Zwei Tage vergingen, ohne daß sie eine Nachricht von Steff erhielten. Par und Coll Ohmsford und Morgan Leah verbrachten ihre Zeit im Waisenhaus damit, daß sie einige notwendige Reparaturen an dem alten Haus ausführten und Elise und Jilt bei den Kindern halfen. Es waren warme Tage, gerade richtig zum Faulenzen, die vom Klang der Kinderstimmen erfüllt waren. Die Welt innerhalb der Mauern des weiträumigen Hauses und des schattigen Gartens hatte nichts gemein mit der Welt, die draußen war. Hier gab es Essen, warme Bet-ten, Behaglichkeit und Liebe. Der Rest der Stadt verblaßte zu unangenehmen Erinnerungen – die Hütten, die gebrochenen Menschen, die verwahrlosten Kinder, die fehlenden Mütter und Väter, die niedergeschlagenen Blicke und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Par dachte mehrere Male daran, das Waisenhaus zu verlassen und noch einmal durch die Straßen von Culhaven zu gehen; auf keinen Fall wollte er fort, ohne sich noch einmal den Anblick eingeprägt zu haben, der, das wußte er, ihm immer im Gedächtnis bleiben würde. Aber die alten Frauen rieten ihm ab. Es war zu gefährlich, in der Stadt herumzuspazieren. Unabsichtlich hätte er Aufmerksamkeit erregen können. Es war besser, hier zu bleiben und die Welt draußen so zu belassen, wie sie war; beide Welten mußten allein ihr Bestes versuchen.
»Es gibt nichts, was wir tun könnten, um das Elend der Zwerge zu lindern«, erklärte Jilt bitter. »Denn dieses Elend hat bereits tiefe Wurzeln geschlagen.«
Par befolgte ihren Rat, fühlte sich aber unglücklich. Der innere Zwiespalt quälte ihn. Er konnte nicht so tun, als wüßte er nicht, was mit den Menschen in der Stadt geschah.
Am dritten Tag ihres Wartens marschierte frühmorgens eine Abteilung der Föderationssoldaten die Straße herauf und in den Hof herein. Ihr Führer war ein Sucher. Elise schickte die Talbewohner und den Hochländer auf den Dachboden und ging mit Jilt nach draußen, um den Besuchern entgegenzutreten. Vom Dachboden aus beobachteten die drei Versteckten, was geschah. Die Kinder mußten sich auf der Veranda in Reih und Glied aufstellen. Obwohl sie alle noch zu klein waren, als daß sie jemandem hätten von Nutzen sein können, wurden drei davon ausgesucht. Elise erhob Einwände, aber sie konnte nichts ausrichten. Sie und Jilt waren gezwungen, hilflos mitanzusehen, wie die drei fortgeführt wurden.
Danach waren alle niedergedrückt, selbst die lebhaftesten der Kinder. Jilt zog sich an ein Fenster zurück, von wo sie, während sie an ihrer Stickerei weiterarbeitete, den vorderen Teil des Hofes überblicken und die Kinder im Auge behalten konnte. Sie sprach mit niemand ein Wort. Elise verbrachte die meiste Zeit in der Küche beim Backen.
Am späten Nachmittag konnte Par sein Unbehagen nicht länger beherrschen und ging in die Küche hinunter, um mit Elise zu reden. Er fand sie, wie sie an einem der langen Küchentische saß und gedankenverloren an ihrer Teetasse nippte. Er fragte sie, wie es geschehen konnte, daß die Zwerge so schlecht behandelt wurden, daß die Soldaten der Föderation – Südländer wie er selbst – sich zu solcher Grausamkeit hergaben.
Elise lächelte traurig, nahm seine Hand und zog ihn zu sich herunter. »Par«, sagte sie leise. Sie hatte in den letzten Tagen angefangen, ihn beim Namen zu nennen, ein eindeutiges Zeichen dafür, daß sie ihn jetzt als eines ihrer Kinder betrachtete. »Par, es gibt Dinge, die man nicht erklären kann. Manchmal glaube ich, daß es für all das einen Grund geben muß, und dann wiederum glaube ich, daß es keinen Grund geben kann. Weißt du, es hat alles vor langer Zeit begonnen. Der Krieg hat vor mehr als hundert Jahren stattgefunden. Ich kenne niemand, der sich an die Anfänge erinnern könnte, und wenn man nicht weiß, wie alles angefangen hat, wie kann man dann wissen, warum es angefangen hat?« Sie umarmte Par. »Es tut mir leid, aber ich kann dir keine bessere Antwort geben. Ich glaube, ich habe die Suche nach einer Antwort schon vor langer Zeit aufgegeben. Meine ganze Energie brauche ich für die Kinder hier. Ich würde sagen, daß mir Fragen nicht mehr wichtig sind und daß ich deshalb auch nicht mehr nach Antworten suche. Ich lebe nur noch dafür, das Leben der Kinder zu retten.«
Par nickte schweigend, doch die Antwort befriedigte ihn nicht. Für alles, was passierte, gab es einen Grund, selbst wenn der Grund auf den ersten Blick nicht erkennbar war. Die Zwerge hatten den Krieg gegen die Föderation verloren; sie stellten jetzt für niemand eine Bedrohung dar. Warum also wurden sie systematisch unterdrückt?
In dieser Nacht schlief Par unruhig und lag schon wach, als Elise vor Tagesanbruch in den Schlafraum schlüpfte, um ihm zuzuflüstern, daß Teel gekommen sei, um sie abzuholen. Schnell verließ er das Bett und weckte Coll und Morgan. Sie zogen sich an, nahmen ihre Waffen und begaben sich in die Küche hinunter, wo Teel wartete, ein Schatten an der Tür. Elise brachte ihnen heißen Tee und Brot und küßte sie, Jilt warnte sie eindringlich vor den Gefahren, die draußen auf sie lauerten. Teel führte sie in die Nacht hinaus.
Die Morgendämmerung hatte sich noch nicht einmal durch einen kleinen Lichtschein in den vor ihnen stehenden Bäumen angekündigt, und sie huschten leise durch die schlafende Stadt, vier Gespenster auf der Suche nach einem Geist. Kaum hatten sie den Wald erreicht, tauchte Steff aus der Dunkelheit vor ihnen auf. An seinem Gürtel trug er mehrere lange Messer, und eine riesige Keule hing auf seinem Rücken. Er sprach kein Wort, als er anstelle von Teel die Führung übernahm und ihnen voranging. Im Osten schimmerte bereits das Tageslicht, und der Himmel begann sich zu erhellen. Die Sterne zogen sich zurück, und der Mond verschwand. Frost glitzerte auf Blättern und Gräsern wie funkelnde Kristalle.
Sie marschierten in einem gemächlichen Tempo, immer in Richtung Norden. Sie unterhielten sich wenig, und schon gar nicht darüber, wohin sie gingen. Steff schien nicht gewillt, ihnen Auskunft zu erteilen, und weder die Männer aus dem Tal noch der Hochländer verspürten Lust zu fragen. Wenn der Zwerg sich ihnen mitteilen wollte, würde er dies tun.
Der Tag verstrich schnell, und bereits am Nachmittag erreichten sie die südlichen Ausläufer des Wolfsktaaggebirges. Sie setzten ihren Marsch ungefähr eine Stunde fort, bis sich der Wald zu lichten begann. Steff führte sie in der Nähe eines kleinen Baches zu einem umgefallenen Baumstamm und machte es sich darauf bequem.
»Falls man den Gerüchten Glauben schenken kann – und wir haben nichts als Gerüchte –, hält sich Walker Boh im Dunkelstreif auf. Um dorthin zu gelangen, müssen wir das Wolfsktaaggebirge überqueren und von dort nach Osten zum Dunkelstreif. Natürlich gibt es andere Wege – manche würden vielleicht sagen, sicherere Wege. Wir könnten das Wolfsktaaggebirge im Osten oder Westen umgehen, würden aber auf diese Weise fast mit Sicherheit auf Föderationssoldaten oder Gnome stoßen. Im Wolfsktaag dagegen gibt es weder das eine noch das andere. In den Bergen halten sich zu viele Geister und Dinge der alten Magie auf; die Gnome sind abergläubisch und halten sich deshalb davon fern. Die Föderation hat ganze Abteilungen hineingeschickt, die nie wieder zurückgekommen sind. Um die Wahrheit zu sagen, haben sich die meisten einfach verirrt, weil sie den Weg nicht kannten. Aber ich kenne den Weg.«
Seine Zuhörer blieben still. Schließlich sagte Coll: »Ich erinnere mich dunkel, daß einige unserer Vorfahren in ziemliche Schwierigkeiten geraten sind, als sie vor Jahren dieselbe Route genommen haben.«
Steff zuckte die Schultern. »Davon weiß ich nichts. Ich weiß bloß, daß ich diese Berge schon oft überquert habe.«
Coll schüttelte den Kopf und sah Par an. »Das alles ist mir nicht geheuer.«
»Tja, wir haben die Wahl zwischen dem Teufel, den wir kennen, und dem, den wir nur vermuten«, erklärte Steff barsch. »Zwischen Föderationssoldaten und ihren Verbündeten, den Gnomen, die ganz sicher dort draußen auf uns warten, und Geistern und Gespenstern, die wir nicht kennen.«
»Schattenwesen«, sagte Par leise.
Seinem Wort folgte ein kurzes Schweigen.
Steff lächelte grimmig. »Hast du’s noch nicht gehört, Talbewohner? Es gibt keine Schattenwesen. Das sind alles bloß Gerüchte. Und außerdem kannst du uns mit deiner Magie doch beschützen, oder nicht? Du und der Hochländer hier, wer könnte sich da schon an uns vergreifen wollen?« Sein Blick bohrte sich abwechselnd in die Anwesenden. »Also kommt. Keiner hat je behauptet, daß diese Reise ein Vergnügen werden würde.«
Darauf wußte keiner etwas zu erwidern, und sie überließen die Entscheidung dem Zwerg. Schließlich befanden sie sich hier in seinem Land, nicht dem ihren, und er kannte sich darin aus. Sie mußten sich, wollten sie Walker Boh finden, auf ihn verlassen.
Sie verbrachten die Nacht in einer Kiefernlichtung, in-mitten des Geruchs der Nadeln, der wilden Blumen und der frischen Luft. Ihr Schlaf blieb ungestört. Bei Tagesanbruch führte Steff sie in die Berge des Wolfsktaag hinein. Sie erreichten den Noosepaß, überquerten die Hängebrücke, die in der Mitte der Schlucht von einer Seite zur anderen führte, und kletterten durch die bewaldeten Hänge nach oben.
Der Morgen ging in den Nachmittag über, und sie erreichten die nach Norden verlaufenden Bergkämme. Jetzt empfanden sie das Reisen als angenehm, denn die Sonneschien warm und freundlich auf sie herab, und die Ängste und Zweifel der vorhergegangenen Nacht begannen sich aufzulösen. Vögel zwitscherten in den Bäumen, und kleine Tiere tummelten sich im Unterholz. Die Brüder und der Hochländer lächelten einander zu, Steff brummte unverständlich vor sich hin, und nur Teel zeigte keine Gefühlsregung.
Als die Nacht hereinbrach, errichteten sie auf einer Wiese, die von Tannen und Zedern umgeben war, ihr Lager. Es war fast windstill, und die Wärme des Tages verweilte in diesem geschützten Tal noch lange, nachdem die Sonne untergegangen war.
Sterne funkelten am dunklen Nachthimmel, und der Mond hing wie eine leuchtende Scheibe am westlichen Horizont. Par rief sich noch einmal die Weisung des alten Mannes ins Gedächtnis – daß sie am ersten Tag des neuen Mondes am Hadeshorn sein sollten. Die Zeit zerrann ihnen zwischen den Fingern.
Er dachte in dieser Nacht, als sie sich um das Feuer versammelten, nicht so sehr an den alten Mann oder Allanon.
Er dachte vielmehr an Walker Boh.
Er hatte seinen Onkel seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen, aber seine Erinnerung war seltsam klar. Er war damals noch ein Junge gewesen, und sein Onkel schien schon damals ziemlich geheimnisvoll – ein großer, kräftiger Mann mit dunklen Augen, die geradewegs durch einen hindurchsehen konnten. Er war immer freundlich zu ihm gewesen, auch wenn er meist in sich gekehrt schien, irgendwie zwar im Hier und Jetzt, aber gleichzeitig auch wieder ganz weit weg.
Man erzählte sich schon damals Geschichten über Walker Boh, aber Par konnte sich nur an ganz wenige erinnern. Es hieß, er verfüge über magische Kräfte, obgleich keiner genau wußte, über welche Art magischer Kraft. Er war ein Nachkomme von Brin Ohmsford, besaß jedoch nicht die Magie des Wunschlieds. Seit zehn Generationen war keinem in seiner Familie diese Gabe zuteil geworden. Brin hatte sie mit ins Grab genommen. Die Zauberkraft, über die sie verfügt hatte, war natürlich anders gewesen als die ihres Bruders Jair. Während Jair mit dem Wunschlied lediglich Bilder heraufbeschwören konnte, war seine Schwester in der Lage, die Wirklichkeit zu verändern. Ihre Zauberkraft war bei weitem die stärkere. Dennoch war ihr Ende auch das Ende der Zauberkraft gewesen, wohingegen die Jairs die Zeit überdauert hatte.
Par erinnerte sich daran, daß sein Onkel manchmal wußte, was sich an einem anderen Ort zutrug. Er erinnerte sich an Begebenheiten, bei denen sein Onkel nur durch seinen Blick Dinge, ja selbst Menschen bewegen konnte. Manchmal konnte er einem auch sagen, was man gerade dachte. Natürlich war es möglich, daß sein Onkel einfach klug genug gewesen war, Gedanken zu erraten.
Aber dann war da noch die Sache, wie er mit Schwierigkeiten umgehen konnte – er war in der Lage, sie so schnell verschwinden zu lassen, wie sie gekommen waren. Jede bedrohliche Situation schien sich, sobald sie mit ihm in Berührung kam, in nichts aufzulösen. Das erschien Par als eine Art Zauberkraft.
Der Onkel hatte Par immer ermutigt, wenn er bemerkte, daß der Junge versuchte, das Wunschlied anzuwenden. Er hatte Par ermahnt, vorsichtig zu sein im Umgang mit den Bildern und in der Art und Weise, wie er seine Magie vor anderen präsentierte. Walker Boh war einer der wenigen Menschen in seinem Leben, die keine Angst hatten vor seiner Zauberkraft.
Während er so mit den anderen in der Stille der Berge saß und ihm die Erinnerungen an seinen Onkel durch den Kopf gingen, wurde seine Neugier von neuem entfacht, so daß er schließlich Steff fragte, welche Geschichten er über Walker Boh gehört habe.
Steff sah ihn nachdenklich an. »Die meisten stammen von Waldmännern, Jägern, Fährtensuchern und dergleichen – ein paar von Zwergen, die wie ich im Widerstand kämpfen und weit genug in den Norden gekommen sind, um von ihm zu hören. Man sagt, daß die Gnome ihn fürchten wie den leibhaftigen Teufel. Angeblich halten sie Walker Boh für einen Geist. Manche glauben, daß er bereits mehrere hundert Jahre alt und ein Druide ist.« Er blinzelte. »Aber das ist wahrscheinlich alles nur Gerede, wenn er dein Onkel ist.«
Par nickte. »Ich kann mich nicht daran erinnern, daß irgend jemand gesagt hätte, er sei älter als normale Menschen.«
»Ein Bursche hat geschworen, daß dein Onkel mit den Tieren spricht und daß die Tiere ihn verstehen. Er behauptete, selbst Zeuge gewesen zu sein, wie dein Onkel auf eine Bergkatze, die so groß war wie ein Präriebüffel, zugingund sich mit ihr unterhielt, so wie ich mich mit dir unterhalte.«
»Es heißt, daß auch Cogline dazu in der Lage war«, warf Coll ein. »Er hatte eine Katze mit Namen Whisper, die ihm überallhin folgte. Die Katze beschützte seine Nichte Kimber. Sie hieß ebenfalls Boh, nicht wahr, Par?«
Par nickte; er erinnerte sich daran, daß sein Onkel sich nach der Familie seiner Mutter Boh genannt hatte. Aber er konnte sich nicht entsinnen, daß sein Onkel irgendwann den Namen Ohmsford gebraucht hätte.
»Es gibt da noch eine Geschichte«, sagte Steff. »Ich hab’ sie von einem Fährtensucher gehört, der den tiefen Anar besser kannte als jeder andere und, glaube ich, auch als Walker Boh. Er hat mir erzählt, daß ein Etwas, das in den Tagen der alten Magie geboren wurde, aus dem Rabenhorn ausbrach und vor zwei Jahren in den Dunkelstreif kam und sich von dem Leben ernährte, das es dort vorgefunden hat. Walker Boh zog aus, um es zu finden; als sie aufeinandertrafen, drehte sich die Kreatur um und ging dorthin zurück, wo sie hergekommen war – einfach so.« Steff schüttelte den Kopf und rieb sich sein Kinn. »Das gibt einem zu denken, oder nicht?« Er streckte seine Hände zum Feuer aus. »Genau aus diesem Grund fürchte ich ihn – weil es anscheinend nicht viel auf dieser Welt gibt, vor dem er sich fürchtet. Er kommt und geht wie ein Geist, heißt es; er taucht auf und ist im nächsten Augenblick schon wieder verschwunden, gleich einem Schatten der Nacht. Ich frage mich, ob er sich überhaupt vor den Schattenwesen fürchtet. Ich glaube nicht.«
»Vielleicht sollten wir ihn fragen«, schlug Coll lächelnd vor.
Steff strahlte. »Ja, vielleicht sollten wir das«, stimmte er zu. »Ich schlage vor, daß du ihn fragst!« Er lachte. »Dabei fällt mir etwas ein. Hat der Hochländer euch schon erzählt, wie wir uns kennengelernt haben?«
Die Brüder schüttelten den Kopf, und ungeachtet des lauten Brummens aus Morgans Richtung fing Steff an, die Geschichte zum Besten zu geben. Vor ungefähr zehn Mona-ten war Morgan am Ostende des Regenbogensees, an der Mündung des Silberflusses, beim Fischen, als ein Windstoß sein Boot umwarf. Seine ganze Ausrüstung ging verloren, und er war gezwungen, sich mühsam an Land zu retten. Vollkommen durchnäßt versuchte er vergeblich, ein Feuer zu machen, als Steff des Weges kam und ihm half, trocken zu werden.
»Wenn ich damals kein Mitleid mit ihm gehabt hätte, wäre er erfroren«, endete Steff. »Wir redeten und erzählten. Sofort machte er sich dann auf den Weg nach Culhaven, um sich zu vergewissern, daß das Leben im Land der Zwerge wirklich so schrecklich war, wie ich es geschildert hatte.« Er warf dem verdrießlich dreinblickenden Hochländer einen freundlichen Blick zu. »Danach ist er immer wiedergekommen und hat auch jedesmal ein kleines Geschenk für Elise und Jilt mitgebracht. Ich nehme an, sein Gewissen läßt ihn kommen.«
»Ach, du lieber Himmel!« ließ Morgan verlegen hören.
Steff lachte, und sein durch die Stille dröhnendes Lachen erfüllte die Nacht. »Genug also, stolzer Hochlandprinz! Wir wenden uns einem anderen Thema zu.« Er verlagerte sein Gewicht und sah Par an. »Der Fremde, der, der dir den Ring gegeben hat – laßt uns über ihn reden! Ich weiß einiges über die Geächteten, die zur Bewegung gehören – größtenteils eine ziemlich unnütze Bande. Was ihnen fehlt, ist die richtige Disziplin. Die Zwerge haben sich angeboten, mit ihnen zu arbeiten, aber sie haben das Angebot bis jetzt noch nicht angenommen. Der Ring, den du bekommen hast – trägt er das Zeichen eines Falken?« Par saß plötzlich aufrecht. »Ja, Steff. Weißt du, wem er gehört?« Steff lächelte. »Ja und nein. Wie ich schon gesagt habe, sind die Geächteten ein disziplinloser Haufen – aber das könnte sich ändern. Es gehen Gerüchte um, daß einer die Sache in die Hand nehmen will. Er gibt sich nicht mit Namen zu erkennen, sondern benutzt das Zeichen des Falken.« »Das muß derselbe Mann sein«, erklärte Par. »Er wollte auch uns seinen Namen nicht nennen.« Steff zuckte die Schultern. »Namen werden in diesen Zeiten selten preisgegeben. Aber die Art, wie er eure Flucht vor den Suchern bewerkstelligt hat – ja, das ist der Mann, von dem ich immer wieder höre.« »Er war ganz schön mutig in jener Nacht«, erwiderte Par. Sie unterhielten sich noch eine Zeit lang über den Fremden, über die Geächteten. Obwohl sie nicht mehr auf Walker Boh zu sprechen kamen, war Par zufrieden mit dem, was er bisher erfahren hatte. Er war sich sicher über seinen Onkel. Für ihn war es egal, wie sehr sich die anderen, Steff und die übrigen, vor Walker Boh fürchteten; für ihn würde er so lange der bleiben, der er für ihn als kleiner Junge gewesen war, bis er eines Besseren belehrt würde – und er hatte das komische Gefühl, daß dies niemals geschehen würde. Ihr Gespräch geriet ins Stocken, bis einer nach dem anderen sich unter seine Decke verkroch. Par wollte, bevor sie sich schlafen legten, Holz ins Feuer legen und stapfte zum Waldrand. Er war gerade dabei, die vom Wind imletzten Winter heruntergebrochenen Äste einer alten Zeder aufzusammeln, als er plötzlich Teel gegenüberstand. Ihr vermummtes Gesicht schien gespannt, ihre Augen fest auf ihn gerichtet.
»Kannst du mir die Magie zeigen?« fragte sie leise.
Par starrte sie an. Er hatte sie noch nie sprechen hören, seit er ihr in Elises Küche zum erstenmal begegnet war.
»Kannst du die Bilder machen?« drängte sie. Sie sprach mit tiefer und rauher Stimme. »Nur eines oder zwei, damit ich sie sehen kann? Es wäre sehr schön, wenn du das tun könntest.«
Plötzlich bemerkte er ihre Augen, die er vorher nicht gesehen hatte. Ihre Augen, so tiefblau wie der Himmel an diesem Tag, blickten ihn neugierig an. Ihr Glanz verwirrte ihn, und er erinnerte sich plötzlich daran, daß ihr Haar, das sie unter ihrer Kapuze verbarg, die Farbe von Honig hatte. Bislang hatte sie in ihrer Art, sich von ihnen zu distanzieren, ziemlich unfreundlich gewirkt, aber wie sie jetzt vor ihm stand, wirkte sie nur noch klein.
»Welche Bilder möchtest du denn gern sehen?« fragte er sie.
Sie dachte kurz nach. »Ich möchte gern sehen, wie Culhaven zur Zeit Allanons ausgesehen hat.«
Er wollte ihr sagen, daß er nicht wirklich wußte, wie Culhaven vor so langer Zeit ausgesehen hatte, nickte aber. »Ich kann’s versuchen«, sagte er und sang ihr leise vor. Er ließ Bilder vor ihrem geistigen Auge entstehen, Bilder der Stadt, so wie sie möglicherweise vor dreihundert Jahren ausgesehen hatte. Er sang ihr vom Silberfluß, vom Meade-Garten, von den schmucken Häusern, vom Leben in der Hauptstadt der Zwerge vor dem Krieg mit der Föderation. Als er fertig war, sah sie ihn kurz an, bevor sie sich wortlos umdrehte und in der Nacht verschwand.
Par blickte ihr verwirrt nach, zuckte dann die Schultern, sammelte den Rest des Holzes ein und legte sich schlafen.
Bei Tagesanbruch waren sie wieder unterwegs und marschierten durch die höheren Regionen des Wolfsktaag, dort wo der Wald sich zu lichten begann und der Himmel immer näher rückte. Auch dieser Tag war warm und hell. Der Wind strich sanft über ihre Gesichter.
Trotz alledem war Par unbehaglich zumute. Er hatte diese Empfindung während der zwei vorhergegangenen Tage nicht gehabt, aber an diesem Tag kroch sie in ihm hoch. Er wollte das Unbehagen abschütteln, indem er sich einzureden versuchte, daß es jeder Grundlage entbehrte. Die anderen schienen zufrieden. Selbst Teel, die nur selten eine Regung zeigte, machte den Eindruck, als wäre sie vollkommen frei von Sorgen.
Aus dem Morgen wurde Nachmittag, und Pars Unbehagen verwandelte sich langsam in das sichere Gefühl, daß sie verfolgt wurden. Unwillkürlich blickte er immer wiederzurück, ohne zu wissen, wonach er suchte. Über ihnen, zu ihrer Rechten, erhob sich der Bergkamm zu steilen, öden Felswänden und gefährlichen Schluchten, die nicht überquert werden konnten. Unter ihnen erhob sich dichter Wald. Par blickte ein letztes Mal über seine Schulter, und da sah er, wie sich etwas zwischen den Felsen bewegte. Er blieb auf der Stelle stehen. Die anderen sahen ihn an.
»Was ist los?« fragte Steff.
»Irgend etwas ist hinter uns«, sagte Par leise und hielt seinen Blick genau auf die Stelle gerichtet, wo er die Bewegung zuletzt ausgemacht hatte. »Da, in den Felsen.« Er zeigte mit dem Finger auf die Stelle.
Sie standen da, schauten eine geraume Zeit in alle Richtungen und sahen nichts. Der Nachmittag ging dem Ende zu, und die Schatten in den Bergen wurden länger, so daß es immer schwieriger wurde, im Halblicht irgend etwas zu erkennen.
Schließlich schüttelte Par den Kopf. »Vielleicht habe ich mich geirrt«, gab er zu.
»Vielleicht auch nicht«, erwiderte Steff und bedeutete ihnen weiterzugehen.
Teel ging voraus, und Steff bildete mit Par die Nachhut. Ein- oder zweimal bat er Par zurückzuschauen, und ein- oder zweimal blickte er selbst zurück. Obwohl Par das Gefühl nicht loswurde, daß irgend etwas hinter ihnen war, konnte er nichts erkennen. Sie überquerten einen Bergkamm, der von Osten nach Westen verlief, und machten sich an den Abstieg. Ihr Ziel lag im Schatten, und der Pfad zu ihren Füßen wand sich durch ein Labyrinth von Felsen.
Keiner sagte ein Wort. Par lief plötzlich ein Schauer über den Rücken.
Sie hatten die Felsen hinter sich gelassen und befanden sich auf einem offenen Pfad, der sie wieder nach oben führte, als das Ding endlich aus den Schatten heraustrat und sich zu erkennen gab. Steff sah es zuerst, stieß einen heftigen Schrei aus und brachte sie alle zum Stehen. Die Kreatur war hundert Meter hinter ihnen, zusammengekauert auf einen flachen Felsen. Sie ähnelte einem riesigen Hund oder Wolf mit einem mächtigen behaarten Oberkörper und einem entstellten Gesicht und hatte komische fette Beine, einen zylinderförmigen Rumpf, kleine Ohren und einen Schwanz. Ihre Kiefer, die größten Kiefer, die Par jemals gesehen hatte, lösten sich einmal voneinander, und Speichel lief heraus. Das Wesen begann auf sie zuzuschlendern.
»Geht weiter«, sagte Steff leise, und sie folgten dem Pfad.
»Was ist das?« fragte Morgan ganz leise.
»Man nennt es Nager«, antwortete Steff ruhig. »Es ist im tiefsten Teil des Anar, jenseits des Hadeshorns, zu Hause. Sehr gefährlich. Ich habe jedoch noch nie gehört, daß sich eines davon in den mittleren Anar verirrt hätte – ganz zu schweigen ins Wolfsktaaggebirge.«
»Du meinst wohl, bis jetzt«, murmelte Coll.
Sie erreichten eine Stelle, von der aus der Pfad nach unten in eine Mulde verlief. Die Sonne war verschwunden, die Sicht wurde immer schlechter. Das Ding hinter ihnen tauchte ganz unerwartet auf und verschwand wieder, und Par mußte unwillkürlich daran denken, was geschehen würde, wenn sie es völlig aus den Augen verloren.
»Ich habe noch nie von einem gehört, das sich an Menschen heranpirscht«, erklärte Steff plötzlich hinter ihm.
Die seltsame Verfolgung ging weiter, der Nager blieb ihnen weiterhin im Abstand von etwa hundert Metern auf den Fersen und hatte offensichtlich vor, die Dunkelheit abzuwarten, um sich dann auf sie zu stürzen. Steff trieb sie an, er war auf der Suche nach einer Stelle, die ihnen die Möglichkeit bot, sich zu verteidigen.
»Warum läßt du nicht mich die Sache in die Hand nehmen?« fuhr Morgan ihn plötzlich an.
»Weil du schneller tot wärst, als ich deinen Namen aussprechen könnte, Hochländer«, antwortete der Zwerg. »Laß dich nicht täuschen. Diese Kreatur kann es leicht mit uns Fünfen aufnehmen, wenn sie uns unvorbereitet überrascht. In diesem Fall wird uns alle Magie der Welt nicht helfen.«
Par erstarrte. Plötzlich fragte er sich, ob die Zauberkraft von Morgans Schwert etwas gegen diese Bestie auszurichten vermochte. War es nicht vielmehr so, daß die Zauber kraft des Schwertes nur dann geweckt wurde, wenn sie auf eine ähnliche Zauberkraft traf? War das nicht die Absicht Allanons gewesen, als er der Klinge ihre Macht verliehen hatte? Er bemühte sich, sich an die Einzelheiten der Geschichte zu erinnern, aber es wollte ihm nicht gelingen.
»Vorwärts, runter in die Mulde«, wies Steff sie unerwartet an. »Dort werden wir…«
Aber da kam der Nager auf sie zu. Die riesige schwarze Gestalt raste durch die Dunkelheit und sprang in gewaltigen Sätzen über die Felsen und durch das Gebüsch.
»Weiter!« rief Steff ihnen zu und deutete hastig auf den nach unten führenden Pfad, bevor er sich der Bestie zuwandte.
Ohne nachzudenken rannten sie weiter, alle außer Morgan, der sein Schwert mit einem heftigen Ruck aus der Scheide zog und seinem Freund zu Hilfe eilte. Teel, Coll und Par blickten sich erst in dem Augenblick um, als die Bestie ihre Gefährten erreichte. Die Kreatur ging auf Steff los, doch der Zwerg erwartete sie mit seiner riesigen Keule in der Hand. Er traf die Bestie mit einem Schlag am Kopf, der jeden anderen niedergestreckt hätte. Aber der Nager schüttelte den Schlag ab und lief wieder auf den Zwerg zu. Steff schlug ein zweites Mal auf ihn ein, stürzte an ihm vorbei und zog den Hochländer mit sich. Mit einem Satz waren sie unten auf dem Pfad und holten die Brüder und Teel schnell ein.
»Die Böschung hinunter!« schrie Steff. Sie stürzten schlitternd und rutschend auf ein Gehölz zu.
Plötzlich wurde Par sich des Nagers bewußt. Er hörte seinen Schrei, noch bevor er ihn sah, seinen Schrei, der wie ein Wimmern klang. Die Magie, dachte Par, ich muß die Magie einsetzen.
Das Wunschlied wird funktionieren, wird ihn wenigstens ablenken…
»Bleibt zusammen!« befahl der Zwerg. Er selbst wagte sich vor, um dem Ansturm des Nagers entgegenzutreten.
Par sollte nie vergessen, was sich danach ereignete. Steff ließ die Bestie dicht an sich herankommen, wich dann plötzlich nach hinten aus, rammte die Keule in den Rachen des Nagers und stieß mit seinen gestiefelten Füßen gegen seine mächtige Brust. Der Nager torkelte an Steff vorbei und stürzte wild um sich schlagend auf den Waldrand zu. Dann plötzlich schoß etwas Riesiges aus den Bäumen hervor, verschlang den Nager mit einem einzigen Biß und verschwand wieder in der Dunkelheit. Sie hörten einen heftigen Schrei, dann herrschte wieder Stille.
Steff legte einen Finger auf seine Lippen und winkte ihnen, ihm zu folgen. Schweigend kletterten sie wieder zum Pfad hinauf und starrten von dort nach unten in die undurchdringliche Dunkelheit.
»Im Wolfsktaag muß man wissen, wovor man sich hüten muß«, flüsterte Steff mit einem harten Lächeln. »Selbst als Nager!«
Sie reinigten ihre Kleider und rückten ihre Rucksäcke zurecht. Ihre Schrammen waren kaum der Rede wert. Den Jadepaß konnten sie laut Steff in einer, höchstens zwei Stunden erreichen.
Sie marschierten weiter.