vorherrschend; wenn die übrigen anders waren, gingen sie doch früher oder später in diesen über. Sie war in ihrem Haus in Ogunquit, und der dunkle Mann verfolgte sie. Durch schattige Flure hin und her, durch den Salon ihrer Mutter, wo die Uhr unablässig Jahreszeiten in einem Zeitalter der Dürre tickte... sie wußte, daß sie ihm entkommen könnte, wenn sie nicht die Leiche tragen müßte. Es war die in ein Bettlaken gehüllte Leiche ihres Vaters, und wenn sie sie fallen ließ, würde der dunkle Mann ihr etwas antun, sie vielleicht schrecklich schänden. Deshalb lief sie und merkte, daß er immer näher kam, bis er zuletzt seine Hand auf ihre Schulter legen würde, seine heiße, widerliche Hand. Sie verlor das Rückgrat und alle Kraft, und die Leiche ihres Vaters glitt ihr aus den Armen, sie drehte sich um und wollte rufen: Nehmen Sie ihn, machen Sie, was Sie wollen, es ist mir gleich, nur verfolgen Sie mich nicht mehr.
Und dann stand er vor ihr, in etwas Dunkles gehüllt, das aussah wie eine Mönchskutte mit Kapuze, und von seinen Zügen war nichts zu sehen außer seinem breiten Grinsen. Und in einer Hand hielt er den verbogenen Kleiderbügel. Da traf das Grauen sie wie eine Faust, und sie versuchte aufzuwachen, schweißgebadet und mit klopfendem Herzen, und sie wollte niemals wieder schlafen. Denn er wollte nicht die Leiche ihres Vaters; er wollte das lebende Kind in ihrem Leib.
Sie drehte sich wieder um. Wenn sie nicht bald einschlief, würde sie ihr Tagebuch nehmen und etwas hineinschreiben. Sie führte seit dem 5. Juli Tagebuch. In gewisser Weise führte sie es für das Baby. Es war ein Akt des Glaubens - des Glaubens, daß das Baby leben würde. Es sollte später erfahren, wie es gewesen war, wie die Seuche in einen Ort namens Ogunquit gekommen war, wie sie und Harold ihr entgangen waren und was dann aus ihnen wurde. Das Kind sollte wissen, wie das alles gewesen war.
Der Mond schien so hell, daß man schreiben konnte, und zwei oder drei Seiten Tagebuch reichten immer aus, sie müde zu machen. Sie nahm an, daß das nicht unbedingt für ihre schriftstellerische Begabung sprach. Aber vorher wollte sie dem Schlaf noch einmal eine faire Chance geben.
Sie machte die Augen zu.
Und dachte weiter über Harold nach.
Die Situation hätte sich entspannen können, als Mark und Perion zu ihnen gestoßen waren, wären die beiden nicht von vorneherein miteinander liiert gewesen. Perion war dreiunddreißig, elf Jahre älter als Mark, aber in dieser neuen Welt spielten derlei Dinge keine Rolle mehr. Sie hatten einander gesucht und gefunden und wollten zusammenbleiben. Perion hatte Frannie gestanden, daß sie versuchten, ein Baby zu machen. Gott sei Dank habe ich die Pille genommen und keine Spirale gehabt, sagte Peri. Wie in Gottes Namen hätte ich die je rausbekommen sollen?
Frannie hätte ihr beinahe von dem Baby erzählt, das sie selbst im Leib trug (mittlerweile war sie schon im vierten Monat), aber irgend etwas hatte sie zurückgehalten. Sie hatte Angst, es könnte eine gespannte Situation noch schlimmer machen.
So kam es, daß sie jetzt zu sechst waren, nicht mehr zu viert (Glen weigerte sich standhaft, ein Motorrad zu fahren, und fuhr stets als Beifahrer bei Stu oder Harold mit), aber die Situation hatte sich durch das Auftauchen einer weiteren Frau nicht verändert.
Was ist mit dir, Frannie? Was willst du?
Wenn sie in so einer Welt leben mußte und eine Art biologische Uhr in sich trug, die in knapp sechs Monaten ablaufen würde, dann wollte sie einen Mann wie Stu Redman zum Gefährten - nein, keinen Mann wie ihn. Sie wollte ihn. Jetzt war es heraus, offen eingestanden.
Da es keine Zivilisation mehr gab, war das Auto der menschlichen Gesellschaft Chrom und Zierleisten losgeworden. Über dieses Thema ließ sich Glen Bateman oft aus, und es schien Harold immer ungewöhnlich gut zu gefallen.
Women's Lib, fand Frannie (die dachte, wenn sie schon offen war, konnte sie auch rückhaltlos offen sein), war nicht mehr und nicht weniger als ein Auswuchs der technologischen Gesellschaft. Frauen waren der Gnade ihrer Körper ausgeliefert. Sie waren kleiner. Sie waren gewöhnlich schwächer. Ein Mann konnte keine Kinder bekommen, das konnte nur eine Frau - jeder Vierjährige wußte das. Und eine schwangere Frau ist ein verwundbares Menschenwesen. Die Zivilisation hatte einen Schirm der Vernunft errichtet, unter dem beide Geschlechter Platz fanden. Liberation - Befreiung - das eine Wort sagte alles. Vor der Zivilisation mit ihrem behutsamen und barmherzigen System von Schutzvorrichtungen waren Frauen Sklaven gewesen. Da half keine Schönfärberei; wir waren Sklaven, dachte Fran. Dann gingen die bösen Tage zu Ende. Und das Credo der Frauen, das man in den Büros des Magazins Ms. aufhängen sollte, vorzugsweise in Großbuchstaben, lautete ganz einfach: Vielen Dank, Männer, für die Eisenbahn. Vielen Dank, daß ihr das Automobil erfunden und die Indianer massakriert habt, die glaubten, es wäre schön, noch eine Weile in Amerika zu bleiben, zumal sie zuerst da waren. Vielen Dank, Männer, für die Krankenhäuser, die Polizei, die Schulen. Aber jetzt würde ich gerne wählen, bitte, und ich beanspruche das Recht, meinen Weg selbst zu bestimmen und mein Schicksal selbst zu gestalten. Früher habe ich gekuscht, aber das ist jetzt überflüssig. Meine Tage der Sklaverei sind gezählt; ich muss ebensowenig Sklavin sein, wie ich den Atlantik in einem winzigen Segelboot überqueren muß. Flugzeuge sind schneller und sicherer als kleine Segelboote, und Freiheit ist vernünftiger als Sklaverei. Ich habe keine Angst vorm Fliegen. Vielen Dank, Männer.
Was war noch zu sagen? Nichts. Die Spießer mochten stöhnen, wenn Büstenhalter verbrannt wurden, die Reaktionäre ihre kleinen intellektuellen Spiele trieben, aber die Wahrheit lächelt nur. Jetzt hatte sich das alles geändert, in wenigen Wochen hatte es sich geändert - wie sehr, konnte nur die Zeit lehren. Aber jetzt lag sie hier in der Nacht und wußte, daß sie einen Mann brauchte. O Gott, sie brauchte so sehr einen Mann.
Und es ging ihr nicht darum, sich und ihr Kind durchzubringen, nach der Nummer eins zu suchen (und Nummer zwei, vermutete sie). Sie mochte Stu, besonders nach Jess Rider. Stu war ruhig, tüchtig und vor allem nicht das, was ihr Vater »zwanzig Pfund Scheiße in einem Zehnpfundsack« genannt haben würde.
Er mochte sie auch. Das wußte sie ganz genau, seit sie am 4. Juli in diesem verlassenen Restaurant zum ersten Mal gemeinsam gegessen hatten. Einen Moment - nur einen Moment hatten sich ihre Blicke getroffen, und der Funke war übergesprungen, wie bei einem plötzlichen Stromstoß, bei dem sämtliche Nadeln in den roten Bereich sausen. Stu wußte vermutlich, wie es stand, aber er wartete auf sie, überließ es ihr, sich zu gegebener Zeit zu entscheiden. Sie war zuerst in Harolds Begleitung gewesen, deshalb war sie Harolds Sklavin. Eine stinkende Macho-Vorstellung, aber sie fürchtete, dass es wieder eine stinkende Macho-Welt werden würde, wenigstens für eine gewisse Zeit.
Wenn nur jemand für Harold da wäre, aber es war niemand da, und sie fürchtete, sie konnte nicht mehr lange warten. Sie dachte an den Tag, an dem Harold auf seine tolpatschige Art versucht hatte, mit ihr zu schlafen, um seinen Besitzanspruch deutlich zu machen. Wie lange war das her? Zwei Wochen? Es kam ihr länger vor. Die ganze Vergangenheit schien jetzt ausgedehnt zu sein. Sie war zerlaufen wie ein warmgewordener Sahnekaramellbonbon. Hin und her gerissen zwischen den Sorgen, was sie Harolds wegen unternehmen sollte, und der Angst, was er anstellen konnte, wenn sie zu Stuart ging, und ihrer Angst vor den Träumen, würde sie nie zum Schlafen kommen. Mit diesem Gedanken döste sie ein.
Als sie aufwachte, war es noch dunkel. Jemand schüttelte sie. Sie murmelte protestierend - ihr Schlaf war zum ersten Mal seit einer Woche ruhig und ohne Träume -, aber dann kam sie doch widerwillig zu sich und dachte, es müßte Morgen und Zeit zum Aufbruch sein. Aber warum sollten sie in der Dunkelheit aufbrechen? Als sie sich aufrichtete, sah sie, daß sogar der Mond untergegangen war. Harold schüttelte sie, und Harold sah verängstigt aus.
»Harold? Was ist denn los?«
Sie sah, daß Stu auch auf war. Und Glen Bateman. Perion kniete auf der anderen Seite ihrer kleinen Feuerstelle.
»Mark«, sagte Harold. »Er ist krank.«
»Krank?« sagte sie, dann ertönte das leise Stöhnen von der anderen Seite der Asche des Lagerfeuers, wo Perion kniete und die beiden Männer standen. Frannie spürte, wie das Grauen gleich einer schwarzen Säule in ihr emporstieg. Vor Krankheiten hatten sie alle am meisten Angst.
»Doch nicht... die Grippe, oder, Harold?« Wenn Mark jetzt mit Verspätung an Captain Trips erkrankte, bedeutete das, daß sie es alle bekommen konnten. Vielleicht lag der Erreger immer noch in der Luft. Vielleicht war er sogar mutiert. Damit ich dich besser fressen kann.
»Nein, nicht die Grippe. Ganz und gar nicht. Fran, hast du heute abend Austern aus der Dose gegessen ? Oder vielleicht, als wir Rast gemacht haben ?«
Sie versuchte nachzudenken, aber ihr Verstand war immer noch verschlafen. »Ja, beide Male«, sagte sie. »Haben gut geschmeckt. Ich mag Austern. Ist es eine Lebensmittelvergiftung? Ist es das?«
»Fran, ich frage ja nur. Keiner weiß, was es ist. Wir haben keinen Arzt im Haus. Wie geht es dir? Alles in Ordnung?«
»Prima, nur müde.« Aber das war sie nicht. Nicht mehr. Von der anderen Seite des Lagers drang wieder ein Stöhnen herüber, als würde Mark ihr Vorwürfe machen, weil es ihr gut ging und ihm nicht. Harold sagte: »Glen glaubt, es könnte der Blinddarm sein.«
»Was?«
Harold grinste nur düster und nickte.
Fran stand auf und ging zu den anderen. Harold folgte ihr wie ein unglücklicher Schatten.
»Wir müssen ihm helfen«, sagte Perion. Sie sprach mechanisch, als hätte sie es schon oft gesagt. Ihre Augen sahen unablässig von einem zum anderen - Augen, die so voll Entsetzen und Hilflosigkeit waren, daß sich Frannie wieder einmal schuldig fühlte. Ihre Gedanken kreisten egoistisch um das Baby, und sie versuchte, sie zu verdrängen. Unangemessen oder nicht, sie wollten nicht weichen. Geh weg von ihm, schrie ein Teil von ihr dem anderen Teil zu. Geh sofort weg, er könnte ansteckend sein. Sie sah Glen an, der im Licht der Coleman-Laterne blaß und alt aussah.
»Harold sagt, ihr denkt, es ist der Blinddarm?« fragte sie.
»Ich weiß nicht«, sagte Glen, der unbehaglich und ängstlich dreinsah. »Die Symptome hat er auf jeden Fall; Fieber, der Unterleib ist geschwollen und fühlt sich hart an, schmerzt bei Berührung...«
»Wir müssen ihm helfen«, sagte Perion wieder und brach in Tränen aus.
Glen berührte Marks Bauch, und Mark riß die Augen, die halb geschlossen und glasig waren, weit auf. Er schrie. Glen riß die Hand weg, als hätte er in einen heißen Ofen gefaßt, und sah mit kaum verhohlener Panik von Stu zu Harold und wieder zu Stu zurück.
»Was schlagen die beiden Herren vor?«
Harold stand da, sein Hals arbeitete konvulsivisch, als wäre etwas darin steckengeblieben, das ihn würgte. Schließlich stieß er hervor:
»Gebt ihm etwas Aspirin.«
Perion, die durch Tränen auf Mark hinabgesehen hatte, wirbelte zu Harold herum. »Aspirin?« fragte sie. Ihre Stimme klang wütend und fassungslos. »Aspirin?« diesmal kreischte sie es. »Mehr fällt euch nicht ein, wo ihr doch sonst solche Klugscheißer seid? Aspirin?«
Harold steckte die Hände in die Taschen, sah sie kläglich an und nahm den Verweis hin.
Stu sagte ganz leise: »Aber Harold hat recht, Perion. Momentan können wir nichts Besseres tun, als ihm Aspirin zu geben. Wie spät ist es?«
»Ihr wißt nicht, was ihr machen sollt!« schrie Perion sie an. »Warum gebt ihr es nicht einfach zu?«
»Es ist Viertel vor drei«, sagte Frannie.
»Und wenn er stirbt?« Peri strich sich eine Strähne kastanienfarbenes Haar aus dem vom Weinen verquollenen Gesicht.
»Laß sie in Ruhe, Peri«, sagte Mark mit dumpfer, müder Stimme. Sie schraken alle auf. »Sie tun, was sie können. Wenn es weiterhin so weh tut, wäre ich sowieso lieber tot. Gebt mir Aspirin. Irgendwas.«
»Ich hole es«, sagte Harold, der sich liebend gern entfernte. »In meinem Rucksack ist welches. Exedrin extra stark«, fügte er hinzu, als wartete er auf ihre Zustimmung, dann ging er, stolperte beinahe in seiner Hast.
»Wir müssen ihm helfen«, sagte Perion, die zu ihrer alten Litanei zurückkehrte.
Stu zog Glen und Frannie beiseite.
»Habt ihr eine Ahnung, was wir machen sollen?« fragte er leise. »Ich weiß es jedenfalls nicht, soviel kann ich sagen. Peri war wütend auf Harold, aber sein Einfall mit dem Aspirin war doppelt so gut wie jeder von mir.«
»Sie ist durcheinander, das ist alles«, sagte Fran. Glen seufzte. »Vielleicht ist es nur der Magen. Zuviel Aufregungen. Vielleicht hat er guten Stuhlgang, und es geht wieder weg.«
Frannie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Wenn es der Magen wäre, hätte er kein Fieber. Und ich glaube auch nicht, dass der Bauch so aufgebläht wäre.« Es sah fast so aus, als wäre über Nacht ein Tumor dort entstanden. Sie wurde ganz krank, wenn sie nur daran dachte. Sie konnte sich nicht erinnern (außer in ihren Träumen), wann sie zuletzt solche Angst gehabt hatte. Was hatte Harold gesagt: Wir haben keinen Arzt im Haus. Wie zutreffend das war. Wie schrecklich zutreffend. Herrgott, mit einem Mal wurde ihr alles bewußt, brach förmlich über sie herein. Wie schrecklich allein sie waren. Wie schrecklich weit draußen auf dem Hochseil, und jemand hatte vergessen, das Sicherheitsnetz zu spannen. Sie sah von Glens verkrampftem Gesicht in das von Stu. In beiden sah sie größte Besorgnis, aber in keinem eine Lösung.
Hinter ihnen schrie Mark erneut, und Perion wiederholte seinen Schrei, als würde sie seine Schmerzen empfinden. In gewisser Weise war das auch so, vermutete Frannie.
»Was sollen wir nur tun?« fragte Frannie hilflos.
Sie dachte an das Baby, und die Frage, die ihr immer und immer wieder in den Sinn kam, lautete: Was ist, wenn ein Kaiserschnitt gemacht werden muß? Was ist, wenn ein Kaiserschnitt gemacht werden muß? Was ist...
Hinter ihr schrie Mark wieder wie ein gräßlicher Prophet, und sie haßte ihn. Sie sahen einander in der zitternden Dunkelheit an.
Aus Fran Goldsmiths Tagebuch
6.Juli 1990
Nach einigem Überreden hat Mr. Bateman eingewilligt, mit uns zu kommen. Er sagt, nach seinen vielen Artikeln (»Ich schreibe sie in großen Worten, damit niemand merkt, wie einfältig sie in Wirklichkeit sind«, sagt er) und nachdem er zwanzig Jahre lang Studenten in SY-1 und SY-2 zu Tode gelangweilt hat, ganz zu schweigen von »Soziologie des Trotzverhaltens« und »Ländliche Soziologie«, ist er zu dem Ergebnis gekommen, daß er diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen kann.
Stu wollte wissen, was für eine Gelegenheit er meinte.
»Das ist doch wohl eindeutig«, sagte Harold auf seine UNERTRÄGLICH ROTZNÄSIGE Weise (manchmal kann Harold lieb sein, aber manchmal ist er auch eine Rotznase, und heute abend war er letzteres). »Mr. Bateman...«
»Bitte nenn mich Glen«, sagte er ganz leise, aber Harold sieht ihn an, daß man meinen könnte, er hätte Harold vorgeworfen, er habe eine Geschlechtskrankheit.
»Glen sieht das als Soziologe, die Entstehung einer Gesellschaftsordnung aus erster Hand mitzuerleben, glaube ich. Er möchte wissen, wie sich Theorie und Praxis zueinander verhalten.«
Langer Rede kurzer Sinn, Glen (wie ich ihn von nun an nennen möchte, weil es ihm so gefällt) stimmte zu, daß es hauptsächlich das war, fügte aber hinzu: »Darüber hinaus habe ich bestimmte Theorien aufgestellt, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit ich beweisen möchte. Ich glaube nicht, daß der Mensch, der sich aus der Asche der Supergrippe erhebt, derselbe sein wird wie der Mensch, der aus der Wiege des Nil entstand, mit einem Knochen in der Nase und einer Frau an den Haaren. Das ist eine der Theorien.«
Stu sagte auf seine stille Weise: »Weil alles herumliegt und nur daraufwartet, wieder benützt zu werden.« Er sah so grimmig drein, als er das sagte, daß ich überrascht war und sogar Harold ihn irgendwie komisch angesehen hat.
Aber Glen nickte nur und sagte: »Stimmt. Die technologische Gesellschaft hat das Spielfeld sozusagen geräumt, aber sie hat sämtliche Basketbälle zurückgelassen. Es wird jemand kommen, der sich an das Spiel erinnert und es den anderen wieder beibringt. Hübsch, nicht? Sollte ich später aufschreiben.«
[Aber ich habe es selbst aufgeschrieben, falls er es vergißt. Who knows - wer weiß! The Shadow - hi-hi.]
Darauf sagt also Harold: »Hört sich an, als würdest du glauben, dass alles wieder von vorne anfängt - das Wettrüsten, Umweltverschmutzung und so weiter. Ist das auch eine Theorie? Die Folge der ersten?«
»Nicht genau«, fing Glen an, aber bevor er weitersprechen konnte, platzte Harold mit seiner eigenen Theorie dazwischen. Ich kann nicht alles Wort für Wort wiedergeben, denn wenn Harold aufgeregt ist, plappert er zu schnell, aber was er sagte, lief darauf hinaus, daß er zwar eine generell schlechte Meinung von den Menschen hat, aber s o dumm könnten sie wohl kaum sein. Er sagte, seiner Meinung nach würden diesmal bestimmte Gesetze erlassen werden. Eines würde die Bestimmung enthalten, daß keiner mit schlimmen Sachen wie Kernfusion und Florkohlenwasserstoffen herumspielt (das habe ich wahrscheinlich falsch buchstabiert), mit Sprays und solchen Sachen. Aber eines kann ich mich erinnern, weil es ein so zutreffender Vergleich war. »Daß der gordische Knoten für uns durchgeschlagen worden ist, heißt ja nicht zwangsläufig, daß wir jetzt wieder anfangen, ihn zusammenzuknüpfen.«
Mir war klar, daß es ihm nur auf ein Streitgespräch ankam - daß man Harold so schwer leiden kann, liegt teilweise daran, daß er immer zeigen will, wie schlau er ist (und er ist wirklich schlau, das muß ich ihm lassen, Harold weiß eine Menge) - aber Glen sagte nur: »Die Zeit wird es zeigen, richtig?«
Das alles ging vor einer Stunde zu Ende, und jetzt bin ich in einem Schlafzimmer im Obergeschoß, und Kojak liegt neben mir auf dem Boden. Guter Hund! Es ist alles ziemlich schnuckelig und erinnert mich an zu Hause, aber ich versuche, nicht zu sehr an zu Hause zu denken, weil ich dann immer weinen muß. Ich weiß, es klingt schrecklich, aber ich wünschte mir wirklich jemanden, der mir helfen würde, dieses Bett zu wärmen. Mir schwebt sogar schon ein Kandidat vor.
Vergiß es, Frannie!
Morgen brechen wir also nach Stovington auf, und ich weiß, das gefällt Stu ganz und gar nicht. Er hat Angst vor dem Zentrum. Ich mag Stu sehr und wünschte, Harold könnte ihn besser leiden. Harold kompliziert alles nur, aber ich glaube, er kann eben nicht aus seiner Haut.
Glen hat sich entschlossen, Kojak zurückzulassen. Das tut ihm leid, wenn Kojak auch keine Schwierigkeiten haben wird, Futter zu finden. Es bleibt aber nichts anderes übrig, es sei denn, wir könnten ein Motorrad mit Beiwagen finden, aber selbst dann wäre es schwierig, denn Kojak könnte Angst bekommen und rausspringen. Sich verletzen und sterben.
Auf jeden Fall fahren wir morgen los.
Zur Erinnerung: Die Texas Rangers (eine Baseballmannschaft) hatten einen Werfer namens Nolan Ryan, der mit seinem berühmten Fastball alle möglichen Nicht -Treffer und dergleichen machte, und ein Nicht-Treffer ist sehr gut. Es gab Fernsehkomödien mit einer Lachspur (eine Lachspur ist ein Tonband, auf dem die Leute an den lustigen Stellen lachen), die einen aufheitern sollen. Im Supermarkt konnte man tiefgekühlte Kuchen und Pasteten kaufen, die man einfach auftaute und aß. Am liebsten mochte ich den Erdbeerkäsekuchen von Sara Lee.
7. Juli 1990
Ich kann nicht lange schreiben. Sind den ganzen Tag gefahren. Mein Hintern fühlt sich an wie Hackfleisch, und ich habe ein Gefühl, als hätte ich einen Stein im Rücken. Letzte Nacht hatte ich wieder diesen schrecklichen Traum. Auch Harold hat von diesem Mann? geträumt und ist sehr beunruhigt, denn er kann sich nicht erklären, wieso wir beide im wesentlichen denselben Traum haben. Stu sagt, er träumt immer noch von Nebraska und der alten schwarzen Frau dort. Sie sagt immer noch, daß er sie jederzeit besuchen kann. Stu sagt, sie wohnt in einer Stadt namens Holland Home oder Hometown oder so ähnlich. Sagt, er könnte sie finden. Harold hat ihn ausgelacht und lange darüber geschwatzt, dass Träume psycho-freudianische Manifestationen der Dinge sind, an die wir im wachen Zustand nicht zu denken wagen. Ich glaube, Stu war wütend, hat sich aber beherrscht. Ich habe immer Angst, daß die Spannung zwischen den beiden sich einmal entlädt. ICH WOLLTE, ES WÄRE ANDERS!
Stu sagte jedenfalls: »Wie kommt es dann, daß Frannie und du denselben Traum habt?« Harold murmelte etwas von Zufall und ging einfach weg.
Stu hat Glen und mir gesagt, daß er von Stovington aus gern mit uns nach Nebraska fahren würde. Glen zuckte die Achseln und sagte:
»Warum nicht? Irgendwo müssen wir ja hin.«
Harold wird selbstverständlich aus Prinzip widersprechen. Der Teufel soll dich holen, Harold, werd endlich erwachsen!
Zur Erinnerung: Es gab eine Benzinknappheit, weil jeder Amerikaner ein Fahrzeug hatte, wir den größten Teil unserer Ölvorräte verbraucht und die Araber uns in der Hand hatten. Die Araber hatten so viel Geld, daß sie es buchstäblich nicht ausgeben konnten. Es gab eine Rock-'n'-Roll-Gruppe namens The Who, die ihre LiveAuftritte gelegentlich damit beendete, daß sie Gitarren und Verstärker zertrümmerte. So etwas nannte man »sichtbaren Konsum«.
8.Juli 1990
Es ist spät, ich bin schon wieder müde, aber ich sollte versuchen, soviel wie möglich aufzuschreiben, bevor mir die Augen einfach ZUFALLEN. Harold hat sein Schild vor einer Stunde fertigbekommen (reichlich mißmutig, muß ich sagen) und stellte es auf den Rasen des Seuchenzentrums von Stovington. Stu half ihm dabei und liess sich auch von Harolds gemeinen Sticheleien nicht aus der Ruhe bringen.
Ich hatte mich schon auf eine Enttäuschung eingerichtet. Ich habe nie geglaubt, daß Stu lügt, und Harold wahrscheinlich auch nicht. Darum war ich sicher, daß alle tot waren, aber es war trotzdem ein beunruhigendes Erlebnis, und ich mußte weinen. Ich konnte nichts dafür.
Aber ich war nicht die einzige, die beunruhigt war. Als Stu die Anlage sah, wurde er totenblaß. Er hatte ein kurzärmeliges Hemd an, und ich konnte sehen, daß er Gänsehaut an den Armen hatte. Seine Augen sind normalerweise blau, aber sie waren schieferfarben geworden, wie das Meer an einem grauen Tag.
Er deutete in den dritten Stock und sagte: »Das war mein Zimmer.«
Harold drehte sich zu ihm um, ich konnte sehen, wie er sich darauf vorbereitete, eine seiner patentierten Harold-LauderKlugscheißereien von sich zu geben, aber dann sah er Stus Gesicht und blieb still. Ich glaube, das war ausgesprochen klug von ihm. Nach einer Weile sagt Harold: »Gehen wir rein und sehen uns um.«
»Wozu das?« antwortet Stu fast hysterisch, beherrscht sich aber eisern. Das hat mir Angst gemacht, denn normalerweise ist er so kühl wie Eiswasser. Man muß nur dafür sorgen, daß Harold es nicht schafft, ihn auf die Palme zu bringen.
»Stuart...«, fängt Glen an, aber Stu unterbricht ihn mit:
»Wozu? Seht ihr denn nicht, daß alle tot sind? Keine Lamettaträger, kein Fußvolk, niemand. Glaubt mir«, sagte er, »wenn sie hier wären, hätten sie uns schon in Empfang genommen. Wir wären in den weißen Zimmern eingesperrt wie beschissene Meerschweinchen.« Dann sieht er mich an und sagt: »Tut mir leid, Fran - ich wollte das nicht sagen. Ich bin wohl durcheinander.« »Also, ich geh' rein«, sagt Harold. »Wer kommt mit?« Aber ich konnte sehen, daß Harold zwar versuchte, KÜHN & STARK zu sein, aber selbst Angst hatte. Glen wollte mit ihm gehen, aber Stu sagte: »Geh auch rein, Fran. Überzeug dich selbst.«
Ich wollte sagen, daß ich draußen bei ihm bleiben würde, weil er so nervös ausgesehen hat (und weil ich eigentlich gar nicht rein wollte), aber das hätte wieder Ärger mit Harold gegeben, daher sagte ich okay.
Wenn wir, Glen und ich, Zweifel an Stus Geschichte gehabt hätten - wir hätten sie verwerfen können, sobald wir das Tor aufgemacht hatten. Es war der Geruch. Dasselbe kann man in allen größeren Städten riechen, durch die wir kommen, ein Geruch wie verfaulte Tomaten, Herrgott, ich weine schon wieder, aber es ist nicht recht, daß Menschen nicht nur sterben, sondern dann auch noch stinken wie
Warte
(später)
Also, ich habe mein zweites GROSSES WEINEN des Tages hinter mir, was ist nur mit der putzigen Fran Goldsmith los, dem kleinen Sonnenscheinchen, das Stahlnägel kauen und Teppichklammern ausspucken konnte, wie das Sprichwort sagte, ha-ha. Keine Tränen mehr heute nacht, das ist ein Versprechen.
Ich ging trotzdem rein, morbide Neugier, schätze ich. Ich weiß nicht, wie es den anderen ging, aber ich wollte das Zimmer sehen, in dem man Stu gefangengehalten hatte. Und nicht nur der Geruch war erschreckend, sondern auch die Tatsache, daß es nach der Hitze draußen so kühl hier drin war. Jede Menge Granit und Marmor, wahrscheinlich perfekt isoliert. Im zweiten Stock war es wärmer, aber unten war der Geruch... und die Kühle... wie eine Gruft. IGITT.
Und es war gruselig, wie in einem Spukhaus - wir drei drängten uns aneinander wie Schafe, und ich war froh, daß ich mein Gewehr hatte, auch wenn es nur Kaliber .22 war. Unsere Schritten hallten zu uns zurück, als würde uns jemand folgen, ja, und ich mußte wieder an den Traum denken, in dem der Mann im schwarzen Umhang erscheint. Kein Wunder, daß Stu nicht mit uns kommen wollte. Schließlich kamen wir zu den Fahrstühlen und fuhren in den zweiten Stock hinauf. Dort waren nur Büros... und mehrere Leichen. Der dritte Stock war wie in einem Krankenhaus, aber alle Zimmer hatten luftdichte Türen (Luftschleusen haben Glen und Harold sie genannt) und spezielle Sichtfenster. Da oben waren viele Leichen, in den Zimmern und auch auf den Fluren. Kaum Frauen. Ich frage mich, ob man am Ende versucht hat, die Frauen zu evakuieren. So vieles werden wir nie erfahren. Aber wozu auch?
Jedenfalls fanden wir am Ende des Flurs, der vom Hauptkorridor abzweigte, wo die Fahrstuhlschächte waren, ein Zimmer, dessen Luftschleuse offenstand. Dort lag ein Toter, aber er war kein Patient (die trugen alle weiße Krankenhausschlafanzüge), und er war sicher nicht an der Grippe gestorben. Er lag in einer großen getrockneten Blutlache und sah aus, als hätte er noch im Sterben versucht, aus dem Zimmer zu kriechen. Ein zertrümmerter Stuhl lag dort, und alles war durcheinander, als hätte ein Kampf stattgefunden. Glen sah sich lange um, dann sagte er: »Ich glaube, wir sollten dieses Zimmer Stu gegenüber nicht erwähnen. Ich glaube, er war hier drinnen dem Tod sehr nahe.«
Ich betrachtete den ausgestreckten Leichnam und gruselte mich mehr denn je.
»Was meinen Sie damit?« fragte Harold, und sogar seine Stimme klang gedämpft. Eines der wenigen Male, daß sie sich einmal nicht so anhörte, als würde Harold vor einem aufmerksam lauschenden Auditorium reden.
»Ich glaube, dieser Mann hatte die Absicht, Stuart zu töten«, sagte Glen, »und Stu hat ihn irgendwie überrumpelt.«
»Aber warum?« fragte ich. »Warum wollte man Stu töten, wenn er immun war? Das ist doch Unsinn!«
Er sah mich an, und seine Augen waren furchteinflößend. Sie sahen fast tot aus, wie Fischaugen.
»Das spielt keine Rolle, Fran«, sagte er. »Wie es aussieht, sind Sinn und Zweck hier bedeutungslos gewesen. Diesen Leuten ging es nur noch darum, zu vertuschen - eine Geisteshaltung, die in jedem von uns ist. Diese Menschen hier glaubten so blind und fanatisch an ihre Sache, wie bestimmte religiöse Gruppen an die göttliche Herkunft Jesu. Denn für solche Menschen ist die Notwendigkeit zu vertuschen auch dann noch die einzig wichtige, wenn der Schaden schon eingetreten ist. Ich frage mich, wie viele Immune man in Atlanta und San Francisco und dem Viral Center in Topeka ermordet hat, bevor die Seuche schließlich die Mörder getötet und ihrem Gemetzel ein Ende bereitet hat. Dieses Arschloch da? Ich bin froh, daß er tot ist. Mir tut nur Stu leid, der seinetwegen wahrscheinlich den Rest seines Lebens Alpträume haben wird.«
Und kannst du dir vorstellen, was Glen Bateman dann gemacht hat? Dieser nette Mann, der die schrecklichen Bilder malt? Er ging hin und trat dem Toten ins Gesicht. Harold gab ein gedämpftes Grunzen von sich, als wäre er getreten worden. Dann zog Glen den Fuss wieder zurück.
»Nein!« schreit Harold, aber Glen trat den Toten trotzdem noch einmal. Dann drehte er sich um und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, aber seine Augen hatten wenigstens nicht mehr diesen gräßlichen toten Ausdruck.
»Kommt«, sagt er. »Verschwinden wir. Stu hatte recht. Hier sind alle tot.«
Also gingen wir raus; Stu saß mit dem Rücken am Eisentor in der hohen Mauer, die um das Institut herum verlief, und ich wollte... los doch, Frannie, wenn du deinem Tagebuch nicht alles anvertrauen kannst, wem dann! Ich wollte zu ihm laufen, ihn küssen und ihm sagen, wie ich mich schämte, weil wir ihm nicht geglaubt hatten, mich schämte, weil wir unablässig davon geredet hatten, wie schlimm es uns ergangen war, als die Seuche ausgebrochen war, und Stu hatte kaum etwas gesagt, obwohl er die ganze Zeit gewußt hatte, daß der Mann ihn beinahe umgebracht hätte.
Meine Güte, ich glaube, ich verliebe mich in ihn, ich habe die schwärmerischste Schwärmerei meines Lebens - wenn Harold nicht wäre, ich würde es riskieren!
Jedenfalls (es gibt immer ein jedenfalls, obwohl meine Finger inzwischen so taub sind, daß sie fast abfallen) hat uns Stu da zum ersten Mal gesagt, daß er nach Nebraska will, daß er erfahren möchte, ob sein Traum der Realität entspricht. Er hatte einen störrischen, irgendwie verlegenen Gesichtsausdruck, als wüßte er, daß er sich wieder den altklugen Stuß von Harold anhören mußte, aber Harold war nach unserem Ausflug ins Seuchenzentrum Stovington so mitgenommen, daß er nur pro forma Einwände erhob. Und selbst damit hörte er auf, als Glen auf sehr beiläufige Weise erwähnte, daß er vergangene Nacht auch von der alten Frau geträumt hätte.
»Könnte natürlich deshalb sein, weil Stu uns von seinem Traum erzählt hat«, sagte er, rot im Gesicht, »aber die Ählichkeit war verblüffend.«
Darauf erklärte Harold natürlich, genau das wäre der Grund für den Traum, aber Stu meinte: »Moment mal, Harold - ich hab' eine Idee.«
Seine Idee? Nun, wir sollten alle ein Blatt Papier nehmen und alles aufschreiben, was wir von unseren Träumen der vergangenen Woche noch wußten, und dann sollten wir die Notizen vergleichen. Das war immerhin wissenschaftlich genug, um Harold von weiteren Einwänden abzuhalten.
Nun, ich hatte nur den einen Traum, den ich bereits aufgeschrieben habe. Ich möchte ihn nicht wiederholen. Nur soviel: Ich habe meinem Tagebuch nur das mit meinem Vater anvertraut, aber nicht das mit dem Baby und dem Kleiderbügel, den er immer bei sich hat. Als wir die Zettel verglichen, waren die Ergebnisse recht erstaunlich. Harold, Stu und ich hatten alle von dem »dunklen Mann« geträumt, wie ich ihn nenne. Stu und ich haben ihn als Mann in Mönchskutte gesehen, ohne erkennbare Gesichtszüge - sein Gesicht ist immer im Schatten. Auf Harolds Zettel stand, daß er immer unter einer dunklen Tür stand und ihm winkte »wie ein Zuhälter«. Manchmal konnte er nur seine Schuhe und das Funkeln seiner Augen sehen - »wie die Augen eines Wiesels«, hat er sich ausgedrückt.
Stu und Glen haben fast identische Träume von der alten Frau. Es gibt so viele Übereinstimmungen, daß man sie kaum einzeln aufzählen kann (das ist meine »literarische« Weise zu sagen, dass meine Finger taub sind). Jedenfalls sind sich beide einig, daß sie in Polk County, Nebraska, wohnt, nur den Namen der Stadt bekamen sie nicht zusammen - Stu sagt Hollingford Home, Glen sagt Hemingway Home. Klingt jedenfalls ziemlich ähnlich. Sie scheinen beide der Meinung zu sein, daß sie es finden könnten. (Aufgepaßt, Tagebuch: Ich vermute »Hemingford Home«).
Glen sagte: »Wirklich erstaunlich. Wir scheinen alle ein gemeinsames übersinnliches Erlebnis zu haben.« Harold widersprach natürlich lebhaft, aber es schien, als hätte er eine Menge Stoff zum Nachdenken bekommen. Er stimmte nur auf der Basis zu, daß »wir ja irgendwo hin müßten«. Wir brechen am Morgen auf. Ich bin ängstlich, aufgeregt, vor allem aber glücklich, daß ich das tote Stovington verlassen kann. Und diese alte Frau ist mir allemal lieber als der dunkle Mann.
Zur Erinnerung: »Locker bleiben« heißt nicht aufregen. »Stark« und »klasse« bedeuten, daß etwas gut ist. »Keine Bange« heißt, dass man sich keine Sorgen machen muß. »Einen draufmachen« ist, wenn man es sich gutgehen läßt, und viele Menschen haben TShirts mit der Aufschrift SCHEISSE KOMMT VOR getragen, was sicher so war... und noch so ist. »Läuft wie geschmiert« war ein verbreiteter Ausdruck (ich habe ihn erst dieses Jahr gehört), er bedeutete, daß alles gut lief. »Kammer«, ein alter britischer Ausdruck, war gerade im Begriff, »Bude« oder »Bleibe« als Ausdruck für den Ort, wo man vor der Supergrippe wohnte, zu verdrängen. Es galt als ausgesprochen cool, zu sagen: »Da steh' ich drauf.« Dumm, was? Aber so war das Leben eben.
Es war kurz nach zwölf Uhr mittags.
Perion war erschöpft neben Mark eingeschlafen, den die anderen zwei Stunden vorher vorsichtig in den Schatten getragen hatten. Mal war er bei Bewußtsein, mal nicht; es war für alle Beteiligten angenehmer, wenn er es nicht war. Er hatte den Rest der Nacht den Schmerzen getrotzt, aber nach Tagesanbruch hatte er sich ihnen schließlich ergeben, und wenn er bei Bewußtsein war, ließen seine Schreie einem das Blut in den Adern gefrieren. Alle standen da und sahen sich hilflos an. Niemand wollte etwas essen.
»Es ist der Blinddarm«, sagte Glen. »Ich glaube, daran besteht kein Zweifel mehr.«
»Vielleicht sollten wir versuchen, ihn... nun, zu operieren«, sagte Harold. Er sah Glen an. »Du kannst wohl nicht...«
»Wir würden ihn umbringen«, sagte Glen unumwunden. »Das weißt du, Harold. Selbst wenn wir ihn aufschneiden könnten, ohne daß er verblutet - und das können wir nicht -, könnten wir den Blinddarm nicht vom Dickdarm unterscheiden. Das Zeug da drin hat keine Etiketten, weißt du.«
»Wenn wir nichts unternehmen, bringen wir ihn auch um«, sagte Harold.
»Willst du es versuchen?« fragte Glen ätzend. »Manchmal bin ich nicht sicher, woran ich bei dir bin, Harold.«
»Du bist in der momentanen Situation auch keine nennenswerte Hilfe«, sagte Harold errötend.
»He, kommt schon, hört auf«, sagte Stu. »Was soll das? Wenn ihr sowieso nicht vorhabt, ihn mit einem Taschenmesser aufzuschneiden, dann streitet euch nicht rum.«
»Stu!« Frannie stöhnte es fast.
»Was denn?« fragte er achselzuckend. »Das nächste Krankenhaus ist in Maumee. Dorthin können wir ihn unmöglich bringen. Ich glaube, wir kriegen ihn nicht einmal bis zur Schnellstraße.«
»Du hast natürlich recht«, murmelte Glen und strich sich mit einer Hand über die sandpapierrauhen Wangen. »Bitte entschuldige, Harold. Ich bin so durcheinander. Ich wußte, so etwas könnte passieren - pardon, würde passieren -, aber ich vermute, ich wußte es nur auf akademische Weise. Das hier ist anders, als im Arbeitszimmer zu sitzen und Situationen durchzuspielen. Harold knurrte eine undankbare Erwiderung und stapfte, die Hände tief in den Taschen vergraben, davon. Er sah wie ein mürrischer, zu groß geratener Zehnjähriger aus.
»Warum können wir ihn nicht transportieren?« fragte Fran verzweifelt und sah von Stu zu Glen.
»Weil sein Blinddarm mittlerweile stark angeschwollen sein muß«, sagte Glen. »Wenn er platzt, schüttet er soviel Gift in Marks Körper, daß zehn Menschen daran sterben könnten.«
Stu nickte. »Peritonitis.«
Frannies Gedanken kreisten. Appendicitis? Das war heutzutage gar nichts! Nichts. Wenn man wegen Gallensteinen oder so etwas im Krankenhaus war, nahmen sie den Blinddarm manchmal gleich mit heraus, wenn sie einen schon offen hatten. Sie erinnerte sich an einen Freund aus der Grundschule, einen Jungen namens Charley Biggers, den alle Biggy nannten, der den Blinddarm in den Sommerferien zwischen der fünften und sechsten Klasse herausbekommen hatte. Er war nur zwei oder drei Tage im Krankenhaus gewesen. Den Blinddarm herauszunehmen war rein gar nichts, medizinisch gesehen.
Ebensowenig war es gar nichts, ein Baby zu bekommen, medizinisch gesehen.
»Aber wenn ihr ihn in Ruhe laßt«, sagte sie, »platzt der Blinddarm dann nicht trotzdem?«
Stu und Glen sahen einander unbehaglich an, sagten aber nichts.
»Dann seid ihr wirklich so schlimm wie Harold sagt!« stieß sie wütend hervor. »Ihr müßt etwas unternehmen, auch wenn ihr's mit dem Taschenmesser tut! Ihrmüßt!«
»Warum wir?« fragte Glen wütend. »Warum nicht du! Wir haben nicht mal ein medizinisches Lexikon, verdammt noch mal!«
»Aber ihr... er... es kann doch nicht einfach so passieren! Es ist gar nichts, den Blinddarm rauszubekommen!«
»Tja, früher vielleicht nicht, aber heute schon«, sagte Glen, aber da hatte sie sich schon weinend von ihm abgewandt.
Sie kam gegen drei Uhr zurück. Sie schämte sich und wollte sich entschuldigen. Aber weder Stu noch Glen waren im Lager. Harold hockte niedergeschlagen auf einem umgestürzten Baumstamm. Perion saß mit überkreuzten Beinen bei Mark und tupfte ihm das Gesicht mit einem Tuch ab. Sie war blaß, aber gefaßt.
»Frannie!« sagte Harold und strahlte sichtlich.
»Hi, Harold.« Sie ging zu Peri. »Wie geht es ihm?«
»Er schläft«, sagte Perion, aber er schlief nicht; das konnte selbst Fran sehen. Er war bewußtlos.
»Wo sind die anderen hin, Peri? Hast du eine Ahnung?«
Harold antwortete ihr. Er war hinter sie getreten, und Frannie konnte spüren, daß er den Wunsch hatte, ihr Haar zu berühren oder ihr den Arm um die Schultern zu legen. Das wollte sie nicht. Mittlerweile erfüllte Harold sie fast ständig mit Unbehagen.
»Die anderen sind nach Kunkle. Um nach einer Arztpraxis zu suchen.«
»Sie wollen versuchen, ein paar Bücher zu besorgen«, sagte Peri.
»Und ein paar... ein paar Instrumente.« Sie schluckte, kühlte weiter Marks Gesicht, tauchte das Tuch ab und zu in ein Feldbesteck und wrang es aus.
»Es tut uns echt leid«, sagte Harold unbehaglich. »Ich weiß, das hört sich dämlich an, aber es stimmt.«
Peri sah auf und schenkte Harold ein gezwungen-freundliches Lächeln. »Das weiß ich«, sagte sie. »Danke. Niemand trägt die Schuld an Marks Zustand. Es sei denn, es gibt einen Gott. Wenn es einen Gott gibt, dann ist es seine Schuld. Und wenn ich ihn sehe, trete ich ihm dafür in die Eier.«
Sie hatte ein Pferdegesicht und einen stämmigen Bauernkörper. Fran, die bei anderen immer zuerst die positiven und dann erst die negativen Merkmale sah (Harold, beispielsweise, hatte hübsche Hände für einen Jungen), fiel auf, daß Peris kastanienfarbenes Haar fast unvergleichlich war, und die dunklen Indigoaugen blickten klar und intelligent. Sie hatte ihnen erzählt, daß sie Anthropologie an der University of New York - NYU - gelehrt hatte; zudem war sie für verschiedene politische Belange eingetreten, darunter Frauenrecht und Gleichbehandlung für AIDS-Infizierte. Sie war nie verheiratet gewesen. Mark, hatte sie Frannie einmal anvertraut, war besser zu ihr gewesen, als sie es je von einem Mann erwartet hätte. Alle anderen, die sie gekannt hatte, hatten sie entweder links liegen gelassen, oder sie mit anderen Mädchen als »Trampel« oder »Vogelscheuche« über einen Kamm geschoren. Sie gab zu, dass Mark unter normalen Umständen wahrscheinlich zu denjenigen gehört hätte, die sie immer links liegen ließen, aber die Umstände waren nun mal nicht normal. Sie hatten sich in Albany kennengelernt, wo Perion den Sommer bei ihren Eltern verbrachte - am letzten Tag des Juni, und sie hatten beschlossen, aus der Stadt zu verschwinden, bevor die Krankheitserreger sämtlicher Toter an ihnen beiden vollenden konnten, was die Supergrippe nicht geschafft hatte.
Sie waren aufgebrochen und in der nächsten Nacht ein Pärchen geworden, wenn auch mehr aus verzweifelter Einsamkeit als aus Liebe (das war Mädchengeschwätz, und Frannie hatte es nicht einmal in ihr Tagebuch geschrieben). Er war gut zu ihr, erzählte Peri Fran in der leisen, erstaunten Weise aller unscheinbaren Frauen, die einen netten Mann in einer harten Welt gefunden haben. Sie hatte angefangen, ihn zu lieben; jeden Tag hatte sie ihn ein bißchen mehr geliebt.
Und jetzt das.
»Komisch«, sagte sie. »Außer Stu und Harold haben alle hier einen Collegeabschluß, und du hättest sicher einen gemacht, wenn die Dinge ihren normalen Verlauf genommen hätten, Harold.«
»Ja, stimmt«, sagte Harold.
Peri drehte sich wieder zu Mark um und tupfte ihm zärtlich und liebevoll die Stirn. Frannie mußte an eine Farbabbildung in ihrer Familienbibel denken, die drei Frauen zeigte, die Jesus für die Beerdigung vorbereiteten - sie rieben ihn mit Öl und duftenden Krautern ein.
»Frannie hat Englisch studiert, Glen hat Soziologie studiert, Mark hat seinen Doktor in amerikanischer Geschichte gemacht, und du Harold, hast auch Englisch gewählt und wolltest Schriftsteller werden. Wir könnten herumsitzen und hochgeistige Diskussionen führen. Haben wir ja eigentlich auch, oder?«
»Ja«, stimmte Harold zu. Seine normalerweise penetrante Stimme war so leise, daß man sie kaum hören konnte.
»Eine geisteswissenschaftliche Ausbildung lehrt einen, wie man denkt - das habe ich irgendwo gelesen. Die harten Fakten, die man lernt, sind zweitrangig. Das Wesentliche, was man von der Schule mitnimmt, ist die Fähigkeit, sich auf konstruktive Weise zu engagieren.«
»Das ist gut«, sagte Harold. »Gefällt mir.«
Jetzt legte er die Hand auf Frannies Schulter. Sie schüttelte sie nicht ab, doch die Berührung bereitete ihr Unbehagen.
»Nein, es ist nicht gut«, sagte Peri aufbrausend, und Harold nahm vor Überraschung die Hand von Frannies Schulter. Sie fühlte sich augenblicklich erleichtert.
»Nein?« fragte er fast schüchtern.
»Er stirbt!« sagte Peri - nicht laut, sondern wütend und hilflos. »Er stirbt, weil wir alle unsere Zeit damit verplempert haben, uns in Hörsälen und billigen Studentenwohnungen in Universitätsstädten mit Scheiße vollzustopfen. Oh, ich könnte euch von den MidiIndianern auf Neu Guinea erzählen, und Harold könnte uns die literarischen Techniken der jüngeren englischen Dichter erläutern, aber was nützt das alles Mark?«
»Wenn wir jemand von der medizinischen Fakultät hätten...« begann Fran zögernd.
»Ja, wenn. Haben wir aber nicht. Wir haben nicht einmal einen Automechaniker bei uns oder jemanden, der die Landwirtschaftsschule besucht und zumindest einmal gesehen hat, wie ein Tierarzt ein Pferd oder eine Kuh behandelt.« Peri sah die beiden an, und ihre Indigoaugen wurden noch dunkler. »So sehr ich euch mag, ich glaube, momentan würde ich euch alle mit Freuden für Mrs. Goodwrench eintauschen. Ihr habt alle Angst, Mark auch nur zu berühren, obwohl ihr genau wißt, was passiert, wenn ihr es nicht macht. Ich bin genauso - ich schließe mich nicht aus.«
»Jedenfalls sind die beiden...« Fran verstummte. Sie hatte sagen wollen: jedenfalls sind die beiden Männer losgefahren, entschied dann aber, daß das ein unglücklicher Ausdruck wäre, da Harold noch bei ihnen war. »Jedenfalls sind Stu und Glen losgefahren. Das ist doch schon mal was, oder nicht?«
Peri seufzte. »Ja - das ist schon mal was. Aber es war Stus Entscheidung zu fahren, richtig? Er war der einzige, der sich überlegt hat, daß es besser sein könnte, etwas zu versuchen, als nur herumzustehen und die Hände zu ringen.« Sie sah Frannie an. »Hat er dir erzählt, womit er vorher seinen Lebensunterhalt verdient hat?«
»Er hat in einer Fabrik gearbeitet«, antwortete Fran prompt. Sie sah nicht, wie Harolds Miene düster wurde, weil sie diese Information so schnell parat hatte. »Er hat Stromkreise in elektronische Taschenrechner eingebaut. Man könnte vielleicht sagen, daß er Computertechniker war.«
»Ha!« sagte Harold und lachte gallig.
»Er ist der einzige von uns, der versteht, wie man etwas auseinandernimmt«, sagte Peri. »Was er und Mr. Bateman vorhaben, wird Mark ziemlich sicher umbringen, aber es ist besser, wenn er ums Leben kommt, während jemand versucht, ihm zu helfen, als einfach zu sterben, während wir herumstehen und zusehen... als wäre er ein Hund, der auf der Straße überfahren worden ist.«
Darauf wußten weder Harold noch Fran eine Antwort. Sie standen nur neben ihr und betrachteten Marks stilles, regloses Gesicht. Nach einer Weile legte Harold wieder seine schwitzige Hand auf Frannies Schulter. Sie hätte am liebsten geschrien.
Stu und Glen kamen um Viertel vor vier zurück. Sie waren mit einem Motorrad unterwegs gewesen. Jetzt waren die Instrumententasche eines Arztes und mehrere Bücher auf dem Gepäckträger festgeschnallt.
»Wir versuchen es«, sagte Stu nur.
Peri sah auf. Ihr Gesicht war weiß und angespannt, ihre Stimme ruhig. »Ja? Bitte. Es ist unser beider Wunsch«, sagte sie.
»Stu?« sagte Perion.
Es war zehn nach vier. Stu kniete auf einer Gummimatte, die unter dem Baum ausgebreitet worden war. Schweiß floß ihm in Strömen vom Gesicht. Seine Augen waren glänzend und panisch und gequält. Frannie hielt ein Buch aufgeschlagen vor ihn und blätterte zwischen zwei Farbabbildungen hin und her, wenn Stu den Kopf hob und nickte. Neben ihm hielt ein totenblasser Glen Bateman eine Spule dünnes weißes Garn, Zwischen ihnen stand ein offener Kasten mit Instrumenten aus Edelstahl. Der Kasten war blutbespritzt.
»Hier!« rief Stu. Seine Stimme klang plötzlich schrill und hart und aufgeregt. Seine Augen waren zwei winzige Punkte. »Da ist der kleine Dreckskerl! Hier! Genau hier!«
»Stu?« sagte Perion.
»Fran, zeig mir noch mal die andere Abbildung! Schnell! Schnell!«
»Kannst du ihn rausnehmen?« fragte Glen. »Jesus, Ost-Texas, glaubst du wirklich?«
Harold war nicht da. Er hatte die Runde verfrüht und mit einer Hand vor dem Mund verlassen. Seit fünfzehn Minuten stand er in einem kleinen Hain östlich und hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Jetzt drehte sich sein großes, rundes Gesicht voller Hoffnung zu ihnen um.
»Ich weiß nicht«, sagte Stu, »aber es könnte sein. Könnte sein.«
Er betrachtete die Abbildung, die Fran ihm zeigte. Marks Blut reichte ihm bis zu den Ellbogen, wie scharlachrote Abendhandschuhe.
»Stu?« sagte Perion.
»Er ist oben und unten abgeschlossen«, flüsterte Stu. Seine Augen glitzerten aufgeregt. »Der Blinddarm. Eine abgeschlossene kleine Einheit. Er... wisch mir die Stirn ab, Frannie, Herrgott, ich schwitze wie ein Schwein... danke... O Gott, ich will ihn nicht schlimmer zerschnippeln, als ich muß... schließlich sind es seine Eingeweide... aber ich muß, ich muß, verdammte Scheiße.«
»Stu?« sagte Perion.
»Gib mir die Schere, Glen. Nein - nicht die. Die kleinere.«
»Stu.«
Er sah Perion endlich an.
»Du brauc hst sie nicht mehr.« Ihre Stimme war ruhig, leise. »Er ist tot.«
Stu sah sie an, seine zusammengekniffenen Augen wurden langsam groß.
Sie nickte. »Vor fast zwei Minuten. Trotzdem danke. Danke, daß du es versucht hast.«
Stu sah sie lange an. »Bist du sicher?« flüsterte er schließlich. Sie nickte wieder. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Stu wandte sich von ihnen ab, ließ das winzige Skalpell fallen, das er in der Hand gehabt hatte, und schlug die Hände in einer Geste völliger Verzweiflung vors Gesicht. Glen war schon gegangen, ohne sich umzudrehen; er hatte die Schultern wie nach einem schweren Schlag gesenkt.
Frannie legte die Arme um Stu und zog ihn an sich.
»Das war's«, sagte er. Er sagte es immer wieder, mit leiser, tonloser Stimme, die ihr angst machte. »Das war's. Alles aus. Das war's. Das war's.«
»Du hast dein Bestes gegeben«, sagte sie und hielt ihn noch fester, als könnte er davonfliegen.
»Das war's«, sagte er noch einmal und mit dumpfer Endgültigkeit. Frannie hielt ihn in den Armen. Trotz der Gefühle, die sie in den letzten drei Wochen für ihn entwickelt hatte, trotz ihrer »schwärmerischen Schwärmerei« hatte sie keinerlei eindeutige Absichten bekundet. Sie war fast schmerzlich berührt gewesen, ihre Empfindungen nicht zu zeigen. Die Situation mit Harold stand zu sehr auf des Messers Schneide. Und nicht einmal jetzt zeigte sie wirklich, was sie für Stu empfand, nicht rückhaltlos. Sie umarmte ihn nicht wie eine Liebende. Nur wie eine Überlebende, die sich an einen anderen klammert. Das schien Stu zu verstehen. Er hob die Hände von ihren Schultern; dunkle Handabdrücke blieben auf der Khakibluse zurück und zeichneten sie so, als wären sie Komplizen bei einem tragischen Verbrechen. Irgendwo krähte schrill ein Eichelhäher, und in der Nähe fing Perion an zu weinen.
Harold Lauder, der den Unterschied zwischen den Umarmungen Liebender und Überlebender nicht kannte, betrachtete Stu und Frannie mit dämmerndem Mißtrauen und Angst. Nach einem Moment stapfte er wütend ins Unterholz und kam erst lange nach dem Essen zurück.
Am nächsten Morgen wachte sie früh auf. Jemand schüttelte sie. Ich öffne die Augen, und es ist Glen oder Harold, dachte sie schläfrig. Wir machen es wieder durch, immer weiter, bis wir es richtig machen. Wer nicht aus der Geschichte lernt...
Aber es war Stu. Und es war irgendwie schon Tag; eine graue Dämmerung, vom Morgennebel gedämpft wie glänzendes Gold, das durch dünnen Mull schimmert. Die anderen waren reglose, schlafende Gestalten.
»Was ist?« fragte sie und richtete sich auf. »Stimmt was nicht?«
»Ich habe wieder geträumt«, sagte er. »Nicht von der alten Frau, von dem... dem anderen. Dem dunklen Mann. Ich hatte Angst, und darum...«
»Hör auf«, sagte sie, weil ihr sein Gesichtsausdruck Furcht einjagte.
»Komm zur Sache, bitte.«
»Perion. Das Veronal. Sie hat das Veronal aus Glens Rucksack genommen.«
Fran atmete keuchend.
»O Mann«, sagte Stu gebrochen. »Sie ist tot, Frannie. Mein Gott, was für eine verfluchte Schweinerei.«
Sie wollte sprechen, konnte nicht.
»Ich glaube, ich sollte die beiden anderen aufwecken«, sagte Stu geistesabwesend, wandte sich ab, rieb sich die stoppeligen Wangen. Fran konnte sich erinnern, wie sich seine Bartstoppeln an ihren Wangen angefühlt hatten, als sie ihn gestern umarmte. Er drehte sich bestürzt zu ihr um. »Wann hört das endlich auf?«
Sie sagte leise: »Ich glaube, niemals.«
Sie sahen einander in der frühen Dämmerung in die Augen.
Aus Fran Goldsmiths Tagebuch
9. Juli 1990
Heute nacht haben wir unser Lager westlich von Guilderland (NY) aufgeschlagen, nachdem wir endlich den großen Highway, Route 80/90, erreicht hatten. Die Aufregung, daß wir Mark und Perion (findest du nicht auch, daß das ein schöner Name ist? Ich schon) gestern nachmittag getroffen haben, hat sich mehr oder weniger gelegt. Sie sind übereingekommen, sich uns anzuschließen ... sie haben es selbst vorgeschlagen, bevor einer von uns dazu gekommen ist.
Ich bin nicht sicher, ob Harold es angeboten hätte. Du weißt ja, wie er ist. Und er war ziemlich geschockt (Glen auch, glaube ich) wegen der Sachen, die Mark und Perion bei sich hatten, darunter auch halbautomatische Gewehre (zwei). Aber er wollte wohl hauptsächlich nur seine übliche Schau abziehen... er mußte seine Anwesenheit kundtun, du weißt ja.
Ich glaube, ich habe ganze Seiten mit der PSYCHOLOGIE VON HAROLD gefüllt, und wenn du ihn jetzt nicht kennst, wirst du ihn nie kennen. Unter seiner Überheblichkeit und den vollmundigen Worten versteckt sich ein sehr unsicherer kleiner Junge. Er kann nicht begreifen, daß sich alles verändert hat. Ein Teil von ihm - ein ziemlich großer Teil, meine ich - muß weiterhin glauben, daß seine sämtlichen Peiniger von der High School eines schönen Tages aus ihren Gräbern auferstehen und wieder anfangen, Dreck nach ihm zu schleudern oder ihn Wichser-Harry nennen, wie Amy mir einmal verraten hat. Manchmal glaube ich, es wäre besser für ihn gewesen (und für mich auch), wenn wir uns in Ogunquit nicht zusammengetan hätten. Ich gehöre seinem alten Leben an, ich war einmal die beste Freundin seiner Schwester, und so weiter und so weiter. Zusammenfassend könnte man über meine merkwürdige Beziehung zu Harold folgendes sagen: So seltsam es sich anhören mag, nach allem, was ich jetzt weiß, würde ich mich wahrscheinlich mit Harold anfreunden und nicht mit Amy, die immer scharf auf Jungs mit schönen Autos und Kleidern von Sweetie's war und die (Gott vergebe mir, daß ich schlecht von den Toten spreche) ein regelrechter Snob in Ogunquit gewesen ist, wie es nur jemand sein kann, der ständig in der Stadt wohnt. Harold ist auf seine verschrobene Weise irgendwie cool. Das heißt, wenn er nicht seine ganze geistige Energie darauf konzentriert, ein Arschloch zu sein. Aber weißt du, Harold könnte nie glauben, daß ihn jemand mag. Ein Teil von ihm hat soviel darin investiert, grob zu sein. Er ist entschlossen, seine sämtlichen Probleme ohne fremde Hilfe mit in diese nicht ganz so schöne neue Welt zu schleppen. Er hätte sie ebensogut in seinen Rucksack packen können, zusammen mit den Payday-Schokoriegeln, die er so gerne ißt.
O Harold, Herrgott, ich weiß einfach nicht.
Zur Erinnerung: Der Papagei von Gilette. Der wandelnde Kool-Aid Saftkrug, der immer sagte: »Oh...YEAAAAHHH!«
» O.B.-Tampons, von einer Gynäkologin erfunden.« Gegensätzliche All-Stars. Die Nacht der lebenden Toten. Brrr! Das trifft den wahren Kern zu sehr. Ich geb's auf.
14. Juli 1990
Heute beim Essen haben wir uns lange und ernst über diese Träume unterhalten und viel länger gerastet, als wahrscheinlich gut war. Wir sind übrigens gerade nördlich von Batavia, New York. Gestern hat Harold sehr zurückhaltend (für ihn) vorgeschlagen, wir sollten Veronal besorgen und leichte Dosen zu uns nehmen, um festzustellen, ob wir »den Traumzyklus nicht unterbrechen können«, wie er sich ausgedrückt hat. Ich habe dem Vorschlag zugestimmt, damit niemand auf die Idee kommt zu fragen, ob etwas mit mir nicht in Ordnung ist, aber ich werde meine Tabletten nicht nehmen, weil ich nicht weiß, was sie mit dem Einsamen Reiter in mir anstellen werden (ich hoffe, daß er einsam ist; ich weiß nicht, ob ich Zwillinge verkraften würde).
Als der Veronal-Vorschlag angenommen worden war, hatte Mark etwas zu sagen. »Wißt ihr«, sagte er, »über so etwas sollte man sich nicht allzu sehr den Kopf zerbrechen. Demnächst halten wir uns alle für Moses oder Josef und glauben, daß wir Telefonanrufe von Gott bekommen.«
»Der dunkle Mann ruft nicht aus dem Himmel an«, sagt Stu. »Wenn es ein R-Gespräch ist, kommt es wahrscheinlich von viel weiter unten.«
»Das ist Stus Art zu sagen, der olle Pferdefuß ist hinter uns her«, flötet Frannie dazwischen.
»Und diese Erklärung ist so gut wie jede andere«, sagt Glen. Wir sahen ihn alle an. »Na ja«, fuhr er -wie ich den Eindruck hatte -ein wenig defensiv fort, »wenn man es vom theologischen Standpunkt betrachtet, sieht es so aus, als wären wir der Knoten im Seil bei einem Tauziehen zwischen Himmel und Hölle, oder nicht? Wenn irgendwelche Jesuiten die Supergrippe überlebt haben, müssen sie ja höchstwahrscheinlich total ausrasten.«
Darüber hat sich Mark fast schiefgelacht. Ich habe es eigentlich nicht verstanden, aber den Mund gehalten.
»Ich finde, das Ganze ist lächerlich«, warf Harold ein. »Ehe wir uns versehen, seid ihr bei Edgar Cayce und der Seelen-Wanderung.«
Er sprach Cayce Case aus, und als ich ihn verbesserte (man spricht es wie die Anfangsbuchstaben von Kansas City aus - Kay -Si), sah er mich mit einem BÖSEN-HAROLD-BLICK an. Liebes Tagebuch, er gehört nicht zu den Leuten, die einem dankbar sind, wenn man sie auf kleine Fehler aufmerksam macht!
»Wenn etwas eindeutig Paranormales passiert«, sagte Glen, »ist der theologische Erklärungssatz der einzige, der wirklich stichhaltig ist und seine innere Logik behält. Darum gehen das Übersinnliche und die Religion stets Hand in Hand, bis hin zu unseren modernen Geistheilern.«
Harold grollte, aber Glen sprach trotzdem weiter.
»Ich bin der Meinung, daß jeder übersinnlich begabt ist... das ist so tief in uns, daß wir es selbst kaum bemerken. Die Begabung könnte größtenteils präventiv sein, und auch daher bleibt sie weitgehend unbemerkt.«
»Warum?« fragte ich.
»Weil sie ein Negativfaktor ist, Fran. Hat jemand von euch einmal D. L. Stauntons 1958 erschienene Studie über Zug- und Flugzeugunglücke gelesen? Sie wurde ursprünglich in einer soziologischen Fachzeitschrift veröffentlicht, aber die Regenbogenpresse hat sich immer wieder darauf berufen.«
Wir alle schüttelten die Köpfe.
»Solltet ihr nachholen«, sagte er. »Staunton war das, was meine Studenten vor zwanzig Jahren einen >echt klugen Kopf< genannt haben würden - ein sanftmütiger klinischer Soziologe, der das Okkulte als eine Art Hobby studierte. Er hat eine ganze Anzahl Artikel über beide Gebiete verfaßt, bevor er auf die andere Seite ging, um Nachforschungen aus erster Hand anzustellen.«
Harold schnaubte, aber Stu und Mark grinsten. Ich auch, fürchte ich.
»Erzählen Sie uns von den Zügen und Flugzeugen«, sagt Peri.
»Nun, Staunton besorgte sich Statistiken über mehr als fünfzig Flugzeugabstürze seit 1925 und mehr als zweihundert Zugunglücke seit 1900. Er gab alle Daten in einen Computer ein. Im Grunde genommen verglich er drei Faktoren: die Anwesenden bei einem Ereignis, das mit einer Katastrophe endete, die ums Leben Gekommenen und die Kapazität des Fahrzeugs.«
»Ich verstehe nicht, was er beweisen wollte«, sagte Stu.
»Um das zu verstehen, muß man auch wissen, daß er eine zweite Datenfolge in den Computer eingegeben hat - diesmal dieselbe Anzahl Passagiere, Züge und Flugzeuge, die nicht Opfer einer Katastrophe wurden.«
Mark nickte. »Eine Kontrollgruppe und eine Experimentiergruppe. Klingt hieb- und stichfest.«
»Was er herausfand, war ziemlich einfach, aber in seiner Bedeutung umwerfend. Eine Schande, daß man so viele Umwege in Kauf nehmen muß, um die zugrundeliegenden statistischen Fakten herauszubekommen.«
»Was für Fakten?« fragte ich.
»Voll besetzten Zügen und Flugzeugen stößt selten ein Unglück zu.«
»Ach, verdammte SCHEISSE!« schreit Harold beinahe.
»Ganz und gar nicht«, sagt Glen ruhig. »Das war Stauntons Theorie, und der Computer hat sie bestätigt. Wenn einem Zug oder Flugzeug ein Unglück zustößt, ist die Passagierkapazität zu einundsechzig Prozent ausgelastet. Tritt keine Katastrophe ein, beträgt die Auslastung sechsundsiebzig Prozent. Das macht einen Unterschied von fünfzehn Prozent bei einem ausgedehnten Computerexperiment, und eine so starke Abweichung ist signifikant. Staunton weist darauf hin, daß statistisch gesehen schon eine Abweichung von drei Prozent signifikant wäre, und er hat recht. Aber fünfzehn Prozent ist eine Anomalie so groß wie Texas. Staunton hat daraus abgeleitet, daß die Leute wissen, welche Flugzeuge und Züge verunglücken werden... daß sie unterbewußt die Zukunft vorhersehen.
Tante Sally bekommt Magenschmerzen, bevor Flug 61 von Chicago nach San Diego startet. Und wenn das Flugzeug über der Wüste von Nevada abstürzt, sagt jeder: >Oh, Tante Sally, diese Magenschmerzen waren ein Geschenk Gottes.< Aber bevor James Staunton seine Studie erstellte, war keinem bewußt, daß es sich in Wahrheit um dreißig Menschen mit Magenschmerzen handelte... oder Kopfschmerzen... oder einfach nur dem komischen Gefühl in den Beinen, das man hat, wenn der Körper dem Kopf sagen will, dass etwas total schiefgehen wird.«
»Das kann ich einfach nicht glauben«, sagt Harold und schüttelt verdrossen den Kopf.
»Paßt auf«, sagte Glen, »etwa eine Woche, nachdem ich Stauntons Artikel zum ersten Mal gelesen hatte, ist ein Flugzeug von Majestic Airlines auf dem Flughafen von Logan abgestürzt. Alle Passagiere und Besatzungsmitglieder kamen ums Leben. Nachdem sich die Aufregung etwas gelegt hatte, habe ich das Büro von Majestic in Logan angerufen. Ich habe ihnen gesagt, ich wäre Reporter vom Manchester Union-Leader, eine kleine Notlüge für einen guten Zweck. Ich sagte ihnen, wir würden für eine Serie über Flugzeugunglücke recherchieren und wollte wissen, ob sie mir sagen konnten, wie viele Passagiere den Unglücksflug nicht angetreten hatten. Der Mann schien überrascht, denn er sagte mir, darüber hätte sich das Personal auch unterhalten. Die Zahl war sechzehn. Sechzehn Passagiere waren nicht erschienen. Ich fragte den Mann nach der Zahl der durchschnittlichen Rücktritte bei Flügen von Denver nach Boston, und er sagte, es wären drei.«
»Drei«, sagte Perion erstaunt.
»Richtig. Aber der Mann ging noch weiter. Er sagte auch, es wären fünfzehn Stornierungen eingegangen, der Durchschnitt wäre acht. Die Schlagzeile lautete zwar: 94 MENSCHEN KOMMEN BEI FLUGZEUGABSTURZ IN LOGAN UMS LEBEN, aber sie hätte auch lauten können: 35 ENTGEHEN TOD BEI FLUGZEUGABSTURZ IN LOGAN.«
Nun, es wurde noch viel über übersinnliche Phänomene geredet, aber wir entfernten uns immer weiter vom Thema unserer Träume und ob sie vom Großen Vater im Himmel kommen oder nicht. Nachdem Harold stocksauer unsere Runde verlassen hatte, wandte sich Stu an Glen: »Wenn wir alle übersinnliche Fähigkeiten entwickeln, wie kommt es dann, daß wir nicht wissen, wann ein Geliebter gestorben ist oder unser Haus gerade von einem Tornado weggerissen wurde, oder so was?«
»Es gibt Fälle, wo genau das passiert ist«, sagte Glen, »aber ich muß zugeben, sie sind bei weitem nicht so verbreitet... oder mit einem Computer so leicht zu beweisen. Eine interessante Frage übrigens. Ich habe eine Theorie... «
(Hat er das nicht immer, liebes Tagebuch?)
».. .daß das etwas mit der Evolution zu tun hat. Ihr wißt schon, die Vorfahren der frühmenschlichen Formen hatten Schwänze, waren am ganzen Körper behaart, und ihre Sinne waren viel besser ausgebildet als unsere. Warum haben wir das alles nicht mehr? Schnell, Stu! Das ist Ihre Chance, Klassenprimus zu werden, mit Doktorhut und allem drum und dran.«
»Na, aus demselben Grund, warum die Leute beim Autofahren keine Schutzbrillen und Lederkappen mehr tragen müssen. Manchmal wird etwas überflüssig. Einmal kommt der Punkt, da braucht man irgendwas nicht mehr.«
»Genau. Und was hat es für einen Sinn, eine übersinnliche Begabung zu haben, die in praktischer Hinsicht nutzlos ist? Was würde es dir nützen, wenn du im Büro sitzt und plötzlich weißt, dass deine Frau auf dem Heimweg vom Einkauf einen Autounfall hatte und ums Leben kam? Jemand wird dich anrufen und es dir sagen, stimmt's? Die übersinnliche Begabung, falls unsere Vorfahren sie je hatten, könnte verkümmert sein, könnte den Weg unserer Schwänze und Pelze gegangen sein.
Was mich an unseren Träumen interessiert«, fuhr er fort, »ist die Tatsache, daß sie auf einen künftigen Kampf hinzudeuten scheinen. Wir bekommen unscharfe Bilder eines Protagonisten... und eines Gegenspielers. Eines Widersachers, wenn ihr so wollt. Wenn das zutrifft, wäre es so, als hätten wir einen Flug gebucht, stünden vor der Maschine... und haben plötzlich Bauchweh. Wir bekommen möglicherweise die Mittel, mit denen wir unsere eigene Zukunft formen können. Eine Art vierdimensionalen freien Willen: die Chance, uns vor dem Eintritt der Ereignisse zu entscheiden.«
»Aber wir wissen nicht, was die Träume bedeuten«, sagte ich.
»Nein, das wissen wir nicht. Aber vielleicht erfahren wir es. Ich weiss nicht, ob das kleine Rinnsal übersinnlicher Wahrnehmung bedeutet, daß wir göttlicher Herkunft sind. Viele Menschen nehmen das Wunder des Augenblicks als gegeben hin, ohne darin einen Beweis für die Existenz Gottes zu sehen, und zu denen gehöre ich auch; aber ich glaube auch, daß diese Träume eine konstruktive Kraft sind, obwohl sie uns angst machen. Deswegen habe ich Zweifel, was das Veronal betrifft. Die Pillen zu schlucken ist etwa so, als würde man Pepto-Bismol einnehmen, um den Magen zu beruhigen, und dann trotzdem in das Flugzeug einzusteigen.«
Zur Erinnerung: Rezession, Verknappung, den Ford Growler, der auf dem Highway mit knapp vier Litern Sprit sechzig Meilen weit fahren konnte. Das Wunderauto. Das reicht; ich höre auf. Wenn ich mich nicht kürzer fasse, wird dieses Tagebuch länger als Vom Winde verweht, noch ehe der Einsame Reiter eintrifft (aber bitte nicht auf einem weißen Pferd namens Silver). Ach ja, noch etwas, das man nicht vergessen sollte. Edgar Cayce. Ihn kann ich nicht vergessen. Er hat angeblich in seinen Träumen die Zukunft gesehen.
16. Juli 1990
Nur zwei Anmerkungen, beide zu den Träumen (siehe Eintrag von vor zwei Tagen). Erstens: Glen Bateman war die beiden vergangenen Tage sehr blaß und still, und ich habe gesehen, daß er heute abend eine besonders hohe Dosis Veronal genommen hat. Ich vermute, er hat die Tabletten vorher nicht geschluckt und darum ein paar SEHR SCHLIMME Träume gehabt. Das beunruhigt mich. Wenn ich nur wüßte, wie ich ihn darauf ansprechen soll, aber mir fällt nichts ein.
Zweitens: Meine eigenen Träume. Vorgestern nacht nichts (die Nacht nach unserer Diskussion); ich habe geschlafen wie ein Baby und kann mich an nichts erinnern. Gestern nacht habe ich zum ersten Mal von der alten Frau geträumt. Habe dem, was bereits gesagt worden ist, nichts hinzuzufügen, außer vielleicht, daß sie eine Aura des FREUNDLICHEN, des GÜTIGEN ausstrahlt. Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum Stu trotz Harolds Sarkasmus nach Nebraska wollte. Ich bin heute morgen durch und durch erfrischt aufgewacht und habe mir gedacht, wenn wir zu dieser alten Frau gehen könnten, Mutter Abagail, dann würde alles gut werden. Ich hoffe, sie ist wirklich dort. (Ich bin übrigens ziemlich sicher, daß der Name der Stadt Hemingford Home ist.)
Zur Erinnerung: Mutter Abagail!