59
Vögel.
Sie konnte Vögel hören.
Lange Zeit lag Fran in der Dunkelheit und lauschte den Vögeln, bis sie merkte, daß die Dunkelheit gar nicht dunkel war. Sie war rötlich, beweglich, friedlich. Sie rief Fran ihre Kindheit ins Gedächtnis zurück. Ein Samstagmorgen ohne Schule und Kirche, ein Tag, an dem man lange schlafen durfte. An einem solchen Tag konnte man ganz gemächlich und nach eigenem Belieben aufwachen. Man lag mit geschlossenen Augen da und sah nichts als die rote Dunkelheit, die entstand, wenn die Sonne durch das zarte Geflecht der Kapillaren in den Augenlidern drang. Man lauschte den Vögeln draußen in den alten Eichen und vielleicht roch man die salzige Meeresluft, denn man hieß Frances Goldsmith und war elf Jahre alt an einem Samstagmorgen in Ogunquit...
Vögel. Sie konnte Vögel hören.
Aber dies war nicht Ogunquit; es war
(Boulder).
Sie dachte in der roten Dunkelheit lange Zeit darüber nach, und plötzlich erinnerte sie sich an die Explosion.
(?Explosion?)
(!Stu!)
Sie riß die Augen auf. Plötzliches Entsetzen. »Stu!«
Und Stu saß neben ihrem Bett. Stu mit einem sauberen weißen Verband am Unterarm und einer häßlichen Schramme auf der Wange, an der das Blut schon getrocknet war, und mit teilweise verbranntem Haar, aber es war Stu, er lebte und war bei ihr, und als sie die Augen aufschlug, drückte sein Gesicht große Erleichterung aus, und er sagte: »Frannie. Gott sei Dank.«
»Das Baby«, sagte sie. Ihr Hals war trocken. Es kam nur als Flüstern heraus.
Sein Gesicht war unbewegt, und blinde Angst stahl sich in ihren Körper, kalt und lähmend.
»Das Baby«, sagte sie und zwang die Worte durch den Hals, der rauh wie Sandpapier war. »Habe ich das Baby verloren?«
Begreifen erhellte sein Gesicht. Er hielt sie ungeschickt mit dem gesunden Arm. »Nein, Frannie, nein. Du hast das Baby nicht verloren.«
Dann fing sie an zu weinen, heiße Tränen, die ihr an den Wangen herabliefen. Sie umarmte ihn wild und achtete nicht darauf, daß alle Muskeln in ihrem Körper vor Schmerz zu schreien schienen. Sie umarmte ihn. Die Zukunft konnte warten. Was sie jetzt am meisten brauchte, war hier in diesem sonnendurchfluteten Raum. Durch das offene Fenster hörte sie Vogelstimmen.
Später fragte sie ihn: »Sag mir. Wie schlimm ist es?«
Sein Gesicht war düster und bekümmert und zurückhaltend.
»Fran...«
»Nick?« flüsterte sie. Sie schluckte, und in ihrem Hals klickte es leise. »Ich sah einen Arm, einen abgerissenen Arm...«
»Vielleicht sollten wir lieber warten...«
»Nein. Ich muß es wissen. Wie schlimm ist es?«
»Sieben Tote«, sagte er mit leiser, rauher Stimme. »Wir haben Glück gehabt. Es hätte viel schlimmer kommen können.«
»Wer, Stuart?«
Er hielt linkisch ihre Hände. »Nick war auch dabei, Liebes. Da war diese Glasscheibe, würde ich sagen - du weißt schon, dieses polarisierte Glas -, und sie... sie...« Er verstummte einen Moment, betrachtete seine Hände, dann sah er sie wieder an. »Er... wir konnten ihn nur anhand... bestimmter Narben identifizieren...« Er wandte sich einen Augenblick von ihr ab. Fran stieß einen schroffen Seufzer aus.
Als Stu weitersprechen konnte, sagte er: »Und Sue. Sue Stern. Sie war noch im Haus, als die Bombe hochging.«
»Das... ist einfach unvorstellbar, was?« sagte Fran. Sie war fassungslos, benommen, bestürzt.
»Es stimmt aber.«
»Wer noch?«
»Chad Norris«, sagte Stu, und Fran stieß wieder diesen harschen Seufzer aus. Eine einzelne Träne lief ihr aus dem Augenwinkel; sie wischte sie fast abwesend weg.
»Die drei waren die einzigen drinnen. Es ist wie ein Wunder. Brad meint, in dem Schrank müssen acht oder neun Stangen Dynamit gewesen sein. Und Nick muß fast... wenn ich mir vorstelle, daß Nick die Hände genau auf diesem Schuhkarton gehabt haben muß...«
»Nicht«, sagte sie. »Das konnte man nicht wissen.«
»Ein schwacher Trost«, sagte er.
Die anderen vier Leute, die mit Motorrädern aus der Stadt gekommen waren - Andrea Terminello, Dean Wykoff, Dale Pedersen und ein junges Mädchen namens Patsy Store. Stu erzählte Fran nicht, daß Patsy, die Leo Flötenunterricht gegeben hatte, von einem Stück von Glen Batemans Wollensak-Tonbandgerät getroffen und fast enthauptet worden war.
Fran nickte, was ihr am Hals weh tat. Als sie den Körper auch nur ein kleines Stück verlagerte, schien ihr gesamter Rücken vor Schmerzen aufzuschreien.
Zwanzig waren bei der Explosion verletzt worden, und einer davon, Teddy Weizak vom Beerdigungskomitee, hatte keine Überlebenschance. Zwei andere waren in kritischem Zustand. Ein Mann namens Lewis Deschamps hatte ein Auge verloren. Ralph Brentner hatte den dritten und vierten Finger der linken Hand eingebüßt.
»Wie schwer bin ich verletzt?« wollte Fran wissen.
»Du hast eine Schürfwunde, einen verstauchten Rücken und einen gebrochenen Fuß«, sagte Stu. »Das hat mir George Richardson gesagt. Die Explosion hat dich über den ganzen Hof geschleudert. Den Fuß gebrochen und den Rücken verrenkt hast du dir, als das Sofa auf dich gefallen ist.«
»Sofa?«
»Kannst du dich nicht erinnern?«
»Ich erinnere mich an etwas wie einen Sarg... einen gepolsterten Sarg...«
»Das war das Sofa. Ich habe es selbst von dir runtergezogen. Ich war wie von Sinnen... und ziemlich hysterisch, glaube ich. Larry wollte mir helfen, und ich habe ihm eine runtergehauen. So schlimm stand es um mich.« Sie strich ihm über die Wange, und er legte seine Hand auf ihre. »Ich habe gedacht, du wärst tot. Ich weiß noch, daß ich mir überlegt habe, was ich dann tun würde, und ich wußte es nicht. Wahrscheinlich wäre ich verrückt geworden. «
»Ich liebe dich«, sagte sie.
Er umarmte sie - vorsichtig wegen ihres Rückens -, und sie blieben eine Weile so.
»Harold?« fragte sie schließlich.
»Und Nadine Cross«, stimmte er zu. »Sie haben uns weh getan. Sie haben uns schwer zugesetzt. Aber sie haben bei weitem nicht den Schaden angerichtet, den sie wollten. Und wenn wir ihn erwischen, bevor sie zu weit nach Westen gelangen...« Er hielt die zerkratzten und schorfigen Hände vor sich und ballte sie mit solcher Gewalt zu Fäusten, daß die Knöchel knackten. An seinen Handgelenken standen die Sehnen vor. Und plötzlich hatte er ein so kaltes Grinsen im Gesicht, daß Fran erschauerte. Es war ihr nur zu vertraut.
»So darfst du nicht lächeln«, sagte sie. »Nie wieder.«
Das Lächeln erlosch. »Die Leute durchkämmen seit Tagesanbruch die Berge nach ihnen«, sagte er. »Aber sie werden sie wohl nicht finden. Ich habe den Leuten befohlen, fünfzig Meilen westlich von Boulder wieder umzukehren, was auch geschieht, und ich kann mir vorstellen, daß Harold schlau genug war, inzwischen viel weiter zu fahren. Aber wir wissen, wie sie es gemacht haben. Sie haben die Bombe mit einem Walkie-talkie gekoppelt.«
Fran stöhnte, worauf Stu sie besorgt ansah.
»Was ist denn, Baby? Dein Rücken?«
»Nein.« Plötzlich begriff sie, was Stu gemeint hatte, als er sagte, Nick hätte die Hände am Schuhkarton gehabt, als der Sprengstoff detonierte. Plötzlich begriff sie alles. Sie erzählte ihm ganz langsam von den Drahtstückchen und dem Walkie-talkie-Karton unter dem Hockeytisch. »Wenn wir das ganze Haus durchsucht hätten, anstatt nur dieses verdammte B-buch mitzunehmen, hätten wir die Bombe vielleicht gefunden«, sagte sie mit erstickter, brechender Stimme.
»N-Nick und Sue würden noch l-l-leben, und...«
Er hielt sie fest. »Ist Larry deshalb heute morgen so niedergeschlagen? Und ich dachte, weil ich ihn geschlagen habe. Frannie, wie hättest du es wissen können? Wie hättest du es denn wissen können?«
»Wir hätten! Wir hätten es wissen müssen!« Sie legte die Stirn an seine schützende Schulter. Weitere bittere Tränen. Er hielt sie, ungeschickt gebeugt, da sich das Krankenhausbett ohne Strom nicht verstellen ließ.
»Ich will nicht, daß du dir Vorwürfe machst, Frannie. Es ist passiert. Glaub mir, kein Mensch - abgesehen von Sprengstoffspezialisten - hätte aus ein paar Drahtschnipseln und einem leeren Karton auf so etwas schließen können. Wenn sie ein paar Stangen Dynamit oder eine Sprengkapsel dort liegen lassen hätten, wäre das etwas anderes gewesen. Aber das haben sie nicht. Ich mache dir keine Vorwürfe, und kein Mensch in der Freien Zone wird dir welche machen.«
Während er sprach, fanden langsam und mit Verspätung zwei Dinge in ihrem Verstand zusammen.
Die drei waren die einzigen drinnen ...es ist wie ein Wunder. Mutter Abagail... sie ist zurückgekommen... sie ist in einer schrecklichen Verfassung... wir brauchen ein Wunder!
Sie zog sich unter Schmerzen ein Stück hoch, damit sie Stu ins Gesicht sehen konnte. »Mutter Abagail«, sagte sie. »Wir wären alle drinnen gewesen, wenn sie nicht gekommen wären, um uns zu sagen...«
»Es ist wie ein Wunder«, wiederholte Stu. »Sie hat uns das Leben gerettet. Auch wenn sie...« Er verstummte.
»Stu?«
»Sie hat uns durch ihre Rückkehr das Leben gerettet, Frannie. Das Leben gerettet.«
»Ist sie tot?« fragte Fran. Sie packte seine Hand, hielt sie fest. »Stu, ist sie auch tot?«
»Sie ist gegen Viertel nach sieben in die Stadt zurückgekommen. Larry Underwoods Junge führte sie an der Hand. Er konnte nicht sprechen, du weißt ja, daß er stumm wird, wenn er sich aufregt, aber er hat sie zu Lucy gebracht.
Dann ist sie einfach zusammengebrochen.« Stu schüttelte den Kopf. »Mein Gott, wie hat sie es nur geschafft, so weit zu laufen... was hat sie nur gegessen... was hat sie die ganze Zeit gemacht? Ich will dir was sagen, Fran. Es gibt mehr Dinge auf dieser Welt - und außerhalb -, als ich mir in Arnette je habe träumen lassen. Ich glaube, diese Frau ist von Gott. Oder war es.«
Sie machte die Augen zu. »Sie ist gestorben, nicht wahr? In der Nacht. Sie ist zurückgekommen, um zu sterben.«
»Sie ist noch nicht tot. Sie müßte es sein, und George Richardson sagt, daß sie bald sterben wird, aber sie ist noch nicht tot.« Er sah sie offen und unverhohlen an. »Und ich habe Angst. Sie hat uns durch ihre Rückkehr das Leben gerettet, aber ich habe Angst vor ihr, und ich habe Angst davor, warum sie zurückgekommen ist.«
»Was meinst du damit, Stu? Mutter Abagail würde nie jemand ein Leid...«
»Mutter Abagail tut, was ihr ihr Gott befiehlt«, sagte er schroff. »Der Gott, der seinen eigenen Jungen ermordet hat, wie ich gehört habe.«
»Stu!«
Das Feuer in seinen Augen erlosch. »Ich weiß nicht, warum sie zurückgekommen ist oder ob sie uns überhaupt noch etwas zu sagen hat. Ich weiß es einfach nicht. Vielleicht wird sie sogar sterben, ohne das Bewußtsein wiederzuerlangen. George hält das für wahrscheinlich. Aber ich weiß, daß die Explosion... und Nicks Tod... und ihre Rückkehr... das alles hat den Leuten die Augen geöffnet. Sie reden von ihm. Sie wissen, daß Harold die Explosion ausgelöst hat, aber sie glauben, daß er Harold dazu veranlaßt hat. Verdammt, das glaube ich auch. Viele sagen, Flagg ist auch dafür verantwortlich, dass Mutter Abagail in diesem Zustand zurückgekommen ist. Ich weiß es nicht. Mir kommt es vor, als wüßte ich überhaupt nichts. Aber ich habe Angst. Als würde es ein böses Ende nehmen. Die hatte ich vorher nicht, aber jetzt.«
»Aber wir sind noch da«, sagte sie fast flehentlich. »Wir und das Baby. Oder nicht?«
Er antwortete lange nicht. Sie glaubte nicht, daß er antworten würde. Und dann sagte er: »Ja. Aber wie lange noch?«
An diesem Tag, dem dritten September, kurz vor Sonnenaufgang, machten sich die Leute langsam - fast ziellos - auf den Weg zum Table Mesa Drive zu Larrys und Lucys Haus. Einzeln, zu zweit oder zu dritt. Sie setzten sich auf Treppenstufen der Häuser, auf deren Türen Harold sein X gemalt hatte. Sie saßen auf dem Bordstein oder auf dem Rasen, der am Ende dieses langen Sommers braun und vertrocknet war. Sie unterhielten sich wortkarg und gedämpft. Sie rauchten ihre Zigaretten und ihre Pfeifen. Brad Kitchner war unter ihnen, einen dick verbundenen Arm in der Schlinge. Auch Candy Jones war da, und Rieh Moffat hatte in einer Zeitungstasche zwei Flaschen Black Velvet mitgebracht. Norman Kellogg saß neben Tommy Gehringer, hatte die Ärmel aufgekrempelt und zeigte die kräftigen, sonnengebräunten und mit Sommersprossen übersäten Oberarme. Der junge Gehringer hatte die Ärmel in Nachahmung hochgekrempelt. Harry Dunbarton und Sandy DuChiens saßen auf einer Wolldecke und hielten Händchen. Dick Vollman, Chip Hobart und der sechzehnjährige Tony Donahue saßen in einem überdachten Gang ein wenig von Larrys Haus entfernt und ließen eine Flasche Canadian Club kreisen, den sie mit warmem Seven-Up hinunterspülten. Patty Kroger saß bei Shirley Hammett. Zwischen ihnen stand ein Picknickkorb. Der Korb war gut gefüllt, aber sie aßen kaum etwas. Gegen acht Uhr war die Straße voll von Menschen, die alle zum Haus sahen. Vor dem Haus stand Larrys Fahrrad, daneben George Richardsons schwere Kawasaki 650.
Larry beobachtete sie durch das Schlafzimmerfenster. Hinter ihm, in seinem und Lucys Bett, lag Mutter Abagail, bewußtlos. Der trockene Krankengeruch, der von ihr ausging, stieg ihm in die Nase, und er hätte kotzen mögen - aber er haßte es zu kotzen -, doch er rührte sich nicht. Dies war seine Buße, daß er mit dem Leben davongekommen war, während Nick und Susan sterben mußten. Hinter sich hörte er leise Stimmen, die Totenwache an ihrem Bett. George würde bald ins Krankenhaus fahren, um nach seinen anderen Patienten zu sehen. Es waren nur noch sechzehn. Drei waren entlassen worden. Und Teddy Weizak war gestorben. Larry selbst war völlig unverletzt geblieben.
Der gute alte Larry-behält den Kopf, während alle anderen um ihn herum ihren verlieren. Die Explosion hatte ihn quer über die Einfahrt und in ein Blumenbeet geschleudert, aber er hatte keinen einzigen Kratzer abbekommen. Um ihn herum hatte es zerfetzte Trümmer geregnet, aber er selbst war nicht getroffen worden. Nick war gestorben, Susan war gestorben, aber er war unverletzt. Ja, der gute alte Larry Underwood.
Totenwache drinnen. Totenwache draußen. Den ganzen Block entlang. Mindestens sechshundert Leute. Harold, du solltest mit ein paar Handgranaten kommen und den Rest erledigen. I. Er war Harold durch das ganze Land gefolgt; er war einer Spur von leeren Payday-Packungen und klugen Improvisationen gefolgt. In Wells hätte Larry um ein Haar seine Finger verloren, als er sich Benzin verschaffen wollte. Harold hatte einfach das Entlüftungs ventil gesucht und einen Siphon benutzt. Es war Harold gewesen, der vorgeschlagen hatte, die Besetzung der Komitees mit wachsender Bevölkerungszahl zu verstärken. Harold, der vorgeschlagen hatte, das Ad-hoc-Komitee als Ganzes zu akzeptieren. Der kluge Harold. Harold und sein Hauptbuch. Harold und sein Grinsen.
Stu hatte gut reden, daß niemand aus ein paar Drahtschnipseln auf einem Hockeytisch hätte erkennen können, was Harold und Nadine vorhatten. Larry genügte diese Argumentation einfach nicht. Er hatte Harolds brillantes Improvisationstalent ja selbst erlebt. Ein Beispiel davon stand mit Riesenbuchstaben fast sechs Meter hoch auf einem Scheunendach geschrieben, um Himmels willen! Er hätte es erkennen müssen. Inspektor Underwood war großartig, wenn es galt, einer Spur von Payday-Packungen zu folgen, aber wenn es um Dynamit ging, ließ er gewaltig nach. Mehr noch: Inspektor Underwood war ein ausgesprochenes Arschloch.
Larry, wenn du wüßtest...
Nadines Stimme.
Wenn es sein muß, falle ich auf die Knie und flehe dich an.
Das wäre eine weitere Chance gewesen, Mord und Zerstörung zu verhindern ... eine, von der er nie einem Menschen erzählen konnte. Hatten sie es schon damals ins Auge gefaßt? Wahrscheinlich. Sie mochten noch nicht an das mit einem Walkie-talkie gekoppelte Dynamit gedacht haben, aber einen Plan hatten sie auf jeden Fall gehabt.
Flaggs Plan.
Ja - im Hintergrund stand immer Flagg, der dunkle Marionettenspieler, der bei Harold und Nadine und Charlie Impening die Fäden zog, vielleicht auch bei vielen anderen. Die Leute in der Zone würden Harold auf der Stelle lynchen, aber es war Flaggs Werk... und Nadines. Und wer hatte sie zu Harold geschickt, wenn nicht Flagg? Aber bevor sie zu ihm gegangen war, hatte sie sich an Larry gewandt. Und er hatte sie fortgeschickt.
Wie hätte er ja sagen können? Er hatte eine Verantwortung Lucy gegenüber. Das war wichtiger als alles andere gewesen, nicht nur Lucys, auch seinetwegen - er hatte nur zu genau gewußt, dass höchstens noch zwei oder drei Ausrutscher nötig waren, und er wäre als Mensch endgültig erledigt gewesen. Deshalb hatte er sie fortgeschickt, und er vermutete, daß Flagg mit der Arbeit von gestern abend zufrieden war... wenn er überhaupt Flagg hieß. Oh, Stu lebte noch und sprach für das Komitee - er war der Mund, den Nick nie benutzen konnte. Auch Glen lebte, und Larry hielt ihn für den Kopf des Komitees. Aber Nick war das Herz des Komitees und Sue zusammen mit Frannie dessen moralisches Gewissen gewesen. Ja, dachte er verbittert, alles in allem hat der Drecksack gute Arbeit geleistet. Wenn sie je nach drüben gelangen sollten, müßte er Harold und Nadine ihren verdienten Lohn zukommen lassen.
Er wandte sich vom Fenster ab und spürte ein dumpfes Klopfen in den Schläfen. Richardson fühlte Mutter Abagails Puls. Laurie beschäftigte sich mit den IV-Flaschen an ihrem T-förmigen Ständer. Dick Ellis stand daneben. Lucy saß an der Tür und sah Larry an.
»Wie geht es ihr?« fragte Larry George.
»Unverändert«, sagte Richardson.
»Wird sie die Nacht überleben?«
»Kann ich nicht sagen, Larry.«
Die Frau auf dem Bett war ein mit dünner, aschgrauer Haut überzogenes Skelett. Sie wirkte geschlechtslos. Fast alle Haare waren ausgefallen. Ihre Brüste waren verschwunden. Sie hatte den Mund geöffnet und atmete röchelnd. Sie kam Larry vor wie eine der Mumien von Yucatän, die er auf Bildern gesehen hatte - nicht verwest, sondern geschrumpft; konserviert; trocken; ohne Alter. Ja, das war sie jetzt, keine Mutter, sondern eine Mumie. Abgesehen vom rasselnden Seufzen ihrer Atmung, die Wind glich, der durch Strohstoppeln wehte. Wie konnte sie noch am Leben sein, fragte sich Larry... und welcher Gott konnte ihr das auferlegen? Zu welchem Zweck? Es mußte ein Witz sein, ein großer kosmischer Lachschlager. George sagte, er habe von ähnlichen Fällen gehört, aber noch nie von einem so extremen, und er hätte nie geglaubt, einen zu Gesicht zu bekommen. Irgendwie... verzehrte sie sich selbst. Lange nachdem sie an Unterernährung hätte sterben müssen, hatte ihr Körper noch funktioniert. Er hatte eigene Substanz aufgezehrt, die nie hätte aufgezehrt werden dürfen. Lucy hatte sie auf das Bett gehoben und erstaunt berichtet, sie habe kaum mehr als ein Kastendrachen gewogen, ein Kinderspielzeug, das der leiseste Windhauch fortwehen konnte.
Und jetzt meldete sich Lucy aus ihrer Ecke an der Tür und erschreckte sie alle: »Sie will uns etwas sagen.«
Laurie sagte unsicher: »Sie liegt in einem tiefen Koma, Lucy. Vielleicht erlangt sie nicht einmal mehr das Bewußtsein...«
»Sie ist zurückgekommen, um uns etwas zu sagen. Und Gott wird sie nicht sterben lassen, bevor sie es gesagt hat.«
»Aber was könnte das sein, Lucy?« fragte Dick sie.
»Ich weiß nicht«, sagte Lucy. »Aber ich habe Angst davor, es zu hören. Das weiß ich. Das Sterben ist nicht vorbei. Es hat erst angefangen. Zumindest fürchte ich das.«
Es folgte ein längeres Schweigen, das George Richardson schließlich brach. »Ich muß ins Krankenhaus. Laurie, Dick, ich brauche euch beide.«
Du willst uns doch nicht mit dieser Mumie alleinlassen? hätte Larry beinahe gefragt, und er biß sich auf die Lippen, damit er es nicht aussprach.
Die drei gingen zur Tür, und Lucy holte ihnen die Mäntel. Heute abend hatte es unter fünfzehn Grad, eine Motorradfahrt in Hemdsärmeln wäre unangenehm gewesen.
»Können wir etwas für sie tun?«, fragte Larry George leise.
»Lucy kennt sich mit dem IV-Tropf aus«, sagte George. »Sonst könnt ihr nichts tun. Weißt du...« Er sprach nicht zu Ende. Natürlich wußten es alle. Es lag ja auf dem Bett, oder?
»Gute Nacht, Larry, Lucy«, sagte Dick.
Sie gingen. Larry trat wieder ans Fenster. Draußen waren alle aufgestanden und sahen her. Lebte sie noch? War sie tot? Lag sie im Sterben? War sie womöglich von der Kraft Gottes genesen. Hatte sie etwas gesagt?
Lucy legte ihm einen Arm um die Hüfte, und er zuckte zusammen.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
Er tastete nach ihr, hielt sie fest. Er senkte den Kopf und zitterte hilflos.
»Ich liebe dich«, sagte sie ruhig. »Schon gut. Versuch nicht, es zurückzuhalten.«
Er weinte. Seine Tränen waren so heiß und hart wie Gewehrkugeln.
»Lucy...«
»Pssst.« Ihre Hände um seinen Nacken, ihre tröstenden Hände.
»Oh, Lucy, mein Gott, was hat das alles nur zu bedeuten?« rief er, und sie hielt ihn so fest sie konnte, sie wußte es nicht, noch nicht, und Mutter Abagail atmete noch immer schwer hinter ihnen aus ihrem tiefen Koma heraus.
George fuhr im Schrittempo die Staße entlang und verkündete immer wieder dieselbe Botschaft: Ja, sie lebt noch. Aber die Prognose ist ungünstig. Nein, sie hat nichts gesagt und wird es wahrscheinlich auch nicht mehr. Ihr solltet nach Hause gehen. Wenn etwas geschieht, erfahrt ihr es.
Als sie zur Ecke kamen, beschleunigten sie und bogen in Richtung Krankenhaus ab. Der Auspufflärm der Motorräder knatterte und hallte zurück, prallte auf Häuser und davon ab und verschwand schließlich im Nichts.
Die Leute gingen nicht nach Hause. Sie blieben noch eine Weile stehen, nahmen ihre Gespräche wieder auf und prüften jedes Wort, das George gesagt hatte. Prognose? Was konnte das bedeuten? Koma. Gehirntod. Wenn ihr Gehirn tot war, konnte man nichts mehr machen. Man könnte genausogut versuchen, mit einer Dose Erbsen zu sprechen wie mit einem Menschen, dessen Gehirn tot ist. Nun, jedenfalls wenn es sich um eine natürliche Situation handelte, aber hier war kaum noch etwas natürlich, oder?
Sie setzten sich wieder. Es wurde dunkel. Im Haus, in dem die alte Frau lag, wurde eine Coleman-Lampe angezündet. Sie würden später nach Hause gehen und lange schlaflos liegen.
Zögernd kamen die Gespräche auf den dunklen Mann. Wenn Mutter Abagail starb, bedeutete das, daß er stärker war? Was meinst du damit, »nicht unbedingt«?
Nun, ich halte ihn ganz einfach für den Satan.
Ich glaube, er ist ein Antichrist. Wir leben jetzt schon wie im Buch der Offenbarung... wie könnt ihr daran zweifeln? »Und die sieben Schalen des Zorns wurden ausgegossen...« Das hört sich ganz nach der Supergrippe an.
Ach, Quatsch, die Leute haben gesagt, Hitler war der Antichrist. Wenn diese Träume wiederkommen, bringe ich mich um. In meinem war ich in einer U-Bahn-Station und er war der Fahrscheinverkäufer, aber ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Ich hatte Angst. Ich lief in den U-Bahn-Tunnel. Dann konnte ich hören, wie er mich verfolgte. Und näherkam.
In meinem bin ich in den Keller gegangen, um ein Glas eingemachte Melonenscheiben zu holen, und sah ihn beim Heizofen stehen... nur ein Schemen. Und ich wußte, daß er es war.
Die Grillen fingen an zu zirpen. Sterne erschienen am Himmel. Man sprach pflichtschuldig darüber, wie kühl es geworden war. Es wurde getrunken. Pfeifen und Zigaretten glommen in der Dunkelheit. Ich habe gehört, daß die Leute vom Kraftwerk überall die elektrischen Geräte ausschalten.
Das wird auch Zeit. Wenn wir nicht bald Licht und Heizung haben, geht es uns schlecht.
Leises Stimmengewirr, in der Dunkelheit ohne Gesichter. Ich denke, diesen Winter sind wir in Sicherheit. Bestimmt. Er kann nicht über die Pässe kommen. Zuviel Schnee und Fahrzeuge. Aber im Frühling...
Und wenn er ein paar A-Bomben hat?
Scheiß auf die A-Bomben, was ist, wenn er ein paar von diesen schmutzigen Neutronenbomben hat? Oder die anderen sechs von Sandys sieben Schalen des Zorns?
Oder Flugzeuge?
Was können wir tun?
Ich weiß es nicht.
Ich genausowenig.
Ich hab' nicht die geringste Ahnung.
Ein Loch graben, reinspringen und zuschütten.
Und gegen zehn Uhr mischten sich Stu Redman, Glen Bateman und Ralph Brentner unter sie, sprachen leise mit den Leuten, verteilten Flugblätter und baten sie, diejenigen zu informieren, die heute nicht gekommen waren. Glen hinkte leicht, denn ein durch die Luft wirbelnder Herdschalter hatte ihm ein Stück Fleisch aus der rechten Wade gerissen. Auf den hektographierten Blättern stand:
VERSAMMLUNG DER FREIEN ZONE * MUNZINGER AUDITORIUM * 4. SEPTEMBER * 8 UHR ABENDS.
Das schien das Signal zum Aufbruch zu sein. Die Leute verschwanden in der Dunkelheit. Die meisten nahmen die Flugblätter, aber eine ganze Menge wurden zusammengeknüllt und weggeworfen. Sie gingen alle nach Hause, um noch ein wenig Schlaf zu bekommen.
Schlafen, vielleicht träumen.
Als Stu am nächsten Abend die Versammlung eröffnete, war das Auditorium brechend voll, aber äußerst still. Hinter ihm saßen Larry, Ralph und Glen. Fran hatte versucht aufzustehen, aber ihr Rücken schmerzte noch zu sehr. Ohne sich durch die grausige Ironie davon abhalten zu lassen, hatte Ralph dafür gesorgt, daß sie über Walkietalkie mit dem Komitee in Verbindung stand.
»Es gibt ein paar Dinge, über die wir reden müssen«, sagte Stu gelassen und bemüht untertrieben. Seine Stimme wurde nur schwach verstärkt, aber in der Stille, die im Saal herrschte, war jedes Wort zu verstehen. »Ich gehe davon aus, es ist niemand hier, der nicht von der Explosion gehört hat, der Nick, Sue und die anderen zum Opfer gefallen sind, und niemand, der nicht weiß, daß Mutter Abagail zurückgekommen ist. Darüber müssen wir reden, aber zuerst haben wir eine gute Nachricht für Sie. Ich möchte, daß Sie Brad Kitchner einen Augenblick zuhören. Brad?«
Brad, der längst nicht so nervös wie in der vorgestrigen Nacht war, betrat das Podium und wurde von halbherzigem Applaus begrüßt. Als er dort war, wandte er sich ihnen zu, hielt sich mit beiden Händen am Pult fest und sagte nur schlicht: »Morgen schalten wir wieder ein.«
Diesmal war der Applaus schon viel lauter. Brad hob die Hände, aber der Applaus wogte über ihn hinweg. Es dauerte dreißig Sekunden oder länger. Wenn die traurigen Ereignisse der letzten zwei Tage nicht gewesen wären, sagte Stu später zu Frannie, hätten die Leute Brad wahrscheinlich auf den Schultern durch das Auditorium getragen, wie einen Football-Halfback, der in einem Meisterschaftsspiel in den letzten dreißig Sekunden den entscheidenden Touchdown gemacht hat. Der Sommer ging schon so sehr dem Ende entgegen, daß dieser Vergleich gar nicht so weit hergeholt war.
Aber schließlich verstummte der Beifall.
»Wir werden um zwölf Uhr mittags einschalten, und ich bitte Sie alle, sich um die Zeit zu Hause aufzuhalten und bereit zu sein. Bereit wofür? Vier Dinge. Hören Sie gut zu, es ist wichtig. Erstens, schalten Sie in Ihrem Haus das Licht und alle elektrischen Geräte aus, die Sie gerade nicht benutzen. Zweitens, machen Sie dasselbe in unbewohnten Nachbarhäusern. Drittens, wenn Sie Gas riechen, verfolgen Sie den Geruch zu seiner Quelle und schalten Sie das entsprechende Gerät ab. Viertens, wenn Sie eine Feuersirene hören, gehen Sie dem Lärm nach... aber vorsichtig und vernünftig. Wir wollen nicht, daß sich jemand bei einem Motorradunfall das Genick bricht. Noch Fragen?«
Es gab mehrere, die ausnahmslos noch einmal Brads Aussagen bestätigt haben wollten. Er beantwortete alle Fragen geduldig, und man sah seine Nervosität nur daran, wie er unablässig das kleine schwarze Notizbuch in den Händen hin und her drehte. Als der Strom der Fragen versiegte, sagte Brad: »Ich möchte den Leuten danken, die sich den Allerwertesten aufgerissen haben, damit wir wieder auf die Beine kommen. Im übrigen möchte ich das Kraftwerk-Komitee daran erinnern, daß es keineswegs aufgelöst wird. Es müssen Leitungen wiederhergestellt, Stromausfälle behoben, Ölreserven in Denver aufgespürt und hierher gebracht werden. Hoffentlich bleiben Sie alle bei der Stange. Mr. Glen Bateman meint, daß wir vielleicht zehntausend Menschen hier haben, wenn die Schneefälle einsetzen, und nächstes Frühjahr noch mehr. Die Kraftwerke in Longmont und Denver müssen ans Netz angeschlossen werden, ehe das nächste Jahr vorbei ist...«
»Wenn uns dieser Typ keinen Strich durch die Rechnung macht!« schrie eine heisere Stimme im hinteren Teil der Halle.
Es folgte einen Augenblick Totenstille. Brads Hände krampften sich mit Todesgriff am Rednerpult fest; er war leichenblaß geworden. Er wird nicht weitersprechen können, dachte Stu, aber Brad setzte seinen Vortrag fort, und seine Stimme klang erstaunlich gelassen:
»Wer immer das gesagt hat - ich habe nur mit der Energieversorgung zu tun. Aber ich bin überzeugt, daß wir noch hier sind, wenn dieser andere Mann schon lange tot und vergessen ist. Wenn ich das nicht wäre, würde ich wahrscheinlich bei ihm Kraftwerke in Gang setzen. Wen interessiert der schon?«
Brad verließ das Podium, und jemand schrie: »Da hast du verdammt recht!«
Diesmal war der Applaus laut und anhaltend, fast wütend, aber etwas daran gefiel Stu nicht. Er mußte lange mit dem Hammer klopfen, bis er die Versammlung wieder unter Kontrolle hatte.
»Der nächste Punkt der Tagesordnung...«
»Scheiß auf deine Tagesordnung!« schrie eine junge Frau gellend.
»Reden wir über den dunklen Mann! Reden wir über Flagg! Ich sage, das ist schon lange überfällig!«
Zustimmendes Gebrüll. Rufe: »Der Reihe nach!« Mißbilligende Bemerkungen über die Wortwahl der jungen Frau. Getuschel. Stu schlug so fest auf das Pult, daß der Kopf des Hammers abbrach und davonflog. »Dies ist eine Versammlung!« schrie er. »Sie werden Gelegenheit bekommen, über alles zu reden, worüber Sie reden wollen, aber solange ich die Versammlung leite, verlange... ich... ORDNUNG!« Er brüllte das letzte Wort so laut, daß Rückkopplungen wie ein Bumerang durch das Auditorium schrillten, und endlich trat Ruhe ein.
»Als nächstes«, sagte Stu absichtlich leise und ruhig, »möchte ich Ihnen berichten, was sich am Abend des zweiten September in Ralphs Wohnung ereignet hat. Ich denke, das sollte ich selbst tun, da ich der gewählte Ordnungshüter bin.«
Jetzt herrschte zwar Stille, aber diese Stille gefiel Stu ebensowenig wie der Beifall, den Brad am Ende seiner Ausführungen erhalten hatte. Sie beugten sich gespannt und mit begierigen Gesichtern vor. Der Anblick beunruhigte Stu, als hätte sich die Freie Zone in den letzten achtundvierzig Stunden radikal verändert und er wüßte nicht mehr, was sie war. Ihm war wie damals zumute, als er versucht hatte, aus dem Seuchenzentrum in Stovington zu fliehen - eine Fliege, die sich in einem unsichtbaren Spinnennetz gefangen hatte und zappelte. So viele Gesichter, die er nicht kannte, so viele Fremde...
Aber er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Er beschrieb kurz die Ereignisse, die zu der Explosion geführt hatten, verschwieg aber die böse Vorahnung, die Fran in letzter Minute gehabt hatte; in ihrer jetzigen Stimmung mußten sie das nicht auch noch erfahren.
»Gestern vormittag sind Brad, Ralph und ich hinaufgegangen und haben drei Stunden oder so in den Trümmern gestöbert. Wir haben festgestellt, dass eine mit einem Walkie-talkie gekoppelte Dynamitbombe verwendet worden ist. Es sieht so aus, als wäre die Bombe im Wohnzimmerschrank versteckt worden. Bill Scanion und Ted Frampton haben oben am Sunrise Amphitheater ein weiteres Walkie-talkie gefunden, und wir nehmen an, daß die Bombe von dort gezündet wurde. Sie...«
»Nehmen an, im Arsch!« brüllte Ted Frampton aus der dritten Reihe.
»Das waren dieser Lauder und seine kleine Hure!«
Unbehagliches Murmeln lief durch den Saal.
Das sollen die Guten sein? Nick und Sue und Chad und die anderen sind ihnen scheißegal. Sie sind wie ein Lynchmob, sie sind nur daran interessiert, Harold und Nadine zu erwischen und aufzuhängen ...als eine Art Zauber gegen den dunklen Mann.
Zufällig traf sich sein Blick mit dem Glens; Glen zuckte sehr leicht und sehr zynisch die Achseln.
»Wenn noch jemand dazwischenbrüllt, ohne daß ich ihm das Wort erteilt habe, werde ich diese Versammlung schließen und ihr könnt miteinander reden«, sagte Stu. »Dies ist kein Stammtisch. Wohin kommen wir, wenn wir nicht die Regeln beachten?« Ted Frampton starrte ihn wütend an, und Stu starrte zurück. Nach ein paar Augenblicken sah Ted weg.
»Wir verdächtigen Harold Lauder und Nadine Cross. Wir haben gute Gründe, ein paar ziemlich überzeugende Indizien. Aber wir haben keine handfesten Beweise gegen sie, vergeßt das nicht.«
Mürrische Unterhaltungen wurden laut und verstummten.
»Ich habe das nur gesagt, damit folgendes klar ist«, fuhr Stu fort.
»Falls sie wieder in die Zone zurückkommen, wünsche ich, daß sie zu mir gebracht werden. Ich werde sie einsperren, und AI Bundell wird dafür sorgen, daß sie ihren Prozeß bekommen... und ein Prozeß bedeutet, daß sie ihre Gründe vortragen, falls sie welche haben. Wir hier... wir sollten eigentlich die Guten sein. Ich glaube, wir wissen, wo die Bösen sind. Und wenn wir die Guten sind, dann müssen wir uns hier zivilisiert verhalten.«
Er betrachtete sie hoffnungsvoll, sah aber nur Ablehnung. Stuart Redman hatte erlebt, daß zwei seiner besten Freunde in die Luft gesprengt wurden, sagten ihre Augen, und wollte mit den Tätern auch noch Nachsicht üben.
»Wenn es Ihnen hilft, ich glaube, sie waren es«, sagte er. »Aber die Angelegenheit muß korrekt abgewickelt werden. Und ich garantiere Ihnen, daß das geschehen wird.«
Augen sahen ihn stechend an. Über tausend Paare, und in jedem einzelnen erblickte er einen Gedanken: Was redest du für eine Scheiße. Sie sind weg. Nach Westen gegangen. Du tust so, als würden sie einen zweitägigen Ausflug machen, um die Vögel zu beobachten. Er schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank einen Schluck, um das trockene Gefühl im Hals loszuwerden. Es schmeckte so fade und abgekocht, daß er angewidert das Gesicht verzog. »Das ist jedenfalls unsere Einstellung«, sagte er lahm. »Als nächstes stellt sich das Problem, das Komitee wieder auf volle Stärke zu bringen. Das machen wir nicht heute abend, aber Sie sollten sich überlegen, wen Sie im Komitee haben wollen...« Eine Hand schnellte unten in die Höhe, und Stu erteilte das Wort. »Nur zu. Aber weisen Sie sich aus, damit alle wissen, wer Sie sind.«
»Ich bin Sheldon Jones«, sagte ein großer Mann im karierten Hemd.
»Warum wählen wir die beiden Neuen nicht gleich heute? Ich nominiere Ted Frampton da drüben.«
»He, das unterstütze ich!« schrie Bill Scanion. »Wunderbar!«
Ted Frampton hob die verschränkten Hände unter spärlichem Applaus über den Kopf, und Stu hatte wieder dieses Gefühl der Verzweiflung.
Sie sollten Nick Andros durch Ted Frampton ersetzen? Es war wie in einem dieser schlechten Witze. Ted hatte sich dem KraftwerksKomitee angeschlossen und dann gemerkt, daß es sich um Arbeit handelte. Dann hatte er sich für das Beerdigungskomitee gemeldet, und das hatte ihm anscheinend besser zugesagt, aber Chad hatte Stu gegenüber erwähnt, daß Ted zu den Leuten gehört, die eine Kaffeepause auf eine Mittagspause und eine Mittagspause auf einen halben Urlaubstag ausdehnen konnten. Er hatte sich gestern rasch der Suche nach Harold und Nadine angeschlossen, wahrscheinlich weil es eine Abwechslung war. Er und Bill Scanion hatten oben am Sunrise durch einen reinen Zufall das Walkie-talkie gefunden (das hatte Ted allerdings ehrlich zugegeben), aber seit diesem Fund hatte er eine Großspurigkeit entwickelt, die Stu überhaupt nicht gefiel.
Wieder trafen Stus und Glens Blicke sich, und in Glens zynischem Gesichtsausdruck, dem hochgezogenen Mundwinkel, konnte Stu erkennen, was Glen dachte: Vielleicht sollten wir Harold bitten, den da auch zu erledigen.
Ein Wort, das Nixon oft gebraucht hatte, kam Stu plötzlich in den Sinn, und als es ihm einfiel, begriff er die Ursache seiner Verzweiflung und Unsicherheit. Das Wort hieß »Mandat«. Sie hatten kein Mandat mehr. Es war vorgestern abend in Rauch und Flammen aufgegangen.
»Du magst wissen, wen du willst, Sheldon, aber ich kann mir vorstellen, daß einige andere Leute gern noch Zeit zum Nachdenken möchten. Stellen wir die Frage. Wer wünscht, daß wir die beiden neuen Repräsentanten heute noch wählen, ruft ja.«
Ziemlich viele Jas wurden gebrüllt.
»Und wer noch eine Woche darüber nachdenken will, ruft nein.«
Die Nein-Rufe waren lauter, wenn auch nicht allzu deutlich. Viele beteiligten sich überhaupt nicht an der Abstimmung, als würde das Thema sie gar nicht interessieren.
»Okay«, sagte Stu. »Die nächste Versammlung findet in einer Woche hier im Munzinger Auditorium statt, am elften September, dann werden wir für die beiden leeren Sitze im Komitee die Kandidaten nominieren und wählen.«
Ein ziemlich beschissener Nachruf, Nick. Tut mir leid.
»Dr. Richardson wird Ihnen über Mutter Abagail berichten und über die Leute, die bei der Explosion verletzt wurden. Doc?«
Richardson erhielt eine solide Runde Applaus, als er vortrat und die Brille putzte. Er erzählte ihnen, daß die Explosion neun Menschenleben gefordert hatte. Drei schwebten in Lebensgefahr, zwei waren schwer verletzt und acht auf dem Wege der Besserung.
»Bedenkt man die Wucht der Explosion, kann man sagen, das Glück war mit uns. Und jetzt zu Mutter Abagail.«
Sie beugten sich vor.
»Ich denke, eine allgemeine Auskunft und eine kurze Beschreibung ihres Zustands dürften genügen. Die Auskunft lautet: Ich kann nichts für sie tun.«
Ein Murmeln ging durch die Menge und verstummte. Stu sah Traurigkeit, aber keine Überraschung.
»Einwohner der Zone, die schon vor ihrem Verschwinden hier waren, haben mir erzählt, die Dame behauptet, sie sei hundertacht Jahre alt. Das kann ich nicht nachprüfen, aber ich kann sagen, daß sie das älteste menschliche Wesen ist, das ich je gesehen und behandelt habe. Man hat mir gesagt, daß sie zwei Wochen fort war, und meine Diagnose - nein, meine Vermutung - ist, daß sie während der ganzen Zeit keine zubereitete Nahrung zu sich genommen hat. Sie muß sich von Wurzeln, Kräutern, Gräsern und anderen Dingen ähnlicher Art ernährt haben.« Pause. »Sie hat seit ihrer Rückkehr einmal ein wenig Stuhlgang gehabt. Er enthielt kleine Zweige und Äste.«
»Mein Gott«, murmelte jemand, und es war unmöglich zu sagen, ob die Stimme einem Mann oder einer Frau gehörte.
»Ein Arm weist starke Einwirkungen von Giftsumach auf. Ihre Beine sind von Geschwüren bedeckt, die nässen würden, wenn ihr Zustand nicht so...«
»He, können Sie nicht aufhören?« brüllte Jack Jackson und stand auf. Sein Gesicht war blaß, wütend, elend. »Haben Sie keine verdammte Pietät?«
»Pietät ist nicht mein Anliegen, Jack. Ich berichte lediglich über ihren Zustand. Sie ist komatös, unterernährt, und, wichtiger noch, sehr, sehr alt. Ich vermute, daß sie sterben wird. Wenn es nicht gerade sie wäre, hätte ich das als Gewißheit hingestellt. Aber ich habe - wie Sie alle - von ihr geträumt. Von ihr und einem anderen.«
Wieder das leise Murmeln, wie ein vorüberziehender Windhauch, und Stu spürte, wie sich seine Nackenhärchen erst rührten und dann ins Achtung schnellten.
»Mir erscheinen Träume von so entgegengesetzter Art mystisch«, sagte George. »Die Tatsache, daß wir alle diese Träume hatten, scheint mindestens auf eine telepathische Fähigkeit hinzuweisen. Aber genau wie bei Pietät muß ich bei Parapsychologie und Theologie passen, und das aus einem einzigen Grund: Sie sind nicht mein Fach. Wenn die Frau von Gott ist, mag es ihm gefallen, sie zu heilen. Ich kann es nicht. Allein die Tatsache, daß sie noch lebt, erscheint mir wie ein Wunder. Soweit meine Ausführungen. Irgendwelche Fragen?«
Es gab keine. Sie sahen ihn wie betäubt an; einige weinten unverhohlen.
»Danke«, sagte George und kehrte in einem toten Meer des Schweigens zu seinem Platz zurück.
»Okay«, flüsterte Stu Glen zu. »Du bist dran.«
Glen näherte sich dem Podium ohne Ankündigun g und hielt sich mit zerstreutem Griff daran fest. »Wir haben alles diskutiert, nur nicht den dunklen Mann«, sagte er.
Wieder das Murmeln. Einige Männer und Frauen bekreuzigten sich instinktiv. Eine ältere Frau am linken Gang hielt sich die Hände rasch vor Augen, Mund und Ohren, eine gespenstische Nachahmung von Nick Andres. Dann faltete sie die Hände über der großen schwarzen Handtasche auf dem Schoß.
»Wir haben uns in nichtöffentlichen Sitzungen des Komitees ansatzweise darüber unterhalten«, fuhr Glen in ruhigem Plauderton fort, »und die Frage wurde gestellt, ob wir öffentlich darüber diskutieren sollten. Wir kamen zum Ergebnis, daß eigentlich niemand in der Zone darüber reden wollte, jedenfalls nicht nach den Irrenhaus-Träumen, die wir alle auf dem Weg hierher gehabt haben. Vielleicht war eine Erholungsphase nötig. Jetzt finde ich es an der Zeit, das Thema zur Sprache zu bringen. Sozusagen ihn ans Licht zu zerren. Bei der Polizeiarbeit haben sie ein sinnvolles Hilfsmittel, das Phantombild heißt, mit dessen Hilfe ein Zeichner das Gesicht eines Verbrechers anhand verschiedener Zeugenaussagen gestaltet. In unserem Fall haben wir kein Gesicht, aber eine Reihe Erinnerungen, die zumindest einen groben Umriß unseres Widersachers ergeben. Ich habe mit zahlreichen Leuten darüber gesprochen und würde Ihnen gerne mein eigenes Phantombild präsentieren. Der Name des Mannes scheint Randall Flagg zu sein, aber manche Menschen haben auch die Namen Richard Frye, Robert Freemont und Richard Freemantle mit ihm assoziiert. Die Initialen R. F. könnten eine Bedeutung haben, aber wenn ja, kennt sie niemand in der Freien Zone. Seine Gegenwart erzeugt - zumindest in Träumen-Gefühle von Grauen, Unbehagen, Entsetzen, Schrecken. In allen Fällen wird ein körperliches Gefühl der Kälte mit ihm in Verbindung gebracht.«
Köpfe nickten, das aufgeregte Summen der Unterhaltungen fing wieder an. Stu fand, sie waren wie Jungs, die gerade den Sex entdeckt hatten, ihr Wissen austauschten und aufgeregt feststellten, daß alle Meldungen übereinstimmend vom selben Gerät handelten. Er bedeckte ein leichtes Grinsen mit der Hand und beschloß, sich das für später, für Fran, zu merken.
»Dieser Flagg ist im Westen«, fuhr Glen fort. »Zahlenmäßig gleiche Gruppen haben ihn in Las Vegas, Los Angeles, San Francisco und Portland >gesehen<. Viele - unter ihnen Mutter Abagail - behaupten, daß Flagg Leute kreuzigt, die sich ihm widersetzen. Alle scheinen zu glauben, daß sich eine Konfrontation zwischen diesem Mann und uns anbahnt und Flagg vor nichts zurückschrecken wird, um uns zu vernichten. Und vor nichts zurückschrecken kann vieles heißen. Bewaffnete Streitkräfte. Kernwaffen. Vielleicht... Seuchen.«
»Ich möchte den elenden Dreckskerl schnappen«, schrie Rieh Moffat mit schriller Stimme. »Dem würde ich eine Dosis seiner beknackten Seuche verpassen!«
Befreiendes Gelächter brach los, Rieh bekam Applaus. Glen grinste. Er hatte Richard sein Stichwort und seinen Dialog eine halbe Stunde vor der Versammlung eingetrichtert, und Rieh hatte bewundernswert darauf angesprochen. Stu mußte feststellen, daß der gute alte Platte zumindest mit einem goldrichtig gelegen hatte: Bei großen Versammlungen kam eine Ausbildung in Soziologie häufig blendend zupaß.
»Nun gut, ich habe zusammengefaßt, was ich über ihn weiß«, fuhr er fort. »Mein letzter Beitrag, bevor ich die Diskussion eröffne, ist dies: Ich glaube, Stu hat recht, wenn er meint, daß wir mit Harold und Nadine zivilisiert umgehen müssen, falls wir sie erwischen, aber das halte ich, wie er, für ziemlich unwahrscheinlich. Und ich glaube, wie er, daß sie es auf Flaggs Befehl getan haben.«
Seine Worte tönten laut im Saal.
»Mit diesem Mann müssen wir uns auseinandersetzen. George Richardson hat Ihnen gesagt, Mystizismus ist nicht sein Gebiet. Meins auch nicht. Aber ich sage soviel: Ich glaube, diese sterbende alte Frau verkörpert irgendwie die Kräfte des Guten, so wie Flagg die Kräfte des Bösen verkörpert. Ich glaube, die Kraft, von der sie geleitet wird - was es auch sei -, hat sie benutzt, uns hier zu vereinen. Ich glaube nicht, daß diese Kraft uns jetzt im Stich lassen wird. Vielleicht sollten wir darüber diskutieren und versuchen, ein wenig Licht in diese Alpträume zu bringen. Vielleicht sollten wir uns allmählich entscheiden, was wir seinetwegen unternehmen. Aber er kann im nächsten Frühjahr nicht einfach in diese Zone kommen und sie übernehmen, wenn wir alle auf der Hut sind. Jetzt gebe ich das Wort an Stu zurück, der die Diskussion leiten wird.«
Sein letzter Satz ging in donnerndem Applaus unter, und Glen ging zufrieden an seinen Platz zurück. Er hatte mit einem großen Löffel gerührt... oder sollte man lieber sagen, er hatte sie wie eine Violine gespielt? Spielte eigentlich keine Rolle. Sie waren eher wütend als verängstigt, sie waren bereit für eine Herausforderung (obwohl sie nächsten April vielleicht nicht mehr so begeistert sein würden, wenn sie einen langen Winter gehabt hatten, um sich etwas abzukühlen)... und vor allem waren sie bereit zu reden.
Und sie redeten wirklich, drei Stunden lang. Gegen Mitternacht brachen einige auf, aber nicht viele. Wie Larry schon vermutet hatte, kam nichts Vernünftiges dabei heraus. Es wurden wilde Vorschläge gemacht: ein eigenes Jagdbombergeschwader und/oder Atomwaffenarsenal, ein Gipfeltreffen, eine ausgebildete Mörderschwadron. Aber kaum praktische Vorschläge.
Im Verlauf der letzten Stunde stand einer nach dem anderen auf und gab seinen Traum zum besten, was alle anderen zu faszinieren schien. Stu mußte wieder an die endlosen Diskussionen über Sex denken, an denen er (weitgehend als Zuhörer) als Teenager teilgenommen hatte.
Ihre zunehmende Bereitschaft zu reden erstaunte und rührte Glen, ebenso die spannungsgeladene Atmosphäre, welche das teilnahmslose Desinteresse zu Beginn der Versammlung verdrängt hatte. Eine große, längst überfällige Katharsis fand statt, und auch er mußte an Gespräche über Sex denken, wenn auch auf eine andere Weise. Sie sprechen wie Menschen, dachte er, die die verborgenen Geheimnisse ihrer Schuldgefühle und Unzulänglichkeiten lange Zeit für sich behalten haben, nur um nun herauszufinden, daß alles, wenn es erst einmal ausgesprochen wurde, längst nicht mehr so überlebensgroß war. Als das im Schlaf gesäte innere Entsetzen schließlich in dieser öffentlichen Marathonsitzung geerntet wurde, wurde das Entsetzen besser handhabbar... vi elleicht sogar besiegbar.
Die Versammlung löste sich um halb zwei Uhr morgens auf, und Glen verließ sie mit Stu und fühlte sich zum ersten Mal seit Nicks Tod wieder fröhlich. Er hätte das Gefühl, als hätten sie die ersten schweren Schritte aus sich selbst heraus gemacht, dem Schlachtfeld entgegen, das sie erwartete.
Er verspürte Hoffnung.
Der Strom wurde zur Mittagszeit des 5. September wieder eingeschaltet, wie Brad versprochen hatte.
Die Luftschutzsirene auf dem Dach des Gerichtsgebäudes stimmte ein lautstarkes, wimmerndes Heulen an, lockte eine Menge ängstlicher Menschen auf die Straße, wo sie panisch in den wolkenlosen Himmel sahen, um die Luftwaffe des dunklen Mannes zu erspähen. Manche flohen in ihre Keller und blieben dort, bis Brad einen durchgeschmorten Schalter fand und die Sirene ausschaltete. Dann kamen sie verschämt wieder nach oben.
Strom verursachte ein Feuer in der Willow Street, und ein paar freiwillige Feuerwehrleute rasten hin und löschten. An der Kreuzung Broadway und Walnut explodierte ein Kanaldeckel, flog fast fünfzehn Meter durch die Luft und landete wie ein großer, rostiger Flohhüpfstein auf dem Dach des Oz-Spielzeugladens. An diesem Tag, der in der Zone später Energietag genannt wurde, gab es nur einen tödlichen Unfall. Aus unbekannter Ursache explodierte eine Karosseriewerkstatt draußen in der Pearl Street. Rieh Moffat saß mit einer Flasche Jack Daniels im Schoß in einem Hauseingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite; er wurde von einem Stück Wellblech getroffen und war auf der Stelle tot. Er würde keine Schaufensterscheiben mehr einschlagen. Stu war bei Fran, als die Neonlampen in ihrem Krankenzimmer summten und aufleuchteten. Er sah sie flackern, flackern, flackern, bis sie schließlich das vertraute Licht ausstrahlten. Er konnte den Blick nicht abwenden, bis sie fast drei Minuten lang gebrannt hatten. Als er Frannie wieder ansah, glitzerten Tränen in ihren Augen.
»Fran? Was ist los? Sind es die Schmerzen?«
»Es ist wegen Nick«, sagte sie. »Es ist nicht richtig, daß Nick das nicht mehr erleben kann. Halt mich fest, Stu. Ich will für ihn beten, wenn ich kann. Ich will es wenigstens versuchen.«
Er hielt sie fest, wußte aber nicht, ob sie betete oder nicht. Plötzlich stellte er fest, daß er Nick sehr vermißte und Harold Lauder mehr haßte als je zuvor. Fran hatte recht. Harold hatte nicht nur Nick und Sue umgebracht; er hatte ihnen das Licht gestohlen.
»Psst«, sagte er. »Pssst, Frannie.«
Aber sie weinte noch lange. Als die Tränen schließlich versiegt waren, drückte er auf den Knopf, um das Bett höher zu stellen, und schaltete die Nachtlampe ein, damit sie lesen konnte.
Stu wurde wach gerüttelt; er brauchte lange, bis er zu sich kam. Eine langsame und scheinbar endlose Reihe von Namen und Leuten, die versuchen könnten, ihm den Schlaf zu rauben, zog ihm durch den Kopf. Es war seine Mutter, die ihm befahl, aufzustehen, Feuer zu machen und sich für die Schule zu richten. Es war Manuel, der Rausschmeißer in dem schäbigen kleinen Bordell in Nuevo Laredo, der ihm sagte, seine zwanzig Dollar wären verbraucht und er müßte noch zwanzig zahlen, wenn er die ganze Nacht bleiben wollte. Es war eine Schwester im weißen Overall, die seinen Blutdruck messen und einen Abstrich machen wollte. Es war Frannie.
Es war Randall Flagg.
Der letzte Name riß ihn wach wie ein Guß kaltes Wasser ins Gesicht. Es war keiner davon. Es war Glen Bateman, und neben ihm Kojak.
»Du bist schwer zu wecken, Ost-Texaner«, sagte Glen. »Du schläfst wie ein Murmeltier.« Er war nur ein vager Schatten in der fast völligen Dunkelheit.
»Du hättest für den Anfang einfach mal das Licht einschalten können.«
»Weißt du, das habe ich ganz vergessen.«
Stu schaltete die Lampe an und sah blinzelnd auf den mechanischen Wecker. Es war Viertel vor drei Uhr morgens.
»Was machst du hier, Glen? Ich habe geschlafen, falls du das nicht gemerkt haben solltest.«
Als Stu den Wecker hinstellte, sah er Glen erstmals richtig an. Er sah blaß und verängstigt aus... und alt. Er hatte tiefe Furchen im Gesicht und wirkte hager.
»Was ist los?«
»Mutter Abagail«, sagte Glen leise.
»Tot?«
»Gott behüte, ich wünschte fast, sie wäre es. Sie will uns sehen.«
»Uns beide?«
»Uns fünf. Sie...« Seine Stimme wurde rauh und heiser. »Sie wußte, daß Nick und Susan tot sind, und sie wußte, daß Fran im Krankenhaus ist. Ich weiß nicht wie, aber sie wußte es.«
»Und sie will das Komitee sehen?«
»Was davon übrig ist. Sie liegt im Sterben, und sie sagt, daß sie uns etwas mitzuteilen hat. Aber ich weiß nicht, ob ich es hören will.«
Die Nacht draußen war kalt - nicht nur frisch, sondern kalt. Die Jacke, die Stu aus dem Schrank geholt hatte, tat gut, und er machte den Reißverschluß bis oben zu. Oben stand ein frostiger Mond am Himmel; er mußte an Tom denken, der Anweisung hatte, bei Vollmond zu ihnen zurückzukommen. Dieser Mond war erst kurz nach dem ersten Viertel. Gott allein wußte, wo dieser Mond auf Tom hinuntersah, auf Dayna Jürgens, auf Richter Farris. Gott wußte, er sah auf seltsame Geschehnisse hier unten herab.
»Ich habe Ralph zuerst geweckt«, sagte Glen. »Ich habe ihm gesagt, er soll Frannie aus dem Krankenhaus holen.«
»Wenn der Doktor der Meinung wäre, daß sie aufstehen kann, hätte er sie nach Hause geschickt«, sagte Stu ärgerlich.
»Dies ist ein besonderer Fall, Stu.«
»Für jemanden, der nicht hören will, was die alte Frau zu sagen hat, bist du verdammt erpicht darauf, es ihr recht zu machen.«
»Ich habe Angst, es nicht zu tun«, sagte Glen.
Der Jeep fuhr zehn Minuten nach drei vor Larrys Haus vor. Es war hell erleuchtet - keine Gaslampen mehr, sondern gutes elektrisches Licht. Auch jede zweite Straßenlaterne brannte, nicht nur hier, sondern überall in der Stadt, und Stu hatte sie während der Fahrt in Glens Jeep immer wieder fasziniert betrachtet. Die letzten nächtlichen Insekten des Sommers flogen kraftlos und träge vor Kälte gegen die Natriumdampfkugeln.
Als sie aus dem Jeep stiegen, bogen Scheinwerfer um die Ecke. Es war Ralphs klappriger alter Lastwagen, und er fuhr bis an den Kühler des Jeeps. Ralph stieg aus, und Stu eilte zur Beifahrerseite, wo Fran saß, mit einem gesteppten Sofakissen im Rücken.
»Hallo, Baby«, sagte er leise.
Sie nahm seine Hand. Ihr Gesicht war eine blasse Scheibe in der Dunkelheit.
»Schlimme Schmerzen?« fragte Stu.
»Es geht. Ich habe ein paar Advil genommen. Aber verlang nicht, daß ich Sprünge mache.«
Er half ihr aus dem Wagen, und Ralph nahm ihren anderen Arm. Beide sahen sie zusammenzucken, als sie vom Auto wegging.
»Soll ich dich tragen?«
»Nicht nötig. Aber leg den Arm um mich, hm?«
»Klar doch.«
»Und mach langsam. Wir Großmütterchen können nicht so schnell.«
Sie gingen mehr schlurfend als gehend hinten um Ralphs Lastwagen herum. Als sie auf dem Gehweg waren, sah Stu, daß Ralph, Glen und Larry in der Tür standen und ihnen entgegensahen. Gegen das Licht sahen sie wie aus schwarzer Pappe ausgeschnittene Gestalten aus.
»Was meinst du, worum geht es?« murmelte Frannie.
Stu schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«
Sie gingen den Weg entlang, Frannie jetzt offensichtlich unter Schmerzen, und Ralph half Stu, sie ins Haus zu führen. Larry sah so blaß und bekümmert aus wie Glen. Er trug verblichene Jeans, ein Hemd, das aus der Hose hing und am untersten Knopfloch falsch geknöpft war, sowie teure Mokassins an den bloßen Füßen.
»Es tut mir wahnsinnig leid, daß ich euch wecken mußte«, sagte er.
»Ich bin bei ihr gesessen und ab und zu eing enickt. Wir haben Wache gehalten.«
»Ja. Ich verstehe«, sagte Frannie. Aus irgendwelchem Grund erinnerte der Ausdruck »Wache gehalten« sie an den Salon ihrer Mutter.,, und zwar in einem freundlicheren, versöhnlicheren Licht als je zuvor.
»Lucy war etwa eine Stunde im Bett. Ich bin aus meinem Dösen hochgeschreckt und - Fran, kann ich dir helfen?«
Fran schüttelte den Kopf und lächelte angestrengt. »Nein, ich komme zurecht. Mach weiter.«
»... und sie hat mich angesehen. Sie kann nur flüstern, aber man kann sie deutlich verstehen.« Larry schluckte. Alle fünf standen jetzt im Vorraum. »Sie sagte, der Herr würde sie bei Sonnenaufgang zu sich holen. Aber sie müsse erst noch mit denjenigen von uns reden, die Gott noch nicht geholt hat. Ich habe sie gefragt, was sie meinte, und sie sagte, Gott hätte Nick und Susan geholt. Sie wußte es.« Er stöhnte heiser und fuhr sich mit den Händen durch das lange Haar. Lucy erschien am Ende des Flurs. »Ich habe Kaffee gemacht. Er steht hier, wenn ihr wollt.«
»Danke, Liebes«, sagte Larry.
Lucy sah unsicher aus. »Soll ich mit euch rein? Oder ist es geheim, wie das Komitee?«
Larry sah Stu an, der leise sagte: »Komm nur mit. Ich habe so eine Ahnung, als würden keine großen Enthüllungen mehr kommen.«
Frannies wegen gingen sie langsam durch den Flur zum Schlafzimmer.
»Sie wird es uns sagen«, sagte Ralph plötzlich. »Mutter wird es uns sagen. Kein Grund zur Ungeduld.«
Sie gingen zusammen hinein, und Mutter Abagail sah sie mit ihren hellen, sterbenden Augen an.
Fran wußte um die körperliche Verfassung der alten Frau, aber es war dennoch ein häßlicher Schock. Mutter Abagail bestand nur noch aus einer trockenen Membran von Haut und Sehnen, die die Knochen zusammenhielt. Im Zimmer roch es nicht einmal nach Fäulnis und bevorstehendem Tod; vielmehr herrschte ein trockener Geruch nach Dachboden vor... nein, ein Geruch nach Salon. Die halbe Infusionsnadel ragte aus ihrem Fleisch, weil sie einfach keinen Platz hatte.
Aber die Augen hatten sich nicht verändert. Sie waren sanft und gütig und menschlich. Das war eine Erleichterung, aber dennoch empfand Fran so etwas wie Entsetzen... nicht eigentlich Angst, aber vielleicht etwas Geheiligteres - Ehrfurcht. War es Ehrfurcht? Ein Gefühl des Kommenden. Kein Verhängnis, aber es war, als hinge eine entsetzliche Verantwortung wie ein Stein über ihren Köpfen.
Der Mensch denkt, Gott lenkt.
»Setz dich, kleines Mädchen«, flüsterte Mutter Abagail. »Du hast Schmerzen.«
Larry führte sie zu einem Sessel, und Fran setzte sich mit einem dünnen, pfeifenden Seufzer der Erleichterung, obwohl sie wußte, selbst das Sitzen würde ihr nach einer Weile Schmerzen bereiten. Mutter Abagail sah sie immer noch mit diesen hellen Augen an. »Du bist schwanger«, flüsterte sie.
»Ja... wie...«
»Pssst...«
Schweigen senkte sich über den Raum, tiefes Schweigen. Fasziniert, hypnotisiert sah Fran die alte Frau an, die zuerst in ihren Träumen und dann in ihrem Leben aufgetaucht war.
»Schau aus dem Fenster, kleines Mädchen.«
Fran wandte den Kopf zum Fenster, wo Larry vor zwei Tagen gestanden und die versammelten Menschen beobachtet hatte. Sie sah keine erdrückende Dunkelheit, sondern ruhiges Licht. Es war nicht der Widerschein des Zimmers; es war das Licht des dämmernden Morgens. Sie sah das schwache, leicht verzerrte Bild eines Kinderzimmers mit karierten Vorhängen. Dort stand ein Kinderbett - aber es war leer. Dort stand ein Laufstall - leer. Ein Mobile aus hellen Plastikschmetterlingen - nur vom Wind bewegt. Grauen legte seine kalten Hände um ihr Herz. Die anderen sahen es ihrem Gesicht an, verstanden es aber nicht; sie sahen nur ein von der Straßenlaterne erhelltes Stück Rasen durch das Fenster.
»Wo ist das Baby?« fragte Fran heiser.
»Stuart ist nicht der Vater des Babys, kleines Mädchen. Aber sein Leben liegt in Stuarts und in Gottes Händen. Der Junge wird vier Väter haben. Wenn Gott ihn überhaupt atmen läßt.«
»Wenn er atmen...«
»Das hat Gott vor meinen Augen verborgen«, flüsterte sie.
Das leere Kinderzimmer war verschwunden. Fran sah nur Dunkelheit. Und jetzt ballte das Grauen die Hände zu Fäusten, und ihr Herz schlug dazwischen.
Mutter Abagail flüsterte: »Der Dämon hat seine Braut gerufen, und er will ihr ein Kind zeugen. Wird er dein Kind leben lassen?«
»Hören Sie auf«, stöhnte Frannie. Sie legte die Hände vors Gesicht. Stille, tiefe Stille lag wie Schnee im Raum. Glen Batemans Gesicht war ein alter trüber Scheinwerfer. Lucy strich mit der rechten Hand unablässig über den Kragen ihres Bademantels. Ralph hielt den Hut in der Hand und zupfte zerstreut an der Feder. Stu sah zu Frannie, konnte aber nicht zu ihr gehen. Jetzt nicht. Er mußte kurz an die Frau bei der Versammlung denken, die hastig Augen, Ohren und Mund bedeckt hatte, als der dunkle Mann erwähnt worden war.
»Mutter, Vater, Frau, Mann«, flüsterte Mutter Abagail. »Auf der anderen Seite der Fürst der hohen Stätten, der Herr des dunklen Morgens. Ich habe in meinem Stolz gesündigt. Ihr habt alle im Stolz gesündigt. Wißt ihr nicht, daß geschrieben steht, ihr sollt nicht in die Fürsten und Herren dieser Welt euren Glauben setzen?«
Sie sahen sie an.
»Elektrisches Licht ist nicht die Antwort, Stu Redman, CB-Funk auch nicht, Ralph Brentner. Soziologie macht ihm kein Ende, Glen Bateman. Und deine Buße um ein Leben, das längst ein versiegeltes Buch ist, wird es nicht aufhalten können, Larry Underwood. Und dein Sohn wird es auch nicht aufhalten, Fran Goldsmith. Der böse Mond ist aufgegangen. Ihr seid nichts vor dem Antlitz des Herrn.«
Nacheinander sah sie jeden an. »Gott wird es fügen, wie er es für richtig hält. Ihr seid nicht der Töpfer, ihr seid der Ton. Vielleicht ist der Mann im Westen das Rad, auf das ihr geflochten werdet. Ich darf es nicht wissen.«
Eine Träne, erstaunlich in dieser sterbenden Wüste, stahl sich aus ihrem linken Auge und rollte ihr über die Wange.
»Mutter, was sollen wir tun?« fragte Ralph.
»Kommt näher, ihr alle. Meine Zeit läuft ab. Ich gehe heim in die Herrlichkeit, und nie war ein Mensch dazu mehr bereit als ich. Kommt nahe zu mir.«
Ralph setzte sich auf die Bettkante. Larry und Glen stellten sich ans Fußende. Fran verzog das Gesicht, als sie aufstand, und Stu zog den Stuhl neben Ralph. Sie setzte sich wieder und nahm seine Hand mit ihren kalten Fingern.
»Gott hat euch nicht zusammengebracht, damit ihr ein Komitee oder eine Gemeinschaft gründet«, sagte sie. »Er hat euch hergeführt, um euch weiterzuschicken, auf eine Suche. Er möchte, daß ihr versucht, diesen Dunklen Fürsten, diesen Mann ferner Meilen, zu vernichten.«
Tickendes Schweigen. Mutter Abagail seufzte.
»Ich habe gedacht, Nick sollte euch führen, aber er hat Nick genommen - obwohl mir scheint, daß Nick nicht ganz verschwunden ist. Nein, ganz und gar nicht. Nun mußt du führen, Stuart. Und wenn es Gottes Wille ist, Stuart zu nehmen, dann mußt du führen, Larry. Und wenn er dich nimmt, dann fällt es Ralph zu.«
»Sieht aus, als wäre ich das fünfte Rad am Wagen«, sagte Glen.
»Was...«
»Führen?« fragte Fran kalt. »Führen? Wohin führen...?«
»Nach Westen, kleines Mädchen«, sagte Mutter Abagail. »Nach Westen. Du sollst nicht gehen. Nur die vier.«
»Nein!« Trotz ihrer Schmerzen war sie aufgesprungen. »Was sagen Sie da? Daß die vier sich in seine Hände geben sollen? Herz, Seele und Mut der Freien Zone?« Ihre Augen funkelten. »Damit er sie ans Kreuz schlagen und nächsten Sommer hier ungehindert einmarschieren kann, um uns alle umzubringen? Ich will nicht, dass mein Mann Ihrem Mördergott geopfert wird. Der Teufel soll ihn holen.«
»Frannie!« keuchte Stu.
»Mördergott! Mördergott!« fauchte sie. »Millionen - vielleicht Milliarden Tote durch die Seuche. Millionen danach. Wir wissen nicht einmal, ob unsere Kinder leben werden. Hat er immer noch nicht genug? Soll es immer so weitergehen, bis die Erde den Ratten und Insekten gehört? Er ist ein Dämon, und Sie sind seine Hexe!«
»Hör auf, Frannie.«
»Kein Problem. Ich bin fertig. Ich will gehen. Bring mich nach Hause, Stu. Nicht ins Krankenhaus, sondern nach Hause.«
»Wir werden uns anhören, was sie zu sagen hat.«
»Gut. Dann hör du es für uns beide an. Ich gehe.«
»Kleines Mädchen.«
»Nennen Sie mich nicht so!«
Ihre Hand schoß vor und umklammerte Frannies Handgelenk. Fran erstarrte. Sie machte die Augen zu. Sie riß den Kopf zurück.
»Nein. N-N-Nein... O MEIN GOTT - STU...«
»Halt! Halt!« brüllte Stu. »Was machen Sie mit ihr?«
Mutter Abagail antwortete nicht. Der Augenblick wurde länger, schien sich zu einem Stück Unendlichkeit zu dehnen, dann ließ die alte Frau los.
Langsam, wie betäubt, massierte Fran das Handgelenk, das Mutter Abagail ergriffen hatte, obwohl keine Rötung darauf hindeutete, dass Druck angewendet worden war. Plötzlich wurden Frannies Augen ganz groß.
»Liebes?« fragte Stu ängstlich.
»Weg«, murmelte Fran.
»Wovon... wovon redet sie?« Stu sah die anderen erschüttert und flehentlich an. Glen schüttelte nur den Kopf. Sein Gesicht war weiss und angespannt, aber nicht ungläubig.
»Die Schmerzen... das Reißen. Meine Rückenschmerzen. Sie sind weg.« Sie sah Stu benommen an. »Sie sind ganz weg. Sieh doch.«
Sie bückte sich und berührte die Zehen leicht: einmal, dann zweimal. Dann bückte sie sich zum dritten Mal und preßte die Handfläche auf den Boden, ohne die Knie anzuwinkeln.
Sie richtete sich wieder auf und sah Mutter Abagail in die Augen.
»Ist das die Bestechung Gottes? Wenn ja, kann er seine Heilung zurücknehmen. Ich habe lieber die Schmerzen, wenn ich dafür Stu behalten kann.«
»Gott besticht nicht, Mädchen«, flüsterte Mutter Abagail. »Er setzt nur ein Zeichen und läßt die Menschen es nehmen, wie sie wollen.«
»Stu geht nicht nach Westen«, sagte Fran, aber jetzt mischte sich Unsicherheit in ihre Angst.
»Setz dich«, sagte Stu. »Wir werden uns anhören, was sie zu sagen hat.«
Fran setzte sich erschrocken, fassungslos, verwirrt. Ihre Hände betasteten immer wieder den Rücken.
»Geht nach Westen«, flüsterte Mutter Abagail. »Nehmt weder Nahrung noch Wasser mit. Geht noch heute und in den Kleidern, die ihr am Leibe tragt. Geht zu Fuß. Ich weiß, daß einer von euch das Ziel nicht erreichen wird, aber ich weiß nicht, wer derjenige ist, der fallen wird. Ich weiß, daß die anderen vor diesen Mann Flagg gebracht werden, der überhaupt kein Mann ist, sondern ein übernatürliches Wesen. Ich weiß nicht, ob es Gottes Wille ist, daß ihr ihn besiegt. Ich weiß nicht, ob es Gottes Wille ist, daß ihr Boulder jemals wiederseht. Das zu sehen ist mir nicht vergönnt. Aber er ist in Las Vegas, und dort müßt ihr hingehen, und dort werdet ihr euer letztes Gefecht austragen. Ihr werdet gehen, und ihr werdet nicht verzagen, denn ihr könnt euch auf des Herrn starken und ewigen Arm stützen. Ja. Mit Gottes Hilfe werdet ihr bestehen. «
Sie nickte.
»Das ist alles. Ich habe meinen Teil gesagt.«
»Nein«, flüsterte Fran. »Das kann nicht sein.«
»Mutter«, sagte Glen krächzend. Er räusperte sich. »Mutter, uns ist nicht >gegeben< zu verstehen, wenn Sie wissen, was ich meine. Wir... wir sind nicht mit Ihrer Nähe zu dieser Art oberster Instanz gesegnet. Das ist uns nicht gegeben. Fran hat recht. Wenn wir da rübergehen, werden wir wahrscheinlich von den ersten Posten totgeschlagen, denen wir begegnen.«
»Habt ihr keine Augen? Ihr habt gerade gesehen, wie Gott Fran durch mich von ihrem Leiden geheilt hat. Glaubt ihr, sein Plan ist es, daß ihr von den niedersten Häschern des Dunklen Fürsten erschossen und getötet werdet?«
»Aber Mutter...«
»Nein.« Sie hob die Hand und tat seine Worte mit einem Winken ab.
»Es ist nicht meine Sache, mit euch zu streiten oder euch zu überzeugen, sondern nur, euch Gottes Plan mit euch verständlich zu machen. Hör zu, Glen.«
Plötzlich kam die Stimme von Glen Bateman aus Mutter Abagails Mund, die ihnen allen Angst machte, Fran so sehr, daß sie sich kreischend an Stu drückte.
»Mutter Abagail nennt ihn den Vasallen des Teufels«, sagte die kräftige Männerstimme, die irgendwie in der verbrauchten Brust der alten Frau ihren Ursprung nahm und durch den zahnlosen Mund herauskam. »Vielleicht ist er nur der letzte Zauberer rationalen Denkens, der die Werkzeuge der Technologie gegen uns sammelt. Vielleicht ist er mehr, etwas Dunkleres. Ich weiß nur, er ist. Und ich glaube nicht mehr, daß Soziologie oder Psychologie oder sonst eine -ologie ihn aufhalten können. Ich glaube, das kann nur weiße Magie.«
Glens Mund stand offen.
»Ist das die Wahrheit, oder sind dies die Worte eines Lügners?« sagte Mutter Abagail.
»Ich weiß nicht, ob es stimmt oder nicht, aber es sind meine Worte«, sagte Glen erschüttert.
»Habt Vertrauen. Ihr alle. Vertrauen. Larry... Ralph... Stu... Glen... Frannie. Besonders du, Frannie. Vertrauen... und gehorcht dem Wort Gottes.«
»Haben wir denn eine Wahl?« fragte Larry bitter.
Sie sah ihn erstaunt an. »Eine Wahl? Es gibt immer eine Wahl. Das ist Gottes Art, immer. Euer Wille ist frei. Macht was ihr wollt. Euch sind keine Fußfesseln angelegt. Aber... das will Gott von euch.«
Wieder diese Stille, wie tiefer Schnee. Schließlich unterbrach Ralph sie. »In der Bibel steht, was David mit Goliath gemacht hat«, sagte er. »Ich werde gehen, wenn Sie sagen, daß es richtig ist, Mutter.«
Sie nahm seine Hand.
»Ich«, sagte Larry. »Ich auch. Okay.« Er seufzte und hielt die Hände an die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen. Glen machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber bevor er es konnte, hörten sie einen tiefen Seufzer aus der Ecke, und ein Poltern.
Es war Lucy, die sie alle vergessen hatten. Sie war in Ohnmacht gefallen.
Die Dämmerung berührte den Rand der Welt.
Sie saßen um Larrys Küchentisch und tranken Kaffee. Es war zehn vor fünf, als Fran durch den Flur kam und unter der Tür stehenblieb. Sie hatte ein verweintes Gesicht, aber sie hinkte nicht mehr beim Gehen. Sie war tatsächlich geheilt. »Ich glaube, sie stirbt«, sagte Fran.
Sie gingen hinein; Larry hatte den Arm um Lucy gelegt. Mutter Abagails Atem klang hohl und rasselnd und erinnerte in schrecklicher Weise an die Supergrippe. Schweigend und voll Ehrfurcht versammelten sie sich um das Bett. Ralph war überzeugt, daß am Ende etwas geschehen, daß sich ihnen das Wunder Gottes unverhüllt und deutlich offenbaren würde. Sie würde mit einem Blitz gen Himmel fahren. Oder sie würden ihre Seele sehen, die in einen Strahlenkranz verwandelt durch das Fenster himmelwärts stieg. Aber am Ende starb sie einfach.
Sie tat noch einen einzigen Atemzug, den letzten von Millionen. Sie sog ihn ein, hielt ihn, stieß ihn wieder aus. Dann hob sich ihre Brust nicht mehr.
»Sie ist tot«, murmelte Stu.
»Gott sei ihrer Seele gnädig«, sagte Ralph, der keine Angst mehr hatte. Er faltete ihr die Hände über der dünnen Brust und benetzte sie mit seinen Tränen.
»Ich werde gehen«, sagte Glen plötzlich. »Sie hatte recht. Weiße Magie. Mehr bleibt uns nicht.«
»Stu«, flüsterte Frannie. »Bitte, Stu, sag nein.«
Sie sahen ihn an - alle.
Nun mußt du führen, Stuart.
Er dachte an Arnette, an den alten Wagen mit Charles D. Campion und seiner Todesfracht, der wie eine böse Büchse der Pandora in Bill Hapscombs Zapfsäulen gefahren war. Er dachte an Denninger und Deitz und wie er sie in Gedanken mit den lächelnden Ärzten verglichen hatte, die ihn und seine kranke Frau - und vielleicht auch sich selbst - über ihren Zustand belogen und belogen und belogen hatten. Und ganz besonders dachte er an Frannie. Und an Mutter Abagail, die gesagt hatte: Das will Gott von euch.
»Frannie«, sagte er. »Ich muß gehen.«
»Und sterben.« Sie sah ihn bitter, fast haßerfüllt an, dann hilfesuchend zu Lucy. Aber Lucy war selbst betäubt und geistesabwesend und keine Hilfe.
»Wenn wir nicht gehen, sterben wir«, sagte Stu und tastete sich an den Worten entlang. »Sie hatte recht. Wenn wir warten, kommt der Frühling. Und dann? Wie wollen wir ihn aufhalten? Wir wissen es nicht. Wir haben keinen Schimmer. Noch nie gehabt. Wir hatten die Köpfe in den Sand gesteckt. Wir können ihn nicht aufhalten, nur, wie Glen sagt, Weiße Magie. Oder die Macht Gottes.«
Sie fing bitterlich an zu weinen.
»Frannie, nicht«, sagte er und wollte ihre Hand nehmen.
»Faß mich nicht an«, schrie sie. »Du bist ein toter Mann, du bist eine Leiche, also faß mich nicht an!«
Als die Sonne aufging, standen sie immer noch wie ein Stilleben um das Bett herum.
Stu und Frannie fuhren gegen elf Uhr zum Flagstaff Mountain. Sie parkten auf halber Höhe, und Stu brachte den Picknickkorb, während Fran die Tischdecke und eine Flasche Blue Nun trug. Das Picknick war ihre Idee gewesen, aber ein seltsames und verlegenes Schweigen herrschte zwischen ihnen.
»Hilf mir die Decke ausbreiten«, sagte sie. »Und paß auf Dornen auf.«
Sie standen auf einer kleinen, flach abfallenden Wiese etwa dreihundert Meter unterhalb des Sunrise Amphitheater. Boulder lag im blauen Dunst unter ihnen. Heute herrschte der Sommer wieder uneingeschränkt. Die Sonne schien mit Macht und Kraft. Im Gras zirpten Grillen. Ein Grashüpfer sprang hoch, und Stu fing ihn mit einer raschen Bewegung der rechten Hand. Er konnte sein ängstliches Kribbeln an den Fingern spüren.
»Spuck, und ich laß dich gehen«, sagte er, eine alte Kindheitsfloskel, und als er aufschaute, sah Fran ihn traurig an. Sie drehte mit rascher Präzision den Kopf und spie aus. Es tat ihm in der Seele weh, das zu sehen. »Fran...«
»Nein, Stu. Sprich nicht darüber. Nicht jetzt.«
Sie breiteten das weiße Tischtuch aus, das Fran aus dem Hotel Boulderado gemopst hatte, und Fran richtete mit knappen, ökonomischen Bewegungen (es gab ihm ein seltsames Gefühl zu sehen, wie sie sich so anmutig und geschmeidig bewegte, als hätte es nie eine Verletzung und einen verrenkten Rücken gegeben) das Essen: Gurken und grünen Salat mit Essig; Schinkensandwiches; den Wein; einen Apfelkuchen als Nachtisch.
»Für alle guten Gaben danken wir dir, amen«, sagte sie. Er setzte sich neben sie und nahm ein Sandwich und Salat. Er war nicht hungrig. Er war innerlich verletzt. Aber er aß.
Als sie beide ihr symbolisches Sandwich und den größten Teil des Salats gegessen hatten - das frische Grün war köstlich gewesen -, und ein Stück Apfelkuchen als Nachtisch, sagte sie: »Wann brecht ihr auf?«
»Zu Mittag«, sagte er. Er zündete sich eine Zigarette an und schützte dabei die Flamme mit den hohlen Händen.
»Wie lange braucht ihr, bis ihr dort seid?«
Er zuckte die Achseln. »Zu Fuß? Keine Ahnung. Glen ist nicht mehr der Jüngste. Ralph auch nicht, was das betrifft. Wenn wir dreißig Meilen am Tag schaffen, könnten wir ungefähr am ersten Oktober drüben sein.«
»Und wenn in den Bergen schon Schnee liegt? Oder in Utah?«
Er zuckte die Achseln und sah sie fest an.
»Noch Wein?« fragte sie.
»Nein. Davon bekomme ich Sodbrennen. Schon immer.«
Fran schenkte sich noch ein Glas ein und trank einen Schluck, »War sie Gottes Stimme, Stu? War sie das?«
»Frannie, ich weiß es nicht.«
»Wir haben von ihr geträumt, und sie existierte. Diese ganze Sache gehört zu einem albernen Spiel, weißt du das, Stuart? Hast du je das Buch Hiob gelesen?«
»Ich glaube, ich war nie sehr bibelfest.«
»Aber meine Mutter. Sie hat immer Wert darauf gelegt, daß mein Bruder und ich uns mit Religion beschäftigen. Warum hat sie uns nie gesagt. Soweit ich weiß, habe ich davon nur einen Vorteil gehabt: Ich konnte immer die Bibelfragen in >Jeopardy< beantworten. Erinnerst du dich noch an >Jeopardy<, Stu?«
Er lächelte und sagte: »Und hier kommt Ihr Gastgeber, Alex Trebeck.«
»Ja, genau der. Es ging immer umgekehrt. Zuerst erhielt man die Antwort, dann mußte man die Frage dazu finden. Was die Bibel anbetraf, kannte ich alle Fragen. Hiob war wie eine Wette zwischen Gott und dem Teufel. Der Teufel sagte: >Natürlich betet er dich an. Es geht ihm gut. Aber wenn du ihm lange genug ins Gesicht pißt, wird er dir abschwören. < Und Gott nahm die Wette an. Er hat sie gewonnen.« Sie lächelte betrübt. »Gott gewinnt immer. Ich wette, Gott ist Fan der Boston Celtics.«
»Vielleicht ist es eine Wette«, sagte Stu, »aber es geht um das Leben der Leute dort unten. Und um das des Kleinen in dir. Wie hat sie ihn genannt? Den Jungen?«
»Nicht einmal für ihn konnte sie mir Hoffnung machen«, sagte Fran.
»Wenn sie das getan hätte... nur das... wäre es wenigstens ein bißchen leichter gewesen, dich gehen zu lassen.«
Stu wußte nicht, was er sagen sollte.
»Es wird langsam Mittag«, sagte Fran. »Hilf mir einpacken, Stuart.«
Zusammen mit der Tischdecke legten sie das halbgegessene Frühstück und den Rest Wein in den Korb zurück. Stu betrachtete die Stelle und dachte, daß nur noch ein paar Krumen Zeugnis von ihrem Picknick ablegten... und auch die würden bald die Vögel fressen. Als er aufsah, schaute Frannie ihn weinend an. Er ging zu ihr.
»Ist schon gut. Das ist die Schwangerschaft. Ich muß immerfort weinen. Ich kann nichts dafür.«
»Schon recht«, sagte Stu.
»Schlaf mit mir, Stu.«
»Hier? Jetzt?«
Sie nickte und lächelte ein wenig. »Es wird schon gehen. Wenn wir auf die Dornen achten.«
Sie breiteten die Tischdecke wieder aus.
Am Ende der Baseline Road bat sie ihn, vor dem Haus anzuhalten, das bis vor vier Tagen noch Nick und Ralph gehört hatte. Die gesamte Rückfront des Hauses war weggesprengt worden. Trümmer lagen im Garten. Ein zertrümmert er Radiowecker lag auf einer zerfetzten Hecke. In der Nähe war das Sofa, das Fran unter sich begraben hatte. Auf der hinteren Treppe war ein Blutfleck. Sie sah ihn gebannt an.
»Ist das Nicks Blut? Könnte das sein?«
»Frannie, was soll das?« fragte Stu unbehaglich.
»Könnte es sein?«
»Herrgott, ich weiß nicht. Wahrscheinlich schon.«
»Leg die Hand darauf, Stu.«
»Frannie, bist du übergeschnappt?«
Die Stirnfalte furchte ihre Stirn, die Ich-will-Falte, die ihm erstmals in New Hampshire aufgefallen war.
»Leg die Hand darauf!«
Widerstrebend legte Stu die Hand auf den Fleck. Er wußte nicht, ob es Nicks Blut war oder nicht (und vermutete, eher nicht), aber die Geste verursachte ihm ein unheimliches, schauderndes Gefühl.
»Und jetzt schwöre mir, daß du zurückkommen wirst.«
Die Stufe schien an dieser Stelle zu warm zu sein; er wollte die Hand wegnehmen.
»Fran, wie kann ich...«
»Man kann nicht alles Gott überlassen«, zischte sie. »Nicht alles. Schwöre, Stu, schwöre es mir.«
»Frannie, ich schwöre, daß ich es versuchen will.«
»Das wird mir genügen müssen, oder?«
»Wir müssen zu Larry.«
»Ich weiß.« Aber sie hielt ihn nur noch fester. »Sag, daß du mich liebst.«
»Das weißt du doch.«
»Ich weiß es, aber sag es. Ich will es hören.«
Er hielt sie an den Schultern. »Fran, ich liebe dich.«
»Danke«, sagte sie und legte die Wange an seine Schulter. »Ich glaube, jetzt kann ich mich verabschieden. Ich glaube, jetzt kann ich dich gehen lassen.«
Sie umarmten einander in dem verwüsteten Vorgarten.