47

Als es passierte, passierte es schnell.

Es war gegen Viertel vor zehn am 30. Juli; sie waren erst eine Stunde unterwegs. Sie kamen nur mühsam voran, weil es vergangene Nacht stark geregnet hatte und die Straße immer noch rutschig war. Seit gestern morgen hatten die vier kaum miteinander gesprochen, als Stu erst Frannie geweckt hatte, dann Harold und Glen, um ihnen von Perions Selbstmord zu erzählen. Er gab sich selbst die Schuld, dachte Fran voller Trauer und Mitleid, gab sich die Schuld für etwas, das ebensowenig seine Schuld war wie ein Gewitter.

Das hätte sie ihm gerne gesagt, teils, weil er für sein Selbstmitleid gescholten werden mußte, teils, weil sie ihn liebte. Letzteres war eine Tatsache, die sie nicht mehr vor sich verheimlichen konnte. Sie glaubte, sie könnte ihn überzeugen, daß Peris Tod nicht seine Schuld war... aber dabei hätte sie ihm ihre Gefühle für ihn offenbaren müssen. Sie mußte ihm das Herz ausschütten, damit er es einsah. Unglücklicherweise würde es dann aber auch Harold mitbekommen. Also war es verschoben... aber nur vorläufig. Sie entschied, daß sie es bald tun mußte, Harold hin oder her. Sie konnte ihn nur eine gewisse Zeit schonen. Dann mußte er es erfahren... und es entweder akzeptieren oder nicht. Sie fürchtete, Harold würde es nicht einfach hinnehmen. So eine Entscheidung konnte zu etwas Schrecklichem führen. Immerhin hatten sie eine Menge Schießeisen bei sich.

Diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, als sie um eine Kurve bogen und einen großen umgestürzten Wohnwagen sahen, der die Straße von einer Seite zur anderen versperrte. Auf der rostigen rosa Seite glänzte noch der Regen der vergangenen Nacht. Das wäre schon überraschend genug gewesen, aber es gab noch mehr Überraschungen - drei Autos, allesamt Kombis, und ein großer Abschleppwagen parkten am Straßenrand. Und Leute standen herum, mindestens ein Dutzend.

Fran war so überrascht, daß sie zu plötzlich bremste. Die Honda, die sie fuhr, rutschte weg, und Fran wäre beinahe gestürzt, bevor sie die Maschine wieder unter Kontrolle bekam. Dann standen sie alle vier in einer Reihe auf der Straße und blinzelten mehr als erstaunt über den Anblick so vieler lebender Menschen.

»Okay, steigt ab«, sagte einer der Männer. Er war groß, hatte einen sandfarbenen Bart und trug eine dunkle Sonnenbrille. Frans Verstand ging auf eine Zeitreise: Sie befand sich auf der Mautstraße in Maine und wurde von einem State Trooper wegen überhöhter Geschwindigkeit angehalten.

Als nächstes will er unseren Führerschein sehen, dachte Fran. Aber dies war kein einsamer State Trooper, der Verkehrssünder anhielt und Strafzettel schrieb. Es waren vier Männer. Drei standen als kurze Gefechtslinie hinter dem Mann mit dem sandfarbenen Bart.

Alle anderen waren Frauen. Insgesamt acht. Sie sahen ängstlich und blaß aus und drängten sich in kleinen Gruppen um die geparkten Kombis.

Der Mann mit dem sandfarbenen Bart hatte eine Pistole. Die Männer hinter ihm hatten Gewehre. Zwei trugen Teile von Armeeausrüstungen.

»Steigt ab, verdammt«, sagte der Bärtige, während einer von den Männern hinter ihm sein Gewehr durchlud. Es war ein lautes, bitter befehlendes Geräusch in der nebligen Morgenluft.

Glen und Harold sahen verwirrt und ängstlich drein. Mehr nicht. Zielscheiben, dachte Frannie mit aufkeimender Panik. Sie begriff die Situation selbst noch nicht, aber sie wußte, die Gleichung hier stimmte nicht. Vier Männer, acht Frauen, sagte ihr Verstand und wiederholte es dann, lauter und in besorgtem Tonfall: Vier Männer! Acht Frauen!

»Harold«, sagte Stu mit leiser Stimme. Etwas war in seinen Augen. Eine Erkenntnis. »Harold, nicht...« Und dann geschah alles gleichzeitig.

Stu hatte das Gewehr über der Schulter hängen. Ein kurzer Ruck, und der Trageriemen rutschte ihm am Arm entlang; dann hielt er das Gewehr in der Hand.

»Nicht!« schrie der bärtige Mann wütend. »Garvey! Virge! Ronnie! Schnappt sie! Verschont die Frau!«

Harold griff nach den Pistolen und vergaß zunächst, daß sie noch in den Halftern festgezurrt waren.

Glen Bateman saß immer noch fassungslos erstaunt hinter Harold.

»Harold!« rief Stu noch einmal.

Fran wand ihr eigenes Gewehr los. Ihr war, als wäre die Luft um sie herum plötzlich von unsichtbarer Molasse erfüllt, von zäher Masse, die sie niemals würde rechtzeitig durchdringen können. Ihr wurde klar, daß sie hier möglicherweise sterben würden.

Eines der Mädchen schrie: »JETZT!«

Während sie sich mit dem Gewehr abmühte, sah Frannie zu dem Mädchen hinüber. Eigentlich war es gar kein Mädchen; sie war mindestens fünfundzwanzig. Ihr aschblondes Haar klebte ihr wie ein deformierter Helm am Kopf; es sah aus, als hätte sie ihr Haar erst vor kurzem mit einer Heckenschere geschnitten.

Nicht alle Frauen bewegten sich; manche schienen vor Angst fast gelähmt zu sein. Aber das blonde Mädchen und drei weitere handelten.

Alles geschah innerhalb weniger Sekunden.

Der bärtige Mann hatte die Pistole auf Stu gerichtet. Als die blonde junge Frau Jetzt! schrie, ruckte der Lauf leicht in ihre Richtung wie eine Wünschelrute, die auf Wasser reagiert. Die Waffe ging mit einem Laut los, als würde Stahl durch Pappkarton gestoßen werden. Stu fiel vom Motorrad, und Frannie kreischte seinen Namen. Dann stützte sich Stu auf beide Ellbogen (die vom Sturz aufgeschürft waren; die Honda lag auf seinem Bein) und feuerte. Der Bärtige schien rückwärts zu tanzen wie ein Vaudevillestar, der nach einer Zugabe die Bühne verläßt. Das verblichene karierte Hemd, das er trug, bauschte sich auf. Er riß die Pistole, eine Automatik, himmelwärts, und das Geräusch von Stahl durch Pappkarton wiederholte sich viermal. Er fiel auf den Rücken.

Beim Schrei der blonden Frau waren zwei der drei Männer hinter dem Bärtigen herumgefahren. Einer drückte beide Abzüge der Waffe, die er in der Hand hatte, eine altmodische Remington Kaliber 12. Er hatte das Schulterstück des Gewehrs nirgends angelegt - er hielt es neben der rechten Hüfte -, als es mit einem Laut wie Donner in einem kleinen Zimmer losging, flog es ihm nach hinten aus der Faust und riß dabei Haut von den Fingern. Es fiel polternd auf die Straße. Das Gesicht einer der Frauen, die nicht auf den Ruf der Blonden reagiert hatten, verschwand in einem unglaublichen Blutschwall; einen Augenblick konnte Frannie ihr Blut tatsächlich auf den Asphalt regnen hören, wie bei einem plötzlichen Wolkenbruch. Ein Auge starrte unverletzt durch die Maske aus Blut, die die Frau jetzt trug. Es war glasig und leer. Dann fiel die Frau vornüber auf die Straße. Der Kombi hinter ihr, ein Country Squire, war vom Schrot durchsiebt. Ein Fenster war ein Wasserfall milchiger Risse. Das blonde Mädchen rang mit dem zweiten Mann, der sich ihr zugewandt hatte. Das Gewehr des Mannes ging zwischen den beiden los. Ein Mädchen rannte auf die zu Boden gefallene Schrotflinte zu.

Der dritte Mann, der sich nicht zu den Frauen umgedreht hatte, feuerte auf Fran. Frannie saß breitbeinig auf dem Motorrad und blinzelte ihn dümmlich an. Er hatte olivfarbene Haut und sah wie ein Italiener aus. Sie spürte eine Kugel an der linken Schläfe vorbeisirren.

Harold hatte endlich eine Pistole aus dem Holster bekommen. Er hob sie und schoß auf den Mann mit der olivfarbenen Haut. Die Entfernung betrug etwa fünfzehn Schritte. Harold schoß fehl. Im Blech des rosa Wohnwagens, unmittelbar links vom Kopf des Mannes mit der olivfarbenen Haut, war ein Einschußloch zu sehen. Der Mann mit der olivfarbenen Haut sah Harold an und sagte: »Jetzt massakrier' ich dich, Hurensohn!«

»Nein, nicht!« schrie Harold. Er ließ die Pistole fallen und breitete die leeren Hände aus.

Der Mann mit der olivfarbenen Haut feuerte dreimal auf Harold. Alle drei Schüsse gingen daneben. Der dritte kam am nächsten; er heulte als Querschläger vom Auspuff von Harolds Yamaha ab. Die Maschine kippte um; Harold und Glen wurden abgeworfen. Inzwischen waren zwanzig Sekunden verstrichen. Harold und Stu lagen flach am Boden. Glen saß mit überkreuzten Beinen auf der Straße. Er machte immer noch den Eindruck, als wüßte er nicht genau, wo er war oder was vor sich ging. Frannie versuchte verzweifelt, den Mann mit der olivfarbenen Haut zu erschießen, bevor er Harold und Stu erschießen konnte, aber ihr Gewehr ging nicht los, es schoß nicht, weil sie vergessen hatte, den Sicherungsbolzen mit dem Daumen zurückzuschieben. Die blonde Frau kämpfte noch mit dem zweiten Mann, und die Frau, die zu der Schrotflinte auf dem Boden gerannt war, rang jetzt mit einer anderen Frau um die Waffe.

Der Mann mit der olivfarbenen Haut, der in einer Sprache fluchte, bei der es sich ganz zweifellos um Italienisch handelte, legte wieder auf Harold an, dann feuerte Stu; die Stirn des Mannes mit der olivfarbenen Haut wurde nach innen gedrückt, und er klappte zusammen wie ein Sack Kartoffeln.

Mittlerweile beteiligte sich noch eine dritte Frau am Gerangel um die Schrotflinte. Der Mann, der sie verloren hatte, bemühte sich, alle drei wegzudrängen. Die dritte Frau griff ihm zwischen die Beine, packte den Schritt seiner Jeans und drückte zu. Fran sah, wie ihre Sehnen bis hinauf zum Ellbogen hervortraten. Der Mann schrie. Der Mann verlor das Interesse an der Schrotflinte. Der Mann griff sich an die Genitalien und humpelte vornübergebeugt davon.

Harold kroch über die Straße zu seiner Pistole und warf sich darauf. Er hob sie und schoß auf den Mann, der sich die Genitalien hielt. Er feuerte dreimal - und dreimal daneben.

Wie bei Bonnie und Clyde, dachte Frannie. Herrgott, überall Blut!

Die blonde Frau mit dem geschorenen Haar hatte den Kampf um die Waffe des zweiten Mannes verloren. Er riß sich los und trat nach der Frau, möglicherweise nach dem Magen, aber statt dessen traf er sie mit einem schweren Stiefel am Oberschenkel. Sie kippte nach hinten, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und landete mit einem feuchten Platscher auf dem Hintern.

Jetzt erschießt er sie, dachte Frannie, aber der zweite Mann wirbelte herum wie ein betrunkener Soldat, der eine Kehrtwendung macht, und feuerte rasch hintereinander in die Gruppe der drei Frauen, die sich immer noch an die Seite des Country Squire drängten.

»Jaaa! Flittchen!« schrie dieser Herr. »Jaaaa! Ihr Flittchen!«

Eine der Frauen kippte um und zappelte auf dem Asphalt zwischen Kombi und umgestürztem Wohnwagen wie ein Fisch auf dem Trockenen. Die beiden anderen Frauen stürmten los. Stu feuerte auf den Schützen und verfehlte ihn. Der zweite Mann schoß auf eine der fliehenden Frauen und verfehlte nicht. Sie warf die Hände hoch und stürzte zu Boden. Die andere schlug einen Haken nach links und verschwand hinter dem rosa Wohnwagen.

Der dritte Mann, der die Schrotflinte verloren und nicht zurückbekommen hatte, stolperte immer noch herum und hielt sich den Unterleib. Eine der Frauen richtete die Schrotflinte auf ihn und drückte beide Abzüge - sie hatte die Augen zugekniffen und den Mund in Erwartung des Knalls verzerrt. Der Knall erfolgte nicht. Die Schrotflinte war leer. Die Frau drehte sie um, so daß sie die Waffe am Lauf hielt, und holte in weitem Bogen mit dem Kolben aus. Sie verfehlte seinen Kopf, traf aber die Stelle, wo der Hals in die rechte Schulter überging. Der Mann sank auf die Knie. Er kroch davon. Die Frau, die ein blaues Sweatshirt mit der Aufschrift KENT STATE UNIVERSITY und verwaschene Jeans trug, ging neben ihm her und schlug dabei mit der Schrotflinte auf ihn ein. Der Mann kroch weiter und blutete mittlerweile ganze Sturzbäche, und die Frau im Sweatshirt von Kent State drosch immer noch auf ihn ein.

»Jaaaaa, ihr Flittchen!« schrie der zweite Mann und feuerte auf eine benommen murmelnde Frau mittleren Alters. Die Entfernung zwischen Frau und Mündung betrug bestenfalls drei Schritte; sie hätte fast die Hand ausstrecken und den Lauf mit einem rosa Finger berühren können. Er verfehlte. Er drückte noch einmal den Abzug, aber diesmal löste sich kein Schuß mehr.

Harold hielt die Pistole jetzt mit beiden Händen, wie er es bei Polizisten im Film gesehen hatte. Er drückte ab, die Kugel zerschmetterte dem zweiten Mann den Ellbogen. Der zweite Mann ließ das Gewehr fallen, tanzte auf und ab und gab ein schrilles, abgehacktes Wimmern von sich. Frannie fand, er hörte sich ein wenig wie Roger Rabbit an, der »B -b-biiiitte!« sagte.

»Ich hab' ihn!« kreischte Harold wie von Sinnen. »Hab' ihn! Bei Gott, ich habe ihn!«

Schließlich fiel Frannie der Sicherungsbolzen ihres Gewehrs wieder ein. Sie drückte ihn in dem Moment mit dem Daumen hinunter, als Stu noch einmal schoß. Der zweite Mann stürzte und hielt sich jetzt den Magen, nicht mehr den Ellbogen. Er schrie weiterhin.

»Mein Gott, mein Gott«, sagte Glen leise. Er verbarg das Gesicht in den Händen und fing an zu weinen.

Harold schoß noch einmal mit der Pistole. Der Körper des zweiten Mannes zuckte. Er hörte auf zu schreien.

Die Frau im Kent -State-University-Sweatshirt schlug wieder mit dem Kolben der Schrotflinte zu; diesmal erwischte sie den Kopf des kriechenden Mannes mit voller Wucht. Es hörte sich an, als hätte Jim Rice - Wumm! - einen hohen, harten Fastball getroffen. Sowohl der Walnußkolben der Schrotflinte als auch der Kopf des Mannes zersplitterten.

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Ein Vogel unterbrach es: Witwit... witivit... witwit.

Dann stellte sich das Mädchen im Sweatshirt breitbeinig über den Leichnam des dritten Mannes und stieß einen langen, urwelthaften Triumphschrei aus, der Fran Goldsmith für den Rest ihres Lebens verfolgen sollte.




Das blonde Mädchen war Dayna Jürgens aus Xenia, Ohio. Das Mädchen im Sweatshirt der Kent State war Susan Stern. Die dritte Frau, die den Schrotflintenschützen in die Genitalien gekniffen hatte, war Patty Kroger. Die beiden anderen waren deutlich älter. Die älteste, sagte Dayna, war Shirley Hammett. Den Namen der anderen Frau, die Mitte Dreißig zu sein schien, kannt en sie nicht; sie war im Trancezustand durch die Straßen geschlendert, als AI, Garvey, Virge und Ronnie sie vor zwei Tagen in der Stadt Archbold aufgelesen hatten.

Die neun verließen den Highway und lagerten in einem Farmhaus westlich von Columbia, jenseits der Staatsgrenze lowas. Sie alle standen unter Schock, und Fran dachte später oft, der Fußmarsch der Gruppe vom umgestürzten rosa Wohnwagen auf der Mautstraße durch die Felder müßte einem zufälligen Beobachter wie der Ausflug der Insassen des nächstgelegenen Irrenhauses vorgekommen sein. Das Gras, das hoch war und noch naß vom nächtlichen Regen, hatte ihre Hosen bald durchweicht. Weiße Schmetterlinge, noch träge mit ihren feuchten Flügeln, flatterten in trunkenen Kreisen und Achten auf sie zu und wieder weg. Die Sonne bemühte sich durchzukommen, hatte es aber noch nicht geschafft; sie war ein heller, wäßriger Fleck, der schwach eine eintönige weiße Wolkendecke erhellte, die sich von einem Horizont zum nächsten spannte. Aber mit oder ohne Wolkendecke, der Tag war jetzt schon heiß und schwül; kreisende Krähenschwärme mit ihren krächzenden, häßlichen Schreien zogen am Himmel dahin. Es gibt jetzt mehr Krähen als Menschen, dachte Fran benommen. Wenn wir nicht aufpassen, picken sie uns buchstäblich vom Antlitz der Erde. Rache der schwarzen Vögel. Waren Krähen Fleischfresser? Sie hatte die starke Befürchtung.

Hinter diesem unablässigen, sinnlosen Strom, kaum sichtbar wie die Sonne hinter der schmelzenden Wolkendecke (aber kräftig wie die Sonne an diesem schrecklichen, schwülen Morgen des 30. Juli 1990), rasten immer wieder die Bilder Schießerei durch ihr Hirn. Das Gesicht der Frau, das von der Schrotsalve zerfetzt wurde. Stu, wie er zu Boden stürzte. Der Augenblick des Entsetzens, als sie sicher gewesen war, daß es Stu erwischt hatte. Ein Mann, der Jaaa, ihr Flittchen! schrie und sich anhörte wie Roger Rabbit, als Harold ihn durchlöcherte. Das Stahl-durch-Pappkarton-Geräusch der Pistole des Bärtigen. Susan Sterns animalischer Siegesschrei, als sie breitbeinig über dem Leichnam ihres Feindes stand, während sein noch warmes Gehirn aus seinem zertrümmerten Schädel quoll. Glen ging neben ihr; sein schmales, sonst sardonisches Gesicht war jetzt beunruhigt, das graue Haar flatterte strähnig um seinen Kopf, als wollte es die Schmetterlinge nachahmen. Er hielt ihre Hand und tätschelte sie ständig wie zwanghaft.

»Du darfst dich nicht davon beeinflussen lassen«, sagte er. »Solche Schrecken... mußten passieren. Der beste Schutz dagegen ist Vielzahl. Gesellschaft, weißt du. Gesellschaft ist das Fundament des Bauwerks, das wir Zivilisation nennen, der einzig wirksame Schutz gegen Gesetzlosigkeit. Du mußt solche... solche Vorkommnisse als Gang der Dinge sehen. Das vorhin war ein absoluter Einzelfall. Stell dir einfach vor, es waren Trolle. Ja! Trolle oder Gnome oder Bestien. Monster der übelsten Sorte. Kannst du das? Ich bin überzeugt, dass Wahrheit für sich sprechen muß. Eine sozio-konstitutionelle Ethik, könnte man sagen. Ha! Ha!«

Sein Lachen war mehr ein Stöhnen. Sie kontrapunktierte jeden seiner unvollendeten Sätze mit einem »Ja, Glen«, aber er schien es nicht zu hören. Glen roch leicht nach Erbrochenem. Die Schmetterlinge prallten gegen sie und flatterten auf ihren unergründlichen Schmetterlingswegen weiter. Fran und die anderen waren nun fast beim Farmhaus angelangt. Der Kampf hatte weniger als eine Minute gedauert. Weniger als eine Minute, aber Frannie vermutete, daß sie die Bilder lange nicht aus dem Kopf bekommen würde. Glen tätschelte ihre Hand. Sie wollte ihm sagen, er möge das sein lassen, befürchtete aber, daß er dann zu weinen anfing. Das Tätscheln konnte sie ertragen. Sie war nicht sicher, ob sie es ertragen konnte, Glen Bateman weinen zu sehen.

Stu wurde auf der einen Seite von Dayna Jürgens, dem blonden Mädchen, und auf der anderen von Harold flankiert. Susan Stern und Patty Kroger hatten die namenlose katatonische Frau zwischen sich, die in Archbold aufgelesen worden war. Shirley Hammett, die von dem Mann, der im Todeskampf Roger Rabbit gespielt hatte, auf kürzeste Distanz verfehlt worden war, ging ein Stück links, murmelte und schnappte ab und zu nach einem vorbeiflatternden Schmetterling. Die Gruppe kam langsam voran, aber Shirley Hammett konnte selbst dieses Tempo kaum mithalten. Das graue Haar hing ihr wirr ins Gesicht, ihre benommenen Augen sahen in die Welt wie ängstliche Mäuse, die aus einem vorübergehenden Versteck blickten.

Harold sah Stu unbehaglich an. »Wir haben sie vernichtet, Stu, was? Wir haben sie weggepustet. Ihnen die Ärsche aufgerissen.«

»Stimmt, Harold.«

»Mann, aber wir mußten es tun«, sagte Harold eindringlich, als hätte Stu angedeutet, daß es auch anders hätte kommen können. »Sie oder wir!«

»Sie hätten euch die Köpfe weggepustet«, sagte Dayna Jürgens leise. »Ich war mit zwei Typen zusammen, als die Kerle uns erwischt haben. Sie haben Rieh und Dämon aus dem Hinterhalt erschossen. Als es vorbei war, haben sie jedem noch eine Kugel in den Kopf gejagt, um ganz sicher zu gehen. Ihr mußtet es tun, jawohl. Normalerweise müßtet ihr jetzt tot sein.«

»Normalerweise müßten wir jetzt tot sein!« rief Harold zu Stu.

»Schon gut«, sagte Stu. »Nimm's nicht so schwer, Harold.«

»Klar. Null Problemo!« sagte Harold von Herzen. Er kramte mit fliegenden Fingern im Rucksack, holte einen Payday-Schokoriegel heraus und ließ ihn beinahe fallen, als er hektisch das Papier abriß. Er verfluchte ihn bitter, dann schlang er den Riegel hinunter, wobei er ihn wie einen Lutscher mit beiden Händen hielt. Sie hatten das Farmhaus erreicht. Harold mußte sich verstohlen betasten, während er den Schokoriegel aß - um sicherzustellen, dass er nicht verletzt war. Ihm war kotzübel. Er wagte kaum, sich zwischen die Beine zu sehen. Er war sicher, daß er in die Hose gepinkelt hatte, als das Fest beim rosa Wohnwagen so richtig in Schwung gekommen war.

Dayna und Susan erzählten während eines späten Frühstücks, bei dem alle niedergeschlagen auf ihren Tellern herumstocherten, ohne daß jemand einen Bissen aß, was sich zugetragen hatte. Patty Kroger, die siebzehn und eine Schönheit war, fügte gelegentlich etwas hinzu. Die namenlose Frau drückte sich in die entfernteste Ecke der Küche des Farmhauses. Shirley Hammett saß am Tisch, verdrückte schale Nabisco-Honigschnitten und murmelte vor sich hin.

Dayna hatte Xenia in Begleitung von Richard Darliss und Dämon Bracknell verlassen. Wie viele andere nach der Supergrippe noch in Xenia gelebt hatten? Sie hatte nur drei gesehen, einen alten Mann, eine Frau und ein kleines Mädchen. Dayna und ihre Freunde fragten das Trio, ob sie mitkommen wollten, aber der alte Mann winkte ab und erzählte etwas von »Geschäften in der Wüste«.

Am 8. Juli litten Dayna, Richard und Dämon unter Alpträumen vom Schwarzen Mann. Schlimmen Alpträumen. Rieh war sogar zur Überzeugung gelangt, daß es den Schwarzen Mann tatsächlich gab, sagte Dayna, und daß er in Kalifornien lebte. Rieh hatte die Vermutung, daß es sich bei diesem Mann um das »Geschäft in der Wüste« handelte, von dem der Alte in Xenia geredet hatte. Dayne und Dämon fürchteten um Richs geistige Gesundheit. Er nannte den Traum-Mann den »Hartgesottenen« und behauptete, daß er eine Armee von Hartgesottenen um sich versammelte. Er sagte, diese Armee würde bald von Westen aus losziehen und alle noch Lebenden versklaven, zuerst in Amerika, dann im Rest der Welt. Dayna und Dämon unterhielten sich heimlich darüber, ob sie Rieh eines Nachts zurücklassen sollten, denn sie waren zu der Überzeugung gekommen, daß ihre eigenen Alpträume die Folge von Richs beängstigenden Hirngespinsten waren.

In Williamson waren sie um eine Kurve gefahren und hatten einen großen Mülltransporter gesehen, der mitten auf der Straße auf der Seite lag. Daneben parkten ein Kombi und ein Abschleppwagen.

»Wir sind davon ausgegangen, daß es nur ein Unfall von vielen war«, sagte Dayna, die nervös einen Grahamcracker zwischen den Fingern zerkrümelte, »und genau das sollten wir natürlich auch denken.«

Sie stiegen von den Motorrädern ab, um sie um den Laster herumzuschieben, und da eröffneten die vier Hartgesottenen - um Richs Ausdruck zu verwenden - das Feuer aus dem Straßengraben. Sie hatten Rieh und Dämon getötet und sie, Dayna, ihrer Gruppe einverleibt, die sie manchmal den »Zoo« und manchmal den »Harem« nannten. Dayna war bereits die vierte Frau im »Harem«. Einer der drei anderen war Shirley Hammett, die damals noch fast normal gewesen war, obwohl sie wiederholt vergewaltigt worden war, auch anal, und man gezwungen hatte, bei allen vier Fellatio auszuführen. »Einmal«, sagte Dayne, »als sie sich mal in die Hosen geschissen hat, weil sich keiner der Kerle bequemte, mit ihr in die Büsche zu gehen, hat Ronnie ihr den Hintern mit einem Stück Stacheldraht abgewischt. Sie hat drei Tage lang aus dem After geblutet.«

»Jesus Christus«, sagte Stu. »Welcher war das?«

»Der Mann mit der Schrotflinte«, sagte Patty Kroger. »Dem ich den Schädel eingeschlagen habe. Ich wünschte, er würde hier vor mir liegen, damit ich es noch einmal machen kann.«

Den Mann mit dem sandfarbenen Bart und der Sonnenbrille hatten sie nur als »Doc« gekannt. Er und Virge gehörten zu einer Armeeinheit, die nach Akron geschickt worden war, als die Grippe ausbrach. Ihre Aufgabe war »Medienkontakt« gewesen, bei der Armee ein anderes Wort für »Medienunterdrückung«. Als sie diese Aufgabe einigermaßen im Griff hatten, waren sie der »Massenkontrolle« zugeteilt worden, ein Armeeausdruck für die Erschließung fliehender und das Hängen gefaßter Plünderer. Am 2.7. Juni, hatte Doc ihnen gesagt, wies die Befehlskette mehr Löcher als Glieder auf. Viele der eigenen Männer waren so krank, daß sie keinen Dienst mehr tun konnten, aber das spielte zu diesem Zeitpunkt schon keine Rolle mehr, da die Einwohner von Akron zu schwach waren, Nachrichten zu lesen oder zu schreiben, ganz zu schweigen davon, Banken und Juweliere zu überfallen. Am 30. Juni gab es die Einheit nicht mehr - ihre Mitglieder waren tot, lagen im Sterben oder waren in alle Winde zerstreut. Doc und Virge waren gewissermaßen die einzigen in alle Winde Zerstreuten, und da hatten sie ihr neues Leben als Zoowärter angefangen. Garvey war am 1. Juli dazugestoßen, Ronnie am 3. An diesem Punkt hatten sie keine neuen Mitglieder mehr in ihrem seltsamen kleinen Klub aufgenommen.

»Aber nach einer Weile müssen sie, die Gefangenen, doch in der Überzahl gewesen sein«, sagte Glen.

Unerwarteterweise antwortete Shirley Hammett darauf.

»Tabletten«, sagte sie und sah die anderen mit ihren ängstlichen Mausaugen unter den grauen Brauen hervor an. »Jeden Morgen Tabletten zum Aufstehen und jeden Abend Tabletten zum Hinlegen. Rauf und runter.« Ihre Stimme wurde immer leiser, das letzte war kaum zu hören. Sie machte eine Pause, dann fing sie wieder an zu murmeln.

Susan Stern nahm den Faden der Geschichte auf. Sie und eine der toten Frauen, Kachel Carmody, waren am 17. Juni außerhalb von Columbus aufgegriffen worden. Da reiste die Gruppe schon in einem Konvoi, der aus zwei Kombis und dem Abschleppwagen bestand. Mit dem Abschleppwagen räumten die Männer liegengebliebene Fahrzeuge aus dem Weg oder sperrten den Highway ab, je nachdem, was für Gelegenheiten sich boten. Doc führte die Hausapotheke in einem übergroßen Beutel am Gürtel mit sich. Starke Betäubungsmittel zum Schlafen; Beruhigungsmittel für die Reise; rote Pillen zum Aufmuntern.

»Ich stand morgens auf, wurde zwei- oder dreimal vergewaltigt und wartete nur darauf, daß Doc die Pillen verteilte«, sagte Susan nüchtern. »Die Tagespillen meine ich. Am dritten Tag hatte ich Abschürfungen an der... nun, Sie wissen schon, an der Vagina, und jede Art von normalem Verkehr war äußerst schmerzhaft. Ich hoffte auf Ronnie, denn Ronnie wollte immer nur einen geblasen bekommen. Aber nach den Pillen wurde man ganz ruhig. Nicht schläfrig, nur ruhig. Wenn man ein paar von diesen blauen Pillen geschmissen hatte, war einem alles scheißegal. Man wollte nur noch mit den Händen im Schoß dasitzen und zusehen, wie sie mit dem Abschleppwagen ein Hindernis aus dem Weg räumten. Eines Tages wurde Garvey wütend, weil ein Mädchen, sie konnte nicht älter als zwölf gewesen sein, sie wollte nicht... ich werde es Ihnen nicht erzählen. So schlimm war es. Garvey hat ihr einfach den Kopf weggepustet. Es war mir einerlei. Ich war nur... ruhig. Nach einer Weile dachte man fast nicht mehr an Flucht. Diese blauen Tabletten waren wichtiger als die Flucht.«

Dayna und Patty Kroger nickten.

Aber den Kerlen schien klarzusein, daß zwölf Frauen ihre Leistungsgrenze waren, sagte Patty. Als sie Patty am 22. Juli in ihren »Zoo« nahmen, nachdem sie den etwa fünfzigjährigen Mann, mit dem sie reiste, ermordet hatten, töteten sie eine sehr alte Frau, die etwa eine Woche Mitglied des »Zoo« gewesen war. Als das namenlose Mädchen in der Nähe von Archbold aufgegriffen wurde, hatten sie ein sechzehnjähriges Mädchen erschossen und im Straßengraben liegenlassen, weil es schielte. »Doc hat Witze darüber gemacht«, sagte Patty. »Er sagte immer: >Ich gehe nicht unter Leitern durch, ich laufe keiner schwarzen Katze über den Weg, und ich dulde keine dreizehn Frauen in meinem Zoo.<«

Am 29. hatten sie Stu und die anderen zum ersten Mal gesehen. Der Zoo hatte an einem Rastplatz an der Interstate gelagert, als die vier vorbeigefahren waren.




»Garvey war sehr angetan von Ihnen«, sagte Susan und nickte Frannie zu. Frannie erschauerte.

Dayna beugte sich näher zu ihnen und sagte: »Und die Kerle haben uns deutlich zu verstehen gegeben, wessen Platz Sie einnehmen sollten.« Sie nickte fast unmerklich zu Shirley Hammett, die immer noch murmelte und Grahamcracker aß.

»Die arme Frau«, sagte Frannie.

»Dayna kam zur Überzeugung, daß ihr unsere Chance sein könntet«, sagte Patty. »Oder vielleicht unsere letzte Chance. Es waren drei Männer in eurer Gruppe - das hatten sie und Heien Roget gesehen. Drei bewaffnete Männer. Und Doc war ein wenig zu selbstsicher geworden, was den Trick mit dem umgestürzten Wohnwagen auf der Straße anbelangt. Doc benahm sich einfach wie ein Beamter, und die Männer der Gruppen, denen sie begegneten - sofern überhaupt Männer dabei waren -, fügten sich einfach. Und wurden erschossen. Das funktionierte wie Zauberei.«

»Dayna hat uns gebeten zu versuchen, die Tabletten heute morgen nicht zu nehmen«, fuhr Susan fort. »Doc und die anderen achteten nicht mehr so genau darauf, ob wir sie wirklich nahmen, und wir wußten, heute morgen würden sie damit beschäftigt sein, den großen Wohnwagen auf die Straße zu schleppen und umzukippen. Wir haben es nicht allen gesagt. Nur Dayna und Patty und Heien Roget waren eingeweiht... eins der Mädchen, das Ronnie erschossen hat. Und natürlich ich. Heien sagte: >Wenn sie uns dabei erwischen, wie wir die Tabletten in die Handflächen spucken, bringen sie uns um.< Und Dayna sagte, früher oder später würden sie uns sowieso umbringen. Wenn wir Glück hatten, früher. Das war uns allen klar. Also haben wir es gemacht.«

»Ich mußte meine Tablette eine ganze Weile im Mund behalten«, sagte Patty. »Als ich sie endlich ausspucken konnte, hatte sie schon angefangen, sich aufzulösen.« Sie sah Dayna an. »Ich glaube, Helen mußte ihre sogar tatsächlich schlucken. Darum war sie so langsam.«

Dayna nickte. Sie betrachtete Stu mit einer Zuneigung, die Frannie unbehaglich stimmte. »Es hätte trotzdem nicht funktioniert, wenn du nicht so schnell geschaltet hättest, Großer.«

»Sieht so aus, als hätte ich längst nicht schnell genug geschaltet«, sagte Stu. »Aber nächstes Mal.« Er stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus. »Wißt ihr, das ist auch etwas, was mir angst macht«, sagte er. »Wie schnell wir alle schalten.«

Fran gefiel noch weniger, wie verständnisvoll Dayna ihm nachsah. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, hatte Dayna kein Recht, verständnisvoll dreinzublicken. Und sie ist trotz allem viel hübscher als ich, dachte Fran. Und ich bezweifle, daß sie schwanger ist.

»In dieser Welt muß man schnell schalten, Großer«, sagte Dayna.

»Schnell schalten oder sterben.«

Stu drehte sich zu ihr um und sah sie zum ersten Mal wirklich an, und Frannie verspürte einen Stich unverhohlenster Eifersucht. Ich habe zu lange gewartet, dachte sie. Mein Gott, das habe ich, ich habe dagesessen und zu lange gewartet.

Sie sah zu Harold und stellte fest, daß Harold verhalten lächelte - hinter vorgehaltener Hand, damit man es nicht sah. Es sah wie ein erleichtertes Lächeln aus. Ihr war zumute, als müßte sie aufstehen, ganz beiläufig zu Harold gehen und ihm mit den Fingernägeln die Augen auskratzen.

Niemals, Harold! würde sie schreien, während sie das tat. Niemals!

Niemals?


Aus Fran Goldsmiths Tagebuch

11. Juli 1990

O Gott. Schlimmer hätte es nicht kommen können. In Romanen geschieht etwas, aber dann ist es auch vorbei, oder irgend etwas ändert sich. Aber im wirklichen Leben scheint es immer weiterzugehen, wie bei einer Familienserie, wo es nie zu einem Finale kommt. Vielleicht sollte ich jetzt etwas unternehmen, um die Dinge zu klären, es einfach riskieren, aber ich habe solche Angst, daß zwischen den beiden etwas passieren könnte und. Man kann einen Satz nicht mit »und« beenden, aber ich habe Angst davor, was nach der Konjunktion kommen könnte.

Laß mich dir alles erzählen, liebes Tagebuch, obwohl es wirklich keinen Spaß macht, es aufzuschreiben. Ich denke nicht mal gern daran.

Glen und Stu fuhren kurz vor Anbrach der Dämmerung in die Stadt (es handelt sich um Girard, Ohio) und wollten Lebensmittel besorgen, möglichst Nahrungskonzentrate oder gefriergetrocknete Sachen. Die sind leicht zu transportieren, und einige Konzentrate schmecken echt lecker, aber was mich betrifft, hat das ganze gefriergetrocknete Essen den gleichen Geschmack, nämlich wie getrocknete Truthahnkacke. Und wann hat man schon getrocknete Truthahnkacke gegessen, um mal einen Vergleich zu bringen? Vergiß es, Tagebuch, es gibt Dinge, über die man nie spricht, ha-ha.

Die anderen fragten Harold und mich, ob wir mitkommen wollten, aber ich sagte, ich hätte für heute die Nase voll vom Motorradfahren, und ob sie ohne mich auskommen könnten, und Harold sagte nein, er wolle Wasser holen und es abkochen. Wahrscheinlich heckte er schon einen Plan aus. Es tut mir leid, daß ich ihn so ränkeschmiedend darstelle, aber Tatsache ist, er ist es nun einmal.

Dazu eine Anmerkung: Wir alle haben gekochtes Wasser bis über beide Ohren satt, weil es schal und völlig SAUERSTOFFARM schmeckt, aber Mark und Glen sagen, die Fabriken usw. sind noch nicht lange genug außer Betrieb, daß sich die Bäche und Flüsse von selbst wieder gereinigt hätten, besonders im industrialisierten Norden und dem, wie man so sagt, Rostgürtel, daher kochen wir es ab, weil es sicherer ist. Wir hoffen alle, daß wir früher oder später einen großen Vorrat Mineralwasser in Flaschen finden, was eigentlich schon der Fall hätte sein müssen - sagt Harold -, aber ein Großteil scheint auf geheimnisvolle Weise verschwunden zu sein. Stu glaubt, viele Menschen haben gedacht, daß Leitungswasser sie krank macht, und darum haben sie viel Mineralwasser getrunken, bevor sie gestorben sind.

Nun, Mark und Perion waren irgendwo unterwegs, wahrscheinlich auf der Suche nach wilden Beeren als Abwechslung unseres Speisezettels, aber möglicherweise haben sie auch etwas anderes gemacht - sie sind ziemlich bescheiden deswegen & schüchtern, sage ich -, daher suchte ich zuerst Holz für ein Feuer und zündete dann eins für Harolds Kessel an... und etwas später kam er damit zurück (er war offenbar lange genug am Bach geblieben, ein Bad zu nehmen und sich das Haar zu waschen). Er hängte den Eimer ans Wie-heißt-es-doch-gleich über dem Feuer. Dann kommt er rüber & setzt sich neben mich.

Wir saßen auf einem Baumstamm und sprachen über dies und das, als er plötzlich den Arm um mich legte und versuchte, mich zu küssen. Ich sage versuchte, aber es gelang ihm tatsächlich, zumindest anfangs, weil ich so überrascht war. Dann riß ich mich von ihm los - im Rückblick wirkt es ziemlich komisch, obwohl mir noch alles weh tut - und fiel rückwärts vom Stamm runter. Der Rücken meiner Bluse ist zerrissen, und ich habe mir schätzungsweise einen Quadratmeter Haut abgeschürft. Ich stiess einen Schrei aus. Da wir schon davon gesprochen haben, daß sich die Geschichte wiederholt... das erinnert mich zu sehr an das Gespräch mit Jess auf dem Wellenbrecher, als ich mir auf die Zunge gebissen hatte... so sehr, daß es nicht tröstlich war. Innerhalb eines Augenblicks ist Harold neben mir auf den Knien, fragt, ob alles in Ordnung ist, und wird rot bis unter die frischgewaschenen Haarwurzeln. Harold versucht manchmal, so eiskalt zu sein, so gebildet - er kommt mir immer vor wie ein erschöpfter junger Schriftsteller, der ununterbrochen nach dem speziellen Traurigen Cafe am Westufer sucht, wo er den ganzen Tag sitzen und herumtrödeln, sich über Jean Paul Sartre unterhalten und billigen Fusel kippen kann - aber darunter verbirgt sich, gut versteckt, ein Teenager mit weit weniger reifen Phantasien. Glaube ich wenigstens. Hauptsächlich Phantasien aus Samstagsmatineen: Errol Flynn in Captain from Castile, Humphrey Bogart in Dark Passage, Steve McQueen in Bullitt. In Streßzeiten scheint immer diese Seite von ihm zum Vorschein zu kommen, vielleicht, weil er sie als Kind zu sehr unterdrückt hat, ich weiß nicht. Wie auch immer, wenn er versucht, einen auf Bogie zu machen, dann erinnert er mich immer nur an den Typen, der Bogie in Woody Allans Film Mach's noch einmal, Sam gespielt hat.

Als er neben mir kniete und sagte: »Ist dir auch nichts passiert, Baby?«, fing ich an zu kichern. Wiederholt sich die Geschichte nicht tatsächlich? Aber es war nicht nur das Komische an der ganzen Sache, weißt du. Wenn das alles gewesen wäre, hätte ich mir das Kichern verkneifen können. Nein, es war mehr in der Gegend der Hysterie. Die schrecklichen Träume, die Angst um mein Baby, was ich mit meinen Gefühlen für Stu anfangen sollte, das tägliche Fahren, die Krämpfe, das Wundscheuern, der Verlust meiner Eltern, das alles schien plötzlich nicht mehr so schlimm... zuerst machte es sich durch Kichern Luft, dann durch hysterisches Gelächter, mit dem ich einfach nicht mehr aufhören konnte.

»Was ist so komisch?« fragte Harold und stand auf. Er hatte es wohl in seinem gewohnten selbstgerechten Ton sagen wollen, aber in diesem Augenblick dachte ich schon nicht mehr an Harold, sondern hatte dieses verrückte Bild von Donald Duck im Kopf. Donald Duck, der durch die Trümmer der westlichen Zivilisation watschelt und wütend quakt: Was ist so komisch, he? Was ist so verdammt komisch? Ich schlug die Hände vors Gesicht & kicherte & schluchzte & kicherte, bis Harold mich für total verrückt gehalten haben muß. Nach einer Weile konnte ich aufhören. Ich wischte mir die Tränen vom Gesicht und wollte Harold bitten nachzuschauen, wie schlimm ich mich am Rücken aufgeschürft hatte. Aber ich ließ es sein, weil ich fürchtete, er würde sich FREIHEITEN herausnehmen. Leben, Freiheit und das Streben nach Frannie, oh-ho, das ist nicht komisch.

»Fran«, sagte Harold, »es fällt mir schwer, das zu sagen.«

»Dann solltest du es vielleicht nicht sagen«, sagte ich.

»Ich muß«, antwortete er, und ich sah allmählich ein, daß er kein Nein akzeptieren würde, es sei denn, ich hätte ihn angeschrien.

»Frannie«, sagte er, »ich liebe dich.«

Ich hatte wohl die ganze Zeit gewußt, daß es so schwärmerisch war. Es wäre leichter gewesen, wenn er nur mit mir hätte schlafen wollen. Liebe ist gefährlicher als bloßes Bumsen, und ich steckte in der Klemme. Wie sollte ich nein zu Harold sagen? Ich schätze, es gibt nur eine Methode, ganz gleich, wem man es sagen muß.

»Ich liebe dich nicht, Harold«, sagte ich.

Seine Gesichtszüge entgleisten. »Er ist es, nicht wahr?« sagte er, und jetzt wurde sein Gesicht zu einer häßlichen Fratze. »Es ist Stu Redman, nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. Ich habe ein Temperament, das ich leider nicht immer zügeln kann - das habe ich von meiner Mutter, glaube ich. Bei Harold allerdings habe ich mir bewundernswerte Mühe gegeben. Aber ich merkte, wie es an seinen Zügeln zerrte.

»Ich weiß.« Seine Stimme war schrill und voller Selbstmitleid. »Ich weiß schon. Ich wußte es schon am ersten Tag, als wir ihn trafen. Ich wollte nicht, daß er mitkommt, weil ich es wußte. Und er hat gesagt...«

»Was hat er gesagt?«

»Daß er dich nicht will! Daß du mir gehören kannst!«

»Als hätte er dir ein neues Paar Schuhe geschenkt, richtig, Harold?«

Er antwortete nicht; vielleicht weil ihm klar wurde, daß er zu weit gegangen war. Mit etwas Mühe erinnerte ich mich an den Tag in Fabyan. Harolds erste Reaktion auf Stu war die eines Hundes gewesen, wenn ein neuer Hund, ein fremder Hund, ins Revier des ersten Hundes kommt. In sein Revier. Ich konnte fast sehen, wie sich Harolds Nackenhärchen aufstellten. Mir wurde klar, was Stu gesagt hatte; er hatte es gesagt, um uns aus der Gattung der Hunde herauszuholen und wieder in die Gattung der Menschen zu bringen. Und geht es nicht ganz genau darum? Ich meine, bei diesem unvorstellbaren Kampf, in den wir gerade verwickelt sind? Wenn nicht, warum machen wir uns dann überhaupt erst die Mühe und versuchen, uns zivilisiert zu benehmen?

»Ich gehöre niemandem, Harold«, sagte ich.

Er murmelte etwas.

»Was?«

»Ich sagte, du wirst deine Meinung vielleicht ändern müssen.«

Mir fiel eine scharfe Erwiderung ein, aber ich sprach sie nicht aus. Harolds Augen blickten in die Ferne; sein Gesicht war sehr still und ausdruckslos. Dann sagte er: »Ich kenne den Typ schon lange. Das kannst du mir glauben, Frannie. Der Kerl ist Quarterback der Footballmannschaft, sitzt aber im Unterricht nur da, schießt Krampen und zeigt Leuten den Vogel, weil er weiß, der Lehrer muß ihm mindestens eine 3 geben, damit er in der Schulmannschaft weiterspielen kann. Der Typ geht fest mit der hübschesten Cheerleaderin, und sie hält ihn für Jesus Christus persönlich. Der Typ, der furzt, wenn der Englischlehrer dich bittet, deinen Aufsatz vorzulesen, weil es der beste der ganzen Klasse ist. O ja, ich kenne Pisser wie ihn. Viel Glück, Fran.«

Dann ging er einfach davon. Ich bin ziemlich sicher, es war nicht der GROSSE DONNERNDE ABGANG, den er wollte. Es war mehr so, als hätte er einen geheimen Traum gehabt, in den ich gerade jede Menge Löcher geschossen hatte - den Traum, daß sich alles geändert hatte, aber in Wahrheit hatte sich gar nichts geändert. Bei Gott, er tat mir schrecklich leid, denn als er wegging, da spielte er nicht den ermatteten Zyniker, sondern er empfand ECHTEN Zynismus, und auch nicht ermattet, sondern scharf & verletzend wie eine Messerklinge. Er war geprügelt. Aber Harold wird nie begreifen, daß er zuerst seinen Kopf etwas verändern muß, daß die Welt immer gleichbleiben wird, solange er gleichbleibt. Er hortet Maßregelungen, wie Piraten angeblich Schätze horten...

Nun gut. Jetzt sind alle wieder da, das Essen ist verzehrt, Zigaretten geraucht, Veronal ausgegeben (meins ist in meiner Tasche, statt sich in meinem Magen aufzulösen), alle richten sich für die Nacht ein. Harold und ich haben eine schmerzliche Konfrontation hinter uns, aber ich habe das Gefühl, daß sich nichts wirklich aufgeklärt hat und daß er Stu und mich beobachtet, um zu sehen, was als nächstes passieren wird. Es macht mich krank und unnötig wütend, das zu schreiben. Welches Recht hat er, uns zu beobachten? Welches Recht hat er, diese erbärmliche Situation, in der wir uns befinden, noch zu verkomplizieren ?

Zur Erinnerung: Tut mir leid, Tagebuch. Muß an meiner Verfassung liegen. Ich kann mich an überhaupt nichts mehr erinnern.




Als Frannie ihn fand, saß Stu auf einem Stein und rauchte eine Zigarre. Er hatte mit dem Absatz ein kleines rundes Loch in den Boden gescharrt und benutzte es als Aschenbecher. Er sah nach Westen, in den Sonnenuntergang. Die Wolken waren gerade so weit aufgerissen, daß die rote Sonne den Kopf durchstrecken konnte. Obwohl Frannie und die anderen die vier Frauen erst gestern getroffen und in ihre Gemeinschaft aufgenommen hatten, schien es schon lange zurückzuliegen. Sie hatten einen der Kombiwagen ohne große Mühe aus dem Straßengraben geschoben, und jetzt waren sie mit den Motorrädern schon eine ziemliche Karawane, die auf der Mautstraße langsam nach Westen fuhr.

Der Geruch des Zigarrenrauchs ließ Frannie an ihren Vater und dessen Pfeife denken. Mit dieser Erinnerung kam der Kummer, der schon fast zu Nostalgie abgeschwächt war. Ich komme darüber hinweg, daß ich dich verloren habe, Daddy, dachte sie. Ich glaube, es macht mir nichts aus.

Stu drehte sich um. »Frannie«, sagte er aufrichtig erfreut. »Wie geht es dir?«

Sie zuckte die Achseln. »So einigermaßen.«

»Willst du dich zu mir auf den Stein setzen und den Sonnenuntergang betrachten?«

Sie setzte sich zu ihm, und ihr Herz klopfte ein wenig schneller. Aber warum war sie sonst hergekommen? Sie hatte gewußt, in welcher Richtung er das Lager verlassen hatte, wie sie gewußt hatte, dass Harold und Glen und zwei der Mädchen nach Brighton gefahren waren, um ein CB-Funkgerät aufzutreiben (zur Abwechslung Glens und nicht Harolds Idee). Patty Kroger war im Lager und machte Babysitter bei ihren kampfesmüden Patientinnen. Shirley Hammett schien allmählich aus ihrer Lethargie zu erwachen, aber heute morgen hatte sie alle anderen aufgeweckt, weil sie im Schlaf geschrien und mit den Händen abwehrend in der Luft herumgefuchtelt hatte. Die andere Frau, die ohne Namen, schien sich in die andere Richtung zu entwickeln. Sie saß nur da. Sie aß, wenn sie gefüttert wurde. Sie führte die Ausscheidungsfunktionen aus. Sie beantwortete keine Fragen. Nur im Schlaf wurde sie richtig wach. Selbst mit einer großen Dosis Veronal stöhnte sie häufig und kreischte manchmal. Frannie glaubte ziemlich sicher zu wissen, wovon die arme Frau träumte.

»Es scheint, als hätten wir noch einen langen Weg vor uns, was?«

Stu antwortete eine Weile nicht und sagte dann: »Es ist weiter, als wir dachten. Die alte Frau ist nicht mehr in Nebraska.«

»Ich weiß...«, fing sie an und verschluckte den Rest. Er sah sie resigniert grinsend an. »Sie haben Ihre Medizin nicht genommen, Ma'am.«

»Mein Geheimnis ist enthüllt«, sagte sie mit einem ebenso schwachen Lächeln.

»Wir sind nicht die einzigen«, sagte Stu. »Ich habe heute nachmittag mit Dayna gesprochen« (sie empfand den inneren Stich der Eifersucht - und Angst-, weil er ihren Namen so vertraut aussprach), »und sie sagte mir, daß weder sie noch Susan die Tabletten nehmen wollen.«

Fran nickte. »Warum hast du damit aufgehört? Hat man dich... dort unter Drogen gesetzt?«

Er ließ die Asche in den Erdbodenaschenbecher fallen. »Abends leichte Beruhigungsmittel, mehr nicht. Sie mußten mich nicht unter Drogen setzen. Ich war sicher und wohlbehalten eingesperrt. Nein, ich habe vor drei Tagen damit aufgehört, weil ich... mir abgeschnitten vorkam.« Er überlegte einen Augenblick und führte dann weiter aus:

»Glen und Harold wollen ein CB -Funkgerät holen, das war eine wirklich gute Idee. Wozu braucht man Sender-Empfänger? Damit man nicht abgeschnitten ist. Ein Freund von mir in Arnette, Tony Leominster, hatte eins in seinem Scout. Tolles Spielzeug. Man kann mit Leuten reden, und wenn man in Schwierigkeiten kommt, kann man Hilfe rufen. Diese Träume sind fast so, als hätten wir ein CB im Kopf, aber die Übertragung scheint gestört zu sein, wir können nur empfangen.«

»Vielleicht senden wir auch«, sagte Fran leise.

Er sah sie verblüfft an.

Sie saßen eine Weile schweigend da. Die Sonne blinzelte durch die Wolken, als wollte sie auf dem Weg zum Horizont rasch Lebewohl sagen. Fran begriff, warum primitive Völker sie anbeteten. Während die gigantische Stille der fast leeren Landschaft sich von Tag zu Tag anhäufte, ihre Wahrhaftigkeit sich durch ihr bloßes Gewicht dem Gehirn einprägte, wirkten die Sonne - und der Mond, was das betraf - viel größer und wichtiger. Persönlicher. Diese großen Himmelsschiffe sah man jetzt wieder wie durch die Augen eines Kindes.

»Jedenfalls habe ich aufgehört«, sagte Stu. »Letzte Nacht habe ich wieder von diesem schwarzen Mann geträumt. Es war bis jetzt der schlimmste Traum. Er ist jetzt irgendwo in der Wüste. In Las Vegas, glaube ich. Und Frannie... ich glaube, er kreuzigt Menschen. Solche, die ihm Schwierigkeiten machen.«

»Was macht er?«

»Das habe ich geträumt. Reihenweise Kreuze am Highway 15, die aus Scheunenbalken und Telegrafenmasten gemacht sind. Und daran hängen Menschen.«

»Nur ein Traum«, sagte sie erschaudernd.

»Vielleicht.« Er rauchte und sah nach Westen, den rotgetönten Wolken nach. »Aber in den beiden anderen Nächten, bevor wir diese Wahnsinnigen mit den Frauen getroffen haben, habe ich von ihr geträumt - von der Frau, die sich Mutter Abagail nennt. Sie saß im Fahrerhaus eines alten Kleintransporters, der am Rand des Highway 76 parkte. Ich stand daneben, lehnte mit einem Arm am Fenster und unterhielt mich mit ihr so ungezwungen wie mit dir. Und sie sagt:

>Du mußt noch schneller mit ihnen reisen, Stuart; wenn eine alte Dame wie ich es kann, sollte es ein großer, kräftiger Bursche aus Texas erst recht können !<« Stu lachte, ließ die Zigarre fallen, zertrat sie unter dem Absatz. Auf geistesabwesende Weise, als wüßte er nicht, was er tat, legte er Frannie einen Arm um die Schulter.

»Sie fahren nach Colorado«, sagte sie.

»Äh, ja, das glaube ich auch.«

»Haben... haben Dayna oder Susan von ihr geträumt?«

»Beide. Und letzte Nacht hat Susan von den Kreuzen geträumt. Genau wie ich.«

»Es sind jetzt eine Menge Leute bei der alten Frau.«

Stu stimmte zu. »Zwanzig, vielleicht mehr. Weißt du, wir kommen fast jeden Tag an Menschen vorbei. Sie verstecken sich und warten, bis wir weg sind. Sie haben Angst vor uns, aber zu ihr... zu ihr werden sie gehen, glaube ich. Wenn die Zeit gekommen ist.«

»Oder zu dem anderen«, sagte Frannie.

Stu nickte. »Ja, oder zu ihm, Fran. Warum nimmst du das Veronal nicht mehr?«

Sie stieß einen zitternden Seufzer aus und fragte sich, ob sie es ihm sagen sollte. Sie wollte es, wußte aber nicht, wie er reagieren würde.

»Man weiß nie, was eine Frau tun wird«, sagte sie schließlich.

»Nein«, stimmte er zu. »Aber vielleicht kann man feststellen, was sie denkt.«

»Was...«, fing sie an, aber er verschloß ihr den Mund mit einem Kuß.




Sie lagen im letzten Dämmerschein im Gras. Leuchtendes Rot war kaltem Purpur gewichen, während sie sich liebten, und jetzt konnte Frannie die Sterne durch die letzten Wolken funkeln sehen. Morgen würden sie gutes Reisewetter haben. Mit etwas Glück konnten sie fast ganz Indiana hinter sich bringen.

Stu schlug träge nach einer Stechmücke, die über seiner Brust schwebte. Sein Hemd hing in der Nähe an einem Busch. Fran hatte die Bluse an, aber aufgeknöpft. Ihre Brüste rieben an Stoff, und sie dachte: Ich werde merklich dicker... noch sieht's keiner, nur ich selbst.

»Ich wollte dich schon ziemlich lange«, sagte Stu, ohne sie direkt anzusehen. »Ich glaube, das weißt du.«

»Ich wollte Schwierigkeiten mit Harold vermeiden«, sagte sie. »Und da ist noch etwas, das...»

»Harold muß noch viel lernen«, sagte Stu, »aber er hat das Zeug zu einem prima Kerl in sich, wenn er sich zusammenreißt. Du magst ihn, oder nicht?«

»Das ist nicht das richtige Wort. Es gibt im Englischen kein Wort für das, was ich für Harold empfinde.«

»Und was empfindest du für mich?« fragte er.

Sie sah ihn an und stellte fest, es war ihr unmöglich, ihm zu sagen, daß sie ihn liebte, jedenfalls so direkt, obwohl sie es wollte.

»Nein«, sagte er, als hätte sie ihm widersprochen. »Ich möchte nur klare Verhältnisse. Du willst nicht, daß Harold jetzt schon davon erfährt. Ist es nicht so?«

»Ja«, sagte sie dankbar.

»Ist auch besser so. Wenn wir uns etwas zurückhalten, regelt sich vielleicht alles von selbst. Ich habe gesehen, wie er manchmal Patty anschaut. Sie ist ungefähr in seinem Alter.«

»Ich weiß nicht...«

»Du empfindest ihm gegenüber aus Verpflichtung Dankbarkeit, richtig?«

»Ich glaube schon. Wir waren die einzigen Überlebenden in Ogunquit und...«

»Das war Zufall, Frannie, reines Glück, mehr nicht. Das verpflichtet dich zu gar nichts.«

»Vermutlich.«

»Ich glaube, ich liebe dich«, sagte er. »Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen.«

»Ich glaube, ich liebe dich auch. Aber da ist noch etwas...«

»Das wußte ich.«

»Du hast mich gefragt, warum ich die Tabletten nicht mehr nehme.«

Sie zupfte an ihrer Bluse und wagte nicht, ihn anzusehen. Ihre Lippen fühlten sich ungewöhnlich trocken an. »Ich habe gedacht, sie wären schlecht für das Baby«, flüsterte sie.

»Für das...« Er verstummte. Dann nahm er sie und drehte sie zu sich. »Du bist schwanger

Sie nickte.

»Und hast du keinem gesagt?«

»Nein.«

»Harold. Weiß Harold es?«

»Nur du.«

»Gott im Himmel«, sagte er. Er sah ihr auf eine so intensive Weise ins Gesicht, daß sie Angst bekam. Sie hatte sich zwei Möglichkeiten vorgestellt: Er würde sie auf der Stelle verlassen (was Jess zweifellos gemacht hätte, hätte er herausgefunden, daß sie von einem anderen Mann schwanger war), oder er würde sie in den Arm nehmen, ihr sagen, sie solle sich keine grauen Haare wachsen lassen, er würde sich um alles kümmern. Diese verblüffte, eingehende Musterung hatte sie nicht erwartet, und sie mußte an den Abend denken, als sie es ihrem Vater im Garten gesagt hatte. Er hatte sie ganz ähnlich angesehen. Sie wünschte sich, sie hätte Stu ihren Zustand gestanden, bevor er mit ihr geschlafen hatte. Vielleicht hätten sie dann überhaupt nicht miteinander geschlafen, aber wenigstens hätte er dann nicht das Gefühl gehabt, daß er an der Nase herumgeführt worden war, daß sie... wie lautete der alte Ausdruck? Aus zweiter Hand war. Dachte er das? Sie konnte es nicht sagen.

»Stu?« sagte sie mit ängstlicher Stimme.

»Du hast es keinem gesagt«, wiederholte er.

»Ich wußte nicht wie.« Jetzt waren die Tränen dicht unter der Oberfläche.

»Wann ist es soweit?«

»Januar«, sagte sie, und die Tränen kamen.

Er nahm sie in die Arme und ließ sie, ohne etwas zu sagen, wissen, daß alles in Ordnung war. Er sagte ihr nicht, sie solle sich keine grauen Haare wachsen lassen und er würde sich schon um alles kümmern, aber er schlief noch einmal mit ihr, und sie hatte das Gefühl, noch nie im Leben so glücklich gewesen zu sein. Keiner von ihnen sah Harold, der schwarz und stumm wie der dunkle Mann selbst in den Büschen stand und sie beobachtete. Keiner von ihnen wußte, daß er die Augen zu kleinen bösartigen Dreiecken zusammenkniff, als Fran ihre Lust hinausschrie, als der herrliche Orgasmus sie durchflutete.

Als sie sich erhoben, war es völlig dunkel.

Harold schlich leise davon.


Aus Fran Goldsmiths Tagebuch




1. August 1990

Gestern abend keine Eintragung, zu aufgeregt, zu glücklich. Stu und ich sind zusammen.

Er war auch der Meinung, daß ich das Geheimnis meines Einsamen Reiters so lange wie möglich bewahren soll, am besten, bis wir seßhaft geworden sind. Wenn's in Colorado ist, soll es mir recht sein. So, wie ich mich heute fühle, wäre mir sogar ein Mondkrater recht. Klingt das wie Gesülze eines verknallten Schulmädchens? Nun - wenn eine Frau in ihrem Tagebuch sich nicht wie ein verknalltes Schulmädchen ausdrücken kann, wo dann?

Aber eines muß ich noch loswerden, bevor ich das Thema Einsamer Reiter fallenlasse. Es hat mit meinen »mütterlichen Instinkten« zu tun. Gibt es so etwas? Ich finde ja. Wahrscheinlich hormonell bedingt. Ich bin seit ein paar Wochen nicht mehr die alte, aber es fällt schwer, die durch die Schwangerschaft verursachten Veränderungen von denen zu trennen, die auf die schreckliche Katastrophe zurückzuführen sind, die über die Welt gekommen ist. Aber ein Gefühl der Eifersucht BESTEHT (»Eifersucht« ist eigentlich nicht das richtige Wort, aber ein besseres finde ich heute nacht nicht), ein Gefühl, daß man dem Mittelpunkt des Universums ein Stück nähergerückt ist und seine Position dort verteidigen muß. Deshalb scheint mir das Veronal ein größeres Risiko als die Alpträume zu sein, auch wenn mir die Vernunft sagt, daß das Veronal dem Baby nicht schaden kann - jedenfalls nicht mit den geringen Dosen, die die anderen nehmen. Und ich glaube, dieses Gefühl der Eifersucht ist auch ein Teil der Liebe, die ich für Stu Redman empfinde. Mir ist, als würde ich nicht nur für zwei essen, sondern auch lieben. So, ich muß mich kurz fassen. Ich brauche meinen Schlaf, was für Träume er auch bringen mag. Wir sind nicht so schnell durch Indiana gekommen, wie wir gehofft hatten - ein schrecklicher Verkehrsunfall in der Nähe der Kreuzung Elkhart hat uns aufgehalten. Viele Fahrzeuge der Armee. Tote Soldaten. Glen, Susan Stern, Dayna und Stu nahmen so viele Waffen mit, wie sie finden konnten - etwa zwei Dutzend Gewehre, ein paar Granaten und - ja, Leute, wahrhaftig - einen Raketenwerfer. Während ich das schreibe, versuchen Harold und Stu herauszufinden, wie der Raketenwerfer, für den siebzehn oder achtzehn Raketen da sind, funktioniert. Bitte, lieber Gott, pass auf, daß sie sich nicht selbst in die Luft jagen.

Und da wir gerade von Harold sprechen, ich muß dir sagen, liebes Tagebuch, daß er NICHT DEN GERINGSTEN VERDACHT HAT (hört sich wie eine Dialogzeile aus einem alten Bette-Davis-Film an, was?). Wenn wir die Gruppe um Mutter Abagail erreicht haben, muss ich es ihm wohl sagen; es wäre nicht recht, es ihm länger zu verheimlichen, komme, was da wolle.

Aber heute war er fröhlicher & und heiterer, als ich ihn je gesehen habe. Er hat so sehr gegrinst, daß ich gedacht habe, sein Gesicht würde zerreißen! Er hat vorgeschlagen, daß Stu ihm mit dem gefährlichen Raketenwerfer helfen soll, und…

Aber jetzt kommen sie zurück. Schreibe später weiter.




Frannie schlief tief und traumlos. Wie alle, außer Harold Lauder. Irgendwann kurz nach Mitternacht stand er auf, ging leise zu der Stelle, wo Frannie lag, blieb stehen und sah auf sie hinab. Jetzt lächelte er nicht mehr, obwohl er den ganzen Tag gelächelt hatte. Manchmal hatte er heute das Gefühl gehabt, das Lächeln würde ihm das Gesicht spalten, so daß sein gemartertes Gehirn herausquoll. Vielleicht wäre das eine Wohltat gewesen.

Er sah auf sie hinab und lauschte dem sommerlichen Zirpen der Grillen. Wir haben jetzt die Hundstage, dachte er. Die Hundstage, vom 25. Juli bis zum 28. August, laut Webster's Lexikon. Sie werden so genannt, weil sich um diese Zeit die meisten Hunde mit Tollwut infizieren. Er sah auf Fran hinab, die so friedlich schlief und den zusammengerollten Pullover als Kissen benützte. Ihr Rucksack stand neben ihr.

Jeder Hund hat seinen Tag, Frannie.

Er kniete sich hin und erstarrte, als seine Kniegelenke wie Pistolenschüsse knackten, aber niemand bewegte sich. Er machte ihren Rucksack auf, löste die Zugschnur und griff hinein. Er richtete seine winzige Taschenlampe auf den Inhalt des Rucksacks. Frannie murmelte tief im Schlaf, regte sich, und Harold hielt den Atem an. Er fand das Ringbuch ganz unten hinter drei Blusen und einem eselsohrigen Taschenatlas. Er zog es heraus, schlug es auf und richtete das Licht auf Frannies enge, aber lesbare Handschrift.

6.Juli 1990 - Nach einiger Überredung war Mr. Bateman bereit, mit uns zu kommen...

Harold klappte das Buch zu und kroch damit zu seinem Schlafsack zurück. Er kam sich wie der kleine Junge von damals vor, der Junge mit wenigen Freunden (er war, bis er drei wurde, ein hübsches Baby gewesen, aber seitdem war er ein dicker und häßlicher Witz) und vielen Feinden, der Junge, den seine Eltern ganz einfach nur hingenommen hatten - deren Aufmerksamkeit hatte nur Amy gegolten, als diese den Miss-America-Atlantic-City-Weg ihres Lebens betrat -, der Junge, der in Büchern Trost suchte, der Junge, der seine Enttäuschung darüber, daß ihn beim Baseball niemand in seiner Mannschaft haben wollte und er stets übergangen wurde, wenn Schülerlotsen gesucht wurden, dadurch kompensierte, daß er sich in Long John Silver oder Tarzan oder Philip Kent verwandelte... der Junge, der spät abends zu diesen Gestalten wurde, wenn er unter der Bettdecke die Taschenlampe auf die bedruckten Seiten richtete, vor Aufregung große Augen bekam und seine eigenen Bettfürze nicht roch; dieser Junge kroch jetzt Kopf voraus mit Frannies Tagebuch und seiner Taschenlampe in seinen Schlafsack.

Als er den Lichtstrahl auf die erste Seite des Ringbuchs richtete, erlebte er noch einen Augenblick der Vernunft. Nur einen Augenblick lang schrie etwas in ihm Harold! Hör auf! - so zwingend, daß er am ganzen Körper zitterte. Und er hätte fast aufgehört. Einen Augenblick schien es möglich aufzuhören, das Tagebuch wieder dorthin zu legen, wo er es gefunden hatte, Frannie aufzugeben und die beiden ihrer Wege ziehen zu lassen, bevor etwas Schreckliches und Unwiderrufliches geschah. In diesem Augenblick schien es, als könnte er den bitteren Trank von sich weisen, ihn aus dem Becher gießen und diesen mit dem füllen, was diese Welt für ihn bereithielt. Gib es zurück, Harold, bat diese Stimme der Vernunft, aber vielleicht war es schon zu spät.

Im Alter von sechzehn Jahren hatte er Burroughs und Stevenson und Robert Howard zugunsten anderer Phantasien aufgegeben, Phantasien, die geliebt und verhaßt zugleich waren - die nichts mit Weltraumraketen oder Piraten zu tun hatten, sondern mit Mädchen in durchsichtigen Seidenpyjamas, die auf Satinkissen vor ihm knieten, während Harold der Große sich nackt auf seinem Thron räkelte und bereit war, sie mit kleinen Lederpeitschen oder einem Stock mit silbernem Knauf zu züchtigen. Es waren bittere Phantasien, in denen jedes hübsche Mädchen der High School von Ogunquit irgendwann einmal aufgetreten war. Diese Tagträume endeten stets mit einem wachsenden Druck in den Lenden, einer Explosion von Körperflüssigkeit, die mehr Fluch als Lust war. Dann schlief er ein, und das Sperma trocknete auf seinem Bauch zu Schuppen. Jedes Hündchen hat seinen Tag.

Jetzt waren es diese bitteren Phantasien, die alten Kränkungen, die er wie gelbe Laken um sich hüllte, die alten Freunde, die nie starben, deren Zähne nie stumpf wurden, deren tödliche Zuneigung nie wankte.

Er schlug die erste Seite auf, richtete die Taschenlampe auf die Worte und fing an zu lesen.

Eine Stunde vor Einbruch der Dämmerung stopfte er das Buch wieder in Frans Rucksack und schnallte ihn zu. Er war nicht einmal besonders vorsichtig. Wenn sie aufwachte, dachte er kalt, würde er sie umbringen und verschwinden. Aber wohin? Nach Westen. Doch er würde nicht in Nebraska halten, nicht einmal in Colorado, o nein. Sie wachte nicht auf.

Er ging zu seinem Schlafsack zurück. Er masturbierte voll bitterer Verzweiflung. Als er endlich einschlief, schlief er unruhig. Er träumte, er würde auf halbem Weg an einem steilen Abhang mit Felsbrocken und Findlingen sterben. Hoch über ihm kreisten Bussarde in den nächtlichen Aufwinden und warteten darauf, daß sein Körper zu ihrer Mahlzeit würde. Kein Mond schien, keine Sterne...

Und dann öffnete sich in der Dunkelheit ein schreckliches rotes Auge: wölfisch, geisterhaft. Das Auge erfüllte ihn mit Entsetzen und hielt ihn doch in seinem Bann.

Das Auge lockte ihn.

Nach Westen, wo sich jetzt die Schatten zu ihrem Totentanz in der Dämmerung versammelten.




Als sie an diesem Abend ihr Lager aufschlugen, waren sie westlich von Joliet, Illinois. Es gab einen Kasten Bier, nette Gespräche, Gelächter. Sie hatten das Gefühl, als hätten sie mit Indiana auch den Regen hinter sich gelassen. Alle machten Bemerkungen über Harold, der noch nie so fröhlich gewesen war. »Weißt du, Harold«, sagte Frannie später am Abend, als die Party sich langsam auflöste, »ich glaube, ich habe dich noch nie so gut gelaunt gesehen. Was ist los?«

Er zwinkerte ihr fröhlich zu. »Jeder Hund hat seinen Tag, Frannie.«

Sie lächelte ihn ein wenig verdutzt an. Aber sie dachte, daß Harold sich eben geheimnisvoll gab. Unwichtig. Viel wichtiger war, daß sich alles zum Guten wendete.




An diesem Abend fing Harold an, selbst Tagebuch zu führen.

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