55
Das Haus des Richters lag über einem Friedhof.
Larry und er saßen nach dem Abendessen auf der hinteren Veranda, rauchten Roi-Tan-Zigarren und betrachteten den Sonnenuntergang, der hinter den Bergen zu Orange verblaßte.
»Als ich ein Junge war«, sagte der Richter, »wohnten wir in der Nähe des schönsten Friedhofs in Illinois. Er hießt Mount Hope, Berg der Hoffnung. Jeden Abend machte mein Vater, der damals Anfang sechzig war, nach dem Essen einen Spaziergang. Manchmal ging ich mit. Und wenn unser Weg uns an diesem hervorragend gepflegten Gottesacker vorbeiführte, sagte er oft: >Was meinst du, Teddy, gibt es Hoffnung?< Und ich antwortete: >Da ist der Berg der Hoffnung<, und er brüllte jedesmal vor Lachen, als hätte er es noch nie gehört. Ich glaube manchmal, daß wir nur deshalb an dem Friedhof vorbeigegangen sind, daß er diesen Witz mit mir machen konnte. Er war ein wohlhabender Mann, aber einen komischen Witz schien er nicht zu kennen.«
Der Richter rauchte mit gesenktem Kopf und hochgereckten Schultern.
»Er ist 1937 gestorben, da war ich nicht mal zwanzig«, sagte er. »Ich vermisse ihn seitdem. Ein Junge braucht keinen Vater, wenn es kein guter Vater ist, aber ein guter Vater ist unersetzlich. Keine Hoffnung außer Mount Hope. Das hat ihm so gefallen! Er war achtundsiebzig, als er gestorben ist. Er ist gestorben wie ein König, Larry. Er saß auf dem Thron im kleinsten Zimmer unseres Hauses, die Zeitung auf dem Schoß.«
Larry, der nicht wußte, wie er auf diese recht bizarre nostalgische Enthüllung reagieren sollte, sagte nichts.
Der Richter seufzte. »Nicht mehr lange, dann wird das hier ein beachtliches Unternehmen sein«, sagte er. »Das heißt, wenn ihr den Strom wieder einschalten könnt. Wenn nicht, werden die Leute nervös und ziehen nach Süden, bevor das schlechte Wetter sie daran hindern kann.«
»Ralph und Brad sagen, sie schaffen es. Ich vertraue ihnen.«
»Dann wollen wir hoffen, daß dein Vertrauen begründet ist, oder nicht? Vielleicht ist es ganz gut, daß die alte Frau fort ist. Vielleicht hat sie gewußt, daß es so besser sein würde. Vielleicht sollten die Leute selber entscheiden können, was die Lichter am Himmel sind und ob ein Baum ein Gesicht hat oder es nur ein Trick von Licht und Schatten war. Verstehst du mich, Larry?«
»Nein, Sir«, antwortete Larry wahrheitsgemäß. »Ich bin nicht sicher.«
»Ich frage mich, ob wir wirklich diese langweilige Sache mit Göttern und Erlösern und so weiter neu erfinden müssen, bevor wir das Wasserklosett neu erfunden haben. Das wollte ich damit sagen. Ich frage mich, ob dies die richtige Zeit für Götter ist.«
»Glauben Sie, sie ist tot?«
»Sie ist nun seit sechs Tagen fort. Die Suchtrupps haben keine Spur von ihr gefunden. Ja, ich glaube, sie ist tot, aber ich bin nicht einmal jetzt ganz sicher. Sie war eine erstaunliche Frau, völlig außerhalb von rationalen Maßstäben. Vielleicht bin ich hauptsächlich deshalb so froh, daß sie weg ist, weil ich ein so rationaler alter Griesgram bin. Ich mache gern meine tägliche Runde, gieße meinen Garten - hast du gesehen, wie sich die Begonien wieder erholt haben? Darauf bin ich ganz stolz -, lese meine Bücher oder mache Notizen für mein eigenes Buch über die Seuche. Das alles mache ich gern, und abends möchte ich ein Glas Wein trinken und ohne Sorgen einschlafen. Ja. Keiner von uns will Vorzeichen und Omen sehen, auch wenn wir Gespenstergeschichten und Gruselfilme lieben. Keiner von uns will wirklich einen Stern im Osten oder eine Feuersäule bei Nacht sehen. Wir wollen Frieden und Vernunft und Routine. Wenn wir Gott im schwarzen Gesicht einer alten Frau sehen müssen, dann kann uns das nur daran erinnern, daß es für jeden Gott einen Teufel gibt - und unser Teufel mag schon näher sein, als uns lieb ist.«
»Deshalb bin ich hier«, sagte Larry unbeholfen. Ihm wäre es lieber gewesen, der Richter hätte seinen Garten, seine Bücher, seine Notizen und sein Glas Wein vor dem Schlafengehen nicht erwähnt. Larry hatte eine zweischneidige gute Idee bei einem Treffen von Freunden gehabt und einen leichtfertigen Vorschlag gemacht. Jetzt fragte er sich, ob es eine Möglichkeit gab, weiterzusprechen, ohne sich wie ein grausamer und opportunistischer Narr anzuhören.
»Ich weiß, warum du hier bist. Ich bin einverstanden.«
Larry fuhr hoch, daß das Gefl echt seines Korbstuhls knarrte und ächzte. »Wer hat Ihnen das gesagt? Es sollte streng geheim bleiben, Richter. Wenn jemand aus dem Komitee nicht dichthalten kann, stecken wir schön in der Klemme.«
Der Richter hob eine Hand voller Leberflecke und brachte ihn zum Schweigen. Die Augen in seinem von der Zeit gezeichneten Gesicht strahlten. »Ruhig, Junge - ruhig. Niemand aus eurem Komitee hat geplaudert, nicht, daß ich wüßte, und ich hab' das Ohr immer dicht am Boden. Nein, ich habe mir das Geheimnis selbst eingeflüstert. Warum bist du heute abend gekommen? Dein Gesicht verrät alles, Larry. Ich hoffe, du spielst nicht Poker. Als ich von meinen schlichten Freuden gesprochen habe, konnte ich sehen, wie dein Gesicht immer länger geworden ist... es hat einen recht komischen Ausdruck angenommen...«
»Ist das so komisch? Was soll ich machen, fröhlich aussehen, wo... wo...«
»Wo ich nach Westen geschickt werde«, sagte der Richter leise.
»Um die Gegend auszukundschaften. Darum geht es, richtig?«
»Genau darum geht es.«
»Ich habe mich gefragt, wie lange es dauert, bis das Thema zur Sprache kommt. Es ist nämlich enorm wichtig, sogar unbedingt notwendig, wenn die Freie Zone ihr Überleben sichern will. Wir wissen nicht, was er dort drüben plant. Er könnte genausogut auf der dunklen Seite des Mondes sein.«
»Wenn er wirklich da ist.«
»Oh, er ist da. In der einen oder anderen Form ist er da. Kein Zweifel.« Er nahm einen Nagelclip aus der Hosentasche und beschäftigte sich mit seinen Fingernägeln, die schnippenden Geräusche unterstrichen seine Worte. »Sag mal, hat das Komitee darüber gesprochen, was passiert, wenn es uns dort besser gefällt? Wenn wir bleiben wollen?«
Larry war verblüfft von dieser Vorstellung. Er sagte dem Richter, dass seines Wissens noch niemand darüber nachgedacht hatte.
»Ich kann mir vorstellen, daß bei ihm die Lichter schon wieder an sind«, sagte der Richter mit trügerischer Gelassenheit. »Das ist ein Anreiz, weißt du. Das hat dieser Impening offenbar gemerkt.«
»Ab mit Schaden«, sagte Larry grimmig, und der Richter lachte lange und herzlich.
Als er sich beruhigt hatte, sagte er: »Ich breche morgen auf. Mit einem Landrover, glaube ich. Erst nach Norden, Wyoming, dann nach Westen. Gott sei Dank kann ich noch gut fahren! Ich werde durch Idaho nach Nordkalifornien fahren. Es mag zwei Wochen dauern, der Rückweg wahrscheinlich länger. Wenn ich zurückkomme, könnte es schneien.«
»Ja. Die Möglichkeit haben wir in Betracht gezogen.«
»Und ich bin alt. Alte neigen zu Herzanfällen und Dummheit. Ich nehme an, ihr schickt noch andere?«
»Nun...«
»Nein, darüber darfst du nicht reden. Ich ziehe die Frage zurück.«
»Hören Sie, Sie können ablehnen«, platzte Larry heraus. »Niemand setzt Ihnen die Pistole auf die Br...«
»Willst du versuchen, dich deiner Verantwortung mir gegenüber zu entledigen?« fragte der Richter schneidend.
»Vielleicht. Vielleicht will ich das. Vielleicht denke ich auch nur, dass Ihre Chancen zurückzukommen eins zu zehn stehen und Ihre Chancen, mit Informationen zurückzukommen, die für uns wesentlich sind, vielleicht eins zu zwanzig. Vielleicht will ich Ihnen auch nur auf nette Weise sagen, daß ich vielleicht einen Fehler gemacht habe. Sie könnten zu alt sein.«
»Ich bin zu alt für Abenteuer«, sagte der Richter und steckte den Clip weg, »aber hoffentlich nicht zu alt, das zu tun, was ich für richtig halte. Irgendwo dort draußen liegt eine alte Frau, die wahrscheinlich elend gestorben ist, weil sie es für richtig hielt. Ich zweifle nicht daran, daß religiöser Wahn sie motiviert hat. Aber Leute, die unbedingt das Richtige tun wollen, wirken immer verrückt. Ich werde gehen. Es wird kalt sein. Meine Verdauung wird Schwierigkeiten machen. Ich werde einsam sein. Ich werde meine Begonien vermissen. Aber...« Er sah Larry an, seine Augen glitzerten in der Dunkelheit. »Ich werde auch klug sein.«
»Das glaube ich aufs Wort«, sagte Larry und spürte, wie ihm Tränen in den Augenwinkeln brannten.
»Wie geht es Lucy?« fragte der Richter, der das Thema seiner Abreise offenbar für abgeschlossen hielt.
»Gut«, sagte Larry. »Es geht uns beiden gut.«
»Keine Probleme?«
»Nein«, sagte Larry und dachte an Nadine. Er machte sich immer noch Gedanken wegen ihrer Verzweiflung bei der letzten Begegnung. Du bist meine letzte Chance, hatte sie gesagt. Seltsame Worte, fast selbstmörderisch. Wie konnte man ihr helfen? Psychiatrie? Das war lächerlich, wo sie allenfalls einen Pferdedoktor anzubieten hatten. Und nicht einmal die Telefonseelsorge gab es mehr.
»Es ist gut, daß du mit Lucy zusammen bist«, sagte der Richter, »aber ich vermute, du machst dir wegen der anderen Frau Sorgen.«
»Ja, das tue ich.« Was jetzt folgte, war schwer auszusprechen, aber es war ihm viel wohler, wenn er es jemand anderem beichten und anvertrauen konnte. »Ich fürchte, daß sie an, nun, Selbstmord denkt.« Er fuhr rasch fort: »Sicher nicht nur meinetwegen, denken Sie bloß nicht, ich wäre der Meinung, daß sich ein Mädchen umbringen könnte, weil sie sexy Larry Underwood nicht bekommt. Aber der Junge, für den sie gesorgt hat, ist aus seiner Schale herausgekrochen, und ich glaube, sie fühlt sich einsam, weil niemand mehr auf sie angewiesen ist.«
»Wenn ihre Depressionen chronisch und zyklisch werden, kann es durchaus sein, daß sie sich umbringt«, sagte der Richter mit erschreckender Gleichgültigkeit.
Larry sah ihn entsetzt an.
»Aber du kannst dich nicht zweiteilen«, sagte der Richter. »Du kannst nur einer sein. Stimmt das nicht?«
»Ja.«
»Und du hast deine Wahl getroffen?«
»Ja.«
»Endgültig?«
»Ja. Endgültig.«
»Dann mußt du damit leben«, sagte der Richter mit großer Erleichterung. »Um Gottes willen, Larry, werd erwachsen. Entwickle ein bißchen Selbstgefälligkeit. Vieles daran ist häßlich, weiß Gott, aber etwas davon auf deine vielen Skrupel getüncht, das muss unbedingt sein! Es ist für die Seele, was ein guter Lichtschutzfaktor für die Haut ist. Du kannst nur deine eigene Seele meistern, und ab und zu kommt ein klugscheißerischer Psychologe des Wegs und stellt sogar die Fähigkeit dazu in Frage. Werd erwachsen! Deine Lucy ist ein prima Mädchen. Wenn du Verantwortung für mehr als ihre und deine Seele übernimmst, mutest du dir zuviel zu, und sich zuviel zuzumuten ist eine der beliebtesten Methoden der Menschheit, eine Katastrophe herauszufordern. «
»Ich unterhalte mich gern mit Ihnen«, sagte Larry und war erschrocken und amüsiert zugleich über den Tiefsinn dieser Bemerkung.
»Wahrscheinlich nur, weil ich dir genau das sage, was du hören willst«, sagte der Richter heiter. Und dann fügte er hinzu: »Es gibt viele Möglichkeiten, Selbstmord zu begehen, weißt du.«
Bevor allzuviel Zeit vergangen war, sollte Larry Gelegenheit haben, sich unter bitteren Umständen an diese Bemerkung zu erinnern.
Am nächsten Morgen um Viertel nach acht fuhr Harolds Wagen wieder vom Greyhound-Bahnhof zum Stadtteil Table Mesa. Harold, Weizak und zwei andere saßen hinten auf dem Wagen. Norman Kellogg und ein weiterer Mann saßen im Fahrerhaus. Sie waren gerade an der Kreuzung Arapahoe Street und Broadway, als ihnen langsam ein brandneuer Landrover entgegenkam. Weizak winkte und rief: »Wo fahren Sie hin, Richter?«
Der Richter, der in Wollhemd und Weste ziemlich komisch aussah, hielt an. »Ich dachte mir, ich fahre einen Tag nach Denver«, sagte er unverbindlich.
»Schaffen Sie das mit dem Ding?« rief Weizak.
»Oh, ich glaube schon, wenn ich die Hauptstraßen meide.«
»Wenn Sie an einem Sex-Shop vorbeikommen, bringen Sie doch einen Kofferraum voll Bücher mit.«
Alle lachten über diese Bemerkung - auch der Richter-, nur Harold nicht. Er sah heute morgen blaß und übernächtigt aus, als hätte er schlecht geschlafen. In Wirklichkeit hatte er überhaupt kaum geschlafen. Nadine hatte Wort gehalten; in der vergangenen Nacht waren einige seiner Träume in Erfüllung gegangen. Träume der feuchten Art, wollen wir einmal sagen. Er freute sich schon auf heute abend, und Weizaks anzügliche Bemerkung über Pornographie war heute, da er ein wenig Erfahrung aus erster Hand hatte, nur noch für den Hauch eines Lächelns gut. Nadine hatte noch geschlafen, als er gegangen war. Bevor sie gegen zwei aufgehört hatten, hatte sie ihm gesagt, sie wolle sein Hauptbuch lesen. Er hatte gesagt, nur zu, wenn es ihr Wunsch sei. Vielleicht lieferte er sich damit ihrer Gnade aus, aber er war zu verwirrt, ganz sicher zu sein. Etwas Besseres hatte er in seinem Leben nie geschrieben, und der auslösende Faktor war sein Wunsch - nein, sein Bedürfnis. Sein Bedürfnis, jemand anderen seine beste Arbeit lesen und erfahren zu lassen.
Jetzt lehnte sich Kellogg aus dem Fahrerhaus des Müllautos und sah den Richter an. »Seien Sie vorsichtig, Väterchen. Okay? Heutzutage sind komische Leute auf den Straßen unterwegs.«
»Allerdings«, sagte der Richter mit einem seltsamen Lächeln. »Ich werde schon aufpassen. Guten Tag, meine Herren. Auch Ihnen, Mr. Weizak.«
Neuerliches Gelächter, dann fuhren sie weiter.
Der Richter fuhr nicht Richtung Denver. Als er die Route 36 erreichte, querte er sie und fuhr auf der Route 7 weiter. Die Morgensonne schien hell und sanft, und auf dieser Nebenstraße waren keine Staus, die sie blockierten. In der Stadt Brighton war es schlimmer; an einer Stelle mußte er die Straße verlassen und über das Football-Feld der örtlichen High School fahren, um einem gewaltigen Stau auszuweichen. Er fuhr weiter nach Osten, bis er die 1-25 erreichte. Rechts ging es nach Denver. Aber er bog links ab - nach Norden - und fuhr die Einfahrtsrampe hinunter. Als er halb unten war, nahm er den Gang raus und sah nach links, nach Westen, wo die Rockies, zu deren Füßen Boulder lag, malerisch in den blauen Himmel ragten.
Er hatte Larry gesagt, er wäre zu alt für Abenteuer, aber bei Gott, das war eine Lüge gewesen. Seit zwanzig Jahren hatte sein Herz nicht mehr in diesem frischen Rhythmus geschlagen, hatte die Luft nicht so lieblich geduftet, waren die Farben nicht so leuchtend gewesen. Er würde auf der 1-25 nach Cheyenne fahren und dann nach Westen abbiegen, um zu sehen, was ihn hinter den Bergen erwartete. Seine Haut, vom Alter trocken, juckte nichtsdestotrotz bei diesem Gedanken, und die Härchen stellten sich auf. Auf der 1-80 in westlicher Richtung nach Sah Lake City, dann durch Nevada nach Reno. Dann wollte er sich wieder nach Norden wenden, aber das war wohl ziemlich gleich. Denn irgendwo zwischen Salt Lake und Reno, möglicherweise vorher, würde man ihn anhalten, verhören und möglicherweise anderswo hinschicken, wo er wieder verhört wurde. Am einen oder anderen Ort wurde dann möglicherweise eine Einladung ausgesprochen.
Es war nicht einmal unmöglich, daß er den dunklen Mann selbst kennenlernte.
»Jetzt aber weiter, Alter«, sagte er leise.
Er legte den Gang des Rover wieder ein und fuhr langsam auf die 125. Nach Norden führten drei Fahrspuren, alle verhältnismäßig frei. Wie er vermutet hatte, war der fließende Verkehr schon in Denver durch Staus und Unfälle blockiert worden. Auf der anderen Seite des Mittelstreifens standen die Wagen dicht an dicht - die armen Narren, die nach Süden fahren wollten, weil sie hofften, im Süden wäre es besser -, aber hier hatte er freie Fahrt. Vorläufig wenigstens. Richter Farris fuhr weiter und war froh, daß er unterwegs war. Er hatte die letzte Nacht schlecht geschlafen. Heute nacht, unter den Sternen, den alten Leib fest in zwei Schlafsäcke gehüllt, würde er besser schlafen. Er fragte sich, ob er Boulder je wiedersehen würde, und dachte, daß die Chancen wahrscheinlich nicht sehr gut standen. Und dennoch war er sehr aufgeregt.
Es war einer der schönsten Tage seines Lebens.
Am frühen Nachmittag fuhren Nick, Ralph und Stu zu dem kleinen stuckverzierten Haus im Norden Boulders hinaus, in dem Tom Cullen ganz allein lebte. Für die »alten« Einwohner Boulders war Toms Haus schon zu einer Sehenswürdigkeit geworden. Stan Nogotny sagte, es war, als hätten Katholiken, Baptisten und Seventh-DayAdventisten sich mit den Demokraten und den Moonies zusammengetan, um ein religiös-politisches Disneyland zu schaffen. Der vordere Rasen war ein seltsames Tableau von Statuen. Ein dutzendmal die Jungfrau Maria, die in manchen Fällen gerade Schwärme von rosa Plastikflamingos zu füttern schien. Der größte Flamingo war größer als Tom selbst und stand auf einem Bein, das in einen meterlangen Stachel überging. Zwischen den Figuren stand ein riesiger Wunschbrunnen, in dessen verziertem Eimer ein großer, im Dunkeln leuchtender Plastikjesus stand, der die Hände ausgestreckt hatte. Neben dem Wunschbrunnen stand eine große Gipskuh, die anscheinend aus einem Vogelbad trank. Das Fliegengitter vor der Eingangstür wurde aufgestoßen, und Tom, mit bloßem Oberkörper, kam heraus, um sie zu begrüßen. Aus der Ferne, überlegte Nick, hätte man ihn mit seinen hellblauen Augen und dem rotblonden
Bart für einen kraftstrotzenden Schriftsteller oder Maler halten können. Wenn er näherkam, gab man diese Vorstellung zugunsten von etwas weniger Intellektuellem auf... vielleicht eine Art Handwerker aus der Gegenkultur, der Originalität zugunsten von Kitsch aufgegeben hatte. Und wenn er ganz nahe war und lächelte und mit einem Kilometer pro Stunde daherplapperte, wurde einem endgültig klar, daß es in Tom Cullens Oberstübchen nicht ganz richtig war.
Nick wußte, ein Grund, warum er sich so sehr mit Tom Cullen verbunden fühlte, war der, daß man ihn selbst früher für geistig zurückgeblieben gehalten hatte - anfangs, weil seine Behinderung ihn daran gehindert hatte, lesen und schreiben zu lernen, später dann, weil die Leute einfach davon ausgingen, wer taubstumm war, mußte geistig zurückgeblieben sein. Er hatte jeden umgangssprachlichen Ausdruck dafür schon einmal gehört. Nicht alle Tassen im Schrank. Plemplem. Einen Sparren locker haben. Dem Typ fehlt ein Zacken in der Krone. Er mußte an den Abend denken, als er im Zack's ein paar Bier trinken wollte, der Kneipe am Stadtrand von Shoyo - der Abend, als Ray Booth und seine Kumpane ihm aufgelauert hatten. Der Barkeeper hatte am anderen Ende der Bar gestanden, über die er sich vertraulich gebeugt hatte, um mit einem Kunden zu sprechen. Er hatte den Mund mit der Hand abgeschirmt, so daß Nick nur unvollständig verstand, was er sagte. Aber mehr mußte er auch nicht verstehen. Taubstumm... wahrscheinlich zurückgeblieben...
Von allen häßlichen Ausdrücken für geistige Behinderung gab es einen einzigen, der auf Tom Cullen zutraf. Nick selbst gebrauchte ihn in der Stille seines eigenen Verstands häufig und mit großer Anteilnahme. Der Ausdruck war: Der Typ spielt nicht mit einem vollen Blatt. Das war es, was mit Tom nicht stimmte. Darauf lief es hinaus. Das Elend in Toms Fall war, daß so wenig Karten fehlten, und noch dazu wertlose Karten - Kreuz zwei, Karo drei, was in der Art. Aber ohne diese Karten konnte man eben kein gutes Spiel spielen. Man konnte nicht einmal beim Solitaire gewinnen, wenn diese Karten im Blatt fehlten.
»Nicky!« schrie Tom. »Bin ich froh, dich zu sehen! Meine Fresse, ja!
Tom Cullen ist so froh!« Er schlang die Arme um Nicks Hals und drückte ihn an sich. Nick spürte, wie Tränen in seinem schlimmen Auge hinter der Klappe stachen, die er an sonnigen Tagen wie diesem immer noch trug. »Und Ralph auch! Und der da. Du bist... mal sehen...«
»Ich bin...« begann Stu, aber Nick brachte ihn mit einer brüsken Bewegung der linken Hand zum Schweigen. Er hatte Gedächtnistraining mit Tom gemacht, was Erfolg zu haben schien. Wenn man etwas, das man kannte, mit einem Namen assoziieren konnte, den man sich einprägen wollte, prägte er sich einem häufig ein. Auch das hatte Rudy ihm vor vielen Jahren beigebracht. Jetzt nahm er den Block aus der Tasche und kritzelte darauf. Dann gab er ihn Ralph, damit er ihn laut vorlas.
Ralph gehorchte stirnrunzelnd: »Was ißt du gerne, das in einer Schüssel mit Fleisch und Gemüse und Soße gemacht wird?«
Tom stand stockstill da. Sein Gesicht wurde reglos. Er sperrte den Mund auf und wurde zum Inbegriff eines Idioten.
Stu regte sich unbehaglich und sagte: »Nick, ich finde, wir sollten...«
Nick hielt einen Finger an die Lippen und brachte ihn zum Schweigen; im selben Augenblick erwachte Tom Cullen wieder zum Leben.
»Stew!« sagte er, lachte und machte Luftsprünge. »Du bist Stew!« Er sah Nick zur Bestätigung an, und Nick zeigte ihm das V für Sieg.
»M-O-N-D, und das buchstabiert man Stew, das weiß Tom Cullen, das weiß jeder!«
Nick deutete zur Tür von Toms Haus.
»Wollt ihr reinkommen? Meine Fresse, ja! Wir werden alle reingehen. Tom hat sein Haus geschmückt.«
Ralph und Stu warfen sich einen amüsierten Blick zu, während sie Nick und Tom die Verandastufen hinauf folgten. Tom »schmückte« immer. Er »möblierte« nicht, denn das Haus war natürlich möbliert gewesen, als er einzog. Als sie ins Haus gingen, fanden sie eine wirre Märchenwelt vor.
Gleich hinter der Tür hing ein riesiger vergoldeter Vogelkäfig, auf dessen Stange, sorgfältig mit Draht befestigt, ein ausgestopfter grüner Papagei saß, und Nick mußte sich darunter durchducken. Das Verblüffende war, dachte er, daß Toms Schmuck nicht aus beliebigem Trödel bestand. In dem Fall hätte das Haus ausgesehen wie ein Ramschladen. Hier war mehr, etwas, das jenseits dessen zu liegen schien, was ein normaler Verstand als Muster erkennen konnte. In einem großen Viereck über dem Kamin im Wohnzimmer waren eine Reihe von Kreditkartenzeichen angebracht, alle sorgfältig montiert und regelmäßig angeordnet.
VISA CARD WILLKOMMEN. SAGEN SIE NUR MASTERCHARGE. WIR NEHMEN AMERICAN EXPRESS. DINER'S CLUB.
Nun ergab sich die Frage: Woher wußte Tom, daß alle diese Zeichen zu einer Kategorie gehörten? Er konnte nicht lesen, aber er hatte das Muster irgendwie begriffen. Auf dem Kaffeetisch stand ein großer Hydrant aus Styropor. Auf der Fensterbank stand das Blaulicht eines Polizeiwagens, wo es das Sonnenlicht auffangen und als blauen Fächer an die Wand werfen konnte.
Tom zeigte ihnen das ganze Haus. Das Spielzimmer im Keller war mit ausgestopften Vögeln und anderen Tieren vollgestellt, die er bei einem Tierpräparator gefunden hatte; er hatte die Vögel an fast unsichtbare Klavierdrähte gehängt, sie schienen zu fliegen, Eulen und Habichte und sogar ein Adler mit mottenzerfressenem Gefieder, dem eins seiner gelben Glasaugen fehlte. In einer Ecke stand ein Murmeltier auf den Hinterbeinen, in einer anderen ein Ziesel, in der nächsten ein Stinktier und ein Wiesel in der vierten. Mitten im Zimmer stand ein Coyote, der irgendwie der Brennpunkt der kleineren Tiere zu sein schien.
Das Geländer der Treppe nach oben war mit rotem und weißem Papier umwickelt, so daß es aussah wie die Stange vor einem Friseurladen. Im oberen Flur hingen verschiedene Jagdflugzeuge ebenfalls an Klavierdrähten - Fockers, Spads, Stukas, Spitfires, Zeros, Messerschmitts. Der Boden des Badezimmers war knallblau gestrichen worden. Toms erlesene Sammlung von Spielzeugbooten stand darauf; sie segelten auf einem Porzellanmeer um vier weiße Porzellaninseln und einen weißen Porzellankontinent herum: die Füße der Badewanne und die Kloschüssel.
Schließlich führte sie Tom wieder nach unten. Sie setzten sich unter die Kreditkartenmontage gegenüber einem 3-D-Bild von John und Robert Kennedy vor einem Hintergrund goldgesäumter Wolken. Die Legende darunter lautete BRÜDER IM HIMMEL VEREINT.
»Gefällt dir Toms Schmuck? Was meinst du? Hübsch?«
»Sehr hübsch«, sagte Stu. »Sag mal. Diese Vögel da unten... gehen sie dir nicht manchmal auf die Nerven?«
»Meine Fresse, nein!« sagte Tom erstaunt. »Die sind voller Sägemehl.«
Nick gab Ralph einen Zettel.
»Tom, Nick will wissen, ob es dir etwas ausmacht, dich noch einmal hypnotisieren zu lassen. Wie es Stan damals gemacht hat. Aber diesmal ist es wichtig, nicht nur ein Spiel. Nick erklärt dir später, warum.«
»Nur zu«, sagte Tom. »Duuu... wirst... gaaanz müüüde..., richtig?«
»Ja, das ist es«, sagte Ralph.
»Soll ich wieder auf die Uhr sehen? Das macht mir nichts aus. Wenn sie hin- und herpendelt? Gaaanz... müüüde...« Tom sah sie zweifelnd an. »Aber ich bin nicht müde. Meine Fresse, nein. Ich bin gestern früh ins Bett gegangen. Tom Cullen geht immer früh ins Bett, weil es kein Fernsehen mehr gibt.«
Stu sagte leise: »Möchtest du gern einen Elefanten sehen, Tom?«
Tom machte sofort die Augen zu. Sein Kopf sank locker nach vorn. Seine Atmung ging in langsamen, gleichmäßigen Zügen. Stu sah ihn überrascht an. Nick hatte ihm das Schlüsselwort gegeben, aber Stu hatte nicht recht glauben können, daß es funktionieren würde. Und er hätte nie gedacht, daß es so schnell gehen würde.
»Als ob man einem Huhn den Kopf unter den Flügel steckt«, staunte Ralph.
Nick reichte Stu das vorbereitete »Drehbuch« für diese Begegnung. Stu sah Nick lange an. Nick sah ihn ebenfalls an, dann nickte er ernst, daß Stu anfangen sollte.
»Tom, hörst du mich?« fragte Stu.
»Ja, ich höre dich«, sagte Tom mit einer Stimme, bei der Stu ruckartig aufsah.
Sie war anders als Toms übliche Stimme, aber auf eine Weise, die Stu nicht fassen konnte. Sie erinnerte ihn an einen Vorfall, als er achtzehn gewesen war und den Abschluß an der High School gemacht hatte. Sie waren vor dem Festakt in der Umkleidekabine der Jungs gewesen, alle Jungs, mit denen er zur Schule ging seit... nun, in mindestens vier Fällen seit dem ersten Schultag der ersten Klasse, in vielen anderen fast genauso lang. Einen Augenblick hatte er gesehen, wie sehr sich ihre Gesichter zwischen den alten Zeiten, den Anfangstagen, und diesem Moment der Einsicht, als er mit einem schwarzen Talar in der Hand auf dem Kachelboden des Umkleideraums stand, verändert hatten. Diese Vision der Veränderung hatte ihn damals zum Zittern gebracht, und sie brachte ihn jetzt wieder zum Zittern. Die Gesichter, in die er gesehen hatte, waren nicht mehr die Gesichter von Kindern gewesen... aber auch noch nicht die Gesichter von Männern. Es waren Gesichter im Limbus, Gesichter, die genau zwischen zwei klar umrissenen Existenzebenen hingen. Diese Stimme, die aus dem Schattenland von Tom Cullens Unterbewußtsein kam, schien wie diese Gesichter zu sein, nur unendlich trauriger. Stu fand, es war die Stimme des Mannes, der er niemals sein würde.
Aber sie warteten, daß er weitermachte, und er mußte weitermachen.
»Ich bin Stu Redman, Tom.«
»Ja. Stu Redman.«
»Nick ist hier.«
»Ja, Nick ist hier.«
»Ralph Brentner ist auch hier.«
»Ja, Ralph auch.«
»Wir sind deine Freunde.«
»Ich weiß.«
»Wir möchten, daß du etwas tust, Tom. Für die Zone. Es ist gefährlich.«
»Gefährlich...«
Sorge zog über Toms Gesicht, so langsam wie ein Wolkenschatten über ein sommerliches Maisfeld zieht.
»Muß ich Angst haben? Muß ich...« Er verstummte und seufzte. Stu sah Nick besorgt an.
Nick formte mit den Lippen: Ja.
»Er ist es«, sagte Tom und seufzte voll Grauen. Es hörte sich an wie ein kalter Novemberwind, der durch die kahlen Zweige von Eichen fährt. Stu schauderte wieder innerlich. Ralph war blaß geworden.
»Wer, Tom?« fragte Stu sanft.
»Flagg. Sein Name ist Randy Flagg. Der dunkle Mann. Soll ich...«
Wieder dieser langgezogene, bittere und klägliche Seufzer.
»Woher kennst du ihn, Tom?« Das stand nicht im Drehbuch.
»Träume... ich habe sein Gesicht in Träumen gesehen.«
Ich habe sein Gesicht in Träumen gesehen. Aber keiner von ihnen hatte sein Gesicht gesehen. Es war immer verborgen.
»Du hast ihn gesehen?«
»Wie sieht er aus, Tom?«
Tom sagte lange nichts. Stu dachte schon, daß er nicht antworten würde, und wollte anhand des »Drehbuchs« weitermachen, als Tom sagte:
»Er sieht aus wie jeder, den man auf der Straße sieht. Aber wenn er grinst, fallen die Vögel tot von Telefonleitungen. Wenn er einen auf bestimmte Weise ansieht, tut die Prostata weh und der Urin brennt. Wo er ausspuckt, wird das Gras gelb und stirbt. Er ist immer draußen. Er kam aus der Zeit. Er kennt sich selbst nicht. Er hat die Namen von tausend Dämonen. Jesus hat ihn einmal unter die Schweine gestoßen. Sein Name ist Legion. Er hat Angst vor uns. Wir sind drinnen. Er beherrscht Magie. Er kann die Wölfe rufen und in den Krähen leben. Er ist der König von Nirgendwo. Aber er hat Angst vor uns. Er hat Angst vor dem... Drinnen.«
Tom verstummte.
Die drei sahen einander bleich wie Grabsteine an. Ralph hatte den Hut vom Kopf genommen und knetete ihn zwanghaft zwischen den Händen. Nick hielt sich eine Hand vor die Augen. Stus Hals hatte sich in trockenes Glas verwandelt.
Sein Name ist Legion. Er ist der König von Nirgendwo.
»Kannst du noch etwas über ihn sagen?« fragte Stu mit leiser Stimme.
»Nur, daß ich auch Angst vor ihm habe. Aber ich mache, was ihr wollt. Aber Tom... hat solche Angst.« Wieder dieser schreckliche Seufzer.
»Tom«, sagte Ralph plötzlich. »Weißt du, ob Mutter Abagail... ob sie noch lebt?« Ralphs Gesicht war starr vor Verzweiflung, das Gesicht eines Mannes, der alles auf eine Karte gesetzt hat.
»Sie lebt.« Ralph lehnte sich aufatmend an die Stuhllehne. »Aber sie ist noch nicht mit Gott einig«, fügte Tom hinzu.
»Nicht mit Gott einig? Warum nicht, Tommy?«
»Sie ist in der Wildnis, Gott hat sie in die Wildnis geschickt, sie fürchtet nicht den Schrecken des Tages oder das Grauen, das um Mitternacht umgeht.. . keine Schlange wird sie beißen, keine Biene sie stechen... aber sie ist noch nicht mit Gott einig. Es war nicht Moses' Hand, die das Wasser aus dem Felsen schlug. Es war nicht die Hand von Abagail, die die Wiesel mit leerem Bauch vertrieben hat. Sie ist bemitleidenswert. Sie wird sehen, aber sie wird zu spät sehen. Es wird Tod geben. Seinen Tod. Sie wird auf der falschen Seite des Flusses sterben. Sie...«
»Er soll aufhören«, stöhnte Ralph. »Könnt ihr nicht dafür sorgen, dass er aufhört?«
»Tom«, sagte Stu.
»Ja.«
»Bist du der Tom, den Nick in Oklahoma kennengelernt hat? Bist du der Tom, den wir kennen, wenn du wach bist?«
»Ja, aber ich bin mehr als Tom.«
»Ich verstehe nicht.«
Tom bewegte sich ein wenig, aber sein schlafendes Gesicht blieb ruhig. »Ich bin Gottes Tom.«
Der völlig entnervte Stu hätte fast Nicks Notizen fallen lassen.
»Du sagst, du machst, was wir wollen?«
»Ja.«
»Aber siehst du... glaubst du, daß du zurückkommen wirst?«
»Das zu sehen oder sagen ist nicht meine Sache. Wohin soll ich gehen?«
»Nach Westen, Tom.«
Tom stöhnte. Es war ein Laut, bei dem sich Stus Nackenhaare sträubten. Wohin schicken wir ihn? Und vielleicht wußte er es. Vielleicht war Stu selbst dort gewesen, nur in Vermont, in einem Labyrinth von Korridoren, wo das Echo ihm vorgaukelte, daß ihm Schritte folgten. Und näher kamen.
»Westen«, sagte Tom. »Westen, ja.«
»Du sollst dich dort umsehen, Tom. Beobachten. Und dann zurückkommen.«
»Zurückkommen und erzählen«, sagte Tom.
»Kannst du das?«
»Ja. Wenn sie mich nicht fangen und töten.«
Stu zuckte zusammen; sie zuckten alle zusammen.
»Du gehst allein, Tom. Immer nach Westen. Kannst du ihn finden?«
»Wo die Sonne untergeht.«
»Ja, und wenn jemand dich fragt, warum du dort bist, sagst du: Sie haben dich aus der Freien Zone verjagt...«
»Mich verjagt. Tom verjagt. Auf die Straße gesetzt.«
»... weil du schwachsinnig bist...«
»Sie haben Tom verjagt, weil Tom schwachsinnig ist.«
».. und weil du vielleicht eine Frau nimmst und die Frau dumme Kinder bekommt.«
»Dumme Kinder wie Tom.«
Stus Magen drehte sich hilflos hin und her. Sein Kopf kam ihm wie Eisen vor, das schwitzen gelernt hat. Es war, als hätte er einen schrecklichen, entkräftenden Kater.
»Und jetzt wiederhole, was du sagst, wenn jemand fragt, warum du im Westen bist.«
»Sie haben Tom verjagt, weil er schwachsinnig ist. Meine Fresse, ja. Sie haben Angst, daß ich eine Frau nehme, so wie ihr mit dem Schwanz im Bett. Daß ich sie mit Idioten schwanger mache.«
»Das ist richtig, Tom. Das ist...«
»Mich verjagt«, sagte er mit leiser, trauriger Stimme. »Tom aus seinem schönen Haus gejagt und auf die Straße geschickt.«
Stu strich mit einer zitternden Hand über die Augen. Er sah Nick an. Nick wurde vor seinen Augen zuerst doppelt, dann dreifach. »Nick, ich weiß nicht, wie ich zum Schluß kommen soll«, sagte er hilflos. Nick sah Ralph an. Ralph, der käseweiß war, konnte nur den Kopf schütteln.
»Schluß«, sagte Tom unerwartet. »Laßt mich nicht hier im Dunkeln.«
Stu zwang sich dazu, weiterzusprechen.
»Tom, weißt du, wie der Vollmond aussieht?«
»Ja... groß und rund.«
»Nicht der Halbmond oder der fast volle Mond.«
»Nein«, sagte Tom.
»Wenn du den großen runden Mond siehst, kommst du in den Osten zurück. Zurück zu uns. Zurück in dein Haus, Tom.«
»Ja, wenn ich ihn sehe, komme ich zurück«, bestätigte Tom.
»Zurück nach Hause.«
»Und wenn du zurückkommst, mußt du nachts gehen und am Tag schlafen.«
»Nachts gehen, am Tag schlafen.«
»Richtig. Und laß dich von niemandem sehen, wenn du es vermeiden kannst.«
»Nein.«
»Aber Tom, es könnte dich trotzdem jemand sehen.«
»Ja, jemand könnte mich sehen.«
»Wenn es nur einer ist, Tom, bringst du ihn um.«
»Umbringen«, sagte Tom zweifelnd.
»Wenn es mehr als einer ist, läufst du weg.«
»Weglaufen«, sagte Tom zuversichtlicher.
»Aber versuch, dich gar nicht sehen zu lassen. Kannst du das alles wiederholen?«
»Ja. Ich komme zurück, wenn Vollmond ist. Nicht Halbmond, Fingernagelmond. Nachts gehen, am Tag schlafen. Von niemandem sehen lassen. Wenn mich einer sieht, bringe ich ihn um. Wenn mehr als einer mich sieht, laufe ich weg. Aber versuchen, mich nicht sehen zu lassen.«
»Das ist sehr gut. Ich möchte, daß du in ein paar Sekunden aufwachst, okay?«
»Okay.«
»Wenn ich nach dem Elefanten frage, wachst du auf, okay?«
»Okay.«
Stu lehnte sich mit einem langen, zitternden Seufzer zurück. »Gott sei Dank, es ist vorbei.«
Nick sah ihn zustimmend an.
»Hast du gewußt, was passieren könnte, Nick?«
Nick schüttelte den Kopf.
»Wie konnte er das alles wissen?« murmelte Stu.
Nick deutete auf seinen Block. Stu gab ihn ihm und war froh, ihn loszuwerden. Seine Finger hatten die Seite mit Nicks »Drehbuch« so durchgeschwitzt, daß sie fast durchsichtig war. Nick schrieb und gab ihn Ralph. Ralph las, bewegte dabei die Lippen und gab ihn an Stu weiter.
»Im Verlauf der Geschichte haben immer wieder Leute die Wahnsinnigen und geistig Zurückgebliebenen als Auserwählte Gottes betrachtet. Ich glaube nicht, daß er uns etwas gesagt hat, das von praktischem Nutzen für uns sein kann, aber ich weiß, er hat uns einen Heidenschrecken eingejagt. Magie, hat er gesagt. Wie kämpft man denn gegen Magie?«
»Das ist mir alles zu hoch«, murmelte Ralph. »Was er über Mutter Abagail gesagt hat, daran will ich gar nicht denken. Weck ihn auf, Stu, daß wir so schnell wie möglich hier raus kommen.« Ralph war den Tränen nahe.
Stu beugte sich wieder vor. »Tom?«
»Ja.«
»Möchtest du einen Elefanten sehen?«
Tom schlug sofort die Augen auf und sah sich um. »Ich hab' euch gesagt, daß es nicht funktioniert«, sagte er. »Meine Fresse, nein. Mitten am Tag wird Tom nicht müde.«
Nick gab Stu einen Zettel; der las ihn und sagte zu Tom: »Nick sagt, das hast du sehr gut gemacht.«
»Ja? Habe ich wieder Kopfstand gemacht, wie vorher?«
Voller bitterer Scham dachte Nick: Nein, Tom, diesmal hast du eine Menge viel besserer Tricks gemacht.
»Nein«, sagte Stu. »Tom, wir wollten fragen, ob du uns helfen kannst.«
»Ich? Helfen? Klar! Ich helfe gern!«
»Es ist gefährlich, Tom. Wir wollen, daß du nach Westen gehst und dann zurückkommst und uns erzählst, was du gesehen hast.«
»Okay, klar«, sagte Tom ohne das geringste Zögern, aber Stu glaubte, kurz einen Schatten über Toms Gesicht huschen zu sehen... einen Schatten, der hinter den arglosen blauen Augen verweilte.
»Wann?«
Stu legte Tom sanft eine Hand auf den Nacken und fragte sich, was um Gottes willen er hier trieb. Wie sollte man das alles auf die Reihe kriegen, wenn man nicht Mutter Abagail war und keinen heißen Draht zum Himmel hatte? »Bald«, sagte er sanft. »Schon bald.«
Als Stu in die Wohnung kam, machte Frannie das Abendessen.
»Harold war da«, sagte sie. »Ich habe ihn gebeten, zum Essen zu bleiben, aber er hat sich entschuldigt.«
»Oh.«
Sie sah ihn genauer an. »Stuart Redman, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«
»Eine Laus namens Tom Cullen, glaube ich.« Und er erzählte ihr alles.
Sie setzten sich zum Abendessen hin. »Was bedeutet das alles?« fragte Fran. Ihr Gesicht war blaß; sie aß eigentlich nichts, sondern schob das Essen lediglich von einem Tellerrand zum anderen.
»Wenn ich das nur selbst wüßte«, sagte Stu. »Es ist eine Art... eine Art Sehen, glaube ich. Ich weiß nicht, warum uns die Tatsache, dass Tom Cullen unter Hypnose Visionen hat, so fertigmacht, schließlich haben wir alle auf dem Weg hierher Träume gehabt. Wenn sie nicht auch eine Art Sehen waren, weiß ich nicht, was sie waren.«
»Aber das ist schon so lange her... jedenfalls für mich.«
»Ja, für mich auch«, stimmte Stu zu und stellte fest, daß er sein Essen auch nur herumschob.
»Hör mal, Stu - ich weiß, wir waren uns einig, Komiteefragen nicht außerhalb des Komitees zu besprechen, wenn es sich vermeiden läßt. Du hast gesagt, wir würden uns ständig zanken, und da hast du wahrscheinlich recht gehabt. Ich habe kein Wort darüber verloren, daß du nach dem fünfundzwanzigsten Marshal Dillon wirst, oder?«
Er lächelte kurz. »Nein, Fran, das hast du nicht.«
»Aber ich muß dich fragen, ob du es immer noch gut findest, Tom Cullen nach Westen zu schicken. Nach allem, was heute nachmittag passiert ist.«
»Ich weiß nicht«, sagte Stu. Er schob den Teller weg. Das Essen war kaum angerührt. Er stand auf, ging zum Schrank in der Diele und holte eine Packung Zigaretten. Er hatte seinen Konsum auf drei oder vier täglich reduziert. Er zündete eine an, sog rauhen, schalen Tabakrauch in die Lungen und stieß ihn aus. »Auf der positiven Seite ist die Geschichte so einfach, daß sie glaubwürdig klingt. Wir haben ihn weggejagt, weil er schwachsinnig ist. Davon wird ihn keiner abbringen können. Und wenn er unversehrt zurückkommt, können wir ihn hypnotisieren - er ist schneller weg, als du mit den Fingern schnippen kannst -, und er wird uns alles erzählen, was er gesehen hat, Wichtiges und Unwichtiges. Es wäre möglich, daß er ein besserer Beobachter ist als die anderen. Daran zweifle ich nicht.«
»Wenn er unversehrt zurückkommt.«
»Ja, wenn. Wir haben ihm den Befehl gegeben, bei seiner Rückkehr nach Osten nur nachts zu reisen und sich tagsüber zu verstecken. Wenn er mehr als einen Menschen sieht, soll er weglaufen. Wenn er nur einen sieht, soll er ihn umbringen.«
»Stu, das ist nicht dein Ernst!«
»Selbstverständlich!« sagte er wütend und drehte sich zu ihr um.
»Wir spielen hier nicht Backe-backe-Kuchen, Frannie! Du mußt wissen, was mit ihm... oder dem Richter... oder Dayna... da drüben passiert, wenn sie erwischt werden! Warum warst du denn anfänglich dagegen?«
»Okay«, sagte sie leise. »Okay, Stu.«
»Nein, es ist nicht okay!« sagte er und drückte die frisch angezündete Zigarette im Tonaschenbecher aus, daß Fünkchen hochstoben. Mehrere landeten auf seinem Handrücken; er wischte sie mit einer heftigen Bewegung weg. »Es ist nicht okay, einen schwachsinnigen Jungen für unsere Sache in den Kampf zu schicken, und es ist nicht okay, Menschen wie Bauern auf einem Scheißschachbrett herumzuschieben, und es ist nicht okay, den Befehl zum Töten zu geben so wie ein Mafiaboß. Aber ich weiss nicht, was wir sonst machen können. Ich weiß es einfach nicht. Wenn wir nicht herausfinden, was er vorhat, ist die Chance groß, daß er die ganze Freie Zone nächstes Frühjahr in einer einzigen riesigen Pilzwolke hochgehen läßt.«
»Okay. He. Okay.«
Er ballte die Fäuste langsam. »Ich habe dich angeschrien. Tut mir leid. Dazu hatte ich kein Recht, Frannie.«
»Schon gut. Du warst nicht derjenige, der die Büchse der Pandora aufgemacht hat.«
»Ich glaube, die machen wir alle auf«, sagte er düster und holte sich eine neue Zigarette aus der Packung im Schrank. »Wie auch immer, als ich ihm diesen... wie nennt man das? Als ich ihm sagte, daß er einen einzelnen Menschen, der ihm begegnet, umbringen soll, habe ich gemerkt, wie eine Art Schatten über sein Gesicht ging. Er war gleich wieder verschwunden, und ich weiß nicht einmal, ob Ralph oder Nick ihn gesehen haben. Aber ich habe ihn gesehen. Als würde er denken: >Okay, ich weiß, was du meinst, aber wenn es soweit kommt, werde ich mich selbst entscheiden.<«
»Ich habe gelesen, daß man niemand veranlassen kann, unter Hypnose etwas zu tun, was er nicht auch im Wachzustand getan hätte. Ein Mensch verstößt nicht gegen seinen eigenen Ehrenkodex, bloß weil man es ihm befiehlt, wenn er hypnotisiert ist.«
Stu nickte. »Ja, daran habe ich auch gedacht. Aber wenn dieser Flagg nun an seiner Ostgrenze Posten aufgestellt hat? Ich an seiner Stelle hätte das getan. Wenn Tom auf dem Weg nach Westen auf diese Posten stößt, hat er seine Geschichte als Schutz. Aber wenn er wieder nach Osten will und auf sie stößt, heißt es töten oder getötet werden. Und wenn Tom nicht töten will, dann ist er so gut wie tot.«
»Über diesen Aspekt machst du dir vielleicht unnötig Sorgen«, sagte Frannie. »Ich meine, wenn es dort eine Postenkette gibt, wäre die nicht ziemlich dünn?«
»Ja. Vielleicht ein Mann alle fünfzig Meilen. Es sei denn, er hat fünfmal soviel Leute wie wir.«
»Wenn sie nicht schon kompliziertes Gerät aufgestellt haben, Radar und Infrarot und all das Zeug, das man in Spionagefilmen sieht, könnte Tom den Posten dann nicht aus dem Weg gehen?«
»Das hoffen wir ja. Aber...«
»Aber du hast einen bösen Anfall von schlechtem Gewissen«, sagte sie leise.
»Läuft es darauf hinaus? Nun, vielleicht. Was hat Harold gewollt, Liebes?«
»Er hat ein paar Landkarten dagelassen. Gebiete, wo sein Suchtrupp nach Mutter Abagail gesucht hat. Wie auch immer, Harold arbeitet beim Beerdigungstrupp und beim Suchtrupp mit. Er hat sehr müde ausgesehen, aber seine Pflichten in der Freien Zone sind nicht der einzige Grund. Es scheint, als hätte er sich noch um etwas anderes gekümmert.«
»Und das wäre?«
»Harold hat eine Frau.«
Stu zog die Brauen hoch.
»Jedenfalls ist er deshalb nicht zum Essen geblieben. Kannst du erraten, wer sie ist?«
Stu blinzelte zur Decke hinauf. »Nun, mit wem könnte Harold herummachen. Mal sehen...«
»Du hast aber eine Art, das auszudrücken! Was meinst du, machen wir denn?« Sie schlug scherzhaft nach ihm, und er wich grinsend zurück.
»Komisch, was? Ich gebe auf. Wer ist es?«
»Nadine Cross.«
»Die Frau mit den weißen Strähnen im Haar?«
»Das ist sie.«
»Ach, die muß doppelt so alt sein wie er.«
»Ich bezweifle«, sagte Frannie, »ob Harold sich in diesem Stadium seiner Beziehung darüber Gedanken macht.«
»Weiß Larry es?«
»Ich weiß es nicht, und es interessiert mich noch weniger. Die Cross ist nicht mehr Larrys Mädchen. Wenn sie es überhaupt jemals war.«
»Ja«, sagte Stu. Er war froh, daß Harold jemand gefunden hatte, aber nicht schrecklich an dem Thema interessiert. »Und was meint Harold zum Suchtrupp? Hat er etwas gesagt?«
»Du kennst ja Harold. Er lächelt dauernd, aber... ohne Hoffnung. Ich glaube, darum beschäftigt er sich hauptsächlich mit den Beerdigungen. Sie nennen ihn jetzt Hawk, hast du das gewußt?«
»Tatsächlich?«
»Ich habe es heute gehört. Ich wußte nicht, über wen geredet wurde, und da habe ich gefragt.« Sie überlegte einen Augenblick, dann lachte sie.
»Was ist denn so komisch?« fragte Stu.
Sie streckte die Füße aus, die in flachen Turnschuhen steckten. An den Sohlen hatten sie ein Muster von Kreisen und Linien. »Er hat mir zu meinen Turnschuhen gratuliert. Ist das nicht witzig?«
»Du bist witzig«, sagte Stu grinsend.
Kurz vor Morgendämmerung wachte Harold mit einem dumpfen, aber nicht unangenehmen Schmerz im Unterleib auf. Er zitterte ein wenig, als er aufstand. Es war jetzt früh morgens schon merklich kühler, obwohl es erst der 22.. August war und der Herbst noch einen Kalendermonat entfernt.
Aber unterhalb der Gürtellinie war ihm heiß, o ja. Nur die schönen Rundungen ihrer Hinterbacken unter diesem winzigen durchscheinenden Slip zu sehen, während sie noch schlief, machte ihn schon heiß. Es würde ihr nichts ausmachen, wenn er sie weckte... nun, vielleicht würde es ihr doch etwas ausmachen, aber sie würde nicht widersprechen. Er hatte immer noch keine Ahnung, was sich hinter ihren dunklen Augen verbergen mochte, und er hatte ein wenig Angst vor ihr.
Statt sie zu wecken, zog er sich leise an. Er wollte jetzt nicht mit Nadine herummachen, so gern er es auch getan hätte. Erst einmal mußte er wohin gehen, wo er allein war, und nachdenken.
Als er angezogen war, blieb er einen Augenblick an der Tür stehen und hielt die Stiefel in der linken Hand. Die Kälte im Zimmer und die profane Beschäftigung des Ankleidens hatten sein Verlangen abgekühlt. Er konnte jetzt das Zimmer riechen, und der Geruch war nicht gerade sehr ansprechend.
Nur eine Kleinigkeit, hatte sie gesagt, etwas, worauf sie verzichten konnten. Vielleicht stimmte das. Sie konnte mit Mund und Händen Dinge tun, die unglaublich waren. Aber wenn es so eine Kleinigkeit war, warum hatte dieses Zimmer dann den schalen und leicht sauren Geruch, den er mit den einsamen Freuden seiner schlimmen Jahre assoziierte?
Vielleicht möchtest du, daß es schlecht ist.
Beunruhigender Gedanke. Er ging hinaus und machte die Tür leise hinter sich zu.
Nadine machte in dem Moment die Augen auf, als die Tür zu war. Sie richtete sich auf, sah nachdenklich zu der Tür und legte sich dann wieder hin. Ihr ganzer Körper schmerzte im langsamen, unbefriedigten Zyklus des Verlangens. Es war fast wie Menstruationsbeschwerden. Wenn es so eine Kleinigkeit war, dachte sie (ohne zu wissen, wie nahe ihre Gedanken denen Harolds waren), warum empfand sie dann so? Einmal in der vergangenen Nacht hatte sie sich auf die Lippen beißen müssen, um nicht zu schreien: Hör auf herumzuspielen und STECK das Ding in mich rein! Hast du verstanden? STECK es mir rein, hau es mir VOLL rein! Glaubst du, was du da machst, bringt mir etwas? Steck ihn mir rein und laß uns um Himmels - zumindest um meinetwillen - mit diesem verrückten Spiel aufhören!
Er hatte den Kopf zwischen ihren Beinen gehabt und seltsame Laute der Lust von sich gegeben, Laute, die komisch gewesen wären, wären sie nicht so aufrichtig drängend, beinahe wild gewesen. Sie hatte aufgesehen, während diese Worte hinter ihren Lippen zitterten, und hatte (oder hatte sie es sich nur eingebildet?) ein Gesicht am Fenster gesehen. In diesem Augenblick war das Feuer ihrer Lust zu kalter Asche niedergebrannt.
Es war sein Gesicht gewesen, das sie wild angegrinst hatte. Ein Schrei war ihr im Hals emporgestiegen... und dann war das Gesicht fort, nichts weiter als die Bewegung eines Schattenmusters auf dem dunklen Glas, verbunden mit Staubschlieren. Nichts weiter als der schwarze Mann, im Schrank oder listig hinter der Spielzeugkiste in der Ecke versteckt, den sich ein Kind einbildet. Nichts weiter.
Aber es war mehr; sie konnte sich nicht einmal jetzt, im ersten kalten und vernünftigen Licht der Dämmerung, etwas anderes einreden. Es wäre gefährlich, sich etwas anderes einzureden. Er war es gewesen, und er hatte sie gewarnt. Der künftige Ehemann wachte über seine Versprochene. Und die geschändete Braut würde keine Gnade finden.
Sie sah zur Decke und dachte: Ich lutsche seinen Schwanz, aber das ist nicht geschändet. Ich lasse es zu, daß er ihn mir in den Arsch steckt, aber auch das ist nicht geschändet. Ich ziehe mich wie eine Straßenhure für ihn an, und das ist vollkommen in Ordnung.
Sie mußte sich doch fragen, was für ein Mann ihr Bräutigam eigentlich war.
Nadine sah lange, lange Zeit zur Decke hinauf.
Harold machte Instant-Kaffee, verzog das Gesicht beim Trinken und nahm ein paar kalte Pop-Tarts mit auf die Eingangsstufen. Er setzte sich, aß und sah zu, wie die Dämmerung über das Land kroch. Zurückblickend erschienen ihm die letzten Tage wie eine verrückte Jahrmarktsfahrt. Sie waren ein trübes Panorama von orangefarbenen Lastwagen; von Weizak, der ihm auf die Schulter klopfte und ihn Hawk nannte (sie nannten ihn jetzt alle so); von Leichen, einem endlosen verwesenden Strom; und nach soviel Tod ging es dann nach Hause zu einem endlosen Strom von abartigem Sex. Das reichte, einem den Kopf zu verwirren.
Aber jetzt, hier auf den Stufen zum Eingang, die so kalt wie ein Grabstein aus Marmor waren, und mit einer Tasse dieses widerlichen Kaffees im Magen, konnte er die nach Sägemehl schmeckenden kalten Pop-Tarts mampfen und nachdenken. Er war wieder klar im Kopf, normal nach einer Periode des Wahnsinns. Es kam ihm in den Sinn, daß er für einen Mann, der sich immer für einen Cro-Magnon-Menschen inmitten einer brüllenden Horde von Neandertalern gehalten hatte, in letzter Zeit sehr selten zum Nachdenken gekommen war. Er war herumgeführt worden, nicht an der Nase, sondern am Schwanz.
Als er jetzt zu den Flatirons hinübersah, mußte er an Frannie Goldsmith denken. Frannie war der ungebetene Besucher in seinem Haus gewesen, das wußte er jetzt mit Sicherheit. Er hatte sie unter einem Vorwand besucht, wo sie mit Redman hauste, und gehofft, sich ihre Schuhe näher betrachten zu können. Und es hatte sich herausgestellt, daß sie tatsächlich Schuhe trug, deren Sohlen dem Abdruck entsprachen, den er auf dem Kellerfußboden gefunden hatte. Kreise und Linien statt des normalen Waffel- oder Zickzackmusters. Keine Frage, Baby.
Er konnte es sich ohne große Mühe einigermaßen zusammenreimen. Irgendwie mußte sie herausgefunden haben, dass er ihr Tagebuch gelesen hatte. Er mußte auf einer Seite einen Schmutzfleck oder Fingerabdruck hinterlassen haben... vielleicht mehr als einen. Deshalb war sie in sein Haus gekommen, um nach einem Hinweis zu suchen, was er über das dachte, was er gelesen hatte. Etwas Schriftlichem.
Da war natürlich sein Hauptbuch. Aber er war sicher, daß sie es nicht gefunden hatte. In seinem Hauptbuch stand schwarz auf weiß, daß er Stuart Redman töten wollte. Wenn sie das gelesen hätte, hätte sie es Stu gesagt. Und selbst wenn sie es ihm nicht gesagt hätte, es wäre ihr unmöglich gewesen, so normal und unbefangen mit ihm zu reden wie gestern.
Er aß die letzte Tarte, verzog das Gesicht, als er auf den kalten Überzug und die noch kältere Marmeladenfüllung biß. Er beschloß, nicht das Motorrad zu nehmen, sondern zu Fuß zum Busbahnhof zu gehen; Teddy Weizak und Norris konnten ihn abends auf dem Heimweg absetzen. Er ging los und zog den Reißverschluß der leichten Jacke ganz hoch gegen die Kälte, die in spätestens einer Stunde vorbei sein würde. Er ging an den leeren Häusern mit den heruntergelassenen Jalousien vorbei, und als er auf der Arapahoe ungefähr sechs Blocks weit gegangen war, sah er an einer Tür nach der anderen ein kühnes X aus Kreide. Wieder sein Einfall. Der Beerdigungstrupp hatte alle Häuser überprüft, die mit einem X markiert waren, und die Leichen weggeschafft, die es wegzuschaffen gab. X, ein Durchstreichen. Die Menschen, die in den Häusern gewohnt hatten, wo das Zeichen auftauchte, waren für alle Zeiten fort. Noch ein Monat, dann würde das X überall in Boulder sein und das Ende eines Zeitalters kennzeichnen.
Es war Zeit, nachzudenken, und zwar gründlich nachzudenken. Ihm schien, als hätte er ganz einfach aufgehört zu denken, seit Nadine zu ihm gekommen war... aber vielleicht hatte er ja schon lange vorher damit aufgehört.
Ich habe ihr Tagebuch gelesen, weil ich gekränkt und eifersüchtig war, dachte er. Dann ist sie in mein Haus eingebrochen und hat wahrscheinlich mein Tagebuch gesucht, aber sie hat es nicht gefunden. Aber allein der Schock, daß jemand eingebrochen war, war Rache genug. Jedenfalls hatte es ihm gehörig zu schaffen gemacht. Vielleicht waren sie jetzt quitt.
Er wollte Frannie nicht mehr, oder?... Oder?
Er spürte, wie die heiße Glut der Zurückweisung in seiner Brust brannte. Vielleicht nicht. Aber das änderte nichts an der Tatsache, daß man ihn ausgeschlossen hatte. Nadine hatte sich nicht weiter darüber geäußert, warum sie zu ihm gekommen war, aber Harold vermutete, daß auch sie irgendwie ausgeschlossen worden war, zurückgewiesen, mißachtet. Sie waren zwei Außenseiter, und Außenseiter schmieden Komplotte. Vielleicht ist das das einzige, was ihnen den Verstand erhält. (Vergiß nicht, das in das Hauptbuch zu schreiben, dachte Harold... er war jetzt fast in der Innenstadt.) Auf der anderen Seite der Berge gab es eine ganze Gesellschaft von Außenseitern. Und wo genügend Außenseiter an einem Ort zusammenkommen, findet eine mystische Osmose statt, und man ist drinnen. Drinnen, wo es warm ist.
Eine kleine Sache, drinnen zu sein, wo es warm ist, und doch so ungemein wichtig. Die wichtigste Sache der Welt.
Vielleicht wollte er gar nicht quitt sein. Vielleicht wollte er kein Unentschieden, keine Karriere auf diesem Leichenkarren des zwanzigsten Jahrhunderts und keine sinnlosen Dankesbriefe für seine Ideen und nicht fünf Jahre lang darauf warten, daß Bateman von dem wunderbaren Komitee zurücktrat und er reinkonnte... und wenn sie beschlossen, ihn wieder zu übergehen? Vielleicht hatten sie das vor, schließlich war es nicht eine Frage des Alters. Den verfluchten Taubstummen hatten sie genommen, und der war nur ein paar Jahre älter als Harold selbst.
Die Glut der Zurückweisung loderte jetzt hell. Denken, klar, denken - das war leicht gesagt und manchmal leicht getan... aber was nützte alles Denken, wenn man von den Neandertalern, die die Welt regierten, nur wieherndes Gelächter erntete oder, noch schlimmer, einen Dankesbrief?
Er kam zum Busbahnhof. Es war früh, noch keiner war da. An der Tür hing ein Plakat, auf dem stand, daß am fünfundzwanzigsten wieder eine öffentliche Versammlung stattfinden sollte. Öffentliche Versammlung? Öffentlicher Lachschlager.
Der Warteraum war mit Touristikplakaten und Werbung für den Greyhound-Ameripass und Bildern von großen Ausflugsbussen voll Muttchen, die bei Kaffeefahrten durch Atlanta und New Orleans und San Francisco und Nashville und wo auch immer kreuzten, geschmückt. Er setzte sich und sah mit dunklem Morgenblick auf die Flippergeräte, den Cola-Automaten und die Kaffeemaschine, aus der man einen Becher Lipton O'Soup bekommen konnte, der ungefähr wie toter Fisch schmeckte. Er zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz auf den Fußboden.
Sie hatten die Verfassung angenommen. Juhuuh. Wie ausgesprochen und ganz überaus. Herrgott, sie hatten sogar die »Star-Spangled Banana« gesungen. Was aber, wenn Harold Lauder aufgestanden wäre, nicht etwa, um ein paar konstruktive Vorschläge zu machen, sondern um ihnen in diesem ersten Jahr nach der Seuche zu sagen, worum es eigentlich ging?
Ladies and Gentlemen, mein Name ist Harold Emery Lauder, und ich stehe hier, um Ihnen zu sagen, daß, mit den Worten des alten Liedes, die grundsätzlichen Dinge immer noch gelten, auch wenn sieb die Zeiten ändern. Wie Darwin. Wenn Sie das nächste Mal aufstehen, um die Nationalhymne zu singen, Freunde und Nachbarn, dann denken Sie doch bitte daran: Amerika ist tot, mausetot, so tot wie Jacob Marley und Buddy Holly und die Big Poppers und Harry S. Truman, aber die Prinzipien, die Mr. Darwin als erster zu bedenken gegeben hat, sind immer noch sehr lebendig - so lebendig wie der Geist von Jacob Marley für Ebenezer Scrooge. Während Sie über die Schönheit einer konstitutionellen Regierung meditieren, nehmen Sie sich doch auch ein wenig Zeit, über Randall Flagg nachzudenken, den Mann des Westens. Ich bezweifle sehr, ob er für Lächerlichkeiten wie öffentliche Versammlungen und Notifizierungen und Diskussionen über die wahre Bedeutung eines Pfirsichs Zeit hat, alles nach bester liberaler Sitte. Statt dessen hat er sich auf die grundsätzlichen Dinge konzentriert, auf seinen Darwin und darauf, den großen Tisch des Universums mit euren Leichen abzuwischen. Ladies and Gentlemen, darf ich ganz bescheiden daran erinnern, daß er, während wir versuchen, das Licht wieder anzuschalten und darauf warten, daß sich ein Arzt in unseren fröhlichen kleinen Bienenstock verirrt, nach jemandem sucht, der einen Pilotenschein hat, damit er in bester Tradition eines Francis Gary Powers Boulder überfliegen kann. Während wir die brennende Frage diskutieren, wer wohl in das Straßenreinigungskomitee gewählt werden sollte, hat er wahrscheinlich schon ein Waffenreinigungs-Komitee gegründet, von Mörsern, Raketenbasen und möglicherweise sogar biologischen Waffen ganz zu schweigen, die ja auch zu den Dingen gehören, die dieses Land groß gemacht haben - welches Land, ha-ha-ha -, aber Sie sollten immerhin daran denken, daß er, während wir hier eine Wagenburg errichten ...«
»He, Hawk, machst du Überstunden?«
Harold sah lächelnd hoch. »Ja, ich habe mir gedacht, ich mach' ein bißchen Moos«, sagte er zu Weizak. »Ich habe auch für dich gestempelt, als ich hier war. Du hast schon sechs Dollar verdient.«
Weizak lachte. »Du bist vielleicht ein Kerl, Hawk, weißt du das?«
»Bin ich«, stimmte Harold immer noch lächelnd zu. Er schnürte sich die Stiefel neu. »Ein Teufelskerl.«