Es war beinahe Mitternacht, als Par und Coll das Hafenviertel von Varfleet erreichten, und zum ersten Mal bemerkten sie, wie wenig sie darauf vorbereitet waren, Felsen-Dall und seinen Suchern zu entkommen. Da keiner von beiden irgendwann daran gedacht hatte, daß eine Flucht notwendig werden würde, hatten sie nichts bei sich, das ihnen auf einer längeren Reise hätte von Nutzen sein können. Sie hatten keinen Proviant, keine Decken, keine Waffen, mit Ausnahme ihrer langen Messer, nichts, womit sie ein Lager hätten errichten können, nichts, um sich vor schlechtem Wetter zu schützen, und was am allerschlimmsten war, sie hatten kein Geld. Der Besitzer des Bierhauses war ihnen einen Monat lang ihr Geld schuldig geblieben. Und das Geld, das sie sich vorher gespart hatten, war mit allen anderen Besitztümern im Feuer verlorengegangen. Sie besaßen lediglich das, was sie auf dem Leib trugen. Das Hafenviertel bestand aus unzähligen Bootshäusern, Stegen, Reparaturwerkstätten und Lagerschuppen. Das ganze Viertel war hell beleuchtet, Hafenarbeiter und Fischer tranken und scherzten im Schein der Öllampen. Ausschmiedeeisernen Öfen und Fässern stieg Qualm auf, und die Luft war erfüllt von Fischgeruch. »Vielleicht haben sie die Suche für heute nacht eingestellt«, bemerkte Par. »Ich meine die Sucher. Vielleicht nehmen sie sie erst morgen früh wieder auf – oder vielleicht auch nie.« Coll warf ihm einen Blick zu und zog vielsagend eine Augenbraue hoch. »Vielleicht können Kühe auch fliegen.« Er schaute weg. »Wir hätten darauf bestehen sollen, daß man uns für unsere Arbeit sofort bezahlt. Dann wären wir jetzt nicht in der Klemme.«
Par zuckte die Schultern. »Das würde uns jetzt auch nichts nützen.«
»Nichts nützen? Wir hätten wenigstens etwas Geld.«
»Aber auch nur dann, wenn wir es während der Vorstellung bei uns getragen hätten. Hältst du das etwa für wahrscheinlich?«
Coll hob die Schultern und verzog das Gesicht. »Dieser Bierhausbesitzer schuldet uns was.«
Sie gingen schweigend bis zum Südende des Hafens. Wortlos sahen sie einander an. Es war kühler geworden, und ihre leichte Kleidung bot keinen Schutz gegen die Kälte. Sie zitterten und vergruben die Hände tief in den Taschen, die Arme dicht an ihre Körper gepreßt. Lästige Insekten umschwirrten sie.
Coll seufzte. »Hast du eine Ahnung, was wir jetzt machen sollen, Par? Hast du dir schon was überlegt?«
Par nahm die Hände aus den Taschen und rieb sie kräftig aneinander. »Ja, das habe ich. Aber dazu brauchen wir ein Boot.«
»Du willst also nach Süden – auf dem Mermidon?«
»Bis ans Ende.«
Coll lächelte, weil er fälschlicherweise annahm, daß sie sich auf dem Weg nach Hause befanden. Par hielt es für besser, ihn in dem Glauben zu lassen.
»Warte hier«, sagte Coll plötzlich und verschwand, noch bevor Par irgend etwas einwenden konnte.
Par stand allein in der Dunkelheit am Ende des Hafens. Es kam ihm vor, als warte er mindestens eine Stunde, aber in Wirklichkeit wartete er höchstens halb so lange. Er setzte sich auf eine Bank vor einer Fischerhütte und zog die Beine bis zum Kinn hoch, um sich vor der Nachtluft zu schützen. Alle möglichen Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Er war wütend, am meisten auf den Fremden, der sie zuerst wie durch Zauberhand befreit hatte, um sie dann zu verlassen. Er streckte die Beine aus und schlug einen Fuß über den anderen. Er wußte, daß er jetzt nichts mehr ändern konnte. Coll und er würden einfach noch einmal von vorne anfangen müssen. Aufgeben kam für ihn überhaupt nicht in Frage. Dazu waren die Geschichten einfach zu wichtig, und er hielt es für seine Pflicht, dafür zu sorgen, daß sie nicht vergessen wurden. Er war überzeugt, daß er diese Gabe eigens zu diesem Zweck besaß. Es spielte überhaupt keine Rolle, wie die Föderation darüber dachte – daß Zauberei verboten war und daß sie dem Land und den Menschen Schaden zufügte. Was wußte die Föderation schon von Zauberei? Den Mitgliedern des Koalitionsrates fehlte es an jeglicher praktischen Erfahrung. Sie hatten einfach beschlossen, daß etwas getan werden mußte, um diejenigen zufriedenzustellen, die behaupteten, die Vier Länder litten an Krankheiten und Menschen würden wie in Jair Ohms-fords Zeiten in dunkle Wesen verwandelt, in eine Art niederer Lebewesen, Wesen, die ihre Kraft aus der Dunkelheit und aus Zauberkräften schöpften, die seit der Zeit der Druiden verloren schienen. Diese Wesen hatten sogar einen Namen. Man nannte sie Schattenwesen.
Plötzlich drängte sich Par wieder der unangenehme Gedanke an die Träume auf und an das Dunkle in ihnen, das ihn gerufen hatte.
Er bemerkte, daß die Stimmen der Fischer und Hafenarbeiter, das Surren der Insekten, ja selbst das Rascheln des Nachtwindes verstummt waren. Er konnte seinen eigenen Pulsschlag hören und zudem ein eigenartiges Flüstern…
Im nächsten Augenblick schreckte er durch ein plätscherndes Geräusch aus seinen Gedanken auf. Coll, der einige Schritte entfernt das Ufer des Mermidon erklommen hatte, kam jetzt prustend auf ihn zu. Er war vollkommen nackt.
Par faßte sich langsam wieder und starrte ihn ungläubig an. »Himmel, du hast mich vielleicht erschreckt! Was hast du denn getrieben?«
»Was glaubst du wohl?« Coll grinste. »Ich war schwimmen.«
Erst als Par nachfragte, erfuhr er, was Coll wirklich getrieben hatte; er hatte sich kurzerhand ein Fischerboot, das dem Besitzer des Bierhauses gehörte, ausgeliehen.
»Das ist das Mindeste, was er für uns tun kann, nach all dem, was er an uns verdient hat«, brachte er zu seiner Rechtfertigung vor, während er sich abtrocknete und anzog.
Par hatte dem nichts entgegenzusetzen. Sie brauchten ein Boot notwendiger als der Bierhausbesitzer. Das Runnegebirge zu Fuß zu erreichen war ein Unterfangen, das mehr als eine Woche gedauert hätte. Eine Fahrt auf dem Mermidon dagegen würde höchstens ein paar Tage dauern. Und letztendlich konnte man nicht behaupten, daß sie das Boot gestohlen hatten. Sie würden es zurückbringen, sobald sie dazu in der Lage waren.
Das Boot war ziemlich klein, doch es war nebst Rudern, einigen Decken und einer Zeltplane mit allem ausgerüstet, was sie brauchten, um zu fischen, zu kochen und ein Lager zu errichten. Nachdem sie ins Boot geklettert waren, stießen sie vom Ufer ab und ließen sich von der Strömung den Fluß hinuntertreiben.
Irgendwann teilte Coll Par mit, wie sie seiner Meinung nach am besten weiter vorgingen. Es war natürlich unmöglich, in absehbarer Zeit nach Callahorn zurückzukehren.
Die Föderation würde nach ihnen suchen. Es würde auch zu gefährlich sein, sich einer der größeren Städte im Südland zu nähern, weil auch die dort stationierten Truppen der Föderation in Alarmbereitschaft sein würden. Seiner Meinung nach war es am besten, wenn sie einfach ins Tal zurückkehrten. Dort konnten sie ihre Geschichten auch weiterhin erzählen – vielleicht nicht sofort, aber vielleicht in einem Monat, wenn die Föderation die Suche nach ihnen aufgegeben hatte. Später konnten sie dann in die abgelegeneren Gebiete gehen, an Orte, in die die Föderation nur selten ihren Fuß setzte. Es würde sich alles zum Guten wenden.
Par ließ ihn reden.
Bei Sonnenaufgang legten sie an einem felsigen Ufer an und errichteten in einer schattigen Waldlichtung ihr Lager. Sie schliefen bis Mittag und aßen danach die Fische, die sie gefangen hatten. Am frühen Nachmittag machten sie sich wieder auf den Weg und ließen sich bis spät nach Sonnenuntergang auf dem Fluß treiben. Wieder legten sie an und bereiteten ein Lager. Als es zu regnen anfing, zogen sie sich die Decken fest um die Schultern und beobachteten schweigend, wie der Regen den Fluß anschwellen ließ.
Danach unterhielten sie sich eine Zeitlang darüber, wie sich seit den Tagen von Jair Ohmsford die Dinge in den Vier Ländern verändert hatten.
Vor dreihundert Jahren herrschte die Föderation, die damals eine Isolationspolitik verfolgte, nur in den Städten ganz unten im Südland. Der Koalitionsrat, der sich aus Männern zusammensetzte, die von den Städten als Vertreter ihrer Regierungen entsandt wurden, hatte schon damals die Führerschaft inne. Aber dann übernahm anstelle des Rates allmählich die Armee der Föderation die Herrschaft, und mit der Zeit wurde die Isolationspolitik zugunsten einer Expansionspolitik aufgegeben. Die Föderation beschloß, ihren Machtbereich auszudehnen. Es schien nur logisch, daß das ganze Südland unter einer Regierung vereinigt sein sollte, und wer wäre dazu besser in der Lage gewesen als die Föderation?
So hatte alles angefangen. Hundert Jahre nach dem Tod von Jair Ohmsford war das Gebiet südlich von Callahorn ganz unter der Herrschaft der Föderation. Die anderen Rassen, die Elfen, die Trolle, die Zwerge und sogar die Gnome, warfen mißtrauische Blicke nach Süden. Nach nicht allzu langer Zeit willigte Callahorn ein, sich unter die Schutzherrschaft der Föderation zu stellen; der Teil des Landes, dessen König längst tot, dessen Städte entzweit waren, diente den anderen Ländern nun nicht mehr länger als Schutzwall gegen die Föderation.
Ungefähr zur gleichen Zeit tauchten zum ersten Mal Gerüchte über die Schattenwesen auf. Man sprach davon, daß die alte Magie Unrecht sei, eine Magie, die in der Erde ihren Ursprung hatte. Sie zeigte sich auf vielerlei Weise; manchmal war sie nichts weiter als ein kalter Wind, ein andermal erschien sie als verschwommene menschliche Gestalt. Man sprach in jedem Fall von Schattenwesen. Die Schattenwesen machten das Land und das Leben im Land krank, verwandelten Teile davon in einen Sumpf von Verfall und Zerstörung. Sie griffen sterbliche Wesen an, gleich, ob Mensch oder Tier, und nahmen, wenn sie sie ausreichend geschwächt hatten, von ihnen Besitz, drangen in ihre Körper ein und lebten darin gleich verborgenen Geistern. Das Leben anderer diente ihnen als Nahrung.
Die Föderation schenkte diesen Gerüchten Glauben und verkündete, daß solche Wesen möglicherweise tatsächlich existierten und daß nur sie die Menschen davor zu schützen vermöge.
Niemand wagte sich dieser Meinung zu widersetzen und zu behaupten, daß die Magie vielleicht doch nicht im Unrecht war oder daß die Schattenwesen die Probleme heraufbeschworen. Es war sehr viel einfacher, sich der herrschenden Meinung anzuschließen. Schließlich hatte es seit dem Untergang der Druiden keine Magie mehr gegeben. Natürlich erzählten die Ohmsfords ihre Geschichten, aber nur wenige Menschen hörten sie, und noch weniger schenkten ihnen Glauben. Die meisten hielten die Druiden lediglich für eine Legende. Als Callahorn sich unter die Schutzherrschaft der Föderation stellte und die Stadt Tyrsis besetzt wurde, verschwand auch das Schwert von Shannara. Niemand machte sich deswegen große Gedanken. Seit mehr als zweihundert Jahren war das Schwert nicht mehr gesehen worden. Nur der Kuppelbau im Zentrum des Volksparks, in dem das Schwert einst in einem Block aus rotem Marmor aufbewahrt wurde, war noch da – doch eines Tages war auch er verschwunden.
Die Elfensteine verschwanden kurz danach ebenfalls. Es gab keine Aufzeichnungen darüber, was mit ihnen geschehen war. Selbst die Ohmsfords wußten nichts.
Dann verschwanden auch die Elfen, ganze Stämme und Städte auf einmal, bis irgendwann auch Arborlon nicht mehr war. Schließlich gab es überhaupt keine Elfen mehr, und es war, als hätte es sie nie gegeben. Das Westland war mit Ausnahme von wenigen Jägern und Trappern aus den anderen Ländern und umherziehenden Fahrenden unbewohnt. Die Fahrenden, die an keinem anderen Ort willkommen waren, waren schon immer dort gewesen, aber selbst sie wollten nichts über den Verbleib der Elfen wissen. Die Föderation machte sich diese Lage unverzüglich zunutze. Das Westland, so erklärte sie, war die Brutstätte der Magie, der Wurzeln allen Übels in den Vier Ländern.
Schließlich waren es die Elfen gewesen, die sich der Magie bedient hatten. Die Magie hatte sie schließlich vernichtet –eine anschauliche Lektion für all diejenigen, die Ähnliches versuchten.
Die Föderation unterstrich diesen Punkt, indem sie die Ausübung von Magie jedweder Art verbot. Das Westland wurde zum Schutzgebiet erklärt, obgleich nicht besetzt, denn es mangelte der Föderation an Soldaten, um dieses riesige Gebiet ohne Hilfe zu überwachen.
Kurz danach erklärte die Föderation den Zwergen den Krieg, angeblich deshalb, weil die Zwerge den Krieg provoziert hätten, obwohl niemand je erfuhr, auf welche Weise dies geschehen war. Die Föderation hatte damals die größte und bestausgebildete Armee der Vier Länder; die Zwerge hatten überhaupt kein stehendes Heer. Auch die Elfen waren nicht mehr wie in früheren Jahren Verbündete der Zwerge, und die Gnomen und Trolle waren noch nie ihre Freunde gewesen. Die Zwerge kannten sich im bergigen Ostland sehr viel besser aus als die Föderation, und obwohl Culhaven fast unverzüglich in die Hände der Föderation fiel, kämpften die Zwerge im Hochland weiter, bis sie schließlich ausgehungert wurden und sich unterwerfen mußten. Sie wurden aus den Bergen in die Minen der Föderation im Süden geschleppt. Die meisten starben dort. Die Gnome, die mitansehen mußten, was den Zwergen widerfuhr, leisteten kaum Widerstand. Die Föderation erklärte auch das Ostland zum Schutzgebiet.
Nur vereinzelt konnten sich Widerstandsnester halten. Es gab immer noch eine Handvoll Zwerge und verstreute Gnomenstämme, die sich weigerten, die Föderationsgesetze anzuerkennen und die deshalb den Kampf aus den wilden Gebieten im Norden und Osten weiterführten. Aber es waren ihrer zu wenige, als daß sie wirklich hätten etwas ausrichten können.
Um die Einheit des größten Teils der Vier Länder zu demonstrieren und all die zu ehren, die daran mitgewirkt hatten, ließ die Föderation am Nordende des Regenbogensees, dort wo der Mermidon aus dem Runnegebirge tritt, ein Denkmal errichten. Das Denkmal, ein schwarzer Granitstein, der sich auf einem riesigen quadratischen Sockel nach oben hin verschmälerte und über dreißig Meter hoch über die Klippen ragte, war ein Turm, der nach allen Seiten hin meilenweit zu sehen war. Er trug den Namen Südwache.
All das lag fast hundert Jahre zurück, und jetzt waren die Trolle die einzigen freien Menschen, die sich immer noch tief in den Bergen des Nordlandes, im Charnalgebirge und im Kershalt verschanzt hatten. Die Föderation wollte mit diesem gefährlichen, feindlichen Land, dieser natürlichen Festung, nichts zu tun haben. Man beschloß, dieses Gebiet in Frieden zu lassen, vorausgesetzt, die Trolle würden sich von anderen Ländern fernhalten.
Die Trolle, die schon immer zurückgezogen gelebt hat-ten, gehorchten gern.
»Jetzt ist alles so anders«, schloß Par sehnsüchtig, als sie am Lager saßen und beobachteten, wie der Regen auf das Wasser niederprasselte. »Keine Druiden mehr, kein Para-nor, keine Magie – mit Ausnahme der unechten und dem wenigen, was wir wissen. Keine Elfen. Was, glaubst du, ist mit ihnen geschehen?« Aber auch Coll wußte nichts zu sagen. »Keine Königreiche, keine Freitruppen, kein Callahorn, gar nichts.«
»Keine Freiheit«, endete Coll finster.
»Keine Freiheit«, wiederholte Par. Er lehnte sich zurück und zog die Beine bis zur Brust an. »Ich wünschte, ich wüßte, was mit den Elfensteinen geschehen ist. Und dem Schwert. Was ist mit dem Schwert von Shannara geschehen?«
Coll zuckte die Schultern. »Das Gleiche, was mit allen Dingen irgendwann geschieht. Es ging einfach verloren.«
»Was willst du damit sagen? Wie kann es einfach verloren gehen?«
»Niemand hat sich darum gekümmert.«
Par ließ sich diesen Gedanken durch den Kopf gehen. Es war etwas Wahres dran. Niemand kümmerte sich mehr um die Magie, nachdem Allanon tot und die Druiden verschwunden waren. Die Magie wurde einfach totgeschwiegen, ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, das gefürchtet und zum großen Teil mißverstanden wurde. Es war einfacher, so zu tun, als gäbe es sie nicht, und genau das taten alle. Auch die Ohmsfords – denn andernfalls hätten sich die Elfensteine noch in ihrem Besitz befunden. Alles, was sie an Zauberkraft besaßen, war das Wunschlied.
»Wir kennen die Geschichten, die Sagen, die uns davon erzählen, wie es einmal war; wir kennen die Geschichte, und doch wissen wir im Grunde genommen gar nichts«, sagte Par leise.
»Wir wissen, daß die Föderation nicht will, daß wir darüber sprechen«, meinte Coll abschließend. »Wenigstens das wissen wir.«
»Es gibt Zeiten, in denen ich mich frage, welchen Unterschied das schon macht.« Pars Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. »Es ist doch so, daß die Menschen uns zwar zuhören, aber wer erinnert sich anderntags noch daran? Und selbst wenn sie sich erinnern? Für sie ist das, was wir erzählen, Geschichte und für manche wahrscheinlich nicht einmal das. Manche halten es wahrscheinlich für Legenden und Mythen, für einen Haufen Unsinn.«
»Aber nicht alle«, erwiderte Coll ruhig.
»Was nützt schon das Wunschlied, wenn unsere Geschichten doch nichts bewirken? Vielleicht hatte der Fremde ja recht. Vielleicht gibt es eine bessere Verwendung für die Zauberkraft.«
Als sie plötzlich ein Geräusch im Fluß vernahmen, drehten sich beide um. Aber sie hörten nur das Schäumen des durch den Regen angeschwollenen Flusses und sonst nichts.
»Alles scheint sinnlos«, sagte Par. »Was glaubst du, Coll? Man hat uns wie Geächtete aus Varfleet hinausgetrieben, hat uns gezwungen, dieses Boot zu stehlen.« Er hielt inne und schaute seinen Bruder an. »Warum, glaubst du, verfügen wir immer noch über Zauberkräfte?«
Coll wandte sein eckiges Gesicht Par zu. »Was meinst du damit?«
»Warum haben wir sie? Warum sind sie nicht mit allem anderen verschwunden? Glaubst du, es gibt einen Grund dafür?«
Beide schwiegen geraume Zeit. »Ich weiß nicht«, meinte Coll endlich. Er zögerte. »Ich weiß nicht, wie es ist, wenn man Zauberkräfte besitzt.«
Par starrte ihn an, und als er plötzlich begriff, was er da gefragt hatte, schämte er sich seiner Frage.
»Nicht daß ich sie wirklich haben wollte, verstehst du«, fuhr Coll eilig fort, als er das Unbehagen seines Bruders bemerkte. »Einer von uns mit Zauberkräften reicht vollkommen.« Er grinste.
Par grinste zurück. »Ich glaube, du hast recht.« Er blickte Coll dankbar an und gähnte. »Möchtest du dich schlafen legen?«
Coll schüttelte den Kopf und trat in den Schatten zurück.
»Nein, ich möchte gerne noch weiterreden. Diese Nacht ist zum Reden da.«
Dennoch verfiel er in Schweigen, so als hätte er trotz allem nichts zu sagen. Par ließ seinen Blick auf ihm ruhen, bevor beide wieder auf den Mermidon hinaussahen und beobachteten, wie ein riesiger Ast eines Baumes, der offensichtlich vom Sturm abgebrochen worden war, vorbeitrieb. Der Wind, der zuerst stürmisch geweht hatte, hatte sich gelegt, der Regen verursachte, während er durch die Bäume auf den Boden tropfte, ein gleichmäßiges, wohltuendes Geräusch.
Par ertappte sich dabei, wie er an den Fremden dachte, der sie vor den Suchern der Föderation gerettet hatte. Den größten Teil des Tages hatte er damit zugebracht, sich über die Identität des Mannes klar zu werden, doch er hatte immer noch nicht die leiseste Ahnung, wer der Mann war. Trotzdem kam er ihm irgendwie vertraut vor. Er erinnerte ihn an jemand aus den Geschichten, die er erzählte, aber er konnte sich nicht entscheiden, an wen genau. Es gab so viele Sagen, und so viele handelten von Männern wie ihm, von Helden in den Tagen der Magie, von Helden, die Par in der jetzigen Zeit vermißte. Vielleicht hatte Par sich geirrt. Der Fremde im Bierhaus schien gewillt, es mit der Föderation aufzunehmen. Vielleicht bestand doch noch Hoffnung für die Vier Länder.
Par beugte sich vor, legte Holzscheite in das kleine Feuer nach und sah zu, wie der Rauch aufstieg. Plötzlich wurde der Himmel im Osten von einem Blitz erhellt.
»Wir könnten jetzt ganz gut trockene Sachen gebrauchen«, murmelte Par. »Meine sind allein schon von der Luft feucht.«
Coll nickte. »Und vielleicht auch eine heiße Suppe und Brot.«
»Ein Bad und ein warmes Bett.« »Vielleicht den Duft von frischen Kräutern.« »Und Rosenwasser.« Coll seufzte. »Ich wäre schon zufrieden, wenn dieser verflixte Regen ein Ende nähme.« Sein Blick schweifte in die Nacht hinaus. »Ich glaube, in einer Nacht wie heute könnte ich fast an Schattenwesen glauben.«
Ganz unvermittelt beschloß Par, Coll von seinen Träumen zu erzählen. Er wollte darüber sprechen und sah jetzt keinen Grund mehr, es nicht zu tun. Er überlegte kurz, dann sagte er: »Ich habe dir bis jetzt nichts davon erzählt, aber ich habe diese Träume. Eigentlich ist es immer der gleiche Traum, den ich träume.« In kurzen Worten beschrieb er ihn, wobei er im besonderen auf die dunkelgekleidete Gestalt, die jedesmal zu ihm sprach, einging. »Ich sehe ihn jedoch nicht deutlich genug, um mit Sicherheit sagen zu können, wer es ist«, erklärte er vorsichtig. »Aber es könnte sich um Allanon handeln.«
Coll zuckte die Achseln. »Es könnte aber auch jemand anderes sein. Es ist ein Traum, Par. Träume sind immer ein Rätsel.«
»Aber ich habe diesen Traum jetzt schon ein dutzendmal, vielleicht sogar zwei dutzendmal geträumt. Zuerst habe ich angenommen, daß er irgendwie mit der Magie zusammenhängt, aber…« Par biß sich auf die Lippen. »Was ist, wenn…« Er hielt wieder inne.
»Was ist, wenn was?«
»Was ist, wenn es nicht nur mit der Magie zusammenhängt? Was ist, wenn Allanon oder jemand anders versucht, mir durch den Traum eine Botschaft zu schicken?«
»Eine Botschaft wozu? Vielleicht um dich dazu zu bringen, zum Hadeshorn zu gehen oder zu einem anderen ähnlich gefährlichen Ort?« Coll schüttelte den Kopf. »Ich würde mir darüber an deiner Stelle nicht den Kopf zerbrechen. Und ich würde ganz sicherlich keinen Gedanken an eine solche Aufforderung verschwenden.« Er runzelte die Stirn. »Du doch auch nicht, oder etwa doch? Denkst du ernsthaft darüber nach zu gehen?«
»Nein«, antwortete Par ohne zu überlegen. Ich muß zumindest vorher darüber nachdenken, fügte er in Gedanken hinzu und war selbst überrascht über dieses Eingeständnis.
»Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen. Wir haben auch so schon genügend Probleme, ohne daß wir uns auf die Suche nach toten Druiden begeben.« Für Coll war die Sache damit ganz offensichtlich erledigt.
Par erwiderte nichts. Jetzt wurde ihm klar, daß er tatsächlich mit dem Gedanken spielte, sich auf die Suche zu begeben. Bis jetzt hatte er nicht wirklich ernsthaft daran gedacht, doch mit einemmal hatte er das Bedürfnis herauszufinden, was die Träume bedeuteten. Es spielte keine Rolle, ob Allanon sie geschickt hatte oder nicht. Eine Stimme in seinem Inneren bedeutete ihm, daß er auf der Suche nach dem Ursprung seiner Träume gleichzeitig etwas über sich selbst und seine Zauberkräfte erfahren würde. »Ich wünschte nur, ich könnte sicher sein«, murmelte er.
Coll hatte sich in der Zwischenzeit an das Feuer gelegt, seine Augen waren geschlossen. »Sicher worüber?«
»Über die Träume«, antwortete Par. »Darüber, ob jemand sie geschickt hat oder nicht.«
Coll schnaubte. »Ich bin mir sicher, und das reicht für uns beide. Es gibt keine Druiden. Und es gibt auch keine Schattenwesen. Es gibt keine dunklen Geister, die einem durch Träume Botschaften schicken. Nur deshalb, weil du todmüde bist, träumst du dies und jenes aus den Geschichten, die du erzählst.«
Par legte sich ebenfalls hin und zog die Decke über sich. »Vielleicht hast du recht«, pflichtete er Coll bei, ohne jedoch wirklich überzeugt zu sein.
Coll drehte sich zur Seite und gähnte. »Heute nacht träumst du wahrscheinlich von Wasser und Fischen, so feucht wie es hier ist.«
Par schwieg. Er lauschte eine Zeitlang dem Regen, während sich seine Augen auf die dunkle Wand des Zeltes richteten. »Vielleicht suche ich mir meinen eigenen Traum aus«, sagte er leise. Dann war er eingeschlafen.
Er träumte tatsächlich in dieser Nacht, zum ersten Mal seit fast zwei Wochen. Er träumte den Traum, den er ersehnt hatte, den Traum von der dunkelgekleideten Gestalt, und es schien ihm, als müsse er nur die Hand ausstrecken, um sie zu berühren. Es schien, als käme sie sogleich. Als der Schlaf ihn überwältigte, trat sie aus der Tiefe seines Unterbewußtseins heraus. Ihr unerwartetes Auftreten erschreckte ihn, ohne daß er davon aufgewacht wäre. Er sah die dunkle Gestalt, die sich aus dem See erhob, sah, wie sie auf ihn zukam, verschwommen und gesichtslos und so bedrohlich, daß er geflohen wäre, wäre er dazu imstande gewesen. Aber der Traum beherrschte ihn und hielt ihn in seinem Bann. Die dunkle Gestalt näherte sich ihm schweigend, ohne zu sprechen.
Dicht vor ihm blieb sie stehen, ein Wesen, das alles und jedes hätte sein können, gut oder böse, Leben oder Tod.
Sprich zu mir, dachte er voller Angst.
Aber die Gestalt stand einfach nur da, eingehüllt in Schatten, schweigend und bewegungslos. Sie schien auf etwas zu warten.
Dann machte Par einen Schritt nach vorne und zog, erfüllt von einer inneren Kraft, die ihm bisher verborgen geblieben war, die schwarze Kapuze zurück, die den anderen verhüllte. Er zog die Kapuze zurück, und er erkannte das zum Vorschein kommende Gesicht augenblicklich. Er hatte tausendmal davon gesungen. Es war ihm so vertraut wie das eigene. Er sah das Gesicht Allanons.