27
Larry Underwood saß am Morgen des 24.Juni auf einer Bank im Central Park und sah in die Menagerie. Die Fifth Avenue hinter ihm war auf gespenstische Weise mit Autos verstopft, aber sie waren alle stumm, ihre Besitzer entweder tot oder geflüchtet. Viele der eleganten Geschäfte weiter unten an der Fifth waren qualmende Ruinen.
Von seiner Bank aus sah Larry einen Löwen, eine Antilope, ein Zebra und einen Affen. Außer dem Affen waren alle tot. Larry glaubte nicht, daß sie an Grippe gestorben waren; sie waren weiß Gott wie lange nicht gefüttert und getränkt worden, das hatte sie umgebracht, alle außer dem Affen. Aber in den drei Stunden, die Larry schon hier war, hatte dieser sich nur vier- oder fünfmal bewegt. Bis jetzt war der Affe schlau gewesen und weder verdurstet noch verhungert, aber er hatte mit Sicherheit gehörig die Supergrippe. Der Affe litt auf jeden, Fall Schmerzen. Es war eine grausame Welt.
Rechts von Larry schlug die Uhr mit den vielen Tieren elf. Die kleinen Tierfiguren, die sonst alle Kinder in Entzücken versetzten, spielten jetzt vor leeren Rängen. Der Bär stieß in sein Hörn, ein mechanischer Affe, der nie krank werden konnte (er konnte höchstens stehenbleiben) spielte auf dem Tambourin, der Elefant schlug mit dem Rüssel die Trommel. Düstere Töne, Baby, verdammt düstere Töne. Die Suite zum Ende der Welt, arrangiert für mechanische Figuren.
Nach einer Weile verstummte die Uhr, und Larry hörte wieder das heisere Schreien, diesmal glücklicherweise leiser, weiter entfernt. Der Monster-Schreier war an diesem hübschen Vormittag links von Larry, wahrscheinlich auf dem Heckscher-Spielplatz. Vielleicht fiel er dort ins Planschbecken und ertrank.
» Die Monster kommen!« schrie die leise, heisere Stimme. Am Morgen war die Bewölkung aufgerissen, der Tag war hell und heiß. Eine Biene summte an Larrys Nase vorbei, kreiste um eines der nahen Blumenbeete und machte eine Dreipunktlandung auf einer Pfingstrose. Von der Menagerie kam das beruhigende, einschläfernde Summen der Fliegen, die sich auf den toten Tieren niederließen.
»Jetzt kommen die Monster!« Der Monster-Schreier war ein hochgewachsener Mann Mitte Sechzig. Zum ersten Mal hatte Larry ihn in der vergangenen Nacht gehört, die er im Sherry -Netherland verbracht hatte. Als die Finsternis über der unnatürlich ruhigen Stadt lag, hatte die schwac he, heulende Stimme sonor und dunkel geklungen, die Stimme eines wahnsinnigen Jeremias, die durch die Straßen von Manhattan schwebte, von den Wänden zurückgeworfen und durch das Echo verzerrt wurde. Larry hatte schlaflos und bei voller Beleuchtung in einem königlichen Doppelbett gelegen und war auf rationale Weise davon überzeugt gewesen, daß der MonsterSchreier es auf ihn abgesehen hatte und ihn verfolgte, wie es die Wesen in seinen häufigen Alpträumen manchmal taten. Lange Zeit hatte es sich angehört, als würde die Stimme immer näher kommen - Die Monster kommen! Die Monster sind unterwegs! Sie sind schon in den Vororten! - und Larry war überzeugt, daß die Tür der Suite, die er dreifach abgeschlossen hatte, bersten und der Monster-Schreier vor ihm stehen würde... kein menschliches Wesen, sondern ein riesiger Troll mit einem Hundekopf, Fliegenaugen so groß wie Untertassen und mit gefletschten Zähnen.
Aber heute morgen hatte Larry ihn im Park gesehen, und er war nur ein verrückter alter Mann in Kordhosen und Zoris und mit einer Hornbrille, deren einer Bügel von Klebestreifen zusammengehalten wurde. Larry hatte versucht, mit ihm zu sprechen, aber der MonsterSchreier war voll Entsetzen weggelaufen und hatte über die Schulter gerufen, daß die Monster jeden Augenblick in den Straßen auftauchen würden. Er war über einen knöchelhohen Drahtzaun gestolpert und mit einem komischen Platsch-Laut der Länge nach auf den Radfahrweg gestürzt, so daß seine Brille weggeflogen, aber nicht zerbrochen war. Larry war zu ihm gegangen, aber bevor er ihn erreichte, hatte der Monster-Schreier seine Brille aufgerafft und war zur Laubenpromenade hinübergerannt, wobei er unaufhörlich seine Warnungen hinausschrie. Larrys Einstellung zu ihm hatte sich innerhalb von zwölf Stunden von nacktem Entsetzen in äußerste Langeweile und leichte Verärgerung verwandelt.
Im Park waren noch andere Leute, und Larry hatte mit ein paar gesprochen. Sie waren alle gleich, und Larry glaubte nicht, daß er anders war als sie. Sie waren wie betäubt, redeten unzusammenhängend und konnten nicht anders, als einem immer wieder nach dem Ärmel zu greifen, wenn sie mit einem sprachen. Jeder hatte seine Geschichte zu erzählen. Alle Geschichten waren gleich. Ihre Freunde und Verwandten waren tot oder lagen im Sterben. Sie hatten Schüsse auf der Straße gehört, in der Fifth Avenue war ein Großbrand ausgebrochen, und stimmte es, dass Tiffany's nicht mehr existierte? Konnte das sein? Wer würde die Straßen reinigen? Wer den Müll wegschaffen? Sollten sie New York verlassen? Sie hatten gehört, die Straßen nach draußen würden von Truppen bewacht. Eine Frau hatte entsetzliche Angst davor, daß die Ratten aus der Kanalisation hervorkriechen und die Erde in Besitz nehmen würden, was Larry unangenehm an seine eigenen Gedanken am Tag seiner Rückkehr nach New York erinnerte. Ein junger Mann, der aus einer großen Tüte Fritos mampfte, erzählte Larry im Plauderton, er wolle sich den Traum seines Lebens verwirklichen. Er wolle ins Yankee Stadion fahren, nackt um die Aschenbahn laufen und auf dem Schlagmal masturbieren. »Die Chance meines Lebens, Mann«, sagte er augenzwinkernd zu Larry und ging Fritos essend weiter.
Viele Leute im Park waren krank, aber nicht viele waren dort gestorben. Vielleicht hatte der Gedanke sie beunruhigt, sie könnten von den Tieren gefressen werden, und sie waren in ihre Häuser zurückgekrochen, als sie spürten, daß das Ende nahe war. Heute morgen war Larry nur einmal mit dem Tod konfrontiert worden, und das reichte ihm vollauf. Er war die Transverse Number One entlang zur öffentlichen Toilette gegangen. Er hatte die Tür aufgemacht, und ein grinsender Toter, dem die Maden kreuz und quer übers Gesicht krochen, hatte dort gesessen, die Hände auf den nackten Schenkeln, und Larry mit eingefallenen Augen angestarrt. Ein widerlicher süßer Geruch schlug Larry entgegen, als wäre der Mann, der dort saß, ein ranziges Bonbon, eine Süßigkeit, die man bei der ganzen Verwirrung für die Fliegen hatte liegenlassen. Larry schlug die Tür zu, aber zu spät: Er erbrach die Cornflakes, die er zum Frühstück gegessen hatte, und würgte dann trocken, bis er Angst hatte, daß seine Innereien reißen könnten. Gott, wenn Du da bist, hatte er gebetet, während er zur Menagerie zurückstolperte, und wenn Du heute Wünsche entgegennimmst, alter Junge, wünsche ich mir, daß ich heute nicht noch einmal so etwas sehen muß. Die Irren sind schlimm genug, aber so etwas könnte ich nicht noch einmal ertragen. Recht vielen Dank auch.
Während er jetzt auf der Bank saß (der Monster-Schreier war im Augenblick nicht zu hören), dachte Larry an die Baseball-Meisterschaft vor fünf Jahren. Es war gut, sich daran zu erinnern, denn es kam ihm heute so vor, als wäre er damals zum letzten Mal wirklich glücklich gewesen, seine körperliche Verfassung tiptop, sein Verstand ausgeglichen und nicht im Clinch mit sich selbst. Das war gewesen, kurz nachdem er sich von Rudy getrennt hatte. War ein Scheißspiel gewesen, diese Trennung, und sollte er Rudy je wiedersehen (niemals, sagte ihm sein Verstand seufzend), wollte Larry sich entschuldigen. Er würde auf die Knie sinken und Rudys Schuhspitzen küssen, wenn das erforderlich war, Rudy wieder zu versöhnen.
Sie waren mit einem schrottreifen 68er Mercury, der in Omaha seine Innereien ausgeschissen hatte, zu ihrer Reise durch das Land aufgebrochen. Sie wollten eine Weile jobben, per Anhalter nach Westen fahren, wieder ein paar Wochen jobben und weiter trampen. Eine Zeitlang arbeiteten sie auf einer Farm im Westen von Nebraska, gleich unterhalb des Pfannenstiels, und eines Nachts hatte Larry sechzig Dollar beim Pokern verloren. Am nächsten Tag hatte er Rudy bitten müssen, ihm etwas zu leihen, damit er über die Runden kam. Monate später waren sie in L. A. eingetroffen, und Larry hatte als erster einen Job bekommen - wenn man es überhaupt als Arbeit bezeichnen konnte, Geschirr zum Mindestlohn zu spülen. Eines Abends, etwa drei Wochen später, hatte Rudy die Frage des Darlehens angesprochen. Er sagte, er hätte einen Typen getroffen, der eine echt gute Arbeitsvermittlung kannte, Erfolg garantiert, aber die Gebühr betrug fünfundzwanzig Piepen. Was zufälligerweise genau die Summe war, die er Larry nach dem Pokerspiel geliehen hatte. Normalerweise, sagte Rudy, hätte er nie danach gefragt, aber...
Larry hatte protestiert, er habe das geliehene Geld zurückgezahlt. Sie seien quit. Wenn Rudy fünfundzwanzig Mäuse wolle, okay, aber er hoffe, daß Rudy sich das geliehene Geld nicht zweimal zurückzahlen lassen wolle.
Rudy sagte, er wollte kein Geschenk; er wollte das Geld, das Larry ihm schuldete und war nicht daran interessiert, sich die übliche Larry-Underwood-Scheiße anzuhören. Mein Gott, hatte Larry gesagt und versucht, heiter zu lachen, ich hätte nicht geglaubt, daß ich eine Quittung von dir brauche, Rudy. Ich hab' mich wohl geirrt. Es war zu einem handfesten Krach eskaliert und hätte fast mit einer Schlägerei geendet. Zuletzt war Rudy ganz rot im Gesicht geworden. Larry hatte geschrien. Typisch. Ganz typisch. Du bist nun mal so. Ich dachte, ich würde meine Lektion nie lernen, aber ich glaube, jetzt hab' ich's. Verpiß dich, Larry.
Rudy ging, und Larry folgte ihm die Treppen der billigen Pension hinunter und zog den Geldbeutel aus der Tasche. Im Geheimfach hinter den Fotos steckten drei säuberlich zusammengefaltete Zehner, und er warf sie Rudy hinterher. Komm, du dreckiger kleiner Lügner! Nimm es! Nimm das gottverdammte Geld!
Rudy hatte die Tür laut polternd aufgerissen und war in die Nacht hinausgegangen, dem Schicksal entgegen, das die Rudys dieser Welt erwarten können. Er sah nicht zurück. Larry hatte schweratmend oben auf der Treppe gestanden, und nach ungefähr einer Minute hatte er nach seinen drei Zehnern gesucht, sie wieder aufgehoben und weggesteckt.
Er hatte im Lauf der Jahre hin und wieder über den Vorfall nachgedacht
Er hatte die Tür aufgemacht, und ein grinsender Toter, dem die Maden kreuz und quer übers Gesicht krochen, hatte dort gesessen, die Hände auf den nackten Schenkeln, und Larry mit eingefallenen Augen angestarrt. Ein widerlicher süßer Geruch schlug Larry entgegen.
Und war mehr und mehr zu der Überzeugung gekommen, daß Rudy im Recht gewesen war. Inzwischen war er sogar sicher. Selbst wenn er Rudy das Geld zurückgezahlt hatte, sie waren seit Beginn der Grundschule Freunde, und (rückblickend) kam es Larry so vor, als habe ihm für die Samstagnachmittagsvorstellung regelmäßig ein Zehncentstück gefehlt, weil er sich auf dem Weg zu Rudy Lakritzkringel oder ein paar Schokoladenriegel gekauft hatte, oder er hatte sich von Rudy ein Fünfcentstück für sein Schulfrühstück geliehen, oder sieben Cent für Fahrgeld. Über die Jahre mußte er sich von Rudy fünfzig Dollar in Kleingeld gepumpt haben, vielleicht sogar hundert. Larry wußte noch, wie er innerlich zusammengezuckt war, als Rudy ihn um das Geld gebeten hatte. Sein Gehirn hatte die fünfundzwanzig Dollar von den drei Zehndollarscheinen abgezogen und ihm gesagt: Dann sind nur noch fünf Dollar übrig. Deshalb mußt du sie ihm schon zurückgezahlt haben. Ich weiß zwar nicht genau, wann, aber zurückgezahlt habe ich sie. Also keine weitere Diskussion in dieser Angelegenheit. Und es hatte auch keine weitere Diskussion mehr gegeben.
Aber danach war er allein in der Stadt gewesen. Er hatte keine Freunde und hatte nicht einmal versucht, im Cafe in der Encino, wo er arbeitete, welche zu finden. Tatsache war, er glaubte, daß alle, die dort arbeiteten, vom cholerischen Chefkoch bis zur arschwippenden, kaugummikauenden Kellnerin, Dummköpfe waren. Ja, er war wirklich überzeugt gewesen, alle in Tonys 'Teed Bag wären Dummköpfe, außer ihm, dem heiligen, bald erfolgreichen (könnt ihr getrost glauben) Larry Underwood. Da er allein in einer Welt voller Dummköpfe war, hatte er Schmerzen wie ein geprügelter Hund und Heimweh wie ein auf einer einsamen Insel gestrandeter Mann. Er dachte immer öfter daran, sich einen Ameri-Pass der GreyhoundBuslinie zu kaufen und sich nach New York zurückzuschleppen. Noch einen Monat, vielleicht nur noch zwei Wochen, und er hätte es getan ... wäre da nicht Yvonne gewesen.
Er lernte Yvonne Wetterlen im Kino zwei Blocks von der Bar entfernt kennen, wo sie als Strip-Tänzerin arbeitete. Als der zweite Film zu Ende war, hatte sie geweint und im Gang um ihren Sitz herum nach der Brieftasche gesucht. Sie hatte den Führerschein darin, ihr Scheckbuch, den Gewerkschaftsausweis, ihre einzige Kreditkarte, eine Fotokopie ihrer Geburtsurkunde und ihre Sozialversicherungskarte. Larry war zwar überzeugt, daß die Brieftasche gestohlen worden war, sagte es aber nicht, sondern half ihr suchen. Und es schien, als würden wirklich manchmal noch Zeichen und Wunder geschehen, denn er hatte sie drei Reihen weiter gefunden, als das Mädchen gerade aufgeben wollte. Er vermutete, daß die Brieftasche dorthin gewandert war, weil die Zuschauer während der Vorführung des wirklich ziemlich langweiligen Films mit den Füßen gescharrt hatten. Yvonne hatte ihn umarmt und ihm weinend gedankt. Larry, der sich wie Captain America gefühlt hatte, sagte ihr, er würde sie wirklich gerne auf einen Burger einladen, war aber momentan knapp bei Kasse. Yvonne sagte, sie würde einen ausgeben. Larry, der Märchenprinz, war ziemlich sicher gewesen, daß sie das würde.
Sie trafen sich regelmäßig; nach nicht einmal zwei Wochen gingen sie fest miteinander. Larry fand einen besseren Job als Angestellter in einer Buchhandlung und trat nebenher mit einer Gruppe namens The Hotshot Rhythm Rangers & All-Time Boogie Band auf. Der Name war eigentlich das beste an der Gruppe, aber Rhythmusgitarrist war Johnny McCall, der später The Tattered Remnants gründete, und das war eine ziemlich gute Band gewesen.
Larry und Yvonne zogen zusammen, und für Larry änderte sich alles. Teilweise lag es daran, daß er endlich eine Wohnung hatte, eine eigene Wohnung, für die er die halbe Miete bezahlte. Yvonne hängte Vorhänge auf; die beiden kauften ein paar billige gebrauchte Möbelstücke und richteten sie gemeinsam her, andere Mitglieder der Band und Yvonnes Freunde kamen zu Besuch. Die Wohnung war tagsüber hell, und nachts wehte eine duftende kalifornische Brise zum Fenster herein, die nach Orangen zu riechen schien, selbst wenn sie nur Smog mit sich brachte. Manchmal kam niemand, und dann saßen er und Yvonne zu Hause und sahen fern, und manchmal brachte sie ihm eine Dose Bier, setzte sich auf die Lehne seines Sessels und kraulte ihm den Hals. Es war seine eigene Wohnung, ein Zuhause, verdammt noch mal, und manchmal lag er nachts wach im Bett, während Yvonne neben ihm schlief, und staunte, wie gut es ihm ging. Danach schlief er ungestört ein, es war der Schlaf der Gerechten, und er dachte gar nicht mehr an Rudy Marks. Jedenfalls nicht oft.
Sie lebten vierzehn Monate zusammen, und es war eine schöne Zeit, abgesehen von den letzten sechs Wochen, als Yvonne echt unerträglich wurde, und die Baseball-Meisterschaft hatte Larry dann den Rest gegeben. Er arbeitete tagsüber in der Buchhandlung, und abends ging er zu Johnny McCall, wo die beiden - die ganze Gruppe probte nur am Wochenende, weil die beiden anderen Nachtschicht arbeiteten - an neuen Stücken herummachten oder einfach nur die großen Oldies durchzogen, die Johnny immer »Aufheizer« nannte, Songs wie »Nobody but Me« und »Double Shot of My Baby's Love«.
Dann ging er nach Hause, sein Zuhause, wo Yvonne das Essen fertig hatte. Keine Fertiggerichte und so eine Scheiße. Richtiges, selbstgekochtes Essen. Das Mädchen war gut erzogen. Hinterher gingen sie ins Wohnzimmer, schalteten die Glotze ein und schauten sich die Baseball-Spiele an. Und später, Liebe. Alles schien gut zu sein, alles schien ihm zu gehören. Überhaupt nichts hatte ihn bedrückt. Seither war nichts mehr so gut gewesen. Nichts.
Er merkte, daß er ein bißchen weinte, und verspürte momentane Verdrossenheit darüber, daß er auf einer Bank im Central Park sass und in der Sonne weinte wie ein seniler alter Rentner. Aber dann überlegte er sich, daß er ein Recht hatte, über etwas zu weinen, das er verloren hatte, daß er ein Recht hatte, traufig zu sein, wenn es Grund zur Trauer gab.
Seine Mutter war vor drei Tagen gestorben. Als sie starb, lag sie auf einem Rollbett auf dem Flur des Mercy Hospital, eingepfercht mit Tausenden weiterer Patienten, die auch nichts anderes zu tun hatten, als zu sterben. Als es zu Ende ging, kniete Larry neben ihr und glaubte, er würde durchdrehen, weil er seine Mutter sterben sah, und ringsum waren der Gestank von Urin und Kot, das höllische Brabbeln der Kranken, der Erstickenden, der Wahnsinnigen; die Schreie der Trauernden. Zuletzt hatte sie ihn gar nicht mehr erkannt; es gab keinen letzten Augenblick des Wiedererkennens. Ihre Brust hatte sich ein letztes Mal gehoben und langsam gesenkt, wie das Gewicht eines Automobils sich auf einen Platten senkt. Er kauerte zehn Minuten oder länger neben ihr, wußte nicht, was er machen sollte und dachte auf verwirrte Weise, daß er warten sollte, bis der Totenschein ausgestellt war oder jemand ihn fragte, was passiert war. Aber es war eindeutig, was passiert war; es passierte ja überall. Und ebenso eindeutig war die Klinik ein Irrenhaus. Kein ernster junger Arzt würde vorbeikommen, sein Beileid aussprechen und dann die Maschinerie bei Sterbefällen in Gang setzen. Früher oder später würde seine Mutter einfach wie ein Sack Sägemehl weggeschleppt werden, und das wollte er nicht mit ansehen. Ihre Handtasche war unter dem Bett. Er fand einen Kugfelschreiber, eine Büroklammer und ihr Scheckbuch darin. Er riß einen Scheckbeleg aus dem Buch, schrieb Namen, Adresse und, nach kurzem Zögern, ihr Alter auf die Rückseite. Er heftete den Zettel mit der Büroklammer an ihre Bluse und fing an zu weinen. Er küßte sie auf die Wange und entfernte sich weinend. Er kam sich wie ein Deserteur vor. Auf der Straße war es ein wenig besser gewesen, obwohl die Straßen da noch voll von Verrückten, Kranken und marschierenden ArmeeEinheiten gewesen waren. Jetzt konnte er hier auf der Bank sitzen und um allgemeinere Dinge trauern: daß seine Mutter nie in den Genuß ihrer Rente gekommen war, daß seine Karriere aus und vorbei war, um die Zeit in L. A., als er mit Yvonne die Baseballspiele angesehen und gewußt hatte, später würden sie ins Bett gehen und miteinander schlafen, und um Rudy. Am meisten trauerte er um Rudy und wünschte sich, er hätte Rudy die fünfundzwanzig Dollar grinsend und achselzuckend gegeben und sich damit die sechs verlorenen Jahre erspart.
Der Affe starb um Viertel vor zwölf.
Er saß auf seinem Ast, wo er apathisch hockte, die Hände unterm Kinn, dann flatterten seine Lider, und er kippte nach vorne und schlug mit einem letzten gräßlichen Platsch auf den Betonboden. Larry wollte nicht mehr sitzen bleiben. Er stand auf und schlenderte rastlos zur Laubenpromenade mit ihrem großen Orchesterpavillon hinüber. Vor fünfzehn Minuten hatte er weit weg den MonsterSchreier gehört, aber jetzt schienen die einzigen Geräusche im Park das Klappern seiner Absätze auf dem Beton und das Zwitschern der Vögel zu sein. Vögel bekamen anscheinend keine Grippe. Gut für sie.
Als er sich dem Orchesterpavillon näherte, sah er, daß eine Frau davor auf einer Bank saß. Sie mochte um die Fünfzig sein, hatte sich aber große Mühe gegeben, jünger auszusehen. Sie trug teuer aussehende graugrüne Hosen und eine schulterfreie Bauernbluse aus Seide... abgesehen davon, dachte Larry, daß Bauern sich seines Wissens keine Seide leisten konnten. Als sie Larrys Schritte hörte, sah sie sich um. Sie hatte eine Tablette in der Hand und warf sie sich beiläufig in den Mund wie eine Erdnuß.
»Hi«, sagte Larry. Ihr Gesicht war gelassen, ihre Augen blau. Aufgewecktheit und Intelligenz leuchteten darin. Sie trug eine Brille mit Goldrand, und ihre Handtasche war mit etwas abgesetzt, das eindeutig wie Nerz aussah. Sie trug vier Ringe an den Fingern: einen Trauring, zwei Diamanten und einen Smaragd so groß wie ein Katzenauge.
»Äh, ich bin nicht gefährlich«, sagte er. Es war vermutlich lächerlich, so etwas zu sagen, schätzte er, aber es sah tatsächlich so aus, als hätte sie ungefähr 20000 Dollar an den Fingern. Natürlich konnte der Schmuck unecht sein, aber sie sah nicht wie eine Frau aus, die Messing und Zirkone tragen würde.
»Nein«, sagte sie, »Sie sehen nicht gefährlich aus. Und Sie sind nicht krank.« Beim letzten Wort hob sie die Stimme ein wenig, so daß der Satz halb wie eine höfliche Frage klang. Sie war nicht so gelassen, wie es auf den ersten Blick schien; an ihrem Hals zuckte ein Muskel, und hinter der strahlenden Intelligenz ihrer blauen Augen lag der gleiche dumpfe Schock, den Larry heute morgen beim Rasieren in den eigenen Augen gesehen hatte.
»Nein, ich glaube nicht. Sind Sie's denn?«
»Kein bißchen. Wissen Sie, daß Sie Eiscremepapier am Schuh haben?«
Er schaute nach unten und sah, daß es stimmte. Er wurde rot, weil er glaubte, sie hätte ihm im gleichen Tonfall gesagt, daß sein Hosenstall offen stand. Er hob das Bein und versuchte, es zu entfernen.
»Sie sehen aus wie ein Storch. Versuchen Sie es im Sitzen. Ich heiße Rita Blakemoor.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Larry Underwood.«
Er setzte sich. Sie gab ihm die Hand, er schüttelte sie leicht und spürte die Ringe an seine Finger drücken. Dann entfernte er mit spitzen Fingern das Eiscremepapier vom Schuh und warf es artig in einen Behälter neben der Bank, auf dem stand: ES IST IHR PARK! HALTEN SIE IHN SAUBER! Die ganze Prozedur kam ihm komisch vor. Er warf den Kopf zurück und lachte. Es war das erste herzliche Lachen, seit er nach Hause gekommen war und seine Mutter auf dem Fußboden der Wohnung vorgefunden hatte, und er stellte erleichtert fest, daß Lachen immer noch schön war. Es stieg aus dem Bauch empor und kam auf die altbekannte fröhliche Scheißdoch-drauf Weise zwischen den Zähnen heraus. Rita Blakemoor lächelte ihn an und lachte mit ihm, und wieder fiel ihm ihre ungezwungene und doch elegante Schönheit auf. Sie sah aus wie eine Frau aus einem Roman von Irwin Shaw. Nightwork vielleicht, oder derjenige, der für das Fernsehen verfilmt wurde, als er noch ein Kind war.
»Als ich Sie kommen hörte, hätte ich mich fast versteckt«, sagte sie.
»Ich dachte schon, Sie wären vielleicht der Mann mit der kaputten Brille und der merkwürdigen Philosophie.«
»Der Monster-Schreier?«
»Nennen Sie ihn so, oder nennt er sich selbst so?«
»Ich nenne ihn so.«
»Sehr passende Bezeichnung«, sagte sie und öffnete ihre (vielleicht) mit Nerz abgesetzte Tasche, der sie eine Packung Mentholzigaretten entnahm. »Er erinnert mich an einen wahnsinnigen Diogenes.«
»Ja, er sucht ein anständiges Monster«, sagte Larry und lachte wieder.
Sie zündete sich eine Zigarette an und stieß den Rauch aus.
»Er ist auch nicht krank«, sagte Larry. »Aber die meisten anderen.«
»Dem Pförtner in unserem Gebäude geht es ausgezeichnet«, sagte Rita. »Er tut sogar noch Dienst. Als ich heute morgen weggegangen bin, habe ich ihm einen Fünfer gegeben. Ich weiß nicht, ob ich ihm das Trinkgeld gegeben habe, weil er gesund war oder weil er Dienst tat. Was glauben Sie?«
»Ich kenne Sie nicht gut genug, das zu beantworten.«
»Nein, natürlich nicht.« Sie verstaute die Zigaretten wieder in ihrer Handtasche, und er sah, daß sie einen Revolver darin hatte.
»Der gehörte meinem Mann. Er war leitender Karrierist bei einer großen New Yorker Bank. So hat er sich selbst immer genannt, wenn jemand ihn gefragt hat, wie er sein Geld für die Cocktailzwiebeln verdiente. Ich-bin-leitender-Karrierist-bei-einergroßen-New-Yorker-Bank. Er starb vor zwei Jahren. Er war bei einem Essen mit einem dieser Araber, die immer aussehen, als hätten sie jedes sichtbare Stück Haut mit Brylcrem eingerieben. Er bekam einen Herzanfall. Er starb mit umgebundener Krawatte. Glauben Sie, das könnte für unsere Generation das Äquivalent für das Sprichwort sein, daß man in den Stiefeln stirbt? Harry Blakemoor starb mit umgebundener Krawatte. Das gefällt mir, Larry.«
Ein Fink landete vor ihnen und pickte auf dem Boden herum.
»Er hatte wahnsinnige Angst vor Einbrechern, darum hatte er diese Waffe. Ob Revolver wirklich rückstoßen und großen Lärm machen, wenn sie losgehen, Larry?«
Larry, der in seinem ganzen Leben noch keinen Revolver abgefeuert hatte, sagte: »Bei einer so kleinen Waffe wird der Rückstoß nicht so stark sein. Ist es ein Achtunddreißiger?«
»Ich glaube, es ist ein Zweiunddreißiger.« Sie nahm ihn aus der Tasche, und Larry sah, daß sie eine ganze Anzahl von Fläschchen mit Tabletten bei sich hatte. Diesmal folgte sie seinem Blick nicht. Sie sah zu einem kleinen Zedrachbaum, der etwa fünfzehn Schritte entfernt stand. »Ich glaube, ich versuche es. Meinen Sie, daß ich den Baum da drüben treffe?«
»Ich weiß nicht«, sagte er besorgt. »Aber ich finde, Sie sollten nicht...«
Sie drückte ab, und die Waffe ging mit einem eindrucksvollen Knall los.
Der Zedrachbaum hatte ein kleines Loch. »Ins Schwarze«, sagte sie und blies den Rauch vom Lauf wie ein Revolverheld.
»Echt gut«, sagte Larry, und als sie die Waffe in die Tasche zurücklegte, schlug sein Herz wieder in normalem Rhythmus.
»Auf einen Menschen könnte ich damit niemals schießen. Und bald wird keiner mehr da sein, auf den man schießen könnte, nicht wahr?«
»Oh, ich weiß nicht so recht.«
»Sie haben meine Ringe betrachtet. Möchten Sie einen haben?«
»Hm? Nein!« Er wurde wieder rot.
»Als Bankier glaubte mein Mann an Diamanten. Er glaubte an sie, wie die Baptisten an die Offenbarung glauben. Ich habe jede Menge Diamanten, und alle sind versichert. Wir besaßen nicht nur ein Stück vom Fels der Zeiten, mein Harry und ich, manchmal glaubte ich, wir hätten ein Pfandrecht auf das ganze verdammte Ding. Aber wenn jemand meine Diamanten haben wollte, würde ich sie ihm geben. Es sind schließlich nur Steine, nicht wahr?«
»Das stimmt wohl.«
»Natürlich«, sagte sie, und ihr Halsmuskel zuckte wieder leicht. »Und wenn plötzlich ein Bandit vor mir stehen würde und sie haben wollte, würde ich sie ihm nicht nur überlassen, ich würde ihm außerdem die Adresse von Cartier's geben. Die haben eine viel schönere Kollektion als ich.«
»Was haben Sie jetzt vor?« fragte Larry.
»Was würden Sie vorschlagen?«
»Ich weiß wirklich nicht«, sagte Larry seufzend.
»Das wäre genau meine Antwort gewesen.«
»Wissen Sie was? Ich habe heute morgen einen Typen getroffen, der sagte, er wolle ins Yankee Stadion gehen und auf dem Schlagmal wi... masturbieren.« Er merkte, daß er wieder rot wurde.
»Da muß er ja entsetzlich lange laufen«, sagte sie. »Warum haben Sie ihm nicht etwas Näheres vorgeschlagen?« Sie seufzte, und der Seufzer ging in ein Zittern über. Dann machte sie die Handtasche auf, nahm eines dieser Tablettenfläschchen heraus und warf sich eine Gel-Kapsel in den Mund.
»Was ist das?« fragte Larry.
»Vitamin E«, sagte sie mit einem glitzernden falschen Lächeln. Der Muskel an ihrem Hals zuckte noch ein- oder zweimal, dann hörte er wieder auf. Sie wurde wieder gelassen.
»In den Bars ist kein Mensch«, sagte Larry plötzlich. »Ich war bei Pat's an der Forty-third, und es war völlig leer. Es gibt da eine große Mahagoni-Bar, und ich ging dahinter und schenkte mir ein Wasserglas Johnny Walker ein. Dann mochte ich dort nicht mehr bleiben. Ich ließ das Glas auf der Bar stehen.und ging raus.«
Sie seufzten beide im Chor.
»Sie sind angenehme Gesellschaft«, sagte sie. »Ich mag Sie sehr. Und ich bin froh, daß Sie nicht verrückt sind.«
»Danke, Mrs. Blakemoor.« Er war überrascht und erfreut.
»Rita. Ich heiße Rita.«
»Okay.«
»Haben Sie Hunger, Larry?«
»Das kann man wohl sagen.«
»Vielleicht würden Sie die Dame zum Essen ausführen.«
»Es wäre mir ein Vernügen.«
Sie stand auf und bot ihm mit einem etwas herablassenden Lächeln den Arm. Als er sich bei ihr einhakte, roch er ihr Duftkissen, das bei ihm tröstliche und beunruhigend erwachsene, ja, alte Assoziationen wachrief. So ein Duftkissen hatte seine Mutter immer bei sich gehabt, wenn sie mit ihm ins Kino gegangen war.
Aber er vergaß es gleich wieder, während sie aus dem Park hinaus und die Fifth Avenue entlanggingen, weg von dem toten Affen, dem Monster-Schreier und der verderbenden Süßigkeit, die ewig in der öffentlichen Toilette an der Transverse Number One saß. Sie plapperte unaufhörlich, und später konnte er sich an nichts von dem erinnern, was sie geplappert hatte (doch, an eines: Sie hatte immer davon geträumt, sagte sie, mit einem gutaussehenden jungen Mann die Fifth Avenue entlangzugehen, einem jungen Mann, der ihr Sohn hätte sein können, es aber nicht war), aber er dachte später oft an diesen Spaziergang, besonders, als sie langsam auseinanderfiel wie ein schlampig gefertigtes Spielzeug. An ihr schönes Lächeln, ihr leichtes zynisches und lässiges Geplapper und das leise Rascheln ihrer Hosen.
Sie gingen in ein Steak-House, und Larry kochte, zwar ein wenig ungeschickt, aber sie applaudierte bei jedem Gang: Steak, Pommes Frites, Instant-Kaffee und Erdbeerrhabarbertorte.