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Um zwanzig vor elf am 20. Juli schlurfte sie auf die Veranda und trug Kaffee und Toast mit sich hinaus, wie jeden Tag, wenn das Coca-Cola-Thermometer vor dem Fenster über der Spüle mehr als zehn Grad anzeigte. Es war Hochsommer, der schönste Sommer seit 1955, wie sich Mutter Abagail genau erinnerte, jenem Jahr, als ihre Mutter im gesegneten Alter von dreiundneunzig Jahren gestorben war. Schade, daß nicht mehr Leute da sind, die sich an einem solchen Sommer erfreuen können, dachte sie, als sie sich vorsichtig in den Schaukelstuhl ohne Lehnen setzte. Aber hatten sich die Leute je darüber gefreut? Einige natürlich: junge Menschen, die sich liebten, und alte Leute, deren Knochen sich noch deutlich an die tödliche Umklammerung des Winters erinnerten. Jetzt waren die meisten jungen und alten Leute tot, und die dazwischen auch. Gott hatte ein strenges Gericht über die Menschheit gebracht.

Manche mochten ein so strenges Gericht als zu hart empfinden, aber Mutter Abagail zählte nicht dazu. Er hatte es schon einmal mit Wassser getan, und irgendwann einmal würde Er es mit Feuer tun. Es war nicht ihre Sache, über Gott zu richten, obwohl sie wünschte, Er hätte diesen Kelch an ihr vorübergehen lassen. Aber wenn es um Gericht ging, gab sie sich mit der Antwort zufrieden, die Gott Moses aus dem brennenden Busch gegeben hatte, als Moses Fragen für angebracht hielt. Wer bist du! fragt Moses, und Gott ruft so gewitzt, wie man sich nur wünschen kann aus dem Busch: Ich bin der ICH BIN. Mit anderen Worten: Moses, hör auf, auf diesen Busch hier zu klopfen, und sieh zu, daß du deinen alten Hintern bewegst.

Sie kicherte und nickte mit dem Kopf und tauchte den Toast in den breiten Mund der Tasse, bis er so weich war, daß sie ihn kauen konnte. Vor sechzehn Jahren hatte sie ihrem letzten Zahn Lebewohl gesagt. Zahnlos war sie aus dem Leib ihrer Mutter gekommen, und zahnlos würde sie ins Grab sinken.

Ihre Urenkelin Molly und ihr Mann hatten ihr ein Jahr später zum Muttertag ein Gebiß geschenkt, dem Jahr, als sie selbst dreiundneunzig wurde, aber es tat ihr am Gaumen weh, und sie trug es nur, wenn Molly und Jim zu Besuch kamen. Dann nahm sie es aus dem Kasten in der Schublade, spülte es gut ab und setzte es ein. Und wenn sie noch Zeit hatte, bevor Molly und Jim kamen, schnitt sie Grimassen im fleckigen Spiegel in der Küche und knurrte durch diese großen, weißen falschen Zähne und lachte Tränen. Sie sah aus wie ein alter schwarzer Alligator aus den Everglades.

Sie war alt und schwach, aber ihr Verstand war noch ziemlich in Ordnung. Sie hieß Abagail Freemantle und war 1882 geboren, was sie mit ihrer Geburtsurkunde beweisen konnte. Sie hatte in ihrem Leben auf Erden viel gesehen, aber nichts, was man mit den Ereignissen des vergangenen Monats oder so auch nur annähernd vergleichen konnte. Nein, so etwas war noch nie dagewesen, und jetzt kam die Zeit, wo sie in die Sache hineingezogen wurde, und das war ihr zuwider. Sie war alt. Sie wollte ihre Ruhe haben und sich am Wechsel der Jahreszeiten freuen, bis Gott es leid war, sie bei ihrer täglichen Runde zu beobachten, und beschloß, sie in sein Reich zu holen. Aber was geschah, wenn man Gott in Frage stellte? Die Antwort, die man dann bekam, hieß: Ich bin der ICH BIN, und das war alles. Als sein eigener Sohn ihn bat, er möge den Kelch an ihm vorübergehen lassen, hatte Gott nicht einmal geantwortet ... und sie stand unendlich viel tiefer. Nur eine ganz gewöhnliche Sünderin, das war sie, und der Gedanke ängstigte sie, daß Gott herabgeschaut hatte, als im Frühjahr 1882 ein kleines Mädchenbaby den Kopf zwischen den Beinen seiner Mutter herausstreckte, und zu sich gesagt hatte: Ich werde sie lange Zeit auf der Erde lassen. 1990, hinter einem riesigen Berg von Kalenderblättern, wartet Arbeit auf sie.

Ihre Zeit hier in Hemingford Home ging zu Ende, und die letzte Arbeit, die sie noch zu verrichten hatte, lag vor ihr im Westen, in der Nähe der Rocky Mountains. Er hatte Moses einen Berg besteigen und Noah ein Boot bauen lassen; er hatte mitangesehen, wie sein eigener Sohn ans Kreuz genagelt wurde. Was kümmerte es ihn, welche schreckliche Angst Abagail Freemantle vor dem Mann ohne Gesicht hatte, vor ihm, der sie in ihren Träumen verfolgte?

Sie sah ihn nie; sie mußte ihn nicht sehen. Er war ein Schatten, der um die Mittagszeit durch den Mais schlich, ein kalter Lufthauch, eine Aaskrähe, die von einem Telefondraht auf einen herabsah. Seine Stimme sprach zu ihr in all jenen Lauten, vor denen sie sich immer gefürchtet hatte - flüsternd war sie wie das Ticken eines Klopfkäfers unter der Treppe, der den baldigen Tod eines nahen Angehörigen verkündet; dröhnend war sie wie der Donner in den Wolken, die aus dem Westen kamen wie ein tobendes Armageddon. Und manchmal hörte sie keinen Laut, nur das einsame Rauschen des Nachtwinds im Mais, aber sie wußte, daß er in der Nähe war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, und das war das Allerschlimmste, denn dann schien der Mann ohne Gesicht nur wenig geringer als Gott selbst zu sein; dann schien es, als wäre sie in Reichweite des dunklen Engels, der schweigend über Ägypten geflogen war und in jedem Haus, dessen Türpfosten nicht mit Blut bespritzt war, das Erstgeborene getötet hatte. Das ängstigte sie am allermeisten. Sie wurde wieder zum Kind in ihrer Angst und wußte, daß auch andere ihn kannten und Angst vor ihm hatten, aber nur ihr allein war eine klare Vision von seiner schrecklichen Macht zuteil geworden.

»Ach, ja«, sagte sie und schob das letzte Stück Toast in den Mund. Sie schaukelte hin und her und trank Kaffee. Es war ein schöner heller Tag, kein Teil ihres Körpers machte ihr besondere Beschwerden, und sie sprach ein kurzes Dankgebet für dieses Geschenk. Gott ist groß, Gott ist gut; das kleinste Kind konnte diese Worte lernen, und sie umfaßten die ganze Welt und alles, was darin war, gut und böse.

»Gott ist groß«, sagte Mutter Abagail. »Gott ist gut. Danke für den Sonnenschein und für den Kaffee. Für den guten Stuhlgang von gestern abend. Du hattest recht, die Datteln haben es geschafft, aber lieber Gott, ich finde den Geschmack so ekelhaft. Was bin ich nur für eine? Gott ist groß...«

Sie hatte den Kaffee fast ausgetrunken. Sie stellte die Tasse ab und schaukelte; ihr der Sonne zugewandtes Gesicht war wie ein seltsames lebendes, von Kohleadern durchzogenes Stück Fels. Sie döste... sie schlief. Ihr Herz, dessen Wände jetzt so dünn waren wie Seidenpapier, schlug, wie es während der letzten 39475 Tage jede Minute geschlagen hatte. Wie bei einem Baby in der Wiege hätte man die Hand auf ihre Brust legen müssen, um festzustellen, ob sie überhaupt atmete.

Aber das Lächeln blieb.

Seit den Jahren, da sie ein Mädchen gewesen war, hatte sich alles sehr verändert. Die Freemantles waren als befreite Sklaven nach Nebraska gekommen, und Abagails eigene Urenkelin Molly hatte einmal auf gemeine, zynische Weise gelacht und angedeutet, dass das Geld, mit dem Abbys Vater ihr Haus gekauft hatte - Geld, das ihm Sam Freemantle aus Lewis, South Carolina, als Lohn für die acht Jahre bezahlt hatte, die ihr Daddy und seine Brüder nach Ende des Bürgerkriegs geblieben waren -, »Gewissensgeld« gewesen sei. Abagail hatte den Mund gehalten, als Molly das gesagt hatte - Molly und Jim und die anderen waren jung und verstanden nur extrem Gutes und extrem Böses - aber innerlich hatte sie die Augen verdreht und zu sich gesagt: Gewissensgeld? Nun, kann es denn Geld geben, das sauberer ist?

Die Freemantles hatten sich also in Hemingford Home niedergelassen, und Abby war als letztes Kind ihrer Eltern hier geboren worden. Ihr Vater hatte es verstanden, die Leute umzustimmen, die weder von Niggern kaufen noch ihnen etwas verkaufen wollten; er erwarb immer nur ein kleines Stück Land auf einmal, um keinen zu beunruhigen, der sich wegen »dieser schwarzen Dreckskerle in Columbus« Sorgen machte; er war der erste im Polk-County gewesen, der den Fruchtwechsel einführte, der erste, der Kunstdünger verwendete; und im März 1902 war Gary Sites ins Haus gekommen, um John Freemantle mitzuteilen, daß er in die Farmervereinigung aufgenommen worden war. Er war der erste Schwarze im ganzen Staat Nebraska, der das geschafft hatte. Das war ein großartiges Jahr gewesen.

Ihr kam in den Sinn, daß jeder, der auf sein Leben zurückblickte, sich ein Jahr herausgreifen und sagen konnte: »Das war das beste.« Es schien, als gäbe es für jeden eine Jahreszeit, wenn alles sich zusammenfügte, passend und harmonisch und voller Wunder. Erst später machte man sich Gedanken darüber, warum es so gekommen war. Es war, als würde man zehn Köstlichkeiten zugleich in den Kühlschrank tun, so daß jede ein wenig den Geschmack der anderen annahm. Die Pilze schmeckten nach Schinken, der Schinken nach Pilzen; das Wildbret hatte einen Hauch des wilden Geschmacks von Rebhuhn und das Rebhuhn einen winzigen Hauch Gurke. Im späteren Leben wünschte man sich vielleicht, daß all die guten Dinge, die man in einem einzigen Jahr bekommen hatte, etwas besser verteilt gewesen wären, daß man eines der goldenen Dinge nehmen und über einen Zeitraum von vielleicht drei Jahren verteilen könnte, in denen einem nichts Gutes widerfahren war, an das man sich erinnern konnte, nicht einmal etwas Schlechtes. Aber es hatte eben alles seinen geregelten Gang genommen, wie es nun mal auf dieser Welt sein sollte, die Gott geschaffen und Adam und Eva um ein Haar zerstört hatten - die Wäsche war gewaschen, die Böden waren geschrubbt, die Kinder versorgt und die Kleider genäht worden; drei Jahre, in denen nichts den einförmigen grauen Strom der Zeit unterbrochen hatte, abgesehen von Ostern, dem 4. Juli, Erntedank und Weihnachten. Aber die Art und Weise, wie Gott seine Wunder wirkte, war für die Menschen unergründlich, und für Abby Freemantle und ihren Vater war 1902 ein großartiges Jahr gewesen.

Abby hielt sich für die einzige in der Familie - das heißt, abgesehen von ihrem Daddy -, die begriff, was für eine große, fast beispiellose Sache es war, in die Farmervereinigung aufgenommen zu werden. Er war der erste Neger in Nebraska, wahrscheinlich der erste in den Vereinigten Staaten. Er machte sich keinerlei Illusionen über den Preis, den er und seine Familie in Form von grausamen Witzen und Diskriminierungen jener Männer bezahlen mußten - zu allererst von Ben Conveigh -, die dagegen gewesen waren. Aber Daddy sah auch ein, daß Gary Sites ihm mehr als eine Chance zum Überleben gab: Gary gab ihm die Möglichkeit, wie alle anderen im Maisgürtel zu Wohlstand zu kommen.

Als Mitglied der Vereinigung würde er keine Probleme mehr haben, gutes Saatgut zu kaufen. Und er mußte seine Ernte nicht mehr bis Omaha bringen, um einen Käufer zu finden. Die Mitgliedschaft in der Farmervereinigung konnte das Ende des Streits über Wasserrechte bedeuten, den er mit Ben Conveigh hatte, der rasend wurde, wenn es ums Thema Nigger wie John Freemantle und Niggerfreunde wie Gary Sites ging. Es wäre sogar möglich, daß der Steuereintreiber des County mit seinen endlosen Schikanen aufhörte. Daher nahm John Freemantle die Einladung an, und die Abstimmung erfolgte zu seinen Gunsten (und zwar mit einer beruhigenden Mehrheit), und es wurden derbe Witze gemacht, Witze darüber, wie ein Waschbär auf dem Dachboden des Gebäudes der Farmervereinigung erwischt worden war, und darüber, daß man ein Niggerbaby, wenn es in den Himmel kam und seine schwarzen Flügel erhielt, nicht Engel, sondern Fledermaus nannte, und Ben Conveigh lief eine Weile herum und erzählte, der einzige Grund, warum die Vereinigung John Freemantle aufgenommen hatte, wäre der, daß die Kinderkirmes bevorstand und sie einen Nigger brauchten, der den afrikanischen Orang-Utan spielte. John Freemantle hatte so getan, als hätte er das alles nicht gehört, und daheim las er aus der Bibel - »eine leise Antwort vertreibt den Zorn« und »Brüder, wie ihr säet, so sollt ihr auch ernten«, und sein Lieblingszitat, das er nicht demütig sprach, sondern voll grimmiger Überzeugung und Vorfreude: »Die Sanftmütigen werden das Erdreich besitzen.«

Und im Laufe der Zeit hatte er auch die Nachbarn für sich gewonnen. Nicht alle natürlich; nicht die Fanatiker wie Ben Conveigh und dessen Halbbruder George, nicht die Arnolds und die Deacons, aber alle anderen. 1903 waren sie bei Gary Sites und seiner Familie zum Dinner eingeladen worden, in der guten Stube, genau wie die Weißen.

1902 hatte Abagail im großen Saal der Farmervereinigung Gitarre gespielt; und zwar nicht am Negerabend, sondern in einer TalentShow der Weißen Ende des Jahres. Ihre Mutter war strikt dagegen gewesen; es war einer der wenigen Anlässe, als sie Einwände gegen eine Entscheidung ihres Mannes vor den Kindern aussprach (nur waren die Jungs da schon in mittleren Jahren, und John selbst hatte mehr als nur ein paar weiße Strähnen im Haar).

»Ich weiß, wie es gewesen ist«, sagte sie weinend. »Du und Sites und dieser Frank Fenner habt das ausgeheckt. Für sie ist das recht und schön, aber was hast du dir dabei gedacht, John Freemantle? Es sind Weiße. Du kannst dich mit ihnen auf den Hof hocken und übers Pflügen reden! Du kannst unten in der Stadt mit ihnen ein Bier trinken, wenn Nate Jackson dich in seinen Saloon läßt. Schön! Ich weiß, was du die letzten Jahre durchgemacht hast - das ändert nichts. Ich weiß, du hast gelächelt, auch wenn du im Herzen Todesqualen empfunden haben mußt. Aber dies ist etwas anderes! Es geht um deine eigene Tochter! Was wirst du sagen, wenn sie in ihrem schönen weißen Kleid da oben steht und ausgelacht wird? Was, wenn sie mit faulen Tomaten nach ihr werfen wie nach Brick Sullivan, als er versucht hat, in der Neger-Show aufzutreten? Und was wirst du ihr sagen, wenn sie mit dem Kleid voller Tomaten vor dir steht und sagt: >Warum, Daddy? Warum haben sie das getan, und warum hast du es zugelassen?<«

»Nun, Rebecca«, antwortete John, »ich denke, das überlassen wir ihr und David.«

David war ihr erster Mann gewesen; 1901 war aus Abagail Freemantle Abagail Trotts geworden. David Trotts war ein schwarzer Farmarbeiter aus Valparaiso, und um sie zu werben, war er fast dreißig Meilen gekommen. John Freemantle hatte einmal zu Rebecca gesagt, daß es Trotts gehörig erwischt haben mußte, wo er doch soviel trottete. Und viele hatten über ihren ersten Mann gelacht und Sachen gesagt wie: »Ich weiß, wer in dieser Familie die Hosen anhat.«

Aber David war kein Schwächling; nur ruhig und nachdenklich. Als er zu John und Rebecca Freemantle sagte: »Was Abagail für richtig hält, wird gemacht«, hatte Abby ihn dafür gesegnet und ihrer Mutter und ihrem Vater gesagt, daß sie mit ihm zusammenbleiben wollte. Sie war mit ihrem ersten Kind schon im dritten Monat, als sie am 27. Dezember 1902 im großen Saal der Farmervereinigung auf die Bühne stieg - unter eisigem Schweigen, das eintrat, als der Zeremonienmeister ihren Namen ansagte. Vor ihr war Gretchen Tilyons auf der Bühne gewesen, hatte einen rassigen französischen Tanz aufs Parkett gelegt und den pfeifenden, johlenden und mit den Füßen stampfenden Männern im Publikum ihre Beine und Unterröcke gezeigt.

Sie stand in der eisigen Stille und wußte, wie schwarz ihr Gesicht und ihr Hals in ihrem neuen weißen Kleid aussehen mußten, und sie hatte schreckliches Herzklopfen und dachte: Ich habe jedes Wort vergessen, jedes einzelne Wort, aber ich habe Daddy versprochen, daß ich nicht weine, ganz gleich, was geschieht, ich weine nicht, aber Ben Conveigh sitzt da unten, und wenn Ben Conveigh NIGGER schreit, werde ich bestimmt weinen, oh, warum habe ich mich nur darauf eingelassen? Mama hatte recht, ich habe meinen Platz vergessen und werde dafür büßen müssen...

Der Saal war voll weißer Gesichter, die zu ihr heraufsahen. Jeder Stuhl war besetzt, und hinten im Saal standen die Leute sogar noch in zwei Reihen. Petroleumlampen leuchteten und flackerten. Die roten Samtvorhänge waren zurückgezogen und mit Goldkordeln festgebunden.

Und sie dachte: Ich bin Abagail Freemantle Trotts, ich spiele gut, und ich singe gut, das muß mir nicht erst jemand sagen.

Und in die reglose Stille sang sie »The Old Rugged Cross«, und ihre Finger zupften die Melodie. Dann, mit einem Akkord, die kräftigere Melodie »How I Love My Jesus«, dann noch lauter »Camp Meeting in Georgia«. Ohne es zu wollen, fingen die Leute im Saal jetzt an zu schunkeln. Einige grinsten und klatschten auf die Knie. Sie sang Lieder aus dem Bürgerkrieg: »When Johnny Comes Marching Home«, »Marching Through Georgia« und dann »Goober Peas«, das Lied von den Erdnüssen (wieder wurde gelacht; viele der Männer im Saal, Bürgerkriegsveteranen, hatten während ihrer Dienstzeit mehr Erdnüsse essen müssen, als ihnen lieb war). Zum Schluß sang sie »Tenting Tonight on the Old Campground«, und als die letzten Töne in der jetzt nachdenklichen und traurigen Stille verhallten, dachte sie: Jetzt werft eure Tomaten, wenn ihr wollt. Ich habe gespielt und gesungen, so gut ich konnte, und ich war wirklich gut.

Als der letzte Akkord in die Stille verklang, hielt diese Stille einen langen, beinahe verzauberten Augenblick an, als wären die Leute auf den Sitzen und hinten in den Reihen plötzlich weit fortgetragen worden, so weit, daß sie den Rückweg nicht gleich fanden. Dann setzte der Beifall ein und schlug wie eine Woge über ihr zusammen, lang und anhaltend, so daß sie errötete, sich verwirrt fühlte, schwitzte und am ganzen Körper zitterte. Sie sah ihre Mutter, die ungeniert weinte, und ihren Vater und David, der sie anstrahlte. Da hatte sie versucht, von der Bühne zu gehen, aber Rufe »Zugabe!

Zugabe!« wurden laut, und daher spielte sie lächelnd »Digging My Potatoes«. Dieses Lied war ein klein wenig riskant, aber sie dachte sich, wenn Gretchen Tilyons in aller Öffentlichkeit die Knöchel zeigen konnte, dann konnte sie ein Lied singen, das ein ganz klein wenig zotig war. Immerhin war sie eine verheiratete Frau.

»Someone's been digging my potatoes


They've left em in my bin,


And now that someone's gone


And see the trouble I've got in.«



Das Lied hatte noch sechs solche Strophen (manche schlimmer als diese, und sie sang jede einzelne; der Beifall nach jeder letzten Zeile wurde immer johlender. Später dachte sie, wenn sie in dieser Nacht einen Fehler gemacht hatte, dann den, dieses Lied zu singen, weil es genau der Song war, den die Leute wahrscheinlich von einem Nigger erwartet hatten).

Sie endete und bekam erneut donnernden Applaus und Rufe »Zugabe!«. Sie ging wieder auf die Bühne, und als sich die Menge beruhigt hatte, sagte sie: »Haben Sie vielen herzlichen Dank. Ich hoffe, Sie finden es nicht ungebührlich, wenn ich nur noch ein Stück singe, das ich eigens gelernt habe, obwohl ich nie damit ge rechnet hätte, daß ich es hier singen würde. Es ist das beste Lied, das ich kenne, und es handelt davon, was Präsident Lincoln und dieses Land noch vor meiner Geburt für mich und meinesgleichen getan haben.«

Jetzt waren sie ganz ruhig und lauschten erwartungsvoll. Ihre Familie saß mucksmäuschenstill beim linken Gang, wie ein Fleck Johannisbeermarmelade auf einem weißen Tischtuch.

»Aufgrund dessen, was damals im Bürgerkrieg passiert ist«, fuhr sie unerschütterlich fort, »war es meiner Familie möglich, hierherzukommen und mit den netten Nachbarn zu leben, die wir haben.«

Dann sang und spielte sie »The Star-Spangled Banner«, und alle standen auf und lauschten; manches Taschentuch wurde hervorgeholt, und als Abby endete, applaudierten die Leute, daß es beinahe das Dach abdeckte.

Es war der stolzeste Tag ihres Lebens.




Kurz nach Mittag wurde sie wach, richtete sich auf und blinzelte ins Sonnenlicht, eine alte, hundertundachtjährige Frau. Sie hatte mit verrenktem Rücken geschlafen, und jetzt tat er ihr weh. Würde den ganzen Tag weh tun, das stand jetzt schon fest.

»Ach ja«, sagte sie und stand vorsichtig auf. Sie ging die Verandastufen hinunter, hielt sich sorgfältig am wackeligen Geländer fest, zuckte zusammen, weil sich Messer in ihren Rücken und Nadeln in die Beine bohrten. Ihr Kreislauf war auch nicht mehr das, was er mal gewesen war... warum auch ? Sie hatte sich immer wieder ermahnt, was es für Folgen haben würde, wenn sie in diesem Schaukelstuhl einschlief. Sie döste ein, und die alten Zeiten fingen wieder an, und das war herrlich, o ja, besser als fernsehen, aber wenn sie aufwachte, mußte sie einen bitteren Preis dafür bezahlen. Sie konnte sich ermahnen, soviel sie wollte, sie war wie ein alter Hund, der sich vor dem Kamin ausstreckte. Wenn sie sich in die Sonne setzte, schlief sie ein, so war das. Was das betraf, hatte sie kein Wort mehr mitzureden.

Sie kam nun zur letzten Sprosse, machte eine längere Pause, damit ihre »Beine auch mit ihr Schritt halten konnten«, räusperte einen ordentlichen Klumpen Rotz hoch und spie ihn in den Sand. Als sie sich wie immer fühlte (abgesehen von den Rückenschmerzen), ging sie langsam nach hinten zum Abort, den ihr Enkel Victor im Jahr 1931 hinter dem Haus gebaut hatte. Sie ging rein, dann machte sie penibel die Tür zu, hing den Haken fest in die Öse, als wäre eine ganze Armee Schaulustiger draußen, nicht nur ein paar Amseln, und setzte sich. Einen Augenblick später ließ sie Wasser und seufzte zufrieden.

Das Älterwerden brachte ein Problem mit sich, von dem einem niemand je erzählte (oder hörte man einfach nie zu?) - man vergaß, wann man Wasser lassen mußte. Es schien, als würde man da unten in der Blase jegliches Gefühl verlieren, und wenn man nicht aufpaßte, mußte man, ehe man sich's versah, die Kleidung wechseln. Sie war nicht gern schmutzig, darum hockte sie sich sechs-bis siebenmal am Tag hierher, und nachts hatte sie den Nachttopf neben dem Bett stehen. Mollys Mann Jim hatte einmal zu ihr gesagt, sie wäre wie ein Hund, der an keinem einzigen Hydranten vorbeikam, ohne nicht wenigstens kurz das Bein zum Gruß zu heben; darüber hatte sie lachen müssen, bis ihr die Tränen aus den Augen gequollen und an den Wangen hinuntergelaufen waren. Mollys Jim war Angestellter in einer Werbeagentur in Chicago und machte Karriere... hatte jedenfalls Karriere gemacht. Sie ging davon aus, daß er tot war, wie alle anderen. Molly, du bist tot. Gott segne dich, Gott segne sie alle, jetzt waren sie alle im Himmel.

Im letzten Jahr waren Molly und Jim die einzigen gewesen, die sie noch hier draußen besuchen kamen. Alle anderen schienen vergessen zu haben, daß sie noch lebte, aber dafür hatte sie Verständnis. Sie hatte lange über ihre Zeit gelebt. Sie war wie ein Dinosaurier, dem es nicht zustand, daß er noch Fleisch an den Knochen hatte, ein Ding, dessen angemessener Platz in einem Museum war (oder auf dem Friedhof). Sie konnte verstehen, daß sie nicht kommen und sie sehen wollten, aber sie verstand nicht, warum sie nicht das Land sehen wollten. Es war nicht mehr viel übrig, nein; nur noch wenige Hektar der einstmals riesigen Farm. Aber es gehörte noch ihnen; es war noch ihr Land. Aber den Schwarzen schien nicht mehr so viel am Land zu liegen. Manche schienen sich sogar dafür zu schämen. Sie waren weggezogen, um ihr Dasein in den Städten zu fristen, und die meisten kamen, wie Jim, ganz gut zurecht... aber wie sehr blutete ihr das Herz, wenn sie an die vielen Schwarzen denken mußte, die sich vom Land abgewendet hatten!

Vorletztes Jahr hatten Molly und Jim ihr eine Toilette mit Wasserspülung einbauen wollen und waren beleidigt gewesen, als sie abgelehnt hatte. Sie hatte versucht, es ihnen begreiflich zu machen, aber Molly hatte nur immer wieder gesagt: »Mutter Abagail, du bist hundertacht Jahre alt. Was meinst du, wie mir zumute ist, wenn ich mir vorstelle, daß du manchmal hier rausgehst und dich hinhockst, wenn es nur zehn Grad über Null hat? Weißt du nicht, dass schon der Kälteschock deinem Herz den Garaus machen könnte?«

»Wenn der Herr mich bei sich haben will, wird der Herr mich zu sich holen«, sagte Abagail beim Stricken, und daher glaubten Molly und Jim, sie würde ihr Strickzeug betrachten und nicht sehen, wie die beiden die Augen verdrehten.

Manches konnte man einfach nicht ändern, aber das schienen die jungen Leute nicht begreifen zu können, wie so vieles andere. Damals, 1984, als sie hundert geworden war, hatten Cathy und David ihr einen Fernseher angeboten, und darauf hatte sie sich eingelassen. Das Fernsehen war ein netter Zeitvertreib, wenn man ganz allein war. Aber als Christopher und Susy gekommen waren und gesagt hatten, sie wollten ihr Haus an die städtische Wasserversorgung anschließen, hatte Abby ebenso abgelehnt wie beim freundlichen Angebot von Molly und Jim, ihr ein Wasserklosett zu bauen. Sie hatten gemeint, ihr Brunnen wäre zu seicht und könnte austrocknen, wenn es wieder einen Sommer wie den 1988 gab, als die Dürre kam. Das stimmte, aber sie sagte trotzdem nein. Molly und Jim dachten natürlich, daß Abby nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte, daß sie Schicht für Schicht senil wurde, wie man Wachs auf den Fußboden auftrug, aber sie selbst war der Meinung, daß ihr Verstand so gut wie eh und je war.

Sie erhob sich vom Klositz, streute Zitruspulver in das Loch und ging langsam wieder hinaus in den Sonnenschein. Sie duftete ihren Abort immer ein, aber es war trotzdem eine stinkige alte Bruchbude, wie sauber sie auch duften mochte.

Es war, als hätte ihr die Stimme Gottes ins Ohr geflüstert, als Chris und Susy ihr Haus an die städtische Wasserversorgung anschließen lassen wollten ... die Stimme Gottes, schon damals, als Molly und Jim ihr den Porzellanthron mit dem Knopf der Wasserspülung bringen wollten. Gott sprach zu den Menschen; hatte er nicht zu Noah gesprochen, ihm von der Arche erzählt und ihm genau gesagt, wie lang, breit und tief sie sein mußte? Jawohl. Und sie glaubte, dass er auch zu ihr gesprochen hatte, nicht aus einem brennenden Busch oder einer Feuersäule, sondern mit einer stillen, leisen Stimme, die sagte: Abby, du wirst deine Handpumpe brauchen. Genieß deinen elektrischen Strom, Abby, aber sorge dafür, daß deine Öllampen voll und die Dochte in Ordnung sind. Laß deinen Eisschrank so, wie ihn deine Mutter vor dir gehabt hat. Und laß dir von den jungen Leuten nichts aufschwatzen, Abby, das gegen meinen Willen ist. Sie sind dein Fleisch und Blut, aber ich bin dein Vater.

Sie blieb mitten auf ihrem Hof stehen und sah auf das Maisfeld hinaus, das nur vom Sandweg geteilt wurde, der nach Duncan und Columbus führte. Drei Meilen vom Haus entfernt war der Weg asphaltiert. Der Mais stand gut in diesem Jahr, eine Schande, dass außer den Saatkrähen niemand da war, um ihn zu ernten. Es war ein trauriger Gedanke, daß die großen Erntemaschinen in diesem September in den Scheunen stehenbleiben mußten; traurig, daß es kein Maisschälen und keine Tänze auf der Tenne geben würde. Traurig, daß sie zum ersten Mal in den letzten hundertacht Jahren nicht hier in Hemingford Home sein würde, um den Wechsel der Jahreszeiten zu sehen, wenn der Sommer dem fröhlichen, heidnischen Herbst Platz machte. Sie würde diesen Somme r um so mehr lieben, weil es ihr letzter war - das spürte sie ganz deutlich. Und sie würde nicht hier zur letzten Ruhe gebettet werden, sondern weiter im Westen, in einem fremden Land. Das war bitter.

Sie schlurfte zur Reifenschaukel hinüber und schubste sie an. Es war ein alter Traktorreifen, den ihr Bruder Lucas 1922 hier aufgehängt hatte. Das Seil war seitdem viele Male ausgewechselt worden, aber der Reifen niemals. Das Leinen kam an vielen Stellen durch, und am inneren Ring war eine tiefe Einbuchtung, wo Generationen junger Hintern gesessen hatten. Unter dem Reifen war eine lange, staubige Narbe im Boden, wo das Gras jeden Versuch zu wachsen längst aufgegeben hatte, und am Ast, an dem die Seile festgemacht waren, war die Rinde abgeschabt und der weiße Knochen des Holzes zu sehen. Das Seil knarrte leise, und diesmal sagte sie laut:

»Bitte, o Herr, o Herr, nur wenn ich muß, bitte, laß diesen Kelch an mir vorübergehen, wenn Du kannst. Ich bin alt, ich habe Angst, und am liebsten möchte ich hier zu Hause begraben werden. Ich bin bereit, jetzt gleich zu gehen, wenn Du es willst. Dein Wille geschehe, Herr, aber Abby ist eine müde alte schwarze Frau. Dein Wille geschehe.«

Kein Laut, nur das leise Knarren des Seils und das Krächzen der Krähen im Maisfeld. Sie lehnte die alte, gefurchte Stirn gegen die alte, gefurchte Borke des Apfelbaums, den ihr Vater vor so langer Zeit gepflanzt hatte, und weinte bitterlich.




In dieser Nacht träumte sie, daß sie wieder die Stufen zur Halle der Farmervereinigung hinaufging, eine junge, hübsche Abagail, im dritten Monat schwanger, ein dunkles äthiopisches Juwel im weißen Kleid; sie hielt die Gitarre an der Brust, stieg hinauf, hinauf in diese Dunkelheit, ihre Gedanken ein einziges Durcheinander, aber eines wußte sie ganz genau: Ich bin Abagail Freemantle Trotts, ich spiele gut und singe gut, das muß ich mir nicht erst sagen lassen.

Im Traum drehte sie sich langsam zu den weißen Gesichtern um, die wie Monde zu ihr emporgerichtet waren, und sah in den Saal, in dem so hell die Lampen leuchteten, sah den weichen Glanz, der von den dunklen, leicht angelaufenen Scheiben reflektiert wurde und die roten Samtvorhänge mit den Goldkordeln.

Sie klammerte sich fest an diesen einen Gedanken und spielte »Rock of Ages«. Sie spielte und ließ ihre Stimme erklingen, nicht nervös und gehemmt, sondern genau so, wie sie beim Üben geklungen hatte, voll und sanft, wie das gelbe Lampenlicht selbst, und sie dachte: Ich überzeuge sie. Mit Gottes Hilfe überzeuge ich sie. Mein Volk, wenn dich dürstet, lasse ich nicht Wasser aus dem Fels sprudeln? Ich überzeuge sie, und David wird stolz auf mich sein, Mama und Daddy werden stolz auf mich sein, ich selbst werde stolz auf mich sein, ich zaubere Musik aus der Luft und Wasser aus dem Fels...

Und dann sah sie ihn zum ersten Mal. Er stand ganz hinten in der Ecke, hinter allen Sitzreihen, und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er trug Jeans und eine Jeansjacke mit Knöpfen an den Taschen. Er trug staubige schwarze Stiefel mit abgelaufenen Absätzen; Stiefel, die aussahen, als wären sie manche dunkle und staubige Meile gelaufen. Seine Stirn war so weiß wie Gaslicht, die Wangen glühend und kräftig durchblutet, die Augen funkelnde blaue Diamanten, in denen infernalische Fröhlichkeit blitzte, als hätte der Dämon Satans die Arbeit von Kris Kringle übernommen. Er hatte die Zähne gefletscht, ein heißes, loderndes Grinsen, das beinahe ein Fauchen war. Die Zähne waren weiß und scharf und spitz, wie die Zähne eines Wiesels.

Er streckte die Hände vom Körper ab. Beide waren zu Fäusten geballt und so fest und hart wie Knoten an einem Apfelbaum. Sein Grinsen blieb, fröhlich und unsagbar böse. Blutstropfen fielen von den Fäusten herab.

In ihrem Verstand versiegten die Worte. Ihre Finger vergaßen, wie man spielte; es folgte ein letzter mißtönender Akkord, dann Stille.

Gott! Gott! schrie sie, aber Gott hatte Sein Antlitz abgewendet. Dann stand Ben Conveigh mit rotem, flammendem Gesicht auf, und seine kleinen Schweinsäuglein funkelten. Niggerhure! schrie er. Was hat die Niggerbure auf der Bühne verloren? Keine Niggerhure hat je Musik aus der Luft gezaubert! Keine Niggerhure hat je Wasser aus dem Fels sprudeln lassen!

Ungestüme Schreie der Zustimmung. Leute drängten nach vorne. Sie sah, wie ihr Mann aufstand und versuchte, auf die Bühne zu klettern. Eine Frau traf ihn am Mund, er kippte nach hinten.

Schafft die dreckigen Coons nach hinten! brüllte Bill Arnold, und jemand stieß Rebecca Freemantle gegen die Wand. Ein anderer - Chet Deacon, wie es aussah - schlang einen der roten Samtvorhänge um Rebecca und fesselte sie dann mit der Goldkordel. Er schrie: Seht euch das an! Coon im Schlafrock! Waschbär im Schlafrock!

Andere liefen zu Chet Deacon hinüber und fingen an, die zappelnde Frau unter dem Vorhang zu schlagen und zu schubsen.

Mama! schrie Abby.

Die Gitarre war aus ihren gefühllosen Fingern geglitten und am Bühnenrand zu Splittern und Saiten zerschellt.

Sie suchte panisch nach dem dunklen Mann hinten im Saal, aber die Maschine war in Gang gebracht worden und lief heiß und reibungslos; er war schon anderswo hingegangen.

Mama! schrie sie wieder, dann zerrten grobe Hände sie von der Bühne, wanderten unter ihr Kleid, begrabschten sie, fummelten, zwickten sie in den Po. Jemand riß brutal ihre Hand herum und verrenkte den Arm im Gelenk. Sie wurde gegen etwas Hartes, Heißes gedrückt.

Ben Conveighs Stimme in ihrem Ohr: Wie gefällt dir MEIN >Rock of Ages<, Niggerhure?«

Der Saal drehte sich um sie herum. Sie sah, wie ihr Vater versuchte, zur leblosen Gestalt ihrer Mutter zu gelangen, und sie sah eine weiße Hand, die eine Flasche an der Lehne eines Klappstuhls zerschlug. Ein Rasseln und Klirren, dann wurde der gezackte Flaschenhals, der im warmen Schein der Lampen funkelte, ins Gesicht ihres Vaters geschlagen. Sie sah seine aufgerissenen, hervorquellenden Augen wie Trauben platzen.

Sie schrie, und die Heftigkeit ihres Schreis schien den Saal entzweizureißen, die Dunkelheit hereinzulassen, und sie war wieder Mutter Abagail, hundertundacht Jahre alt, zu alt, o Herr, zu alt (aber Dein Wille geschehe), und sie ging im Mais spazieren, dem mystischen Mais, der flach in der Erde wurzelte, aber breit; sie hatte sich im Mais zwischen silbernem Mondlicht und schwarzen Schatten verirrt; sie konnte den Sommernachtwind hören, der sanft darin raschelte, sie konnte seinen lebenden Wachstumsgeruch riechen, den sie ihr ganzes Leben gerochen hatte (sie hatte oft gedacht, dass dies die Pflanze war, die dem ganzen Leben am nächsten kam, der Mais, dessen Geruch der Geruch des Lebens selbst war, der Anfang des Lebens, oh, sie hatte drei Männer geheiratet und an ihren Gräbern gestanden, David Trotts, Henry Hardesty und Nate Brooks, sie hatte drei Männer im Bett gehabt, hatte sie empfangen, wie eine Frau einen Mann empfangen mußte, indem sie sich ihnen fügte, und sie hatte stets sehnsüchtige Freude empfunden, den Gedanken: O Gott, welchen Spaß es mir bereitet, Sex mit meinem Mann zu machen, und wie ich es genieße, wenn er Sex mit mir macht, wenn er mir gibt, was er zu geben hat, wenn er es in mich hineinspritzt; und manchmal hatte sie im Augenblick des Höhepunkts an den Mais gedacht, den Mais mit seinen flachen, aber breiten Wurzeln, sie dachte an Fleisch und dann an den Mais, und wenn es vorbei war und ihr Mann neben ihr lag, hing der Sex -Geruch im Zimmer, der Geruch des Samens, den der Mann in sie hineingespritzt hatte, der Geruch ihrer eigenen Säfte, die sein Eindringen erleichterten, und es war ein Geruch wie geschälter Mais, mild und lieblich, ein guter Geruch).

Und dennoch hatte sie Angst, schämte sich eben dieser intimen Verbundenheit mit Erde und Sommer und Fruchtbarkeit, weil sie nicht allein war. Er war hier bei ihr, zwei Reihen links oder rechts, immer ein Stück voraus oder zurück. Der dunkle Mann war da; seine staubigen Stiefel gruben sich ins Fleisch des Bodens und schleuderten es in Klumpen weg; er grinste in der Nacht wie eine Sturmlampe.

Dann sprach er, zum ersten Mal sprach er laut, und sie konnte seinen Mondschatten sehen, groß und geduckt und grotesk fiel er in die Reihe, in der sie ging. Seine Stimme war wie der Nachtwind, der im Oktober durch die alten und fleischlosen Maisstauden stöhnt, wie das Rasseln der alten, weißen, unfruchtbaren Maispflanzen selbst, wenn sie von ihrem eigenen Ende zu sprechen scheinen. Es war eine sanfte Stimme. Es war die Stimme des Untergangs.

Sie sagte: Ich habe dein Blut in den Fäusten, alte Frau. Wenn du zu Gott betest, dann bete, daß er dich holt, bevor du jemals meine Schritte deine Stufen hinaufkommen hörst. Nicht du hast Wasser aus dem Fels sprudeln lassen, und ich habe dein Blut in den Fäusten.

Dann wachte sie auf, wachte auf in der Stunde vor der Dämmerung und dachte zuerst, sie hätte ins Bett gemacht, aber es war nur nächtlicher Schweiß, so schwer wie Tau im Mai. Ihr magerer Körper zitterte hilflos, jeder Teil von ihr sehnte sich nach Ruhe.

O Gott, o Gott, laß diesen Kelch an mir vorübergehen.

Ihr Gott antwortete nicht. Nur der sanfte Morgenwind klopfte an die Fensterscheiben, die lose waren und frischen Kitt vertragen konnten. Schließlich stand sie auf, machte Feuer im alten Holzofen und stellte Kaffeewasser auf.

In den nächsten Tagen hatte sie viel zu tun, denn sie erwartete Gäste. Träume oder nicht, sie hatte immer gern Gäste gehabt, und das sollte auch so bleiben. Aber sie mußte alles bedächtig tun, sonst vergaß sie wieder etwas - sie vergaß in letzter Zeit vieles - oder verlegte etwas, bis sie nicht mehr wußte, wo ihr der Kopf stand.

Als erstes mußte sie zu Addie Richardsons Hühnerstall gehen, und das war ein weiter Weg, vier oder fünf Meilen. Sie fragte sich, ob ihr der Herr einen Adler schicken würde, mit dem sie diese vier Meilen fliegen konnte, oder ob er Elias schicken würde, der sie in seinem Flammenwagen mitnahm. »Gotteslästerung«, sagte sie. »Der Herr gibt Kraft, kein Taxi.« Als sie das wenige Geschirr abgewaschen hatte, zog sie ihre derben Schuhe an und nahm den Stock. Sie benutzte den Stock selten, aber heute brauchte sie ihn. Vier Meilen hin, vier Meilen zurück. Mit sechzehn wäre sie den Hinweg gerannt und den Rückweg gelaufen, aber sechzehn war sie schon lange nicht mehr.




Sie ging um acht Uhr morgens los und hoffte, die Farm der Richardsons gegen Mittag zu erreichen und während des heißesten Teils des Tages zu schlafen. Am Spätnachmittag würde sie die Hühner schlachten und in der Dämmerung den Heimweg antreten. Sie würde erst nach Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein, und dabei mußte sie an den Traum von gestern nacht denken, aber der Mann war noch weit weg. Ihre Gäste waren viel näher. Sie ging sehr langsam, langsamer noch, als sie glaubte gehen zu müssen, weil selbst jetzt noch, um halb neun am Abend, die Sonne rund und heiß und brütend am Himmel stand. Sie schwitzte nicht viel - sie hatte nicht genügend überflüssiges Fleisch auf den Knochen, den Schweiß herauszuwringen -, aber als sie den Briefkasten der Goodells erreicht hatte, mußte sie ein wenig ausruhen. Sie saß im Schatten ihres Pfefferstrauchs und aß ein paar Feigen. Weder ein Adler noch ein Taxi zu sehen. Darüber kicherte sie etwas, stand auf, wischte sich Krümel vom Kleid und ging weiter. Nee, kein Taxi. Der Herr half denen, die sich selbst halfen. Trotzdem spürte sie schon, wie ihre sämtlichen Gelenke sich einstimmten; heute nacht würde es ein Knochen-Gala-Konzert geben.

Sie bückte sich beim Gehen immer weiter über den Stock, obwohl ihre Handgelenke auch zunehmend Verdruß bereiteten. Ihre Schuhe mit den gelben Wildlederschnürsenkeln schlurften im Staub. Die Sonne schien sengend auf sie herab, und im Lauf der Zeit wurde ihr Schatten immer kürzer. An diesem Morgen sah sie mehr wilde Tiere, als sie seit den zwanziger Jahren gesehen hatte: Füchse, Waschbären, Stachelschweine, Fischreiher, Krähen waren allgegenwärtig, sie krächzten und keiften und zogen Kreise am Himmel. Hätte sie Stu Redman und Glen Bateman gehört, die sich über die willkürliche Weise unterhielten - jedenfalls erschien sie ihnen willkürlich -, wie die Super-Grippe manche Tiergattungen getötet und andere verschont hatte, dann hätte sie gelacht. Die Grippe hatte Haustiere hinweggerafft und wilde Tiere verschont, so einfach war das. Ein paar Haustiergattungen hatten zwar überlebt, aber als Faustregel galt: Die Grippe hatte die Menschen und deren beste Freunde ausgerottet. Sie hatte die Hunde geholt, aber die Wölfe in Ruhe gelassen, weil die Wölfe wild waren und die Hunde nicht.

Rotglühende Schmerzzentren waren tief in ihren Hüften, hinter jedem Knie, in den Knöcheln und den Handgelenken entstanden, mit denen sie sich auf den Stock stützte. Sie schritt aus und sprach mit ihrem Gott, ohne sich bewußt zu sein, daß sie manchmal leise, manchmal laut redete. Und sie mußte wieder über ihre Vergangenheit nachdenken. 1902 war das beste Jahr gewesen, das stimmte. Es schien, als hätte die Zeit sich danach beschleunigt; die Seiten eines dicken Abreißkalenders waren umgeblättert worden, ohne Pause. Das Leben eines Körpers ging so schnell vorbei... wie kam es, daß ein Körper es so müde sein konnte zu leben?

Sie hatte fünf Kinder von Davy Trotts bekommen; eines, Maybelle, war im alten Haus im Garten an einem Stück Apfel erstickt. Abby hatte Wäsche aufgehängt, sich umgedreht und das Baby auf dem Rücken gesehen, wo es die Händchen um den Hals krallte und purpurn anlief. Sie hatte das Apfelstück schließlich herausbekommen, aber da war die kleine Maybelle schon still und kalt gewesen, ihre einzige Tochter und das einzige ihrer vielen Kinder, das Opfer eines Unfalls geworden war.

Jetzt saß sie im Schatten einer Ulme am Zaun der Nauglers; zweihundert Meter entfernt sah sie den Staub in Asphalt übergehen - dort wurde die Freemantle Road zur Polk County Road. Die Tageshitze erzeugte ein Flimmern über dem Teer; der Horizont war Quecksilber und schimmernd wie Wasser in einem Traum. An einem heißen Tag sah man dieses Quecksilber immer ganz am Ende seines Sichtfeldes, konnte es aber nie einholen. Sie jedenfalls nie.

David war 1913 gestorben, an einer ähnlichen Grippe wie dieser jetzt, die viele Menschenleben gekostet hatte. 1916, als sie vierunddreißig gewesen war, hatte sie Henry Hardesty geheiratet, einen schwarzen Farmer aus Wheeler County im Norden. Er war eigens zur Brautwerbung gekommen. Henry war Witwer mit sieben Kindern, die bis auf zwei erwachsen und eigene Wege gegangen waren. Er war sieben Jahre älter als Abagail. Er hatte ihr zwei Jungen geschenkt, bevor er im Spätsommer unter seinen eigenen Traktor geriet und starb.

Ein Jahr danach hatte sie Nate Brookes geheiratet, und die Leute hatten geredet - o ja, die Leute reden, die Leute reden so gern, manchmal schien es, als hätten sie gar nichts anderes zu tun. Nate war Henry Hardestys Hilfskraft gewesen, und er war ihr ein guter Ehemann. Vielleicht nicht so lieb wie Henry und ganz sicher nicht so zäh, aber ein guter Mann, der meistens das gemacht hatte, was sie ihm sagte. Wenn eine Frau in die Jahre kam, war es tröstlich zu wissen, wer die Hosen anhatte.

Ihre sechs Jungs hatten ihr eine Schar von zweiunddreißig Enkelkindern beschert. Ihre zweiunddreißig Enkel hatten wiederum einundneunzig Urenkel hervorgebracht. Es wären mehr gewesen ohne die Pille, die die Mädchen heutzutage nahmen, damit sie keine Babys bekamen. Es schien, als wäre Sex für sie nur ein Spielplatz, auf dem sie sich austobten. Abagail hatte nichts für die modernen Lebensweisen der Jungen übrig, sagte aber niemals etwas. Es lag an Gott zu entscheiden, ob sie mit diesen Pillen sündigten oder nicht (und nicht an diesem kahlköpfigen alten Furz in Rom - Mutter Abagail war ihr ganzes Leben lang Methodistin gewesen und verdammt stolz darauf, daß sie nichts mit diesen verklemmten Katholiken am Hut hatte), aber Abagail wußte, was ihnen entging: die Ekstase, die man empfindet, wenn man am Eingang des Tals der Schatten steht; die Ekstase, die man empfindet, wenn man sich seinem Mann und seinem Gott hingibt, wenn man sagt, dein Wille geschehe und Dein Wille geschehe; die endgültige Ekstase von Sex im Angesicht Gottes, wenn Mann und Frau die alte Sünde von Adam und Eva neu durchlebten, die jetzt aber vom Blut des Lammes reingewaschen und geläutert worden war.

Ja, ja...

Sie wollte ein Glas Wasser, sie wollte daheim in ihrem Schaukelstuhl sein, sie wollte in Ruhe gelassen werden. Jetzt konnte sie sehen, wie sich die Sonne im Dach des Hühnerstalles vorne links spiegelte. Eine Meile, mehr nicht. Es war Viertel nach zehn, und sie kam für ihre alten Tage gar nicht schlecht voran. Sie würde hineingehen und schlafen, bis der Abend kühler würde. Das war keine Sünde. In ihrem Alter nicht. Sie schlurfte an der Böschung entlang; inzwischen waren ihre schweren Schuhe von Straßenstaub überzogen.

Nun, sie hatte viele Verwandte als Trost ihres hohen Alters, das war immerhin etwas. Manche, wie Linda und der fahrende Händler, den sie geheiratet hatte, kamen nicht zu Besuch, aber es gab auch Gute wie Molly und Jim und David und Cathy, und die machten mehr als tausend Lindas und fahrende Händler wett, die von Tür zu Tür gingen und Kochtöpfe ohne Wasser verkauften. Luke, ihr letzter Bruder, war 1949 im Alter von achtzigundirgendwas gestorben, und das letzte ihrer Kinder, Samuel, 1974 im Alter von vierundfünfzig. Sie hatte alle Kinder überlebt, und das sollte eigentlich nicht sein, aber es schien, als hätte der Herr besondere Pläne mit ihr.

1984, als sie hundert geworden war, war ihr Bild in der Zeitung von Omaha abgebildet gewesen, und sie hatten einen Fernsehreporter geschickt, der einen Bericht über sie machte. »Welcher Tatsache schreiben Sie Ihr hohes Alter zu?« hatte der junge Mann sie gefragt, und er schien enttäuscht über die kurze, beinahe schroffe Antwort zu sein: »Gott.« Die Leute wollten hören, daß sie Bienenwachs aß oder kein gebratenes Schweinefleisch anrührte oder daß sie die Beine beim Schlafen hochlegte. Aber das alles machte sie nicht, warum sollte sie lügen? Gott gibt Leben und nimmt es, wenn es ihm gefällt.

Cathy und David hatten ihr einen Fernseher geschenkt, damit sie sich selbst in den Nachrichten sehen konnte, und sie bekam einen Brief von Präsident Reagan persönlich (auch nicht mehr der Jüngste), der ihr zu ihrem »fortgeschrittenen Alter« und der Tatsache gratulierte, daß sie, seit sie das Stimmrecht besaß, republikanisch gewählt hatte. Nun, für wen hätte sie sonst stimmen sollen? Roosevelt und seine Bande waren allesamt Kommunisten gewesen. Und als Abby die Hundert vollgemacht hatte, hatte ihr die Stadt Hemingford Home die Steuern »auf Dauer« erlassen, und zwar wegen demselben »fortgeschrittenen Alter«, zu dem Ronald Reagan ihr gratuliert hatte. Sie bekam eine Urkunde, auf der stand, daß sie die älteste lebende Einwohnerin von Nebraska wäre, als wäre das etwas, das kleine Kinder auch werden wollten, wenn sie gross wurden. Das mit den Steuern jedenfalls war gut, auch wenn der Rest reine Narretei gewesen war - hätten sie das mit den Steuern nicht getan, hätte sie das bißchen Land, das ihr geblieben war, auch noch verloren. Das meiste war sowieso schon lange fort; der Grundbesitz der Freemantles und die Macht der Farmervereinigung hatten beide im magischen Jahr 1902 die Hochwassermarke erreicht, und danach war es stetig bergab gegangen. Fünfzehn Hektar, mehr war es nicht mehr. Der Rest war entweder wegen Steuerschulden verkauft oder im Lauf der Jahre zu Geld gemacht worden ... und ihre eigenen Söhne hatten einen Großteil verkauft, wie Abby beschämt zugeben mußte.

Letztes Jahr hatte sie einen Brief von einer Gesellschaft in New York bekommen, die sich American Geriatrics Society nannte. In dem Brief stand, sie wäre der sechstälteste Mensch in den Vereinigten Staaten, die drittälteste Frau. Der älteste US-Bürger war ein Mann in Santa Rosa, Kalifornien. Der Mann in Santa Rosa war hundertzweiundzwanzig. Sie hatte sich diesen Brief von Jim einrahmen lassen und neben den Brief des Präsidenten gehängt. Dazu war Jim erst im Februar gekommen. Jetzt, wo sie darüber nachdachte - damals hatte sie Molly und Jim zuletzt gesehen.

Sie hatte nun die Farm der Richardsons erreicht. Sie lehnte sich fast völlig erschöpft an den Zaunpfahl dicht bei der Scheune und betracht ete sehnsüchtig das Haus. Drinnen war es kühl, kühl und angenehm. Ihr war, als könnte sie eine Ewigkeit schlafen. Aber bevor sie das konnte, mußte sie noch etwas tun. Viele Tiere waren auch an der Krankheit eingegangen - Pferde, Hunde, Ratten -, und sie mußte wissen, ob Hühner auch dazu gehörten. Es wäre ein bitterer Witz, zu erfahren, daß sie den weiten Weg zurückgelegt hatte, nur um festzustellen, daß es hier bloß tote Hühner gab.

Sie schlurfte zum Hühnerstall, der an die Scheune angrenzte, und blieb stehen, als sie die Hühner drinnen gackern hören konnte. Einen Moment später krähte gereizt ein Hahn.

»Na also«, murmelte sie. »Soweit, so gut.«

Sie wollte sich gerade umdrehen, als sie den Leichnam beim Holzstoß sah. Eine Hand lag auf dem Gesicht des Toten. Es war Bill Richardson, Addies Schwager. Hungrige Tiere hatten sich ausgiebig über ihn hergemacht.

»Armer Mann«, sagte Abagail. »Armer, armer Mann. Engelscharen mögen dich singend zur letzten Ruhe betten, Billy Richardson.«

Sie wandte sich wieder dem kühlen, einladenden Haus zu. Es schien Meilen entfernt zu sein, obwohl es sich in Wirklichkeit nur auf der anderen Hofseite befand. Sie war nicht sicher, ob sie es bis dahin schaffen würde; sie war vollkommen erschöpft.

»Der Wille des Herrn geschehe«, sagte sie und setzte sich in Bewegung.

Die Sonne schien durch das Fenster des Gästezimmers, wo sie sofort eingeschlafen war, als sie die Schuhe ausgezogen und sich hingelegt hatte. Eine Zeitlang begriff sie gar nicht, warum das Licht noch so hell war; es war ungefähr so ein Gefühl, wie es Larry Underwood gehabt hatte, als er neben der Steinmauer in New Hampshire aufgewacht war.

Sie setzte sich auf, und die angestrengten Muskeln und schwachen Knochen ihres Körpers schrien vor Schmerz. »Allmächtiger Gott, muß den Nachmittag und die ganze Nacht geschlafen haben!«

Wenn das so war, mußte sie wirklich müde gewesen sein. Sie fühlte sich so lahm, daß sie fast zehn Minuten brauchte, um aus dem Bett aufzustehen und ins Bad zu gehen; weitere zehn, urn die Schuhe anzuziehen. Das Gehen war eine Qual, aber sie wußte, daß sie gehen mußte. Wenn sie es nicht tat, würde sie starr wie ein Stück Eisen werden.

Hinkend und lahmend ging sie zum Hühnerhaus, trat ein und verzog das Gesicht angesichts der explosiven Hitze, des Geruchs von Geflügel und des unvermeidlichen Gestanks nach Verwesung. Die Wasserversorgung funktionierte automatisch, eine Schwerkraftpumpe holte es aus Richardsons artesischem Brunnen, aber es war fast kein Futter mehr da, und viele Tiere waren an der Hitze eingegangen. Die schwächeren waren schon lange verhungert oder totgepickt worden; sie lagen zwischen Futter und Dreck herum wie Schneereste, die traurig vor sich hinschmolzen.

Die meisten Hühner liefen flügelschlagend vor ihr davon, aber die brütigen blinzelten sie nur mit ihren dummen Augen an, während Abby langsam auf sie zuschlurfte. So viele Krankheiten waren tödlich für Hühner, daß sie schon Angst gehabt hatte, sie könnten an der Grippe eingegangen sein, aber diese sahen gesund aus. Gott hat's gegeben.

Sie nahm drei der fettesten Tiere und steckte ihnen die Köpfe unter die Flügel. Sie schliefen sofort ein. Abby steckte sie in einen Sack und stellte fest, sie war so steif, daß sie den Sack nicht heben konnte. Sie mußte ihn über den Boden schleifen.

Die anderen Hennen äugten mißtrauisch von ihren Stangen herab, bis die alte Frau verschwunden war, dann setzten sie ihren Streit um das schwindende Futter fort.

Es war jetzt fast neun Uhr vormittags. Sie setzte sich auf die Bank, die Richardson auf dem Hof um seine große Eiche herumgebaut hatte, und dachte ein wenig nach. Es schien ihr am günstigsten, erst bei Einbruch der Dämmerung nach Hause zu gehen, wie sie es sich ursprünglich vorgenommen hatte. Sie hatte einen Tag verloren, aber ihre Gäste waren noch unterwegs. Sie konnte den Tag nutzen, die Hühner schlachten und rupfen und sich ausruhen.

Ihre Muskeln ließen sich schon etwas besser bewegen, und sie hatte ein lange vermißtes, nagendes, aber angenehmes Gefühl unter dem Brustbein. Sie brauchte einige Zeit, bis ihr klar war, was es war... sie hatte Hunger! Heute morgen hatte sie tatsächlich Hunger, gelobt sei Gott, und wie lange war es her, seit sie zuletzt aus einem anderen Grund als der Macht der Gewohnheit gegessen hatte? Sie war wie der Heizer einer Lokomotive gewesen, der Kohlen schaufelte, mehr nicht. Aber wenn sich diese drei Hühner von ihren Köpfen verabschiedet hatten, würde sie nachsehen, was Addie noch in der Speisekammer hatte, und beim gesegneten Herrn, sie würde genießen, was sie fand. Siehst du? ermahnte sie sich selbst. Der Herr weiß es eben am besten. Gesegnete Zuversicht, Abagail, gesegnete Zuversicht.

Ächzend und schnaufend schleppte sie den Sack zum Haublock, der zwischen Scheune und Holzschuppen stand. Gleich hinter der Tür des Schuppens hing Billy Richardsons Hackbeil an einem Holzpflock, dazu ein Gummihandschuh. Sie nahm das Beil und ging wieder nach draußen.

»O Herr«, sagte sie, als sie in ihren staubigen gelben Stiefeln neben dem Sack stand und zum wolkenlosen Sommerhimmel aufsah, »Du hast mir die Kraft gegeben, den langen Weg zu gehen, und ich glaube, Du wirst mir auch die Kraft geben, den Rückweg zu schaffen. Dein Prophet Jesaja hat gesagt, wenn ein Mann oder eine Frau an den Herrn der Heerscharen glaubt, dann soll er aufsteigen mit Adlerschwingen. Ich verstehe nicht viel von Adlern, o Herr, außer, daß sie bösartige Vögel sind, die weit sehen können, aber ich habe drei Brathühner in diesem Sack, und ich will ihnen die Köpfe abhacken und nicht meine eigene Hand. Dein Wille geschehe, Amen.«

Sie nahm den Sack, öffnete ihn und sah hinein. Eine der Hennen hatte immer noch den Kopf unter dem Flügel und schlief. Die beiden anderen hatten sich aneinandergedrängt und bewegten sich kaum. Im Sack war es dunkel, die Hennen glaubten, es wäre Nacht. Nur ein New Yorker Demokrat konnte dümmer sein als eine brütige Henne. Abagail nahm eine heraus und legte sie auf den Block, bevor sie wußte, wie ihr geschah. Sie schlug kräftig mit dem Beil zu und zuckte wie immer zusammen, als sie hörte, wie die Schneide endgültig und häßlich ins Holz fuhr. Der Kopf fiel auf einer Seite des Hackklotzes in den Staub. Die enthauptete Henne rannte blutspritzend und flügelschlagend über Richardsons Hof. Nach einer Weile stellte sie schließlich fest, daß sie tot war, und legte sich hin, wie es sich gehört. Brütige Hennen und New Yorker Demokraten, mein Gott, mein Gott.

Dann war sie fertig, und ihre Sorge, sie könnte es vielleicht nicht schaffen oder sich dabei verletzen, war für die Katz gewesen. Gott hatte ihr Gebet erhört. Drei gute Hühner, und sie mußte sie nur noch nach Hause bringen.

Sie verstaute die Tiere wieder im Sack und hängte Billy Richardsons Beil wieder auf. Dann ging sie ins Haus, um etwas Eßbares zu suchen.




Sie schlief den frühen Nachmittag über und träumte, daß ihre Gäste sich allmählich näherten; sie waren jetzt südlich von New York und fuhren in einem alten Kleintransporter. Es waren sechs, darunter ein taubstummer junger Mann. Aber dennoch ein gescheiter Junge. Er war derjenige, mit dem sie reden mußte.

Sie wachte gegen halb vier auf, ein wenig steif, aber sonst fühlte sie sich ausgeruht und erfrischt. In den nächsten zweieinhalb Stunden rupfte sie die Hennen, machte Pause, wenn die Arbeit den arthritischen Fingern zuviel Schmerz bereitete, und fing wieder an. Bei der Arbeit sang sie fromme Lieder - »Seven Gates to the City (My Lord Hallelu')«, »Trust and Obey« und ihr Lieblingslied »In the Garden«.

Als sie mit der letzten Henne fertig war, hatte sie Migräne in jedem Finger, und das Tageslicht hatte jenen stillen goldenen Glanz angenommen, der den Vorboten der Dämmerung ankündigt. Es war Ende Juli, die Tage wurden kürzer.

Sie ging ins Haus und aß noch etwas. Das Brot war alt, aber nicht schimmlig-kein Schimmel würde es wagen, in Addie Richardsons Küche sein grünes Gesicht zu zeigen -, und sie fand ein angebrochenes Glas Erdnußbutter. Sie aß ein Erdnußbutterbrot und machte noch eins, das sie in die Tasche ihres Kleides steckte - für den Fall, daß sie später Hunger bekommen sollte.

Jetzt war es zwanzig vor sieben. Sie ging wieder nach draußen, nahm den Sack auf und ging vorsichtig die Verandastufen hinunter. Sie hatte die Federn ordentlich in einen anderen Sack gerupft, aber ein paar waren davongeflogen und hingen jetzt in Richardsons Hecke, die vor Wassermangel vertrocknete.

Abagail seufzte schwer und sagte: »Ich mache mich auf den Weg, Herr. Nach Hause. Ich werde langsam gehen und wohl erst gegen Mitternacht ankommen, aber die Schrift sagt, fürchtet nicht die Schrecken der Nacht noch die Gefahren des Tages. Ich erfülle Deinen Willen, so gut ich kann. Begleite mich auf meinem Weg. Um Jesu willen, Amen.«

Als sie die Stelle erreichte, wo der Asphalt aufhörte und der Sandweg anfing, war es schon dunkel. Grillen zirpten, Frösche quakten an einer Wasserstelle, wahrscheinlich Cal Coodells Tränke. Der Mond würde groß und rot wie Blut aufgehen, bis er höher am Himmel stand.

Sie setzte sich, um sich auszuruhen, und aß ihr Erdnußbutterbrot (sie hätte viel für Johannisbeergelee gegeben, damit es nicht so klebrig schmeckte, aber Addie bewahrte ihr Eingemachtes im Keller auf, und das waren einfach zu viele Stufen). Der Sack stand neben ihr. Sie hatte wieder Schmerzen, und ihre Kraftreserven schienen fast verbraucht, obwohl sie noch zweieinhalb Meilen vor sich hatte... aber sie empfand eine seltsame Heiterkeit. Wie lange war es her, daß sie in der Dunkelheit draußen gewesen war, unter dem Baldachin der Sterne? Sie schienen so hell wie immer, und wenn sie Glück hatte, sah sie vielleicht eine Sternschnuppe und konnte sich etwas wünschen. Eine warme Nacht wie heute, die Sterne und der Mond, der mit seinem roten Liebhabergesicht über den Horizont sah, erinnerten sie an ihre Mädchenzeit mit ihrer Unruhe, ihren Temperamentsausbrüchen und der Verletzbarkeit, als die Zeit des Mysteriums nahte. Oh, auch sie war ein junges Mädchen gewesen. Es gab viele Leute, die das nicht glauben wollten, so wenig wie die Tatsache, daß jeder Mammutbaum einmal ein grüner Schößling war. Aber sie war ein Mädchen gewesen, und zu der Zeit war die kindliche Angst vor der Nacht ein wenig zurückgetreten, und die Angst, die Erwachsene in der Nacht empfinden, wenn alles leise ist und man die Stimme seiner ewigen Seele hören kann, lag noch in der Ferne. In der kurzen Zeit, die dazwischenlag, war die Nacht ein duftendes Rätsel gewesen, eine Zeit, wenn man zum sternenübersäten Himmel hinaufsah und der Brise lauschte, die so berauschende Düfte herantrug, und man fühlte sich dem Herzschlag des Universums nahe, der Liebe und dem Leben. Es erschien, als würde man ewig jung bleiben und - Dein Blut ist in meinen Fäusten.

Sie spürte, wie heftig an dem Sack gezerrt wurde, und zuckte zusammen.

»He!« schrie sie mit ihrer brüchigen alten Stimme. Sie zog den Sack zu sich heran und sah, daß er unten einen Riß hatte.

Dann hörte sie ein leises Knurren. Am Straßenrand, zwischen Schotterböschung und Maisfeld, saß ein großes braunes Wiesel. Es sah sie mit rollenden Augen an, in denen sich das rote Licht des Mondes spiegelte. Dann kam noch eins. Noch eins. Noch eins.

Sie sah zur anderen Straßenseite und stellte fest, daß dort eines neben dem anderen hockte. Sie witterten die Hühner im Sack. Wie hatten sich so viele um sie herumschleichen können? fragte sie sich mit wachsender Angst. Sie war einmal von einem Wiesel gebissen worden; sie hatte den Arm unter die Veranda des großen Hauses gestreckt, um einen roten Gummiball zu holen, der dorthin gerollt war, und etwas, das sich wie ein Mundvoll Nadeln angefühlt hatte, hatte sich in ihren Unterarm verbissen. Die unerwartete Tücke, der Schmerz, rotglühend und plötzlich und grell, hatte sie aus dem täglichen Einerlei gerissen, und das Erschrecken hatte ebenso wie die körperlichen Schmerzen dazu geführt, daß sie schrie. Sie hatte den Arm zurückgezogen, und das Wiesel war daran hängengeblieben; ihr eigenes Blut war ihm über das braune Fell geperlt, und der Körper des Wiesels hatte in der Luft hin und her gezuckt wie der einer Schlange. Sie hatte geschrien und mit dem Arm gerudert, aber das Wiesel hatte nicht losgelassen; es schien ein Teil von ihr geworden zu sein.

Ihre Brüder Micah und Matthew waren im Hof gewesen, ihr Vater auf der Veranda, wo er in einem Versandhauskatalog blätterte. Sie waren alle herangestürmt, und einen Augenblick standen sie wie vom Donner gerührt, als sie Abagail sahen, gerade zwölf, die auf der Lichtung herumhüpfte, wo bald die neue Scheune gebaut werden sollte, während das braune Wiesel, dessen Pfoten in der Luft nach Halt suchten, wie eine Stola von ihrem Arm hing. Blutspritzer waren auf ihrem Kleid, ihren Beinen und Schuhen.

Ihr Vater hatte als erster gehandelt. John Freemantle hatte ein Stück Feuerholz neben dem Hackklotz aufgehoben und gebrüllt: »Bleib stehen, Abby!« Seine Stimme, schon seit ihrer frühesten Kindheit die Stimme absoluter Befehlsgewalt, drang durch das Zetern und Schnattern der Panik in ihren Verstand, wo alles andere wahrscheinlich ungehört geblieben wäre. Sie blieb still stehen, das Holzscheit sauste herunter, stechende Schmerzen rasten bis hinauf in ihre Schulter (sie hatte gedacht, daß der Arm ganz sicher gebrochen war), dann lag das braune DING, das derartigen Schmerz und Schock in ihr bewirkt hatte - in der gräßlichen Hitze dieser wenigen Augenblicke waren die beiden Empfindungen untrennbar miteinander verbunden -, auf dem Boden, sein Fell war mit ihrem Blut verschmiert, und dann sprang Micah in die Luft und landete mit beiden Füßen darauf; man hörte ein letztes, häßliches, endgültiges Knirschen, als würde man eine Zuckerstange mit den Zähnen zerbeißen, und wenn es bis dahin nicht tot gewesen war, dann war es jetzt ganz bestimmt tot. Abagail hatte nicht das Bewußtsein verloren, aber sie war in schluchzende, kreischende Hysterie verfallen.

Inzwischen war Richard, der älteste Sohn, erschreckt und mit blassem Gesicht gelaufen gekommen. Er und sein Vater wechselten einen ernsten, ängstlichen Blick.

»In meinem ganzen Leben hab' ich ein Wiesel so was noch nicht machen sehen«, sagte John Freemantle und hielt seine schluchzende Tochter an den Schultern. »Gott sei Dank, daß deine Mutter mit den Bohnen unterwegs war.«

»Vielleicht war es tollw...«, begann Richard.

»Du hältst den Mund«, warf sein Vater ein, bevor Richard weitersprechen konnte. Seine Stimme klang kalt und wütend und ängstlich zugleich. Und Richard hielt den Mund - er klappte ihn sogar so schnell und fest zu, daß Abby die Zähne klacken hörte. Dann sagte ihr Vater zu ihr: »Gehen wir zur Pumpe, Abby, Liebes, und waschen wir den Schlamassel ab.«

Ein Jahr später sagte Luke ihr, was Richard auf Geheiß seines Vaters nicht laut aussprechen durfte: daß das Wiesel mit Sicherheit tollwütig gewesen sein mußte, so etwas zu machen, und wenn es tollwütig gewesen wäre, dann wäre sie eines schrecklichen Todes gestorben, schlimmer als die schlimmste Folter, wie die Menschen sie kannten. Aber das Wiesel war nicht tollwütig gewesen; die Wunde war sauber verheilt. Dennoch hatte Abby von diesem Tag an bis heute eine Todesangst vor solchen Geschöpfen - eine Angst, wie andere Menschen sie vor Ratten und Spinnen haben. Wenn die Seuche doch sie anstatt der Hunde weggerafft hätte! Aber es war anders gekommen, und sie selbst war...

Dein Blut ist in meinen Fäusten. Eines sprang näher und riß an der groben Naht des Sacks.

»Ih!« kreischte sie. Das Wiesel huschte davon, schien zu grinsen und hatte einen Fetzen vom Sack zwischen den Zähnen. Er hatte sie geschickt - der dunkle Mann.

Entsetzen packte sie. Jetzt waren es Hunderte, graue, braune und schwarze, und alle rochen die Hühner. Sie säumten beide Straßenseiten und drängten sich übereinander, um möglichst schnell an das heranzukommen, was sie rochen.

Ich muß sie ihnen geben. Es war alles umsonst. Wenn ich sie ihnen nicht gebe, reißen sie mich in Stücke, um sie zu bekommen. Alles umsonst.

In der Dunkelheit ihrer Gedanken sah sie den dunklen Mann grinsen, sah die Fäuste, die er ausstreckte, und das Blut, das von ihnen tropfte.

Wieder ein Zerren am Sack. Dann noch eines.




Die Wiesel auf der anderen Straßenseite kamen jetzt auf sie zu; ihre Bäuche schleiften im Staub. Ihre bösartigen kleinen Augen glänzten im Mondschein wie Eiszapfen.

Doch siehe, wer an mich glaubt, der soll nicht zuschanden werden... denn ich habe mein Zeichen auf ihn gesetzt, und nichts soll ihm geschehen ...er ist mein, spricht der Herr...

Sie stand auf, hatte immer noch schreckliche Angst, wußte jetzt aber, was sie zu tun hatte. »Verschwindet!« schrie sie. »Ja, es sind Hühner, aber sie sind für meine Gäste! Und jetzt macht, daß ihr fortkommt!«

Sie zogen sich zurück. Ihre kleinen Augen schienen unruhig zu werden. Und plötzlich waren sie verschwunden wie Rauch, der sich in der Luft auflöst. Ein Wunder, dachte sie, Freude erfüllte sie, sie lobte den Herrn. Dann wurde ihr plötzlich kalt.

Irgendwo weit entfernt im Westen, jenseits der Rockies, die nicht einmal am Horizont zu sehen waren, schienen sich glitzernde Augen plötzlich weit zu öffnen und forschend nach ihr suchen. So deutlich, als würden die Worte laut gesprochen, hörte sie ihn sagen: Wer ist dort? Bist du es, alte Frau?

»Er weiß, daß ich hier bin«, flüsterte sie in der Nacht. »Hilf mir, o Herr. Hilf mir, hilf uns allen.«

Sie zog den Sack hinter sich her und machte sich auf den Heimweg. Sie kamen zwei Tage später, am 24. Juli. Was Abbys Vorbereitungen anbetraf, war sie nicht so weit, wie ihr lieb gewesen wäre; sie war wieder einmal kreuzlahm und schwach, konnte nur mit dem Stock von einem Ort zum ändern hinken und kaum Wasser aus dem Brunnen heraufpumpen. Am Tag, nachdem sie die Hühner geschlachtet und die Wiesel in die Flucht geschlagen hatte, war sie am Nachmittag lange und erschöpft eingeschlafen. Sie träumte, dass sie sich auf einem hohen, kalten Paß mitten in den Rockies befand, westlich der Kontinentalscheide. Highway 6 schlängelte sich zwischen hohen Felswänden hindurch, die diese Kluft den ganzen Tag über in Schatten hüllten; nur von elf Uhr fünfundvierzig am Vormittag bis gegen zwölf Uhr fünfzig am Nachmittag schien die Sonne in die Schlucht. Aber in ihrem Traum herrschte kein Tageslicht, sondern undurchdringliche Neumond-Dunkelheit. Irgendwo heulten Wölfe. Und plötzlich öffnete sich ein Auge in der Dunkelheit, das gräßlich von einer Seite zur anderen blickte, während der Wind einsam durch die Pinien und blauen Bergfichten heulte. Es war er, und er suchte nach ihr.

Sie war aus diesem langen, tiefen Schlaf erwacht und hatte sich nicht so ausgeruht wie vorher gefühlt, und sie hatte wieder zu Gott gebetet, er möge sie in Frieden lassen oder ihr wenigstens die Richtung zeigen, in die er sie schicken wollte.

Norden, Süden oder Osten, Herr, und ich werde Hemingford verlassen und Dein Loblied singen. Aber nicht nach Westen, nicht zum dunklen Mann.


Die Rockies sind nicht groß genug zwischen ihm und uns. Die Anden wären nicht groß genug.

Aber das spielte keine Rolle mehr. Früher oder später, wenn der Mann sich stark genug fühlte, würde er nach denen suchen kommen, die sich gegen ihn stellten. Wenn nicht dieses Jahr, dann im nächsten. Die Hunde waren dahin, die Seuche hatte sie ausgerottet, aber die Wölfe lebten noch in den Hochländern der Berge und waren bereit, dem Dämon Satans zu dienen.

Aber nicht nur die Wölfe würden ihm dienen.




Am Morgen des Tages, an dem ihre Gäste endlich ankamen, hatte sie um sieben Uhr mit der Arbeit angefangen; sie hatte Holzscheite geschleppt, immer zwei auf einmal, bis der Herd heiß und die Holzkiste voll war. Gott hatte ihr einen kühlen, wolkenverhangenen Tag beschert, den ersten seit Wochen. Heute abend könnte es regnen. Ihre Hüfte, die sie sich 1958 gebrochen hatte, prophezeite es jedenfalls.

Sie backte ihre ersten Kuchen mit den eingemachten Früchten aus der Speisekammer und frischem Rhabarber und Erdbeeren aus dem Garten. Die Erdbeeren waren gerade reif, Gott sei gelobt, und es war gut zu wissen, daß sie nicht verderben würden. Allein das Kochen bewirkte, daß sie sich besser fühlte, denn Kochen war Leben. Ein Blaubeerkuchen, zwei Kuchen mit Rhabarber und Erdbeeren, ein Apfelkuchen. Ihr Duft zog durch die morgendliche Küche. Sie stellte sie zum Abkühlen auf die Fensterbank, wie sie es ihr Leben lang getan hatte.

Sie gab sich große Mühe mit dem Teig, obwohl es ohne frische Eier gar nicht so leicht war - dabei war sie im Hühnerhaus gewesen; es war ihre eigene Schuld. Eier oder nicht, am frühen Nachmittag roch die kleine Küche mit ihrem unebenen Fußboden und dem abgewetzten Linoleum nach Brathühnern. Es war drinnen recht heiss geworden, daher humpelte sie auf die Veranda, um wie jeden Tag zu lesen; dann fächelte sie sich mit ihrem eselsohrigen Exemplar von The Upper Room kühle Luft ins Gesicht.

Die Hühner gelangen ihr so knusprig und gut, wie man es sich nur wünschen konnte. Einer der Burschen konnte hinausgehen und zwei Dutzend frische Maiskolben holen, und sie würden sich zu einer herrlichen Mahlzeit ins Freie setzen.

Nachdem sie die Brathühner auf Papiertücher gelegt hatte, setzte sie sich mit der Gitarre auf die hintere Veranda und fing an zu spielen. Sie sang alle ihre Lieblingslieder; ihre hohe, zitternde Stimme ertönte in die stille Sommerluft.

»Have we trials and temptations,


Are we cumbered with a load of care?


We must never be discouraged,


Take it to the Lord in prayer.«



Sie fand, die Musik klang so wunderbar (obwohl ihre Hörkraft stark abgenommen hatte, so daß sie nicht mehr sicher sein konnte, ob die alte Gitarre richtig gestimmt war), daß sie noch ein Lied spielte, noch eins und noch eins.

Sie sang gerade »We Are Marching to Zion«, als sie Motorengeräusch im Norden vernahm, das auf der County Road näher kam. Sie hörte auf zu singen, aber ihre Finger strichen noch geistesabwesend über die Saiten, als sie den Kopf schräg hielt und lauschte. Sie kommen, ja, Herr, sie haben den Weg gut gefunden, und jetzt konnte Abby den Staub sehen, den die Räder des Wagens aufwirbelten, als er vom Asphalt auf den Sandweg gelenkt wurde, der zu ihrem Haus führte. Sie freute sich darauf, die Gäste zu begrüßen, und war froh, daß sie ihr bestes Kleid angezogen hatte. Sie stellte die Gitarre zwischen die Knie und hielt die Hand über die Augen, obwohl die Sonne immer noch nicht schien.

Jetzt war das Motorengeräusch schon viel lauter. Noch einen Moment, und dort, wo der Mais aufhörte und der Bewässerungsgraben von Cal Coodell anfing...

Ja, jetzt sah sie ihn, einen alten Chevrolet-Lieferwagen, der langsam fuhr. Die Fahrerkabine war voll; wie es aussah, drängten sich dort vier Leute (selbst mit hundertacht konnte Abby noch sehr gut auf weite Entfernung sehen), und auf der Ladefläche saßen noch drei, die jetzt aufstanden und über das Fahrerhaus blickten. Sie sah einen schlanken blonden Mann, ein Mädchen mit roten Haaren, und in der Mitte... ja, das war er, ein Junge, der gerade die letzten Lektionen lernte, was es heißt, ein Mann zu sein. Dunkles Haar, schmales Gesicht, hohe Stirn. Er sah sie auf der Veranda sitzen und winkte aufgeregt. Ein wenig später tat der blonde Mann es ihm nach. Das rothaarige Mädchen schaute nur. Mutter Abagail hob die Hand und winkte zurück.

»Gott sei Lob, daß er sie hergebracht hat«, murmelte sie heiser. Tränen liefen ihr heiß über die Wangen. »Herr, ich danke Dir so sehr.«

Der Wagen fuhr holpernd und rumpelnd auf den Hof. Der Mann am Steuer trug einen Strohhut mit blauem Samtband, in dem eine Feder steckte.

»Jjuuhuuuuh!« schrie er und winkte. »Hallo, Mutter! Nick sagte, dass Sie hier sein müssen, und das sind Sie ja auch, juuhuuuu!« Er drückte auf die Hupe. Neben ihm im Fahrerhaus saßen ein Mann um die Fünfzig, eine Frau im gleichen Alter und ein kleines Mädchen im roten Cordoverall. Das kleine Mädchen winkte schüchtern; den Daumen der anderen Hand hatte es fest in den Mund gedrückt. Der junge Mann mit der Augenklappe und dem dunklen Haar - Nick - sprang herunter, bevor der Wagen hielt. Er behielt das Gleichgewicht und kam langsam auf sie zu. Sein Gesicht war ernst, aber die Augen strahlten vor Freude. Er blieb vor den Stufen zur Veranda stehen und sah sich erstaunt um... Hof, Haus, den alten Baum mit der Reifenschaukel. Aber ganz intensiv sah er Abby an.

»Hallo, Nick«, sagte sie. »Ich freue mich, dich zu sehen. Gott segne dich.«

Er lächelte, und auch bei ihm flossen jetzt Tränen. Er ging die Stufen hinauf zu ihr und nahm ihre Hände. Sie bot ihm ihre faltige Wange, und er küßte sie behutsam. Inzwischen hatte der Wagen hinter ihm angehalten, und die anderen waren ausgestiegen. Der Mann, der gefahren war, hielt das kleine Mädchen im roten Overall, das am rechten Bein einen Gipsverband trug, an sich gedrückt. Sie hatte die Arme fest um den sonnengebräunten Nacken des Fahrers geschlungen. Neben ihm stand die etwa fünfzigjährige Frau, neben dieser der Rotschopf und der blonde junge Mann mit Bart. Nein, kein Mann, dachte Mutter Abagail; er ist schwach. Als letzter in der Reihe stand der Mann, der im Fahrerhaus gesessen hatte. Er putzte die Gläser seiner Nickelbrille.

Nick sah Abby auffordernd an, und sie nickte.

»Du hast das Richtige getan«, sagte sie. »Der Herr hat dich geschickt, und Mutter Abagail wird dir zu essen geben. Ihr seid alle willkommen!« fügte sie mit lauterer Stimme hinzu. »Wir können nicht lange bleiben, aber bevor wir aufbrechen, werden wir ausruhen, zusammen das Brot brechen und gute Gemeinschaft halten.«

Das kleine Mädchen auf den sicheren Armen des Fahrers piepste:

»Bist du die älteste Lady der Welt?«

Die etwa fünfzigjährige Frau sagte: »Pssst, Gina!«

Aber Mutter Abagail legte eine Hand an die Hüfte und lachte.

»Vielleicht, mein Kind. Vielleicht.«




Sie ließ ihr rotkariertes Taschentuch hinter dem alten Apfelbaum ausbreiten, und die beiden Frauen, Olivia und June, trugen das Picknick nach draußen, während die Männer Mais pflücken gingen. Dieser war rasch gedünstet, und wenn auch keine richtige Butter im Haus war, hatte sie doch genügend Öl und Salz.

Während des Essens wurde kaum geredet - nur Kaugeräusche und hin und wieder ein leises Grunzen des Behagens waren zu hören. Es tat ihrem Herzen gut, Leute mit solchem Appetit essen zu sehen, und diese Leute erwiesen ihrem Essen alle Ehre. Ihr Ausflug zur Farm der Richardsons und die Rangelei mit den Wieseln waren nicht vergeblich gewesen. Ihre Gäste waren nicht gerade ausgehungert, aber wenn man über einen Monat lang nur aus Dosen lebt, bekommt man Heißhunger auf etwas frisch Gekochtes. Sie selbst aß drei Stückchen Huhn, einen Maiskolben und ein kleines Stück Kuchen mit Erdbeeren und Rhabarber. Als sie alles gegessen hatte, war sie so satt wie eine Bettwanze in der Matratze.

Als sie fertig waren und der Kaffee eingeschenkt wurde, sagte der Fahrer, ein sympathischer Mann namens Ralph Brentner: »Das war ein Knüller von einer Mahlzeit, Madam. Ich kann mich nicht erinnern, wann mir je etwas so gut geschmeckt hat. Unseren besten Dank.«

Die anderen murmelten zustimmend. Nick lächelte und nickte. Das kleine Mädchen sagte: »Darf ich bei dir sitzen, Grannylady?«

»Ich fürchte, du bist zu schwer, Liebes«, sagte Olivia Walker, die ältere Frau.

»Unsinn«, sagte Abagail. »Der Tag, an dem ich ein kleines Mädchen nicht mehr auf den Schoß nehmen kann, ist der, wenn man mich ins Leichentuch hüllt. Komm nur, Gina.«

Ralph trug sie zu ihr hinüber und setzte sie ab. »Wenn sie zu schwer wird, sagen Sie es mir.« Er setzte sich wieder hin.

»Was ist mit deinem Bein passiert, Gina?« fragte Abagail.

»Ich habe es gebrochen, als ich vom Heuboden gefallen bin«, sagte Gina. »Dick hat es wieder heilgemacht. Ralph sagt, Dick hat mir das Leben gerettet. « Sie warf dem Mann mit der Nickelbrille eine Kußhand zu, er errötete leicht, hüstelte und lächelte. Nick, Tom Cullen und Ralph hatten Dick Ellis mitten in Kansas getroffen, als er mit einem Rucksack auf dem Rücken und einem Stock in der Hand die Straße entlangging. Er war Tierarzt. Am nächsten Tag, als sie durch die kleine Stadt Lindsbourg kamen, hatten sie gerastet, um zu Mittag zu essen, und vom südlichen Ende der Stadt Ginas schwache Schreie gehört. Wenn der Wind in die andere Richtung geweht hätte, wären ihnen die Schreie nie aufgefallen.

»Gottes Barmherzigkeit«, sagte Abagail selbstvergessen und strich dem kleinen Mädchen über das Haar.

Gina war drei Wochen allein gewesen. Einen oder zwei Tage vorher hatte sie in der Scheune ihres Onkels auf dem Heuboden gespielt, als die morschen Bretter nachgaben und sie zwölf Meter tief auf den Scheunenboden gestürzt war. Zwar hatte das Heu den Fall gebremst, aber sie war heruntergerollt und hatte sich das Bein gebrochen. Zuerst hatte Dick Ellis ihr kaum Chancen gegeben. Er hatte sie örtlich betäubt, um das Bein zu richten; sie hatte soviel Gewicht verloren, und ihre allgemeine Verfassung war so erbärmlich, daß er befürchtet hatte, sie würde sterben (während der Schlüsselworte dieser Unterhaltung spielte Gina McCone sorglos mit den Knöpfen an Mutter Abagails Kleid).

Gina hatte sich aber so schnell erholt, daß alle überrascht waren. Sie hatte sofort Zuneigung zu Ralph und seinem kecken Hut entwickelt. Mit leiser, verhaltener Stimme sagte Ellis, er vermutete, ihr größtes Problem sei wohl die erdrückende Einsamkeit gewesen.

»Natürlich war es das«, sagte Abagail. »Wenn ihr sie nicht gehört hättet, wäre sie gestorben.«

Gina gähnte. Sie hatte große, glasige Augen.

»Ich nehme sie jetzt«, sagte Olivia Walker.

»Bring sie in den kleinen Raum am Ende des Korridors«, sagte Abby. »Wenn du willst, kannst du bei ihr schlafen. Das andere Mädchen... wie war der Name, Honey? Ich habe ihn ganz vergessen.«

»June Brinkmeyer«, sagte die Rothaarige.

»Nun, du kannst bei mir im Zimmer schlafen, June, es sei denn, du möchtest es nicht. Das Bett ist allerdings nicht breit genug für zwei, aber du wirst ohnehin wohl kaum neben einem alten Knochengestell wie mir schlafen wollen. Doch oben auf dem Boden liegt noch eine Matratze, die es eigentlich tun müßte, falls sich kein Ungeziefer darin eingenistet hat. Einer der starken Männer könnte sie dir herunterholen, glaube ich.«

»Klar«, sagte Ralph.

Olivia brachte Gina, die schon eingeschlafen war, zu Bett. Die Küche war jetzt so voll, wie schon seit Jahren nicht mehr und halb dunkel in der Dämmerung. Ächzend stand Mutter Abagail auf und zündete drei Petroleumlampen an; eine stellte sie auf den Tisch, eine auf den Herd (der gußeiserne Blackwood kühlte ab und knackte zufrieden vor sich hin) und die dritte auf den Fenstersims zur Veranda. Die Dunkelheit war zurückgedrängt.

»Vielleicht sind die alten Methoden die besten«, sagte Dick plötzlich, und alle sahen ihn an. Er errötete und hustete wieder, aber Abagail kicherte nur.

»Ich meine«, fuhr Dick ein wenig defensiv fort, »das war die erste selbstgekochte Mahlzeit seit... ich glaube, seit dem 30. Juni. Dem Tag, als der Strom ausfiel. Und das Essen habe ich selbst gekocht. Aber was ich fabriziert habe, konnte man kaum ein Essen nennen. Meine Frau... die war eine ganz ausgezeichnete Köchin. Sie...« Er verstummte tonlos.

Olivia kam wieder herein. »Fest eingeschlafen«, sagte sie. »Ein müdes kleines Mädchen.«

»Backen Sie Ihr Brot noch selbst?« fragte Dick Mutter Abagail.

»Gewiß. Wie immer. Natürlich kein Hefebrot; die ganze Hefe ist hinüber. Aber es gibt auch noch andere Sorten.«

»Ich sterbe für Brot«, sagte er schlicht. »Helen... meine Frau... hat zweimal die Woche Brot gebacken. In letzter Zeit scheint das mein einziger Wunsch zu sein. Ich glaube, ich könnte glücklich sterben, wenn ich drei Scheiben Brot und etwas Erdbeermarmelade bekommen würde.«

»Tom Cullen ist müde«, sagte Tom plötzlich. »M-O-N-D, das buchstabiert man müde.« Er gähnte, daß seine Kieferknochen knackten.

»Du kannst draußen im Schuppen schlafen«, sagte Abagail. »Er riecht ein bißchen muffig, ist aber trocken.«

Eine Weile lauschten sie dem gleichmäßigen Rauschen des Regens, der schon seit einer Stunde fiel. Wäre Abby allein gewesen, hätte es sich trostlos angehört. In Gesellschaft war es ein angenehmes, geheimnisvolles Geräusch, das sie alle gemeinsam umfing. Er gurgelte durch die galvanisierten Blechrinnen und plätscherte in die Regentonne, die Abby noch auf der anderen Seite des Hauses stehen hatte. Donner grollte über dem fernen lowa.

»Ihr habt gewiß Camping-Ausrüstung?« fragte sie sie.

»Alles mögliche«, sagte Ralph. »Wir kommen zurecht. Komm, Tom.«

»Ich frage mich«, sagte Abagail, »ob Nick und du noch eine Weile bleiben könnt, Ralph.«

Nick hatte während der ganzen Unterhaltung am Tisch gesessen, von Abbys Schaukelstuhl aus gesehen auf der anderen Seite des Zimmers. Man sollte meinen, dachte sie, daß ein Mann, der nicht hören kann, sich in einem Raum voller Menschen verloren vorkommt, daß er ganz einfach untergeht. Aber Nick hatte etwas an sich, das dem entgegenstand. Er saß völlig ruhig da; seine Augen folgten der Unterhaltung reihum; man sah seiner Miene die Reaktion auf das Gesagte an. Er hatte ein offenes und intelligentes Gesicht, aber etwas verhärmt für einen so jungen Mann. Abby bemerkte, dass die Leute im Verlauf der Unterhaltung häufig Nick ansahen, als erwarteten sie seine Zustimmung oder Ablehnung. Sie schienen seine Meinung hoch zu schätzen. Ein paarmal sah Abby, wie Nick mit besorgtem Gesicht nach draußen in die Dunkelheit blickte.

»Könnte ich jetzt die Matratze bekommen?« fragte June leise.

»Nick und ich holen sie«, sagte Ralph und stand auf.

»Ich will nicht allein in den Schuppen gehen«, sagte Tom. »Meine Güte, nein.«

»Ich gehe mit dir raus, Boß«, sagte Dick. »Wir zünden die ColemanLampe an und legen uns schlafen.« Er stand auf. »Nochmals danke, Ma'am. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wunderbar das alles war.«

Auch die anderen bedankten sich noch einmal. Nick und Ralph holten die Matratze, die sich als ungezieferfrei erwies. Tom und Dick - denen nur noch ein Harry fehlte, dann wären sie komplett, dachte Abagail - gingen in den Schuppen hinaus, wo schon bald die Coleman-Lampe aufleuchtete. Kurz darauf waren Nick, Ralph und Mutter Abagail allein in der Küche.

»Stört es Sie, wenn ich rauche, Ma'am?« fragte Ralph.

»Nein, solange Sie nicht die Asche auf den Fußboden werfen. Gleich hinter Ihnen im Schrank steht ein Aschenbecher.«

Ralph stand auf, ihn zu holen, und Abby sah Nick an. Er trug ein Khakihemd, Blue jeans und eine verblichene Drillichweste. Er hatte etwas an sich, das ihr das Gefühl gab, als hätte sie ihn schon vorher gekannt oder als wäre es ihr immer vorherbestimmt gewesen, ihn kennenzulernen. Wenn sie ihn ansah, verspürte sie ein stilles Gefühl des Wissens und der Vollendung, als wäre dieser Augenblick einfach Schicksal gewesen. Als wäre an einem Ende ihres Lebens ihr Vater John Freemantle gewesen, groß und schwarz und stolz, und dieser Mann am anderen Ende, jung, weiß und stumm, mit einem strahlenden, ausdrucksvollen Auge, das sie aus diesem verhärmten Gesicht ansah.

Sie schaute zum Fenster hinaus und erblickte das Licht der Coleman-Batterielampe, das zum Schuppenfenster herausschien und ein Stück des Hofes beleuchtete. Sie fragte sich, ob der Schuppen immer noch nach Kuh roch; sie war seit fast drei Jahren nicht mehr dort gewesen. Unnötig. Daisy, ihre letzte Kuh, war 1975 verkauft worden, aber 1987 hatte der Schuppen immer noch nach Kuh gerochen. Was wahrscheinlich bis auf den heutigen Tag so geblieben war. Einerlei; es gab schlimmere Gerüche.

»Ma'am?«

Sie sah wieder auf. Ralph saß jetzt neben Nick, hielt einen Zettel in der Hand und betrachtete ihn blinzelnd im trüben Licht der Petroleumlampe. Nick hielt Schreibblock und Kugelschreiber. Er sah sie immer noch aufmerksam an.

»Nick sagt...« Ralph räusperte sich verlegen.

»Nur weiter.«

»Auf dem Zettel steht, es ist so schwer, Ihnen von den Lippen zu lesen, weil...«

»Ich glaube, ich weiß, warum«, sagte sie. »Keine Angst.«

Sie stand auf und schlurfte zum Schreibpult. Auf dem zweiten Regal darüber stand ein Plastikbehälter, in dem in einer milchigen Flüssigkeit zwei Gebißplatten wie medizinische Ausstellungsstücke schwammen.

Sie fischte sie heraus und spülte sie in einem Krug Wasser ab.

»Mein Gott, habe ich gelitten«, sagte Mutter Abagail kläglich und setzte das Gebiß ein.

»Wir müssen miteinander reden«, sagte sie. »Ihr zwei seid die Anführer, und wir müssen uns über ein paar Dinge klar werden.«

»Nun«, sagte Ralph, »ich nicht. Ich war nie mehr als Vollzeitfabrikarbeiter und Teilzeitfarmer. Ich habe zu meiner Zeit mehr Schwielen als Einfälle gehabt. Ich glaube eher, Nick hat das Sagen.«

»Stimmt das?« fragte sie und sah Nick an.

Nick schrieb kurz, und Ralph las es laut vor, und so hielt er es auch weiterhin.

»Es war meine Idee, hierherzukommen, ja. Aber ob ich der Anführer bin, weiß ich nicht.«

»June und Olivia haben wir etwa neunzig Meilen südlich von hier getroffen«, sagte Ralph. »Das war vorgestern, Nick, nicht?«

Nick nickte.

»Da waren wir schon auf dem Weg zu Ihnen, Mutter. Die Frauen waren auch nach Norden unterwegs. Und Dick. Wir haben uns zusammengetan.«

»Habt ihr sonst noch Leute gesehen?« fragte sie.

»Nein«, schrieb Nick. »Aber ich hatte das Gefühl - Ralph auch -, dass da noch andere waren, die sich versteckt hatten und uns beobachteten. Ich denke, sie hatten Angst. Sie müssen noch den Schock überwinden.«

Sie nickte.

»Dick hat gesagt, am Tag, bevor er uns getroffen hat, hat er irgendwo im Süden ein Motorrad gehört. Also sind noch andere Menschen unterwegs. Ich glaube, eine so große Gruppe macht ihnen angst.«

»Warum seid ihr hergekommen?« Ihre Augen blickten Nick aus einem Gewirr von Runzeln gespannt an.

Nick schrieb: »Ich habe von Ihnen geträumt. Dick Ellis auch einmal, sagt er. Und die kleine Gina nannte Sie schon lange, bevor wir hier waren, >Grannylady<. Sie hat Ihr Haus beschrieben. Die Reifenschaukel.«

»Gott segne das Kind«, sagte Mutter Abagail zerstreut. Sie sah Ralph an. »Und du?«

»Ein- oder zweimal, Ma'am«, sagte Ralph. Er fuhr mit der Zunge über die Lippen. »Ich habe hauptsächlich von diesem... von diesem anderen Kerl geträumt.«

»Von welchem Kerl?«

Nick schrieb. Kreiste das Geschriebene ein. Gab es ihr diesmal. Auf die Nähe konnte sie ohne ihre Brille oder die Leuchtlupe, die sie vor einem Jahr im Hemingford Center gekauft hatte, nicht mehr gut sehen, aber dies konnte sie lesen. Es war groß geschrieben wie die Flammenschrift, die Gott in Belsazers Palast an der Wand erscheinen ließ. Der bloße Anblick des Eingekreisten machte sie schon frösteln. Sie dachte an die Wiesel, die auf dem Bauch über die Straße krochen und mit nadelspitzen Killerzähnen an dem Sack zerrten. Sie dachte an ein einzelnes rotes Auge, das sich in der Dunkelheit öffnete, das schaute und suchte, jetzt nicht nur eine alte Frau, sondern eine ganze Gruppe Männer und Frauen... und ein kleines Mädchen.

Die drei eingekreisten Worte waren: Der dunkle Mann.




»Ich habe erfahren«, sagte sie, faltete den Zettel zusammen, klappte ihn auf, faltete ihn wieder zusammen und dachte momentan gar nicht an die Schmerzen ihrer Arthritis, »daß wir nach Westen gehen sollen. Das hat mir Gott der Herr im Traum gesagt. Ich wollte nicht darauf hören. Ich bin eine alte Frau und möchte nur auf diesem Stück Land sterben. Es gehört seit hundertzwölf Jahren meiner Familie, aber es ist mir genauso wenig bestimmt, hier zu sterben, wie es Moses bestimmt war, mit den Kindern Israels nach Kanaan zu gehen.«

Sie schwieg. Die beiden Männer sahen sie im Schein der Lampe an, draußen rauschte langsam und unaufhörlich der Regen. O Herr, dachte sie, dieses Gebiß tut mir im Mund weh. Ich möchte es rausnehmen und ins Bett gehen.

»Schon zwei Jahre bevor diese Seuche ausbrach, hatte ich Träume. Ich habe immer geträumt, und manchmal wurden meine Träume wahr. Weissagungen sind eine Gabe Gottes, jeder hat ein wenig davon. Meine Großmutter nannte sie den Lampenschein Gottes, manchmal auch nur das Shining. In meinen Träumen sah ich mich nach Westen gehen. Zuerst nur mit wenigen Leuten, dann mit ein paar mehr, dann noch ein paar. Westen, immer Westen, bis ich die Rocky Mountains sehen konnte. Zuletzt waren wir eine ganze Karawane, zweihundert oder mehr. Und es gab Zeichen... nein, keine Zeichen von Gott, sondern gewöhnliche Straßenzeichen, und auf allen stand so etwas wie BOULDER, COLORADO, 609 MEILEN oder RICHTUNG BOULDER.«

Sie machte eine Pause.

»Diese Träume, die haben mir angst gemacht. Ich hab' nie einer Menschenseele erzählt, daß ich sie hatte, solche Angst hab' ich gehabt. Mir war etwa so zumute, wie Hiob zumute gewesen sein muß, als Gott aus dem Wirbelwind zu ihm gesprochen hat. Ich hab' sogar so getan, als wären es nur Träume; ich war eine dumme alte Frau, die vor Gott weggelaufen ist wie Jonas. Aber du siehst, der große Fisch hat uns trotzdem verschluckt. Und wenn Gott zu Abby sagt: Du mußt es erzählen!, dann muß ich es erzählen. Und ich habe mir immer gedacht, daß jemand zu mir kommen würde, jemand ganz Besonderes, und so würde ich erfahren, daß die Zeit gekommen ist.«

Sie betrachtete Nick, der am Tisch saß und sie mit seinem guten Auge ernst durch den Dunst von Ralph Brentners Zigarettenrauch ansah.

»Ich wußte es, als ich dich gesehen habe«, sagte sie. »Du bist es, Nick. Gott hat seinen Finger auf dein Herz gelegt. Aber er hat mehr als einen Finger, und draußen sind andere, die noch kommen, und auch auf sie hat er seinen Finger gelegt. Ich träume von ihm, wie er immer nach uns sucht, und, Gott vergebe meinem kranken Geist, ich verfluche ihn von ganzem Herzen.« Sie fing an zu weinen und stand auf, um Wasser zu trinken und sich etwas ins Gesicht zu spritzen. Ihre Tränen waren das Menschliche an ihr, schwach und gebrechlich.

Als sie sich wieder umdrehte, schrieb Nick etwas. Schließlich riß er den Zettel ab und gab ihn Ralph.

»Ich weiß nichts von Gott, aber ich weiß, daß etwas im Gange ist. Alle, die wir getroffen haben, waren auf dem Weg nach Norden. Als wüßten Sie die Antwort. Haben Sie auch von den anderen Leuten geträumt? Dick? June oder Olivia? Vielleicht von dem kleinen Mädchen?«

'Von denen nicht. Von einem Mann, der nicht viel redet. Von einer schwangeren Frau. Von einem jungen Mann in deinem Alter, der seine Gitarre mitbringt. Und von dir, Nick.«

»Und Sie glauben, daß es das Richtige wäre, nach Boulder zu gehen?«

Mutter Abagail sagte: »Wir sollen dorthin gehen.«

Nick kritzelte einen Moment müßig auf seinem Notizblock herum, dann schrieb er: »Was wissen Sie über den dunklen Mann? Wissen Sie, wer er ist?«

»Ich weiß, was er vorhat, aber nicht, wer er ist. Er ist das reinste Böse, das es auf der Welt noch gibt. Die übrigen Bösen sind kleine Fische. Ladendiebe und Sexualverbrecher und Leute, die gern die Fäuste gebrauchen. Aber er wird sie rufen. Er hat schon angefangen. Er versammelt sie viel schneller um sich, als wir uns zusammenfinden. Nicht nur die Bösen, die wie er sind, auch die Schwachen... die Einsamen... und diejenigen, die Gott nicht in ihr Herz lassen.«

»Vielleicht gibt es ihn gar nicht«, schrieb Nick. »Vielleicht ist er nur...« Er mußte eine Weile an seinem Stift knabbern und nachdenken. Schließlich fügte er hinzu: »...das Ängstliche, Böse in uns allen. Vielleicht träumen wir nur die Dinge, vor denen wir selbst Angst haben, wir könnten sie tun.«

Ralph runzelte die Stirn, als er das laut vorlas, aber Abby verstand sofort, was Nick meinte. Es unterschied sich kaum von dem, was diese neuen Prediger redeten, die seit ungefähr zwanzig Jahren durch das Land zogen. In Wirklichkeit gab es keinen Satan, das war ihr Evangelium. Es gab das Böse, und das war wahrscheinlich auf die Erbsünde zurückzuführen, aber es steckte in uns allen, und es war genauso unmöglich, es auszutreiben, wie man ein Ei aus der Schale holen konnte, ohne sie zu zerbrechen. Wie diese neuen Prediger behaupteten, war Satan wie ein Puzzle - jeder Mann, jede Frau, jedes Kind auf Erden fügte sein kleines Teil zum Ganzen hinzu. Ja, das klang alles ziemlich modern; das Dumme war nur, dass es nicht stimmte. Und wenn Nick es noch länger glaubte, würde ihn der dunkle Mann zum Frühstück verspeisen.

Sie sagte: »Du hast von mir geträumt. Gibt es mich etwa nicht?«

Nick nickte.

»Und ich habe von dir geträumt. Gibt es dich nicht? Gelobt sei Gott, du sitzt mir gegenüber, mit einem Notizblock auf den Knien. Diesen anderen Mann, Nick, gibt es wirklich, genau wie dich.« Ja, es gab ihn. Sie dachte an die Wiesel und an das rote Auge, das sich in der Dunkelheit öffnete. Und als sie weitersprach, war ihre Stimme heiser. »Er ist nicht Satan«, sagte sie. »Aber er und der Satan kennen einander, sie stecken von altersher unter einer Decke.

Die Bibel sagt nicht, was aus Noah und seiner Familie wurde, als das Wasser zurückging. Aber ich würde mich nicht wundern, wenn es einen schrecklichen Kampf um die Seelen dieser wenigen Menschen gegeben hätte - um ihre Seelen, ihre Körper, ihre Art zu denken. Und es würde mich nicht wundern, wenn uns das auch bevorsteht. Er ist jetzt westlich der Rockies. Früher oder später wird er nach Osten kommen. Vielleicht nicht dieses Jahr, aber sobald er bereit ist. Und es ist unser Los, mit ihm fertigzuwerden.«

Nick schüttelte beunruhigt den Kopf.

»Doch«, sagte sie leise. »Du wirst es sehen. Vor uns liegen bittere Tage. Tod und Entsetzen, Verrat und Tränen. Und wir werden nicht alle am Leben bleiben und sehen, wie es ausgeht.«

»Mir gefällt das alles nicht«, murmelte Ralph. »Ist nicht alles schon schlimm genug auch ohne diesen Burschen, von dem Sie und Nick reden ? Haben wir nicht schon genügend Probleme, keine Ärzte, keinen Strom, nichts? Warum müssen wir uns auch noch mit diesem verdammten Problem herumschlagen?«

»Ich weiß es nicht. Das ist Gottes Art. Er erklärt Leuten wie Abby Freemantle nichts.«

»Wenn das seine Art ist«, sagte Ralph, »dann wünschte ich, er würde abtreten und einem Jüngeren Platz machen.«

»Wenn der dunkle Mann im Westen ist«, schrieb Nick, »sollten wir vielleicht lieber unsere Sachen packen und nach Osten ziehen.«

Sie schüttelte geduldig den Kopf. »Nick, alle Dinge dienen dem Herrn. Glaubst du nicht, daß dieser schwarze Mann Ihm auch dient? Er tut es, wie unergründlich Gottes Wege auch sein mögen. Wohin du auch gehst, der dunkle Mann wird dir folgen, denn es dient Gottes Zwecken, daß du ihm begegnest. Es nützt nichts, wenn man vor dem Willen des Herrn der Heerscharen davonläuft. Ein Mann oder eine Frau, die das versuchen, landen unweigerlich im Bauch der Bestie.«

Nick schrieb kurz. Ralph studierte den Zettel, rieb sich an der Nase und wünschte, er müßte ihn nicht vorlesen.

»Was sagt er?« fragte Abagail.

»Er sagt...« Ralph räusperte sich; die Feder im Hutband wippte. »Er sagt, daß er nicht an Gott glaubt.« Nachdem er die Botschaft übermittelt hatte, blickte Ralph unbehaglich auf seine Schuhe und wartete auf die Explosion.

Aber sie kicherte nur, stand auf und ging zu Nick hinüber. Sie nahm seine Hand und tätschelte sie. »Gott segne dich, Nick, denn das spielt keine Rolle. Er glaubt an dich




Sie blieben auch am nächsten Tag in Mutter Abagails Haus, und es war der schönste Tag, an den sie sich erinnern konnten, seit die Supergrippe abgeklungen war wie die Wasser, die vom Berg Ararat herunterflössen. In den frühen Morgenstunden hatte es aufgehört zu regnen, um neun Uhr glich der Himmel einem bezaubernden Mittelwesten-Wandgemälde mit Sonne und Wölkchen. Der Mais funkelte in allen Richtungen wie ein Kästchen voller Smaragde. Es war so kühl wie seit Wochen nicht mehr.

Tom Cullen lief den ganzen Vormittag mit ausgebreiteten Armen durch die Maisreihen und scheuchte ganze Schwärme Krähen auf. Gina McCone saß zufrieden bei der Reifenschaukel im Sand und spielte mit einer Vielzahl von Papierpuppen, die Abagail ganz unten in einer Truhe in ihrem Schlafzimmer gefunden hatte. Eine Weile vorher hatten sie schon mit Autos, Lastwagen und der Garage von Fisher-Price gespielt, die Tom aus dem Five-and-Dime in May, Oklahoma, mitgenommen hatte. Tom befolgte Ginas Anweisungen nur allzu bereitwillig.

Dick Ellis, der Tierarzt, kam zögernd zu Mutter Abagail und fragte sie, ob jemand in der Gegend Schweine gehalten hatte.

»Sicher, die Stoners haben immer Schweine gehabt«, sagte sie. Sie saß im Schaukelstuhl auf der Veranda, schlug Akkorde auf der Gitarre an und beobachtete Gina mit ihrem geschientes Bein beim Spielen im Hof.

»Glauben Sie, es könnten noch welche leben?«

»Da müßtest du nachsehen. Könnte sein. Könnte auch sein, daß sie ihre Pferche umgestürzt haben und wild geworden sind.« Ihre Augen funkelten. »Und es könnte sein, daß ich einen Mann kenne, der gestern nacht von Schweinekoteletts geträumt hat.«

»Könnte schon sein«, sagte Dick.

»Schon mal ein Schwein geschlachtet?«

»Nein, Ma'am«, sagte er und grinste breit. »Ein paar entwurmt, aber geschlachtet noch keins. Bin schon immer Pazifist gewesen.«

»Glaubst du, du und Ralph würdet mit einer Vorarbeiterin klarkommen?«

»Gut möglich«, sagte er.

Zwanzig Minuten später waren die drei unterwegs. Abagail sass zwischen den beiden Männern im Führerhaus des Chevy und hatte den Stock fest zwischen die Knie geklemmt. Bei den Stoners fanden sie zwei einjährige Schweine im Pferch hinten im Hof, die gesund und wohlgenährt waren. Es schien, als hätten sie sich an ihren schwächeren und nicht so glücklichen Artgenossen gütlich getan, als das Futter zu Ende ging.

Ralph stellte Reg Stoners Flaschenzug auf, und Dick gelang es auf Geheiß von Mutter Abagail schließlich, einem Einjährigen ein Seil fest um die Hinterbeine zu schlingen. Es wurde quiekend und um sich tretend in den Hof gezogen und mit dem Kopf nach unten an den Flaschenzug gehängt.

Ralph kam mit einem siebzig Zentimeter langen Schlachtermesser aus dem Haus. Das ist kein Messer, das ist, bei Gott, ein regelrechtes Bajonett, dachte Abby.

»Wissen Sie, ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte er.

»Dann gib her«, sagte Abagail und streckte die Hand aus. Ralph sah Dick zweifelnd an. Dick zuckte die Achseln. Ralph gab ihr das Messer.

»Herr«, sagte Abagail, »wir danken Dir für die Gabe, die wir aus Deiner Güte empfangen. Segne dieses Schwein, daß es uns nähren möge. Amen. Weg da, Jungs, es wird gleich spritzen.«

Mit geübtem Schwung schnitt sie dem Schwein die Kehle durch - es gibt Dinge, die man nie vergißt, wie alt man auch wird - und wich, so schnell sie konnte, zurück.

»Hast du das Feuer unter dem Kessel angezündet?« fragte sie Dick.

»Ein schönes, heißes Feuer draußen auf dem Hof?«

»Ja, Ma'am«, sagte Dick, der kein Auge von dem Schwein nehmen konnte.

»Hast du die Bürsten?« fragte sie Ralph.

Ralph zeigte zwei große Scheuerbürsten mit steifen gelben Borsten.

»Nun denn, tragt es rüber und werft es rein. Wenn es eine Weile gekocht hat, lassen sich die Borsten leicht abschrubben, und dann könnt ihr Mr. Schwein abschälen wie eine Banane.«

Bei dieser Vorstellung nahmen die Gesichter der beiden eine leicht grünliche Färbung an. »Los doch«, sagte sie. »Ihr könnt es nicht essen, solange es noch seinen Mantel anhat. Vorher müßt ihr es ausziehen.«

Ralph und Dick Ellis sahen einander an, schluckten und ließen das Schwein langsam am Flaschenzug herunter. Nachmittags um drei waren sie damit fertig, um vier erreichten sie mit einer Wagenladung Fleisch Abagails Haus und aßen frische Schweinekoteletts zum Abendessen. Die Männer aßen nicht viel, aber Abagail verzehrte allein zwei Koteletts und genoß es, wie die fette Kruste zwischen ihrem Gebiß knackte. Es gab nichts Schöneres als frisches Fleisch aus eigener Schlachtung.




Es war kurz nach neun Uhr. Gina schlief, und Tom Cullen war auf der Veranda in Mutter Abagails Schaukelstuhl eingenickt. Fern im Westen zuckte Wetterleuchten über den Himmel. Die anderen Erwachsenen hatten sich in der Küche versammelt, außer Nick, der einen Spaziergang machte. Abagail wußte, womit der Junge kämpfte, und ihr Herz war bei ihm.

»Sagen Sie, Sie sind doch nicht wirklich hundertacht, oder?« fragte Ralph, dem etwas einfiel, das Abby heute morgen gesagt hatte, bevor sie zu ihrer Schweinesafari aufgebrochen waren.

»Kleinen Moment mal«, sagte Abagail. »Ich will dir etwas zeigen, mein Lieber.« Sie ging ins Schlafzimmer und holte den eingerahmten Brief von Präsident Reagan aus der obersten Schublade der Kommode. Sie brachte ihn Ralph und legte ihn auf dessen Schoß.

»Lies das, Jungchen«, sagte sie stolz.

Ralph las ihn. »...Anlaß Ihres einhundertsten Geburtstages... eine von zweiundsiebzig erwiesenen Hundertjährigen in den Vereinigten Staaten von Amerika... fünftälteste amtlich erfaßte Republikanerin in den Vereinigten Staaten von Amerika... Grüße und Glückwünsche von Präsident Ronald Reagan, 14. Januar 1982.« Er sah sie mit großen Augen an. »Da soll doch die Schei...« Er verstummte und errötete verwirrt. »Verzeihung, Ma'am.«

»Was Sie alles gesehen haben müssen!« staunte Olivia.

»Das ist alles nichts verglichen mit dem, was ich im Lauf des vergangenen Monats gesehen habe.« Sie seufzte. »Oder was ich noch zu sehen erwarte.«

Die Tür ging auf, und Nick trat ein - die Unterhaltung verstummte, als hätten sie alle sich die Zeit vertrieben und nur auf ihn gewartet. Sie sah seinem Gesicht an, daß er sich entschieden hatte, und glaubte zu wissen, wie die Entscheidung ausgefallen war. Er gab ihr einen Zettel, den er bei Tom auf der Veranda geschrieben hatte. Sie hielt den Zettel auf Armlänge, um ihn zu lesen.

»Wir sollten morgen nach Boulder aufbrechen«, hatte Nick geschrieben.

Sie sah vom Zettel in Nicks Gesicht und nickte bedächtig. Sie gab den Zettel June Brinkmeyer, die ihn an Olivia weiterreichte. »Das denke ich auch«, sagte Abagail. »Ich will ebenso wenig wie ihr, aber wir müssen es tun. Wie bist du zu dem Entschluß gekommen?«

Er zuckte fast wütend die Achseln und deutet auf sie.

»So sei es«, sagte Abagail. »Ich vertraue dem Herrn.«

Nick dachte: Ich wünschte, ich könnte das auch.




Am nächsten Morgen, dem 26. Juli, brachen Dick und Ralph nach einer kurzen Besprechung mit Ralphs Wagen nach Columbus auf.

»Ich trenne mich ungern von dem Ding«, sagte Ralph. »Aber wenn es so ist, wie du sagst, Nick, okay.«

Nick schrieb: »Kommt so schnell wie möglich zurück.« Ralph lachte kurz auf und sah über den Hof. June und Olivia wuschen in einer großen Wanne, in der ein Waschbrett stand, einige Kleidungsstücke. Tom war im Mais und scheuchte Krähen auf - eine Beschäftigung, die er endlos unterhaltsam zu finden schien. Gina spielte mit Toms Corgi-Modellautos und der Tankstelle. Die alte Frau döste in ihrem Schaukelstuhl, döste und schnarchte.

»Du hast es ja furchtbar eilig, den Kopf in den Rachen des Löwen zu stecken, Nicky.«

Nick schrieb: »Hast du einen besseren Vorschlag?«

»Du hast recht. Es hat keinen Zweck, in der Gegend herumzuziehen. Dabei fühlt man sich wertlos. Ein Mensch fühlt sich eigentlich nur wohl, wenn er ein Ziel hat, ist dir das schon mal aufgefallen?«

Nick nickte.

»Okay.« Ralph schlug Nick auf die Schulter und wandte sich ab.

»Dick, können wir jetzt fahren?«

Tom Cullen kam aus dem Mais gerannt; Maisfäden hingen ihm an Hemd, Hose und den blonden Haaren. »Ich auch! Tom Cullen will auch mitfahren! Meine Güte, ja!«

»Dann komm«, sagte Ralph. »Sieh dir das an. Von oben bis unten und von Bug bis Heck voller Maisfäden. Und du hast immer noch keine Krähe gefangen. Laß dich abbürsten.«

Tom grinste dümmlich, während Ralph ihm Hemd und Hose abbürstete. Für Tom, überlegte Nick, mußten die letzten zwei Wochen die glücklichsten seines Lebens gewesen sein. Er war bei Leuten, die ihn akzeptierten und brauchten. Warum auch nicht? Er mochte schwachsinnig sein, aber er war in dieser neuen Welt eine ausgesprochene Seltenheit: ein lebendes menschliches Wesen.

»Tschüs, Nicky«, sagte Ralph und stieg hinter das Lenkrad des Chevy.

»Tschüs, Nicky«, wiederholte Tom Cullen noch grinsend. Nick sah dem Wagen nach, bis er nicht mehr zu sehen war, dann ging er in den Schuppen, wo er eine alte Kiste und einen Eimer Farbe fand. Er brach ein Seitenbrett der Kiste ab und nagelte ein langes Stück Zaunpfahl daran. Er trug Schild und Farbe auf den Hof und schrieb sorgfältig etwas darauf, während Gina ihm interessiert über die Schulter sah.

»Was heißt das?« fragte sie.

»Es heißt: >Wir sind nach Boulder, Colorado, gefahren. Wir benutzen Nebenstraßen, um Verkehrsstaus auszuweichen. Citizen Band, Kanal 14<«, las Olivia vor.

»Was soll das?« fragte June, die herüberkam. Sie nahm Gina auf den Arm, und sie sahen beide zu, wie Nick das Schild so aufstellte, daß es der Stelle zugewandt war, wo der Sandweg in Mutter Abagails Einfahrt überging. Er grub neunzig Zentimeter der Zaunlatte ein. Jetzt würde nur noch ein schwerer Sturm sie umwerfen. Selbstverständlich herrschten in diesem Teil der Welt schwere Stürme; er dachte an den, der Tom und ihn fast fortgerissen hätte, und die Angst, die sie im Keller ausgestanden hatten. Er schrieb eine Notiz und gab sie June.

»Dick und Ralph sollen in Columbus unter anderem ein CB Funkgerät besorgen. Jemand muß die ganze Zeit Kanal 14 überwachen.«

»Oh«, sagte Olivia. »Schlau.«

Nick tippte sich feierlich an die Stirn und lächelte. Die beiden Frauen gingen weg, um ihre Wäsche aufzuhängen. Gina hinkte auf einem Bein zu ihren Spielzeugautos. Nick ging über den Hof, stieg die Stufen zur Veranda hoch und setzte sich neben die schlafende alte Frau. Er sah über das Maisfeld und fragte sich, was aus ihnen werden sollte.

Aber wenn es so ist, wie du sagst, Nick, okay.

Sie hatten ihn zum Anführer gemacht. Das hatten sie, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, warum. Man konnte von einem Taubstummen keine Befehle entgegennehmen; das war wie ein schlechter Witz. Dick hätte ihr Anführer sein müssen. Er selbst war nur ein Speerträger, der dritte von links, keine Streifen, den nur seine Mutter gelten ließ. Aber von dem Augenblick an, als sie Ralph Brentner getroffen hatten, der mit seinem alten Chevrolet die Straße entlangtuckerte, ohne zu wissen, wohin er fuhr, hatte es angefangen: Immer wenn jemand etwas sagte, sah er rasch Nick an, als ob er eine Bestätigung brauchte. Auf die Tage zwischen Shoyo und May, vor Tom und der Verantwortung, hatte sich jetzt schon ein Nebel von Nostalgie gelegt. Es war leicht, die Einsamkeit zu vergessen und die Angst, die ständigen entsetzlichen Träume könnten bedeuten, daß er den Verstand verlor. Und leicht, sich zu erinnern, wie man für sich selbst sorgen mußte, den Speerträger, dritter von links, ein Statist in diesem grauenhaften Stück.

Als ich dich sah, wußte ich es. Du bist es, Nick. Gott hat seinen Finger auf dein Herz gelegt...

Nein, das akzeptiere ich nicht. Ich akzeptiere auch Gott nicht, was das angeht. Mochte die alte Frau ihren Gott behalten; Gott war für alte Frauen so notwendig wie Einläufe und Teebeutel von Lipton. Er würde sich darauf konzentrieren, eins nach dem anderen zu erledigen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er würde sie nach Boulder bringen und sehen, was dann kam. Die alte Frau hatte gesagt, den dunklen Mann gäbe es wirklich, er wäre nicht nur ein psychologisches Symbol, und auch das wollte er nicht glauben... aber in seinem Herzen glaubte er es doch. In seinem Herzen glaubte er alles, was die alte Frau gesagt hatte, und es machte ihm angst. Er wollte nicht ihr Anführer sein.

Du bist es, Nick.

Eine Hand drückte seine Schulter, er zuckte überrascht zusammen und drehte sich um. Sie mochte geschlafen haben, aber jetzt nicht mehr. Sie lächelte ihn aus ihrem Schaukelstuhl ohne Armlehnen an.

»Ich habe hier gesessen und über die große Wirtschaftskrise nachgedacht«, sagte sie. »Weißt du, daß dieses Land früher im Umkreis von vielen Meilen meinem Daddy gehört hat? Es stimmt. Keine Kleinigkeit für einen Schwarzen. Und ich habe neunzehnnullzwo im großen Saal der Farmervereinigung Gitarre gespielt und gesungen. Das ist lange her, Nick. Sehr, sehr lange.«

Nick nickte.

»Es waren schöne Zeiten, Nick - meistens jedenfalls. Aber ich schätze, nichts ist von Dauer. Nur die Liebe des Herrn. Mein Daddy starb, und das Land wurde unter seinen Söhnen aufgeteilt, auch mein erster Mann bekam ein Stück, nicht viel, nur vierundzwanzig Hektar. Dies Haus steht auf einem Teil dieser vierundzwanzig Hektar. Jetzt sind nur noch anderthalb Hektar übrig. O ja, jetzt könnte ich das ganze Land wieder beanspruchen, aber es wäre irgendwie nicht dasselbe.«

Nick tätschelte ihre knochige Hand, und sie seufzte tief.

»Brüder vertragen sich nicht immer gut, sie fangen fast immer an zu streiten; siehe Kain und Abel. Jeder wollte der Boß sein, keiner wollte auf dem Feld arbeiten! Dann kam 1931, und die Bank wollte ihr Geld. Da zogen sie plötzlich alle an einem Strang, aber es war schon fast zu spät. 1945 war alles weg, bis auf meine vierundzwanzig Hektar und noch fünfzehn oder zwanzig, wo jetzt Goodells Haus steht.«

Sie zog das Taschentuch aus der Tasche ihres Kleides und wischte sich langsam und nachdenklich die Augen.

»Am Ende lebte nur noch ich und hatte kein Geld und nichts. Und jedes Jahr, wenn die Steuer fällig war, nahmen sie mir ein wenig mehr Land weg, und dann ging ich nach draußen auf die Veranda, sah mir das Land an, das mir nicht mehr gehörte, und weinte darum, so wie jetzt. Jedes Jahr ging ein Stück für die Steuer weg, so war das. Hier ein Stück, da ein Stück. Das restliche Land hatte ich verpachtet, aber die Einnahmen reichten nie für die verflixte Steuer aus. Dann, als ich hundert Jahre alt wurde, haben sie mir die Steuern für immer erlassen. Ja, sie haben mir das Land überlassen, nachdem sie mir bis auf dieses kleine Stück alles genommen hatten. Großzügig von ihnen, was?«

Nick drückte ihr leicht die Hand und sah sie an.

»O Nick«, sagte Mutter Abagail, »in meinem Herzen habe ich den Herrn gehaßt. Jeder Mann, der ihn liebt, und jede Frau, die ihn liebt, sie hassen ihn gleichzeitig, denn er ist ein harter Gott, ein eifersüchtiger Gott. Er ist, was er ist, und in dieser Welt vergilt er treuen Dienst mit Schmerzen, während die Bösen in Cadillacs auf den Straßen fahren. Selbst die Freude, ihm zu dienen, ist eine bittere Freude. Ich handle nach seinem Willen, aber in meinem Herzen habe ich ihn verflucht. >Abby<, sagt der Herr zu mir, >in ferner Zukunft wartet Arbeit auf dich. Deshalb werde ich dich lange leben lassen, bis das Fleisch dir an den Knochen bitter wird. Du sollst alle deine Kinder vor dir sterben sehen und immer noch auf Erden wandeln. Ich zeige dir, wie dir das Land deines Vaters Stück für Stück genommen wird. Und am Ende wird deine Belohnung sein, daß du mit Fremden zusammen fortziehst und alles verlassen mußt, was du liebst, und du wirst in einem fremden Land sterben, und die Arbeit wird noch nicht getan sein. Das ist mein Wille, Abby<, sagt er, und ich sagte: >Ja, Herr. Dein Wille gesehenes und im Herzen verfluche ich ihn und frage: >Warum, warum, warum?< und bekomme nur eine Antwort: >Wo warst du, als ich die Welt erschaffen habe?<«

Jetzt flössen ihre Tränen wie eine bittere Flut über die Wangen und das Leibchen ihres Kleides, und Nick wunderte sich darüber, daß so viele Tränen in so einer alten Frau waren, die so dürr und trocken aussah wie ein abgestorbener Zweig.

»Hilf mir weiter, Nick«, sagte sie. »Ich will nur das Richtige tun.« Er hielt ihre Hände ganz fest. Hinter ihnen kicherte Gina und hielt eins der Spielzeugautos in die Luft, so daß sich die Sonne darauf spiegelte.

Gegen Mittag kamen Dick und Ralph aus Columbus zurück. Dick saß am Steuer eines neuen Dodge-Lieferwagens, und Ralph fuhr einen roten Abschleppwagen mit Kran und Haken, der hinten herunterbaumelte. Tom stand auf der Ladefläche und winkte. Sie hielten vor der Veranda an, und Dick stieg aus.

»Der Abschleppwagen hat ein hervorragendes CB-Gerät«, sagte er zu Nick. »Mit vierzig Kanälen. Ich glaube, Ralph ist ganz verliebt in das Ding.«

Nick grinste. Die Frauen waren dazugekommen und begutachteten die Fahrzeuge. Abag ail fiel auf, wie Ralph June zum Abschleppwagen führte, damit sie das Funkgerät bewundern und beifällig nicken konnte. Die Frau hatte gutgebaute Hüften, und gewiss befand sich dazwischen eine ordentliche Verandatür. Sie würde so viele Kinder bekommen können, wie sie wollte. . . ,-»Und wann fahren wir?« fragte Ralph.

Nick kritzelte: »Sobald wir gegessen haben. Hast du das CB ausprobiert?«

»Ja«, sagte Ralph. »Es war die ganze Zeit eingeschaltet. Schreckliche Statik; es hat einen Dämmknopf, aber der scheint nicht sehr gut zu funktionieren. Weißt du, ich schwöre, ich habe etwas gehört, ob Statik oder nicht. Weit entfernt. Vielleicht nicht einmal Stimmen. Aber ich sage die Wahrheit, Nicky, es hat mir gar nicht gefallen. So wenig wie die Träume.«

Schweigen senkte sich über sie.

»Nun«, sagte Olivia in die Stille. »Ich werde etwas kochen.

Hoffentlich stört es niemanden, zwei Tage hintereinander Schweinefleisch zu essen.«

Es störte niemanden. Um ein Uhr waren die Camping-Ausrüstung - und Abagails Schaukelstuhl und Gitarre - im Lieferwagen verstaut, und sie fuhren los, der Abschleppwagen voraus, um etwaige Hindernisse wegzuschieben. Abagail saß vorn im Lieferwagen, als sie zur Route 30 fuhren, die nach Westen führte. Sie weinte nicht. Sie hatte den Stock zwischen die Knie geklemmt. Das Weinen war vorbei. Es war der Wille des Herrn, und Sein Wille sollte geschehen. Der Wille des Herrn sollte geschehen, aber sie dachte an das rote Auge, das sich im dunklen Herzen der Nacht öffnete, und sie hatte Angst.

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