74
Als der Tag anbrach, erwachte Stu aus einem unruhigen Schlaf und lag zitternd da, obwohl Kojak sich neben ihm zusammengerollt hatte. Der Morgenhimmel war von kalter Bläue, aber trotz des Frösteins war ihm heiß. Er hatte Fieber.
»Krank«, murmelte er, und Kojak äugte zu ihm hoch. Er wedelte mit dem Schwanz und trottete hinunter zur Wasserrinne. Er kam mit einem abgestorbenen Ast im Maul zurück und ließ ihn vor Stus Füße fallen.
»Vielleicht hast du recht, alter Junge«, sagte er und schickte Kojak wieder aus, weiter Holz zu holen. Bald flackerte das Feuer wieder auf, aber auch als er sich nahe heransetzte, konnte er das Frösteln nicht vertreiben. Dabei lief ihm der Schweiß von der Stirn. Das war der Gipfel der Ironie: Er hatte die Grippe oder etwas Ähnliches. Zwei Tage nachdem Glen, Larry und Ralph ihn verlassen hatten, war er krank geworden. Zwei Tage lang hatte es sich die Grippe dann noch überlegt, ob er es wert war, daß sie ihn holte. Offensichtlich war er es, denn sein Zustand hatte sich ganz allmählich verschlechtert. Und an diesem Morgen fühlte er sich sehr schlecht.
Unter den verschiedenen Kleinigkeiten in seinen Taschen fand er einen Bleistiftstummel, sein Notizbuch (diese organisatorischen Dinge, die in Boulder so wichtig gewesen waren, wirkten hier albern, gelinde gesagt) und seinen Schlüsselbund. Er hatte sich immer wieder mit seinem Schlüsselbund beschäftigt und sich gewundert, wie sehr das Heimweh und die Sehnsucht ihn quälten und wie traurig sie ihn machten. Dies war sein Wohnungsschlüssel. Dies war der Schlüssel zu seinem Schrank. Dieser war der schon arg verrostete Ersatzschlüssel für seinen 1972er Dodge - soviel er wußte, parkte der Wagen immer noch hinter dem Haus 31 Thompson Street, in dem er in Arnette gewohnt hatte.
An dem Schlüsselbund hing außerdem eine in einer Plastikhülle steckende Karte mit seiner Adresse: STU REDMAN - 3I THOMPSON STREET - PH (713) 941-6283. Er zog die Schlüssel vom Ring, liess sie einen Moment gedankenversunken auf der Handfläche hüpfen, und warf sie dann fort. Das letzte, was an den Mann erinnerte, der er einst gewesen war, verschwand in der Auswaschung und landete klirrend in einem vertrockneten Salbeibusch, wo es, wie Stu annahm, bis zum Ende aller Zeiten liegenbleiben würde. Dann zog er die Karte aus der Hülle und riß einen leeren Zettel aus seinem Notizbuch.
Liebe Frannie, schrieb er oben an den Rand.
Er berichtete ihr alles, was sie erlebt hatten, bevor er sich das Bein brach. Er schrieb, daß er hoffte, sie wiederzusehen, aber nicht recht daran glaube. Er könne nur hoffen, daß wenigstens Kojak nach Boulder zurückfinden werde. Zerstreut wischte er sich mit der Hand die Tränen aus den Augen und schrieb, daß er sie liebe. Ich erwarte, daß Du um mich trauerst und dann weitermachst, schrieb er. Du und das Baby, ihr müßt weitermachen. Das ist jetzt das wichtigste. Er unterschrieb, faltete den Zettel zusammen und steckte ihn mit der Karte wieder in die Hülle. Dann befestigte er die Plastikhülle mit Hilfe des Rings an Kojaks Halsband.
»Braver Hund«, sagte er, als er damit fertig war. »Bist du so nett und schnüffelst mal ein bißchen in der Gegend rum? Holst du uns ein Kaninchen oder so was?«
Kojak sprang den Hang hinauf, an dem Stu sich das Bein gebrochen hatte, und war verschwunden. Stu beobachtete seine Klettertour mit einer Mischung aus Bitterkeit und Belustigung; dann nahm er die leere 7-Up-Dose, die Kojak ihm einmal statt eines Astes gebracht hatte. Er hatte sie mit schlammigem Wasser aus dem Graben gefüllt.
Wenn das Wasser längere Zeit stand, sank der Schlamm auf den Boden. Es war zwar ein scheußliches Getränk, aber, wie seine Mutter gesagt hätte, ein scheußliches Getränk ist besser als gar keins. Er trank ganz langsam und stillte seinen Durst Schluck für Schluck. Dabei tat ihm der Hals weh.
»Das Leben ist eins der schwersten«, murmelte er, und dann mußte er über sich selbst lachen. Kurz betastete er die Schwellungen ganz oben am Hals, knapp unter dem Kieferknochen. Dann legte er sich zurück, das geschiente Bein vor ihm, und döste vor sich hin.
Eine Stunde später schrak er hoch und griff in seiner Panik mit den Händen in den Sand. Ein Alptraum? Das mußte es wohl sein, denn der Boden bewegte sich langsam unter seinen Händen.
Ein Erdbeben? Wie konnte es hier ein Erdbeben geben?
Einen Augenblick lang glaubte er schon, er sei im Delirium. Vielleicht hatte er, während er schlief, wieder Fieber bekommen. Aber als er zu der Wasserrinne hinuntersah, sah er den Schlamm in kleinen Brocken in das Wasser rutschen. Seine erstaunten Augen sahen in den hüpfenden, tanzenden Steinen Glimmer und Quarzstücke blinken. Dann hörte er ein schwaches, dumpfes Geräusch - es schien in seine Ohren hineinzustoßen. Ein paar Sekunden später rang er nach Atem, als würde alle Luft aus der Rinne hinausgeschoben, die das Hochwasser gewühlt hatte.
Über sich hörte er ein Jaulen. Kojak war als Silhouette oben am westlichen Hang des Einschnitts zu sehen. Er hatte sich hingekauert, den Schwanz zwischen den Beinen, und starrte nach Westen in Richtung Nevada.
»Kojak!« Vor Angst schrie Stu übermäßig laut. Das dumpfe Geräusch hatte ihn beunruhigt - es war, als habe irgendwo in nicht allzu großer Entfernung Gott mit dem Fuß auf den Wüstenboden gestampft.
Kojak sprang den Hang hinunter und kam winselnd herbei. Als er Kojak mit der Hand über den Rücken fuhr, fühlte er, wie der Hund zitterte. Er mußte nachsehen. Er mußte. Ein plötzliches Gefühl der Gewißheit überkam ihn: Das, was hatte geschehen sollen, war geschehen. In diesem Moment.
»Ich gehe nach oben, alter Junge«, murmelte Stu.
Er kroch zum östlichen Hang hinüber. Er war zwar steiler, aber dort hatte man den besseren Halt. Er hatte in den letzten Tagen überlegt, ob es ihm wohl gelingen würde, hinaufzuklettern, aber dann war es ihm wenig sinnvoll erschienen. Hier unten konnte er sich vor dem Wind schützen. Aber jetzt mußte er hinauf. Er mußte Ausschau halten. Er zog sein geschientes Bein hinter sich her wie eine Keule.
Er stützte sich auf die Hände und schaute nach oben. Der Hang sah sehr hoch aus, das Ziel sehr weit entfernt.
»Das schaffe ich nicht«, murmelte er, aber er versuchte es trotzdem. Ein neuer Haufen Geröll hatte sich unten aufgetürmt. Durch das... das Erdbeben. Oder was es auch gewesen sein mochte. Stu kroch über den Geröllhaufen hinweg und arbeitete sich Zoll für Zoll den Hang hinauf. Er schaffte knapp zwölf Meter und rutschte dann wieder sechs Meter nach unten, weil es ihm nicht gelang, sich rechtzeitig an einem vorspringenden Stück Quarz festzuhalten.
»Nein, es geht nicht«, ächzte er und ruhte sich ein wenig aus. Zehn Minuten später versuchte er es erneut. Er erreichte eine Stelle, wo er keinen Halt fand, und mußte nach links kriechen. Kojak war mitgekommen und wunderte sich vermutlich, warum dieser Narr sein Wasser und sein warmes Feuer verlassen hatte.
Warm. Zu warm.
Das Fieber mußte wiedergekommen sein. Aber wenigstens zitterte er nicht mehr. Frischer Schweiß lief ihm über Gesicht und Arme. Sein staubiges und fettiges Haar hing ihm in die Augen.
Mein Gott, ich verbrenne! Muß achtunddreißig, neununddreißig Grad...
Er schaute zufällig Kojak an. Es dauerte eine Minute, bis er begriff, was er gesehen hatte. Kojak hechelte. Es war kein Fieber, oder nicht einfach Fieber, denn Kojak fühlte sich ebenfalls heiß. Über ihm zog ein Schwärm Vögel vorbei, kreischend, ziellos, mit wildem Flügellschlag.
Sie spüren es auch. Was immer es sein mag, die Vögel spüren es auch.
Er kroch weiter, und die Angst verlieh ihm zusätzliche Kräfte. Er kämpfte um jeden Zoll. Gegen ein Uhr nachmittags war er nur noch ungefähr zwei Meter von der oberen Kante entfernt. Er sah oben schon die Straßentrümmer. Nur zwei Meter, aber der Hang war hier besonders steil. Einmal versuchte er weiterzuklettern, indem er sich wie eine Vipernatter wand und krümmte, aber das Geröll, aus dem das Straßenbett bestand, gab überall nach. Wenn er weiterstieg, würde er höchstens den Abhang wieder hinunterrutschen und sich womöglich auch noch das andere Bein brechen.
»Ich stecke fest«, murmelte er. »Na, großartig. Und was jetzt?«
Und was jetzt, wurde ihm sehr schnell deutlich. Auch ohne daß er herumkroch, bewegte sich der Boden unter ihm, und er rutschte ein Stück ab. Er versuchte, sich festzukrallen. In seinem gebrochenen Bein klopfte es, und er hatte vergessen, Glens Pillen einzustecken.
Er glitt noch zwei Zoll nach unten. Dann fünf. Plötzlich hing sein linker Fuß frei im Raum. Er hielt sich nur noch mit den Händen fest und begann abzurutschen. Seine Finger zogen zehn kleine Furchen in den feuchten Boden.
»Kojak!« schrie er verzweifelt und versprach sich nichts davon. Aber plötzlich war Kojak da. Blind legte Stu ihm die Arme um den Hals. Er erwartete keine Rettung, er hatte, wie ein Ertrinkender, ganz einfach nach irgend etwas gegriffen. Kojak versuchte nicht, sich von ihm zu lösen. Er stemmte sich mit den Pfoten in den Boden. Ein paar Sekunden lang hingen sie erstarrt wie lebende Skulpturen. Dann begann Kojak sich zu bewegen. Er versuchte, nach oben zu kommen. Seine Pfoten traten Erdbrocken und Geröll los, und Steine flogen Stu ins Gesicht. Er schloß die Augen. Kojak zog ihn nach oben und keuchte dabei neben Stus rechtem Ohr wie ein Kompressor.
Stu öffnete die Augen wieder und sah, daß sie fast oben waren. Kojak hielt den Kopf gesenkt. Seine Hinterbeine arbeiteten mit aller Kraft. Er schaffte noch ein paar Zoll, und das reichte. Mit einem verzweifelten Schrei ließ Stu Kojaks Hals los und griff nach einem vorstehenden Stück Asphalt. Es brach unter seinem Gewicht ab. Er packte einen zweiten Zacken. Zwei Fingernägel lösten sich langsam, wie feuchte Abziehbilder, und er schrie laut auf. Die Schmerzen waren gemein. Er stieß sich mit seinem gesunden Bein ab, wühlte sich mit verzweifelter Wut hinauf, und endlich - irgendwie - lag er keuchend und mit geschlossenen Augen auf der Straßendecke der 1-70.
Kojak tauchte neben ihm auf, winselte und leckte ihm das Gesicht. Ganz langsam richtete Stu sich auf und blickte nach Westen. Er schaute lange Zeit und dachte nicht mehr an die Hitze, die ihm immer noch in dichten, warmen Wellen ins Gesicht wehte.
»Oh, mein Gott«, sagte er endlich leise und mit brüchiger Stimme.
»Sieh dir das an, Kojak. Larry. Glen. Sie sind weg. Mein Gott, alles ist weg. Alles weg.«
Die pilzförmige Wolke stand am Horizont wie eine geballte Faust an einem langen staubigen Unterarm. Mit zerfransten Rändern stieg sie wirbelnd in die Höhe und begann sich aufzulösen. Hinter ihr sah Stu ein dunkles Orangerot, als hätte die Sonne beschlossen, schon am frühen Nachmittag unterzugehen.
Der Feuersturm, dachte er.
In Las Vegas mußten jetzt alle tot sein. Jemand mußte irgendwo irgendwie Scheiße gebaut haben, und ein nuklearer Sprengkopf war detoniert... und nach dem Anblick und nach seinem Gefühl zu urteilen ein verdammt großer. Vielleicht war ein ganzes Arsenal hochgegangen. Glen, Larry, Ralph... selbst wenn sie Vegas noch nicht erreicht hatten, mußten sie nahe genug gewesen sein, um lebendig gebacken zu werden.
Dicht neben ihm winselte Kojak kläglich.
Der Fallout. In welche Richtung wird der Wind ihn treiben? Spielte das eine Rolle?
Er dachte an die Nachricht für Frannie. Es war wichtig, daß er hinzufügte, was passiert war. Wenn der Wind den radioaktiven Fallout nach Osten wehte, könnte es dort drüben problematisch werden... wichtiger noch, wenn Las Vegas der Tummelplatz des dunklen Mannes gewesen war, dann mußten sie in Boulder erfahren, daß Vegas nicht mehr existierte. Die Leute waren verdampft, mitsamt dem tödlichen Spielzeug, das dort überall herumlag und nur darauf wartete, daß jemand es mitnahm. Das alles mußte er noch auf den Zettel schreiben.
Aber nicht jetzt. Er war jetzt zu müde. Der Aufstieg hatte ihn erschöpft, und der Anblick der sich auflösenden Pilzwolke hatte ihn sogar noch mehr erschöpft. Er empfand nicht die geringste Freude, sondern nur eine dumpfe Müdigkeit. Er legte sich auf die Straße, und sein letzter Gedanke, bevor er einschlief, war: Wie viele Megatonnen? Aber das würde wahrscheinlich nie jemand erfahren oder erfahren wollen.
Er erwachte nach sechs Uhr. Die Pilzwolke war verschwunden, aber der Himmel im Westen war in ein zorniges Rosarot getaucht und sah aus wie eine große Brandwunde. Stu kroch zur Standspur hinüber und streckte sich aus. Er war schon wieder erschöpft. Er hatte auch wieder Schüttelfrost. Und Fieber. Mit dem Handgelenk berührte er die Stirn und versuchte, die Körpertemperatur zu schätzen. Nach seiner Vermutung betrug sie satte neununddreißig Grad. Kojak kam am frühen Abend mit einem Kaninchen im Maul zurück. Er legte es neben Stus Füße, wedelte mit dem Schwanz und wartete darauf, gelobt zu werden.
»Braver Hund«, sagte Stu müde. »Du bist ein braver Hund.«
Kojaks Schwanz bewegte sich noch schneller. Ja. Ich bin ein ganz schön braver Hund, schien er damit seine Zustimmung kundzutun. Aber er beäugte Stu weiter und schien auf etwas zu warten. Ein Teil des Rituals war unvollständig. Stu überlegte, was es sein könnte. Sein Gehirn funktionierte im Augenblick nur langsam. Jemand schien ihm, während er schlief, Melasse ins Getriebe geschüttet zu haben.
»Braver Hund«, wiederholte er und betrachtete das tote Kaninchen. Dann wußte er es, wenn er auch keine Ahnung hatte, ob er noch Streichhölzer besaß. »Hol, Kojak«, sagte er, hauptsächlich, um dem Hund eine Freude zu machen. Kojak sprang davon und kam mit einem großen trockenen Stück Holz zurück.
Er hatte seine Streichhölzer noch, aber der Wind wehte ziemlich stark und seine Hände zitterten. Es dauerte einige Zeit, bis das Feuer brannte. Die Späne brannten erst beim zehnten Streichholz, und dann blies der Wind die Flammen wieder aus. Vorsichtig zündete er es erneut an und hielt mit Körper und Händen den Wind ab. Er hatte jetzt noch acht Streichhölzer in einem Heftchen der LaSalle Business School. Er briet das Kaninchen und gab Kojak die Hälfte. Aber er schaffte seine Portion nicht und gab Kojak auch noch das restliche Fleisch. Kojak rührte es nicht an. Er betrachtete es und winselte Stu unruhig an.
»Los doch, Junge, ich kann nicht mehr.«
Jetzt erst fraß Kojak weiter. Stu beobachtete ihn, von Kälteschauern geschüttelt. Seine beiden Wolldecken lagen natürlich unten am Fuss des Hanges.
Die Sonne ging unter, und der westliche Himmel war von einer grotesken Färbung. Es war der spektakulärste Sonnenuntergang, den Stu in seinem Leben gesehen hatte... und es war Gift. Er konnte sich an den Berichterstatter in einer Movie-Tone-Wochenschau in den Fünfzigern erinnern, der einmal begeistert gesagt hatte, dass nach einer Atombombenexplosion die Sonnenuntergänge wochenlang immer besonders schön seien. Und nach Erdbeben, natürlich.
Kojak kam den Hang heraufgesprungen und trug etwas im Maul. Er ließ es Stu auf den Schoß fallen. Es war eine von Stus Wolldecken.
»He«, sagte Stu und umarmte ihn. »Du bist aber ein feiner Hund, weißt du das?«
Kojak wedelte mit dem Schwanz, um zu zeigen, daß er es wußte. Stu wickelte sich in die Wolldecke und legte sich näher ans Feuer. Kojak legte sich wieder neben ihn, und bald schliefen sie beide. Aber Stus Schlaf war leicht und unruhig. Immer wieder hatte er Fieberträume. Kurz nach Mitternacht weckte er Kojak, der im Schlaf wimmerte.
»Hap!« schrie Stu. »Stell lieber deine Pumpen ab! Er kommt! Der schwarze Mann kommt und holt dich! Stell lieber deine Pumpen ab!
Er ist in dem alten Auto da drüben!«
Kojak winselte beunruhigt. Der Mann war krank. Er konnte die Krankheit riechen. Und in diesen Geruch mischte sich ein neuer Geruch. Es war der Geruch der Kaninchen, die er gefangen hatte. Der Geruch war auch an dem Wolf gewesen, dem er die Eingeweide herausgerissen hatte, als er in Hemingford Home unter Mutter Abagails Veranda saß. Der Geruch war in den Städten gewesen, durch die er auf dem Weg nach Boulder und zu Glen Bateman gekommen war. Es war der Geruch des Todes. Wenn es nur möglich wäre, ihn anzugreifen und aus dem Mann herauszujagen, dann hätte er es getan. Aber der Geruch steckte in dem Mann. Der Mann atmete gute Luft und strömte den Geruch des nahenden Todes aus, und man konnte nichts tun als abwarten und es bis zum Ende durchstehen. Kojak jaulte noch einmal leise und schlief dann ein. Als Stu am nächsten Morgen aufwachte, war sein Fieber noch schlimmer geworden. Die Drüsen unter seinem Kinn waren zu der Größe von Golfbällen geschwollen. Seine Augen waren heiße Glasmurmeln.
Ich sterbe... ja, das steht fest.
Er rief Kojak heran und nahm die Nachricht an Frannie aus der Plastikhülle, die Kojak an seinem Halsband trug. In sorgfältiger Druckschrift notierte er, was er gesehen hatte, und steckte den Zettel wieder zurück. Er legte sich wieder hin und schlief. Und irgendwie war es dann schon fast wieder dunkel. Ein weiterer schrecklicher Sonnenuntergang glühte zuckend am westlichen Himmel. Und Kojak hatte zum Abendessen einen Ziesel gefangen.
»Nicht dein bester Tag heute, was?« sagte Stu.
Kojak wedelte mit dem Schwanz und grinste verschämt. Stu briet das Tier, teilte es auf und aß seine ganze Hälfte. Das Fleisch war zäh und hatte einen entsetzlichen Wildgeschmack, und als er gegessen hatte, bekam er Magenkrämpfe.
»Wenn ich sterbe, mußt du zurück nach Boulder laufen«, sagte er zu dem Hund. »Du läufst zurück und suchst Fran. Such Frannie. Okay, du dicker alter dummer Hund?«
Kojak wedelte pessimistisch mit dem Schwanz.
Eine Stunde später schlug Stus Magen urplötzlich Alarm durch lautes Rumoren. Stu hatte gerade noch Zeit, sich auf die Seite zu rollen und auf einem Ellenbogen abzustützen, um sich nicht mit seiner Portion Ziesel zu bekleckern, die er keuchend und würgend erbrach.
»Scheiße«, murmelte er mürrisch, legte sich zurück und döste ein. Er wachte frühmorgens auf und stützte sich auf die Ellenbogen. Sein Kopf summte vor Fieber. Er sah, daß das Feuer erloschen war. Es spielte keine Rolle. Er war ziemlich erledigt.
Irgendein Geräusch in der Dunkelheit hatte ihn geweckt. Kiesel und Geröll. Kojak war wieder den Hang hinaufgesprungen. Das war der Grund. Weiter nichts...
Aber Kojak lag neben ihm und schlief.
Kaum hatte Stu dies mit einem raschen Blick festgestellt, wachte Kojak schon auf. Er hob den Kopf von den Pfoten und war sofort auf den Beinen. Er wandte sich zum Hang und knurrte tief in der Kehle. Wieder prasselten Steine. Irgend jemand - irgend etwas - kam dort herauf.
Stu richtete sich mit Mühe auf. Das ist er, dachte er. Er war drüben, aber irgendwie ist er entkommen. Und jetzt ist er hier, um mich zu erledigen, bevor die Grippe es tut.
Kojak knurrte jetzt lauter. Seine Nackenhaare standen aufrecht, und er hielt den Kopf gesenkt. Stu hörte ein leises keuchendes Geräusch. Dann war einen Augenblick lang nichts zu vernehmen, und Stu konnte sich rasch den Schweiß von der Stirn wischen. Sekunden später tauchte am Abhang eine dunkle Gestalt auf, die mit Kopf und Schultern die Sterne verdeckte.
Mit steifen Beinen und wütendem Knurren ging Kojak auf die Gestalt zu.
»He«, rief eine erstaunte, aber bekannte Stimme. »He, ist das Kojak? Ist er das wirklich?«
Das Knurren verstummte abrupt. Schwanzwedelnd rannte Kojak auf die Gestalt zu.
»Nein!« krächzte Stu. »Es ist ein Trick! Kojak...!«
Aber Kojak sprang die Gestalt an, die inzwischen auf der Straße stand. Und die Gestalt... irgend etwas an dieser Gestalt kam Stu ebenso vertraut vor wie die Stimme. Sie kam auf ihn zu, und Kojak ging neben ihr. Der Hund ließ ein freudiges Gebell hören. Stu leckte die Lippen und richtete sich auf einen Kampf ein, falls das nötig werden sollte. Er würde immer noch einen vernünftigen Schlag anbringen können. Vielleicht sogar zwei.
»Wer ist da?« rief er. »Wer sind Sie?«
Die dunkle Gestalt blieb stehen und fing an zu sprechen.
»Ich bin Tom Cullen, der bin ich, meine Fresse, ja. M-O-N-D, und das buchstabiert man Tom Cullen. Und wer ist das?«
»Stu«, sagte er, und seine Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Alles war jetzt in weiter Ferne. »Hallo, Tom, es ist schön, dich zu sehen.« Aber er sah ihn nicht, nicht an diesem Abend. Stu verlor das Bewußtsein.
Er wachte gegen zehn Uhr am Morgen des 2. Oktober auf, wenn auch weder Tom noch er das Datum wußten. Tom hatte ein riesiges Freudenfeuer angezündet und hatte Stu in seinen Schlafsack gesteckt und in seine eigenen Decken gewickelt. Tom selbst sass jetzt am Feuer und briet ein Kaninchen. Kojak lag zufrieden zwischen beiden auf der Erde.
»Tom«, brachte Stu mühsam hervor.
Tom ging zu ihm. Er hatte sich einen Bart stehen lassen, wie Stu jetzt bemerkte; er sah kaum noch wie der Mann aus, der vor fünf Wochen in Boulder aufgebrochen war, um in den Westen zu gehen. Seine blauen Augen leuchteten glücklich. »Stu Redman! Du bist jetzt wach, meine Fresse, ja! Junge, Junge, schön dich zu sehen. Was hast du denn mit deinem Bein gemacht? Wohl verletzt. Ist mir auch mal passiert. Bin von einem Heuhaufen gesprungen und hab' mir das Bein gebrochen. Hat mein Daddy mich wohl verprügelt? Meine Fresse, ja! Das war, bevor er mit DeeDee Packalotte abhaute.«
»Tom, ich habe entsetzlichen Durst...«
»Oh, da ist Wasser. Alle Sorten! Hier.«
Er reichte Stu eine Plastikflasche, die früher Milch enthalten haben mochte. Das Wasser war klar und schmeckte köstlich. Überhaupt kein Sand darin. Stu trank gierig und brach dann alles wieder aus.
»Langsam, langsam«, sagte Tom. »Nur so geht es. Langsam, langsam. Junge, Junge, schön dich zu sehen. Du hast dir wohl das Bein weh getan?«
»Ja. Ich habe es mir gebrochen. Vor einer Woche. Vielleicht ist es länger her.« Er trank noch einen Schluck Wasser, und diesmal spuckte er es nicht wieder aus. »Aber es ist nicht nur das Bein. Ich bin sehr krank, Tom. Fieber. Hör zu.«
»Gut! Tom hört zu. Sag mir nur, was ich tun soll.« Tom beugte sich vor, und Stu dachte: Er sieht intelligenter aus. Ist das möglich? Wo war Tom gewesen? Wußte er irgend etwas über den Richter? Über Dayna? Es gab so viele Dinge, über die man reden müßte. Aber jetzt war keine Zeit dazu. Sein Zustand verschlechterte sich. Sein Atem ging rauh und rasselnd. Die Symptome waren denen der Supergrippe ähnlich. Es war wirklich ziemlich komisch.
»Ich muß das Fieber runterkriegen«, sagte er zu Tom. »Das ist das wichtigste. Ich brauche Aspirin. Kennst du Aspirin?«
»Klar. Aspirin. Ganz, ganz schnelle Besserung.«
»Ja, das ist das Zeug. Du läufst auf der Straße weiter, Tom. Such einen Verbandskasten - höchstwahrscheinlich ist es ein Kasten mit einem roten Kreuz drauf. Wenn du in solch einem Kasten Aspirin findest, bringst du es mit. Und wenn du ein Auto mit einer CampingAusrüstung findest, bringst du ein Zelt mit. Okay?«
»Klar.« Tom stand auf. »Aspirin und ein Zelt, und dann geht es dir wieder besser, ja?«
»Das wäre wenigstens ein Anfang.«
»Sag mal«, sagte Tom, »wie geht es Nick? Ich habe von ihm geträumt. In den Träumen hat er mir gesagt, wohin ich gehen soll. In den Träumen kann er nämlich sprechen. Träume sind komisch, nicht wahr? Aber wenn ich mit ihm sprechen will, geht er immer weg. Ihm geht es doch gut, oder?« Tom sah Stu besorgt an.
»Nicht jetzt«, sagte Stu. »Ich... ich kann jetzt nicht darüber reden. Nicht darüber. Besorg mir das Aspirin, okay? Dann unterhalten wir uns.«
»Okay...« Aber Angst zog über Toms Gesicht wie eine dunkle Wolke.
»Kojak, willst du mit Tom gehen?«
Kojak wollte. Sie gingen gemeinsam in Richtung Osten. Stu legte sich hin und hielt sich einen Arm vor die Augen.
Als Stu wieder in die Wirklichkeit zurückfand, dämmerte es. Tom schüttelte ihn. »Stu! Wach auf! Wach auf, Stu!«
Die Tatsache, daß die Zeit in plötzlichen Schüben verstrich, jagte ihm Angst ein - es schien, als bewege sich das Zahnrad seiner Wahrnehmungsfähigkeit in ruckartigen, unregelmäßigen Sprüngen. Tom mußte ihm helfen, sich aufzusetzen, und als er saß, beugte er den Kopf zwischen die Beine und hustete. Er hustete so lange und heftig, daß er fast wieder in Ohnmacht gefallen wäre. Tom beobachtete ihn erschrocken. Ganz allmählich bekam Stu sich wieder in die Gewalt. Er zog die Decken fester um sich. Jetzt zitterte er wieder.
»Was hast du gefunden, Tom?«
Tom hielt ihm einen Verbandskasten hin. In dem Kasten waren Verbandszeug, Mercurochrom und eine große Flasche Anacin. Stu fand es peinlich, daß er den kindersicheren Verschluß nicht öffnen konnte. Er mußte sie Tom reichen, der sie schließlich aufkriegte. Er spülte drei Anacin mit Wasser aus der Plastikflasche hinunter.
»Und das hab' ich auch gefunden«, sagte Tom. »Es lag in einem Wagen mit Camping-Ausrüstung, aber ein Zelt war nicht dabei.« Er zeigte einen großen Doppelschlafsack, außen von fluoreszierendem Orangerot und innen mit einem lebhaften Muster aus Sternen und Balken.
»Das ist ja großartig. Es ist fast so gut wie ein Zelt. Das hast du prima gemacht, Tom.«
»Und die hier. Die lagen auch in dem Wagen.« Tom griff in seine Jackentasche und holte ein halbes Dutzend in Folie verpackte Lebensmittel hervor. Stu glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Es waren gefriergetrocknete Konzentrate. Eier, Erbsen, Kürbis, getrocknetes Rindfleisch. »Essen, nicht wahr, Stu? Jedenfalls sind Bilder von Essen darauf, meine Fresse, ja.«
»Es sind Lebensmittel«, bestätigte Stu dankbar. »Ungefähr das einzige, was ich essen kann.« Sein Kopf summte, und weit weg im Zentrum seines Gehirns hörte er ein widerwärtiges hohes C, das keine Ruhe gab. »Können wir etwas Wasser heiß machen? Wir haben keinen Kessel.«
»Ich werd' schon was finden.«
»Ja, gut.«
»Stu...«
Stu blickte wieder in dieses besorgte traurige Gesicht, trotz des Bartes immer noch das Gesicht eines Jungen. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Tot, Tom«, sagte er leise. »Nick ist tot. Vor ungefähr einem Monat. Es war eine... eine politische Sache. Man könnte es wohl ein Attentat nennen. Es tut mir so leid.«
Tom ließ den Kopf hängen, und im Schein des neu angefachten Feuers sah Stu, daß Tom die Tränen von den Wangen liefen und auf seinen Schoß fielen, wie ein sanfter, silberner Regen. Schließlich blickte er auf, und seine blauen Augen waren heller als je zuvor. Er wischte sich die Tränen mit der Hand ab.
»Ich wußte es«, sagte er heiser. »Ich wollte nicht dran denken, dass ich es wußte, aber ich hab' es gewußt. Meine Fresse, ja. Er hat mir immer den Rücken zugedreht und ist fortgegangen. Er war mein bester Freund, Stu - wußtest du das?«
Stu streckte den Arm aus und ergriff Toms riesige Pranke. »Das wußte ich, Tom.«
»Ja, war er, M-O-N-D und das buchstabiert man bester Freund. Tom vermißt ihn schrecklich. Aber im Himmel seh' ich ihn wieder. Dort wird Tom Cullen ihn sehen. Und er wird sprechen können, und ich werde denken können. Stimmt doch, oder?«
»Das würde mich nicht überraschen, Tom.«
»Der böse Mann hat Nick getötet. Tom weiß es. Aber Gott hat den bösen Mann bestraft. Ich habe es gesehen. Die Hand Gottes ist aus dem Himmel gekommen.« Ein kalter Wind fegte über die Wüste von Utah, und Stu zitterte heftig. »Bestraft für das, was er Nick und dem armen Richter angetan hat. Meine Fresse, ja.«
»Was weißt du über den Richter, Tom?«
»Tot! Oben in Oregon! Erschossen!«
Stu nickte müde. »Und Dayna? Weißt du irgend etwas über sie?«
»Tom hat sie gesehen, aber er weiß nichts. Sie haben mir einen Reinigungsjob gegeben. Und als ich eines Tages zurückkam, sah ich, wie sie ihre Arbeit machte. Sie war oben in der Luft und wechselte die Birnen in den Straßenlampen aus. Sie sah mich an und...« Er schwieg eine Weile, als er fortfuhr, sprach er mehr zu sich selbst als zu Stu. »Hat sie Tom gesehen? Hat sie Tom erkannt? Tom weiß es nicht. Tom... glaubt... daß sie ihn gesehen hat. Aber Tom hat sie nie wiedergesehen.«
Bald darauf gingen Tom und Kojak, um mehr Lebensmittel zu besorgen, und Stu nickte ein. Als Tom zurückkam, hatte er keine Blechdose, wie Stu allenfalls gehofft hatte, sondern einen Schmortopf, der groß genug war für einen Weihnachts-Truthahn. Offensichtlich gab es Schätze dort draußen in der Wüste. Trotz der schmerzhaften Fieberpusteln, die sich an seinen Lippen gebildet hatten, mußte Stu grinsen. Tom erzählte ihm, er habe den Topf auf einem großen orangefarbenen Lastwagen, auf den ein großes U gemalt war, gefunden - wahrscheinlich gehörte er jemandem, der der Supergrippe mit seinem ganzen Hausrat hatte entfliehen wollen. Hatte sich wirklich für ihn ausgezahlt.
Eine halbe Stunde später gab es etwas zu essen. Stu aß vorsichtig und hielt sich an das Gemüse. Er goß genügend Wasser über die Konzentrate, um einen dünnen Brei herstellen zu können. Er behielt alles im Magen und fühlte sich ein wenig besser, wenigstens fürs erste. Kurz nach dem Essen gingen Tom und er schlafen, und Kojak lag zwischen ihnen.
»Hör mal zu, Tom.«
Tom hockte sich neben Stus dicken flauschigen Schlafsack. Es war am nächsten Morgen. Zum Frühstück hatte Stu nur sehr wenig essen können; sein Hals schmerzte und war stark angeschwollen, und alle Gelenke taten ihm weh. Der Husten war schlimmer geworden, und das Fieber war durch das Anacin noch nicht sonderlich zurückgegangen.
»Ich muß mir Medizin beschaffen, oder ich muß sterben. Und ich muß sie mir noch heute beschaffen. Die nächste Stadt ist Green River, und das liegt sechzig Meilen östlich von hier. Wir brauchen einen Wagen.«
»Tom Cullen kann keinen Wagen fahren, Stu. Meine Fresse, nein!«
»Ja. Ich weiß. Und für mich wird das verdammt schwer, denn ich bin nicht nur krank wie ein Hund, ich habe mir auch noch das falsche beschissene Bein gebrochen.«
»Was meinst du damit?«
»Na ja... spielt jetzt keine Rolle. Es ist zu schwierig, um es zu erklären. Wir werden uns ganz einfach nicht darum kümmern, denn das ist nicht unser erstes Problem. Unser erstes Problem ist, einen Wagen überhaupt zu starten. Die meisten stehen drei Monate oder länger hier herum. Die Batterien sind wahrscheinlich alle so platt wie Pfannkuchen. Wir brauchen also ein bißchen Glück. Wir müssen einen liegengebliebenen Wagen mit Gangschaltung finden, der auf einem Hügel steht. Das könnten wir schaffen, es ist ja eine ziemlich hügelige Gegend.« Er sagte nicht, daß die Zündung einigermaßen eingestellt sein müßte und daß Benzin da sein mußte... vom Zündschlüssel ganz zu schweigen. Die Kerle in den Fernsehfilmen mochten wissen, wie man einen Wagen kurzschließt, aber Stu hatte nicht die geringste Ahnung.
Er blickte zum Himmel hinauf, an dem wieder Wolken aufzogen.
»Das meiste mußte du tun, Tom. Ich werde dich als meine Beine benutzen.«
»Okay, Stu. Wenn wir den Wagen haben, fahren wir dann nach Boulder? Tom will nach Boulder. Du nicht?«
»Mehr als alles andere, Tom.« Er blickte zu den Rocky Mountains hinüber, die als trüber Schatten am Horizont zu erkennen waren. Lag auf den höher gelegenen Pässen schon Schnee?
Höchstwahrscheinlich. Und wenn nicht, dann würde es bald der Fall sein. In diesem hoch gelegenen und verlassenen Teil der Welt kam der Winter früh. »Es mag eine Weile dauern«, sagte er.
»Wie fangen wir an?« fragte Tom.
»Indem wir einen Schleppschlitten bauen.«
»Schlepp...?«
Stu reichte Tom sein Taschenmesser. »Du mußt Löcher in den Schlafsack schneiden. Eins an jeder Seite.«
Zum Bau des Schleppschlittens brauchten sie eine Stunde. Tom fand ein paar einigermaßen gerade Stangen, die sie in den Schlafsack und durch die Löcher am anderen Ende stecken konnten. Er holte Seile aus dem Lastwagen, in dem er schon den Schmortopf gefunden hatte, und Stu befestigte die Stangen damit am Schlafsack. Als der Schlitten fertig war, erinnerte er Stu eher an eine verrückte Rikscha als an das Transportgerät der Prärie-Indianer, dem sie dieses Ding nachgebaut hatten.
Tom hob die Stangen auf und schaute nach hinten. »Bist du schon drin, Stu?«
»Ja.« Er fragte sich, wie lange die Nähte wohl halten würden, bevor der Schlafsack der Länge nach aufriß. »Wie schwer bin ich, Tommy?«
»Es geht. Ich kann dich ganz schön lange ziehen. Und los!«
Sie setzten sich in Bewegung. Die Senke, an deren Hang sich Stu das Bein gebrochen hatte - und in der sterben zu müssen er befürchtet hatte -, blieb langsam hinter ihnen zurück. Stu erlebte ein ungeahntes Hochgefühl, obwohl er wahrscheinlich sehr krank war. Nein, dort unten würde er nicht den Tod finden. Er würde irgendwo anders sterben und wahrscheinlich bald, aber dann würde er nicht allein in diesem schlammigen Graben hocken. Der Schlafsack schwankte hin und her, und er fiel in eine Art Dämmerschlaf. Tom zog ihn unter einer immer dichter werdenden Wolkendecke entlang, und Kojak trottete neben ihnen über die Straße.
Stu wachte auf, als Tom ihn vorsichtig absetzte.
»Tut mir leid«, sagte Tom in entschuldigendem Tonfall. »Ich mußte meine Arme ausruhen.« Er ruderte durch die Luft, spannte dann die Armmuskulatur.
»Ruh dich aus, so lange du willst«, sagte Stu. »Immer schön langsam.« Er hatte Kopfschmerzen und nahm drei Anacin-Tabletten, die er trocken schluckte. Es war, als risse ein Sadist an den Schleimhäuten seiner Kehle Streichhölzer an. Sie waren so rauh und trocken wie Sandpapier. Er öffnete wieder die Augen und prüfte die Nähte des Schlafsacks. Wie er vermutet hatte, lösten sie sich allmählich, aber es war noch nicht so schlimm. Sie begannen jetzt einen langen flachen Anstieg, und das war genau, was sie suchten. Von einem Hang wie diesem, der über eine Strecke von mehr als zwei Meilen sanft abfiel, könnte man mit einem Wagen im Leerlauf eine Geschwindigkeit erreichen, die hoch genug war, um dann den zweiten oder dritten Gang einzulegen und die Kupplung kommen zu lassen.
Sehnsüchtig blickte Stu nach links, wo ein roter Triumph quer auf der Standspur parkte. Am Steuer saß etwas Skelettartiges in einem Wollpullover. Der Triumph hatte mit Sicherheit eine Gangschaltung, aber niemals hätte er sich mit seinem geschienten Bein in den engen Fahrersitz zwängen können.
»Wie weit sind wir schon?« fragte er Tom, aber Tom konnte nur mit den Achseln zucken. Es muß schon eine ganz schöne Strecke gewesen sein, dachte Stu. Bevor er die Pause einlegte, hatte Tom den Schlitten mindestens drei Stunden gezogen. Er mußte ungeheure Körperkräfte besitzen. Einige markante Punkte in der Landschaft lagen schon so weit hinter ihnen, daß Stu sie nicht mehr sehen konnte. Tom, stark wie ein junger Bulle, hatte ihn, während er schlief, vielleicht sechs oder acht Meilen weit gezogen.
»Ruh dich aus, so lange du willst«, wiederholte Stu. »Mach dich nicht kaputt.«
»Tom geht's gut. G-U-T, so buchstabiert man's. Meine Fresse, das weiß doch jeder.«
Tom verschlang ein gewaltiges Mahl, und Stu brachte eine Kleinigkeit herunter. Dann zogen sie weiter. Die Straße führte immer noch in einer langen Kurve nach oben, und Stu war sich darüber klar, daß es auf diesem Hügel gelingen mußte. Wenn sie oben keinen geeigneten Wagen fanden, würden sie mehr als zwei Stunden bis zum nächsten brauchen. Dann würde es dunkel sein. So wie der Himmel aussah, war Regen zu erwarten, vielleicht sogar Schnee. Eine nasse und kalte Nacht im Freien, und dann good-bye, Stu Redman.
Sie kamen an einen Chevrolet Sedan.
»Halt«, krächzte Stu, und Tom setzte ihn ab. »Geh rüber und zähl die Pedale vorn im Wagen. Sag mir, ob es zwei oder drei sind.«
Tom trabte hinüber und öffnete die Wagentür. Eine Mumie in einem mit Blumen bedruckten Kleid fiel heraus wie ein schlechter Witz. Ihre Handtasche fiel neben sie, und Kosmetika, Tücher und Geld verteilten sich auf der Straße.
»Zwei«, rief Tom zu Stu herüber.
»Okay. Dann müssen wir weiter.«
Tom kam zurück, atmete tief durch und nahm die Stangen wieder auf. Eine viertel Meile weiter sahen sie einen VW-Bus.
»Soll ich die Pedale zählen?« fragte Tom.
»Nein, diesmal nicht.« Der Wagen stand auf drei platten Reifen. Stu glaubte allmählich, daß sie nichts finden würden; sie hatten einfach kein Glück. Sie kamen zu einem Kombi, der nur einen platten Reifen hatte. Den könnte man wechseln, aber genau wie der Chevy Sedan hatte er zwei Pedale, wie Tom berichtete. Was bedeutete, daß der Wagen ein Automatikgetriebe hatte und nutzlos für sie war. Sie zogen weiter. Die Hügel wurden flacher, und sie waren fast oben. Stu sah noch einen Wagen vor sich, eine letzte Chance. Es war ein uralter Plymouth, bestimmt nicht jünger als 1970. Es war ein Wunder, daß er auf vier prallen Reifen stand. Aber er war verrostet und verbeult. Nie hatte sich jemand große Mühe gemacht, diesen Wagen zu pflegen. Stu kannte diese Sorte Fahrzeuge noch aus Arnette. Die Batterie war wahrscheinlich alt und undicht und das Öl so schwarz wie ein Bergwerksschacht um Mitternacht. Dafür war das Lenkrad mit rosa Filz überzogen, und hinten an der Heckscheibe stand vielleicht ein ausgestopfter Pudel mit Augen aus Bergkristall, der mit dem Kopf nicken konnte.
»Soll ich nachsehen?« fragte Tom.
»Ja. Tu's lieber. Bettler können nicht sehr wählerisch sein, stimmt's?« Ein leichter Nebel fiel vom Himmel herab. Tom ging über die Straße und blickte in den Wagen. Er war leer. Stu lag zitternd in seinem Schlafsack. Endlich kam Tom zurück.
»Drei Pedale«, sagte er.
Stu versuchte nachzudenken. Das hohe süßsaure Summen in seinem Kopf kam ihm dauernd dazwischen.
Der alte Plymouth war mit Sicherheit eine Niete. Vielleicht konnten sie auf der anderen Seite des Hügels einen Wagen finden, aber er würde verkehrt herum stehen, bergauf gerichtet, es sei denn, sie überquerten den Mittelstreifen ... aber der war hier eine halbe Meile breit und bestand aus felsigem Gelände. Dort drüben würden sie vielleicht ein Fahrzeug mit Standardschaltung finden... aber bis dahin würde es dunkel sein.
»Tom, hilf mir aufzustehen.«
Irgendwie gelang es Tom, ihm aufzuhelfen, ohne in seinem verletzten Bein übermäßige Schmerzen zu verursachen. In seinem Kopf pochte und summte es. Schwarze Kometen schössen in seinem Gesichtsfeld vorbei, und er hätte fast die Besinnung verloren. Er legte Tom einen Arm um den Nacken.
»Schlafen«, murmelte er. »Schlafen...«
Er wußte später nicht zu sagen, wie lange sie so dagestanden hatten, wie lange Tom ihn geduldig in den Armen gehalten hatte, während Stu in der Grauzone zwischen Bewußtlosigkeit und Wachzustand schwebte. Als die Welt wieder auftauchte, hielt Tom ihn immer noch geduldig. Der Nebel war zu einem kalten Nieselregen geworden.
»Tom, hilf mir zum Wagen hinüber.«
Tom legte einen Arm um Stus Hüfte, und sie taumelten zum Plymouth, der auf der Standspur parkte.
»Wo läßt sich die Haube öffnen?« murmelte Stu und fummelte am Kühler des Wagens. Fieberschauer durchrasten seinen Körper. Er fand die Vorrichtung, aber er konnte sie nicht betätigen. Deshalb führte er Toms Hand an die Stelle. Tom zog, und die Haube öffnete sich.
Der Motor war etwa so, wie Stu es erwartet hatte - ein ölverschmierter, schmutziger, ungepflegter V8-Motor. Aber die Batterie war in besserem Zustand, als er befürchtet hatte. Es war eine Sears, nicht gerade ein Spitzenfabrikat, aber auf dem Garantiestempel stand: Februar 1991. Gegen einen Fieberanfall ankämpfend, rechnete Stu zurück und stellte fest, daß die Batterie im vergangenen Mai noch neu gewesen war.
»Versuch mal zu hupen«, sagte er zu Tom und lehnte sich gegen den Wagen, während Tom sich hineinbeugte. Er hatte von Ertrinkenden gehört, die sich an einen Strohhalm klammern, und jetzt begriff er das Bild. Seine letzte Überlebenschance war diese aus einem Autofriedhof geflüchtete Klapperkiste.
Die Hupe gab einen lauten Klang von sich. Okay. Versuchen wir's, wenn ein Schlüssel da ist. Vielleicht hätte er Tom dies erst nachprüfen lassen sollen, aber was spielte das, verdammt noch mal, für eine Rolle. Wenn kein Schlüssel steckte, spielte wahrscheinlich gar nichts mehr eine Rolle.
Er klappte die Haube zu und lehnte sich mit seinem Gewicht darauf, damit sie einrastete. Dann hinkte er zur Fahrerseite und schaute hinein. Er erwartete, ein leeres Zündschloß zu sehen. Aber der Schlüssel steckte, und an ihm hing eine Kunstlederhülle mit den Initialen A.C. Er beugte sich vorsichtig in den Wagen und drehte den Schlüssel. Die Nadel der Benzinanzeige stieg langsam und zeigte etwas mehr als ein Viertel Tankfüllung an. Eine rätselhafte Geschichte. Warum hatte der Besitzer, warum hatte A.C. den Wagen hier abgestellt und war ausgestiegen, um zu Fuß weiterzugehen, wo er doch hätte fahren können?
Stu mußte an Charles Campion denken, der schon halb tot war, als er in Haps Zapfsäulen rauschte. Der alte A.C. hatte die Supergrippe gehabt, und zwar schlimm. Letztes Stadium. Er fährt an den Straßenrand, stellt den Motor ab - nicht weil er daran denkt, sondern aus alter Gewohnheit - und steigt aus. Er ist im Delirium und hat vielleicht Halluzinationen. Er stolpert in das Wüstenland von Utah hinaus, singend und lachend und vor sich hin murmelnd und gackernd. Dort stirbt er. Drei Monate später kommen Stu Redman und Tom Cullen zufällig vorbei, und der Schlüssel steckt, und die Batterie ist relativ neu, und im Tank ist Sprit...
Die Hand Gottes.
Hatte Tom das nicht im Zusammenhang mit Vegas gesagt? Die Hand Gottes kam aus dem Himmel herunter. Und vielleicht hatte Gott dafür gesorgt, daß diese Rostbeule von 1970er Plymouth hier für sie bereitstand, wie Manna in der Wüste. Es war ein verrückter Gedanke, aber auch nicht verrückter als der Gedanke, daß eine hundertacht Jahre alte schwarze Frau eine Gruppe von Flüchtlingen ins Gelobte Land führte.
»Und sie hat immer noch ihre eigenen Plätzchen gebacken«, krächzte er. »Bis ganz zum Schluß hat sie immer ihre eigenen Plätzchen gebacken.«
»Was, Stu?«
»Nichts. Rutsch ein Stück rüber, Tom.«
Tom tat, wie ihm geheißen. »Können wir fahren?« fragte er hoffnungsvoll.
Stu klappte die Lehne des Fahrersitzes nach vorn, und Kojak sprang in den Wagen, nicht ohne vorher ein paarmal vorsichtig zu schnüffeln. »Keine Ahnung. Vielleicht solltest du beten, daß dieses Ding anspringt.«
»Okay«, sagte Tom.
Stu brauchte fünf Minuten, sich hinter das Steuer zu setzen. Er hockte ein wenig schief auf dem für den Beifahrer in der Mitte bestimmten Sitz. Kojak saß hechelnd auf dem Rücksitz und sah sich aufmerksam um. Überall im Wagen lagen leere McDonald'sSchachteln und Taco-Bell-Packungen. Das Innere roch wie ein alter Maisfrachter.
Stu drehte den Zündschlüssel. Ungefähr zwanzig Sekunden lang drehte der Motor des alten Plymouth flott durch. Dann wurde der Anlasser schwächer. Stu drückte kurz auf die Hupe, und diesmal war es nur ein leises Krächzen. Toms Miene verfinsterte sich.
»Noch sind wir nicht mit ihr fertig«, sagte Stu. In dieser SearsBatterie steckte immer noch Saft; das ermutigte ihn. Er trat die Kupplung und legte den zweiten Gang ein. »Steig aus und schieb an. Dann springst du wieder rein.«
»Zeigt der Wagen nicht in die falsche Richtung?« fragte Tom voller Zweifel.
»Jetzt ja. Aber wenn wir diesen Scheißhaufen erst ins Rollen kriegen, klärt sich das ganz schnell.«
Tom stieg aus und stemmte sich gegen den Türrahmen. Der Plymouth rollte an. Als die Nadel fünf Meilen in der Stunde anzeigte, sagte Stu: »Spring rein,Tom.«
Tom hüpfte auf seinen Sitz und schlug die Tür zu. Stu drehte den Zündschlüssel auf »AN« und wartete. Das Lenken kostete Energie, besonders bei abgestelltem Motor, und es kostete Stu fast die letzten Kräfte, die Nase des Plymouth geradeaus gerichtet zu halten, während der Wagen an Geschwindigkeit gewann. Die Tachonadel kroch auf 10, 15, 20. Lautlos rollten sie den Hügel hinunter, auf den Tom ihn am Morgen in stundenlanger Mühsal hinaufgeschleppt hatte. Stu fiel zu spät ein, daß sie den Schleppschlitten zurückgelassen hatten. 25 Meilen die Stunde.
»Er läuft nicht, Stu«, sagte Tom besorgt.
30 Meilen. Schnell genug. »Jetzt bete zu Gott«, sagte Stu und liess die Kupplung kommen. Der Plymouth bockte und ruckte. Der Motor sprang hustend an, stotterte, spuckte, verstummte. Stu stöhnte auf. Aus Verzweiflung und weil ihm ein rasender Schmerz durch das zerschmetterte Bein fuhr.
»Verdammt - spring an!« brüllte er und trat auf die Kupplung.
»Beweg das Gaspedal auf und ab, Tom! Mit der Hand!«
»Welches ist es denn?« rief Tom mit ängstlicher Stimme.
»Das lange!«
Tom rutschte auf den Wagenboden und drückte zweimal das Gaspedal. Der Wagen nahm wieder Tempo auf, und Stu mußte sich zwingen, noch etwas zu warten. Sie hatten schon die Hälfte des Hanges zurückgelegt.
»Jetzt!« schrie er und ließ die Kupplung kommen.
Der Motor des Plymouth sprang brüllend an. Kojak bellte. Schwarzer Qualm kochte aus dem verrosteten Auspuff und wurde dann blau. Aber der Motor lief. Ein wenig unruhig zwar und nur auf sechs Zylindern, aber sie fuhren. Stu schaltete in den dritten Gang und bediente dabei beide Pedale mit dem linken Fuß.
»Wir fahren, Tom!« brüllte er. »Wir haben jetzt wieder Räder!«
Tom schrie vor Vergnügen. Kojak bellte und wedelte mit dem Schwanz. In seinem früheren Leben, dem Leben vor Captain Trips, als er noch Big Steve hieß, war er oft im Wagen seines Herrchens mitgefahren. Es war schön, wieder zu fahren, auch mit seinem neuen Herrchen.
Sie erreichten eine U-förmige Verbindung zwischen den Fahrspuren, die nach Westen und denen, die nach Osten führten. NUR FÜR DIENSTFAHRZEUGE herrschte ein Schild sie an. Stu kam gut genug mit der Kupplung zurecht, um den Wagen um die Kurve zu bringen. Es gab nur einen schrecklichen Augenblick, als der Wagen bockte und Stu fast den Motor abgewürgt hätte. Aber die Maschine war schon warmgelaufen, und er schaffte es. Er schaltete wieder in den dritten Gang, und die Spannung wich. Er atmete immer noch schwer, und sein Puls raste bedrohlich, aber er würde sich bald beruhigen. Für einen Moment drohte ihm wieder, schwarz vor Augen zu werden, aber er ließ es nicht zu. Ein paar Minuten später entdeckte Tom den hellen orangefarbenen Schlafsack, den sie für Stu als behelfsmäßigen Schleppschlitten hergerichtet hatten.
»Bye-bye!« rief Tom gutgelaunt. »Bye-bye, wir fahren nach Boulder, meine Fresse, ja!«
Für heute abend wäre ich schon mit Green River zufrieden, dachte Stu.
Sie erreichten Green River kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Stu fuhr den Plymouth in einem niedrigen Gang vorsichtig durch die dunklen Straßen, in denen viele verlassene Wagen standen. Er parkte an der Main Street vor einem Gebäude, das sich als Utah Hotel ausgab. Es war ein schäbiges dreistöckiges Bauwerk, und Stu glaubte nicht, daß das Waldorf-Astoria diese Konkurrenz fürchten mußte. Sein Kopf fing wieder an zu dröhnen, und immer wieder entglitt ihm die Wirklichkeit. Während der letzten zwanzig Meilen hatte er manchmal das Gefühl gehabt, der Wagen sei voller Leute. Fran. Nick Andres. Norm Bruett. Und einmal hatte er geglaubt, Chris Ortega, den Barkeeper des Indian Head in Arnette, auf einer Schrotflinte vorbeireiten zu sehen.
Müde. War er schon jemals so müde gewesen?
»Da drinnen«, murmelte er. »Wir müssen hier übernachten, Nicky. Ich bin völlig fertig.«
»Ich bin Tom, Stu. Tom Cullen. Meine Fresse, ja.«
»Ja, Tom. Wir müssen hier anhalten. Kannst du mir ins Haus helfen?«
»Klar. Toll, wie du den alten Wagen in Gang gebracht hast.«
»Du kannst mir 'n Bier drauf ausgeben«, sagte Stu. »Und hast du nicht eine Zigarette? Für 'ne Kippe würde ich sterben.« Er sank am Steuer zusammen.
Tom zog ihn vorsichtig aus dem Wagen und trug ihn ins Hotel. Das Foyer war feucht und dunkel, aber es gab einen Kamin, und neben dem Kamin stand eine halb mit Holz gefüllte Kiste. Tom setzte Stu auf ein fadenscheiniges Sofa und bereitete Holz für ein Feuer vor, während Kojak an allen möglichen Gegenständen herumschnüffelte. Stus Atem ging langsam und rauh, und er murmelte gelegentlich vor sich hin. Manchmal schrie er laut irgend etwas Unsinniges, daß Tom das Blut gefror.
Er zündete ein riesiges Feuer an und blickte sich um. Er fand Kissen und Wolldecken für sich und Stu. Dann schob Tom das Sofa, auf dem Stu lag, näher an das Feuer heran und legte sich neben ihn. Kojak kuschelte sich auf Stus andere Seite, so daß die beiden den kranken Mann mit ihren Körpern wärmten.
Tom lag wach und blickte zur Decke aus verschnörkeltem Zinn hinauf, in deren Ecken Spinnweben hingen. Stu war sehr krank. Dieser Gedanke machte ihm große Sorgen. Wenn Stu wieder aufwachte, würde er ihn fragen, was er gegen die Krankheit tun konnte.
Aber wenn... wenn er nicht mehr aufwachte?
Draußen war starker Wind aufgekommen, der um die Ecken des Hotels heulte. Gegen Mitternacht, als Tom eingeschlafen war, hatte sich die Temperatur um weitere vier Grad verringert, und das Klatschen draußen ließ einen Hagelschauer vermuten. Weit drüben im Westen trieben die äußeren Ränder des Sturms eine gewaltige radioaktive Wolke nach Kalifornien, wo weitere Menschen sterben würden.
Irgendwann nach zwei Uhr morgens hob Kojak den Kopf und jaulte unruhig. Tom Cullen stand auf. Seine Augen waren groß und leer. Wieder jaulte Kojak, aber Tom beachtete ihn nicht. Er ging an die Tür und trat in die tobende Nacht hinaus. Kojak ging an eines der Fenster des Foyers, sprang mit den Vorderpfoten hoch und äugte nach außen. Er hielt eine ganze Weile Ausschau, und aus seiner Kehle kamen tiefe, traurige Laute. Dann trottete er zurück zur Couch und legte sich wieder neben Stu.
Draußen tobte und heulte der Wind.