14

Fünf Tage später, während die Sonne den westlichen Himmel mit lila und roten Strahlen überzog, wie es nur im Sommer zu sehen ist, erreichten Wren, Garth und der alte Mann, der sich Cogline nannte, die ersten Ausläufer der Drachenzähne und den sich windenden, engen, felsigen Pfad, der in das Tal von Shale und zum Hadeshorn führte.

Par Ohmsford sah sie als erster. Er war auf dem Pfad ein paar hundert Meter bis zu einem Felsvorsprung gewandert, der ihm einen Ausblick auf die Ebene südlich von Callahorn bot und wo er mit seinen Gedanken allein sein konnte. Er war bereits am Vortag mit Coll, Morgan, Walker Boh, Steff und Teel angekommen, und seine Geduld wurde während des Wartens auf den Anbruch der ersten Nacht des neuen Mondes auf eine harte Probe gestellt. Er war in die majestätische Schönheit des Sonnenuntergangs vertieft, als er das komische Dreiergespann erblickte, das auf Pferden aus dem Schatten eines Pappelwaldes heraus- und auf ihn zuritt. Langsam erhob er sich, als könne er seinen eigenen Augen nicht trauen. Dann, als er festgestellt hatte, daß seine Augen ihm keinen Streich spielten, sprang er auf und eilte den Pfad hinunter, um seine Gefährten, die eben ihr Lager aufgeschlagen hatten, von seiner Beobachtung zu unterrichten.

Wren erreichte das Lager fast noch vor ihm. Ihre scharfen Elfensinne machten ihn just in dem Augenblick aus, als er ihrer gewahr wurde. Ohne Rücksicht auf ihre Gefährten, die hinter ihr zurückblieben, gab sie ihrem Pferd die Sporen, ritt tollkühn auf das Lager zu, sprang aus dem Sattel, noch bevor ihr jemand herunterhelfen konnte, lief mit einem wilden Schrei auf Par zu und umarmte ihn so heftig, daß er beinahe das Gleichgewicht verlor. Als sie ihn ausreichend gedrückt hatte, erfuhr ein erstaunter, aber erfreuter Coll die gleiche Begrüßung. Walker Boh wurde lediglich auf die Wange geküßt und Morgan, den sie kaum wiedererkannte, mit einem Händedruck und einem Nicken bedacht.

Während die drei Geschwister Ohmsford – diesen Eindruck machten sie ungeachtet der Tatsache, daß Wren keine echte Schwester war – einander begrüßten und umarmten, standen die anderen etwas unbehaglich daneben und bedachten einander mit abschätzenden Blicken. Die meisten galten Garth, der mindestens doppelt so groß war wie alle anderen. Er trug die grelle Kleidung der Fahrenden, die ihn noch größer erscheinen ließ. Ruhig und ohne eine Spur von Unbehagen begegnete er den Blicken der anderen. Wren erinnerte sich seiner nach einigen Augenblicken und begann mit der Vorstellung. Par tat es ihr mit Steff und Teel gleich. Cogline blieb etwas abseits von den anderen stehen; da ihn scheinbar jeder kannte, erübrigte sich eine formelle Vorstellung. Es wurde genickt, und es wurden Hände geschüttelt und Höflichkeiten ausgetauscht, doch die Wachsamkeit wollte von den meisten Gesichtern trotzdem nicht weichen. Als sie sich allesamt zur Feuerstelle begaben, die die Mitte des kleinen Lagers bildete, um die Mahlzeit einzunehmen, die die Zwerge zubereitet hatten, zerfiel die Gruppe schnell in Grüppchen. Steff und Teel widmeten sich der Fertigstellung der Mahlzeit; Walker Boh begab sich in den Schatten einer knorrigen Kiefer, und Cogline verschwand, ohne ein Wort zu verlieren, zwischen den Felsen. Er tat dies so leise, daß er fast verschwunden war, bevor die anderen es merkten. Da Cogline jedoch nicht als echtes Mitglied der kleinen Gruppe galt, kümmerten sich die anderen kaum darum. Par, Coll, Wren und Morgan machten sich gemeinsam an den Pferden zu schaffen, sattelten sie ab und rieben sie trocken, während sie über alte Zeiten und alte Freunde sprachen, über Orte, an denen sie gewesen waren, über Dinge, die sie gesehen hatten, und über das Auf und Ab des Lebens an sich.

»Du bist ganz schön erwachsen geworden, Wren«, sagte Par mit Verwunderung in der Stimme. »Längst nicht mehr der Besenstiel von einem Mädchen, den ich in Erinnerung hatte.«

»Und eine wilde Reiterin obendrein, für die es keine Schranken gibt!« Par lachte.

Wren lachte zurück. »Ich lebe ein besseres Leben als ihr alle zusammen, die ihr auf eurem Hintern sitzt, alte Geschichten erzählt und schlafende Hunde aufweckt.« Doch dann wurde sie wieder ernst. »Der alte Mann, Cogline, hat mir davon erzählt, was im Vale passiert ist. Jaralan und Mirianna waren irgendwann auch meine Eltern, und ich habe sie immer noch gern. Gefangene, sagt er. Habt ihr irgendwas von ihnen gehört?«

Par schüttelte den Kopf. »Seit dem Vorfall in Varfleet sind wir auf der Flucht.«

»Das tut mir leid, Par.« Aus ihren Augen sprach echtes Mitgefühl. »Die Föderation tut ihr Bestes, um uns das Leben schwer zu machen. Sogar im Westland sind Soldaten und Regierungsbeamte stationiert, obwohl es das Land ist, das sie bisher mehr oder weniger links liegen gelassen haben. Die Fahrenden wissen auf jeden Fall, wie man ihnen aus dem Weg geht. Wenn alle Stricke reißen, könnt ihr euch uns gerne anschließen.«

»Ich glaube, es wird am besten sein, wenn wir uns zunächst um die Träume kümmern«, flüsterte Par.

Sie nahmen die Mahlzeit zu sich, die aus gebratenem Fleisch, frischgebackenem Brot, gedünstetem Gemüse, Käse und Nüssen bestand, und spülten alles mit Bier und Wasser hinunter, während sie der Sonne nachblickten, die langsam am Himmel verschwand. Das Essen war gut, und zu Steffs Freude, der die meiste Arbeit getan hatte, machten die anderen keinen Hehl daraus. Cogline war immer noch abwesend, aber das Gespräch der anderen wurde immer persönlicher. Nur Teel brachte kaum ein Wort über die Lippen. Soweit Par wußte, waren er und Steff die einzigen, mit denen das Zwergenmädchen bisher ein Wort gewechselt hatte.

Als sie die Mahlzeit beendet hatten, übernahmen Steff und Teel den Abwasch des Geschirrs, während die anderen allein oder zu zweit in der abendlichen Dämmerung umhergingen. Während Coll und Morgan sich auf den Weg zu einer Quelle machten, die ungefähr eine Viertelmeile entfernt lag, um frisches Wasser zu holen, fand sich Par in Gesellschaft von Wren und Garth wieder auf dem Pfad, der in die Berge und das Tal von Shale führte.

»Bist du schon dort gewesen?« fragte Wren und deutete in Richtung Hadeshorn.

Par schüttelte den Kopf. »Man braucht mehrere Stunden, und keiner wollte bisher die Sache unnötig beschleunigen. Selbst Walker hat sich bisher geweigert, vor der vereinbarten Zeit hinzugehen.« Er blickte zum Himmel, wo unzählige Sterne und eine kleine, fast unsichtbare Mondsichel am nördlichen Nachthimmel standen. »Morgen nacht«, sagte er.

Wren gab keine Antwort. Schweigend gingen sie wei­ ter, bis sie den Felsvorsprung erreichten, auf dem Par bereits zu früherer Stunde gesessen hatte. Dort blieben sie stehen und ließen ihre Blicke über das Land im Süden schweifen.

»Du hast die Träume auch gehabt, nicht wahr?« fragte ihn Wren und beschrieb sogleich ihre eigenen. Als er nickte, sagte sie: »Was hältst du davon?«

Par ließ sich wie die anderen beiden auf dem Fels nieder. »Ich glaube, daß die zehn Generationen der Ohmsfords, die seit den Tagen von Brin und Jair gelebt haben, immer auf ein solches Ereignis gewartet haben. Ich glaube, daß die Magie des Elfenhauses von Shannara, die dann zur Magie der Ohmsfords wurde, mehr ist, als wir annehmen. Ich glaube, daß Allanon – oder zumindest sein Schatten – uns sagen wird, was es damit auf sich hat.« Er schwieg. »Ich glaube, daß die Magie zugleich wunderbar und schrecklich sein wird.« Er zuckte entschuldigend die Schultern. »Ich wollte nicht übermäßig drastisch klingen. Ich wollte dir nur sagen, wie ich die Dinge sehe.«

Ganz automatisch übersetzte sie seine Aussagen für Garth, dessen Miene keinen Hinweis auf seine Gedanken gab. »Du und Walker verfügt über Magie«, sagte sie ruhig. »Aber ich nicht. Was sagst du dazu?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sicher. Morgans Zauberkraft ist im Augenblick stärker als meine, und er wurde nicht gerufen.« Er erzählte ihr daraufhin von ihrem Zusammentreffen mit dem Schattenwesen und von des Hochländers Entdeckung der Zauberkraft, die im Schwert von Leah geschlafen hatte. »Ich frage mich manchmal selbst, warum die Träume mich und nicht ihn gerufen haben, auch wenn ich das Wunschlied hier und da eingesetzt habe.«

»Aber du weißt nicht, wie stark deine Zauberkraft in Wirklichkeit ist, Par«, sagte sie leise. »Aus den Geschichten solltest du wissen, daß keiner der Ohmsfords seit Shea die Möglichkeiten der Elfenmagie wirklich verstanden hat. Könnte es bei dir nicht ähnlich sein?«

Schaudernd erkannte er, daß das sehr wohl der Fall sein konnte. Er reckte den Hals. »Und wie ist es mit dir, Wren?«

»Ich bin nur eine einfache Fahrende, in deren Adern nicht das Blut fließt, das die Magie von einer Generation zur nächsten weiterleben läßt.« Sie lachte. »Ich werde mich mit meinem Beutel und meinen vermeintlichen Elfensteinen zufriedengeben.«

Jetzt lachte auch er, als er an den kleinen ledernen Beutel mit den gefärbten Steinen dachte, den sie schon als Kind sorgfältig gehütet hatte. Eine Zeitlang erzählten sie einander, wie es ihnen ergangen war, wo sie gewesen waren und wen sie auf ihren Reisen getroffen hatten. Jeder fühlte sich in der Gegenwart des anderen so wohl, als wären seit ihrem Auseinandergehen nicht Jahre, sondern nur Wochen vergangen. Par entschied, daß dies Wren zuzuschreiben war. Sie hatte es geschafft, die alte Vertrautheit wiederherzustellen. Er war verblüfft über das schier unendliche Selbstvertrauen dieses wilden, freien Mädchens, das offensichtlich mit seinem Leben vollkommen zufrieden war und sich scheinbar durch Anforderungen oder Zwänge, die ihr in den Weg traten, nicht aufhalten ließ. Sie war sowohl innerlich wie äußerlich stark, und er bewunderte sie dafür. Er ertappte sich dabei, daß er sich wenigstens einen kleinen Teil ihrer Beherztheit wünschte.

»Was hältst du von Walker?« fragte sie ihn nach eini­ ger Zeit.

»Er ist unnahbar«, antwortete er sogleich. »Immer noch im Bann der Dämonen, für die mir jegliches Verständnis fehlt. Er spricht von seinem Argwohn gegenüber der Magie der Elfen und Druiden und besitzt trotzdem seine eigene Magie, die er bereitwillig einsetzt. Ich verstehe ihn wirklich nicht.«

Wren übersetzte Garth seine Aussage, und der Fahrende antwortete mit einem kurzen Zeichen. Wren sagte zu Par: »Garth meint, daß Walker Angst hat.«

Par schaute sie überrascht an. »Woher weiß er das?«

»Er weiß es einfach. Da er taub ist, sind seine anderen Sinne ausgeprägter. Er kann die Gefühle anderer sehr viel schneller erkennen als du und ich das können – selbst die Gefühle, die unterdrückt werden.«

Par nickte. »Tja, in diesem Fall hat er hundertprozentig recht. Walker hat Angst. Er hat es mir selbst gesagt. Er sagt, daß er sich vor den Auswirkungen der Sache mit Allanon fürchtet. Komisch, nicht wahr? Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend etwas Walker Angst einjagen könnte.«

Wren übersetzte für Garth, aber der Riese zuckte lediglich die Schultern. Sie saßen eine Zeitlang stumm da und hingen ihren Gedanken nach. Schließlich sagte Wren: »Hast du gewußt, daß Cogline einst Walkers Lehrer war?«

Par sah sie scharf an. »Hat er dir das erzählt?«

»Man könnte sagen, ich hab’s ihm entlockt.«

»Lehrer wofür, Wren? Lehrer der Magie?«

»Irgend etwas.« Ihre dunklen Gesichtszüge waren nicht zu deuten, ihr Blick abwesend. »Ich glaube, es gibt vieles zwischen den beiden, was, ebenso wie Walkers Angst, nicht offen ausgesprochen wird.«

Par war, obwohl er dies nie zugegeben hätte, geneigt, ihr zu glauben. Die Mitglieder der kleinen Gruppe schliefen in dieser Nacht unbehelligt im Schatten der Drachenzähne, aber bei Tagesanbruch waren sie wach. Die kommende Nacht war die erste Nacht des neuen Mondes, die Nacht, in der sie dem Schatten Allanons begegnen sollten. Ungeduldig verrichteten sie die notwendigen Arbeiten. Sie aßen, ohne daß sie den Geschmack der Speisen bemerkt hätten. Sie sprachen nur wenig miteinander, bewegten sich unruhig und fanden allerlei kleine Aufgaben, die ihre Gedanken von den kommenden Dingen ablenkten. Der klare, wolkenlose Tag verströmte die Gerüche des warmen Sommers; es war ein Tag, den sie unter anderen Umständen sehr wohl genossen hätten, der ihnen jetzt jedoch fast endlos schien.

Cogline tauchte um Mittag herum wieder auf. Als er sich ihnen näherte, sah er staubig und unordentlich aus, sein Haar war wirr, seine Augen lagen aufgrund einer schlaflosen Nacht in tiefen Höhlen. Er erklärte ihnen, daß alles bereit sei – was immer das zu bedeuten hatte – und daß er sie nach Einbruch der Nacht abholen werde. Er weigerte sich trotz des Drängens der Ohmsfords, mehr zu sagen, und verschwand auf dem gleichen Weg, auf dem er gekommen war.

»Was, glaubt ihr, macht er da oben?« murmelte Coll den anderen zu, als die schäbige Gestalt sich in einen kleinen schwarzen Fleck in der Ferne verwandelte, bis sie schließlich ganz verschwunden war.

Die Sonne wanderte langsam nach Westen, und die Mitglieder der kleinen Gruppe zogen sich noch mehr in sich selbst zurück. Das, was geschehen sollte, machte sich immer mehr in ihren Gedanken breit, ein Schreckgespenst von solcher Tragweite, daß sie den Gedanken daran fürchteten. Selbst Walker Boh, von dem man hätte annehmen können, daß eine Begegnung mit Schatten und Geistern nichts Neues für ihn war, verkroch sich in sich wie ein Dachs in seinem Loch und wurde vollkommen unnahbar.

Nichtsdestoweniger stieß Par am Nachmittag, als er durch die Berge am Rand der Quellen wanderte, auf seinen Onkel. Als sie einander gewahr wurden, gingen sie langsamer, um schließlich stehen zu bleiben und einander argwöhnisch anzuschauen.

»Glaubst du, daß er wirklich kommt?« fragte Par schließlich.

Walker Bohs blasse Gesichtszüge wurden durch die Kapuze seines Mantels teilweise verdeckt, so daß seine Empfindungen kaum auszumachen waren. »Er wird kommen«, erwiderte er.

Par überlegte kurz und sagte dann: »Ich weiß nicht, was ich zu erwarten habe.«

Walker Boh schüttelte den Kopf. »Das macht nichts, Par. Was du auch erwartest, dieses Treffen wird in keiner Weise so sein, wie du es dir vorstellst, das kann ich dir versichern. Die Druiden haben schon immer für Überraschungen gesorgt.«

»Du machst dich auf das Schlimmste gefaßt, nicht wahr?«

»Ich vermute…« Seine Stimme verklang, ohne daß er den Satz beendete.

»Magie«, sagte Par.

Der andere runzelte die Stirn.

»Druidenmagie – das ist es, was du vermutest, stimmt’s? Ich hoffe, du hast recht. Ich hoffe, daß sie erschallt und ertönt und daß sie uns all die Türen öffnet, die so lange verschlossen waren, damit wir erkennen, wozu die Magie in der Lage ist.«

Das Lächeln, das dem Ausdruck von Erstaunen in Walker Bohs Gesicht wich, war ironisch. »Manche Türen bleiben besser für immer verschlossen«, sagte er leise. »Du tätest gut daran, das nicht zu vergessen.«

Er legte kurz seine Hand auf den Arm seines Neffen, bevor er sich schweigend wieder auf den Weg machte.

Der Nachmittag ging nur langsam in den Abend über. Als die Sonne endlich am Horizont verschwand, kehrten die Mitglieder der kleinen Gruppe langsam zum Lager zurück, um ihr Abendessen einzunehmen. Morgan war mehr als redselig, ein sicheres Zeichen seiner nervlichen Anspannung, und sprach unablässig von Magie und Schwertern und allen möglichen Schauergeschichten. Die anderen schwiegen, aßen, ohne zu sprechen, warfen nur ab und zu wachsame Blicke nach Norden in Richtung der Berge. Teel aß überhaupt nichts, sondern saß allein im Schatten der Bäume; die Maske, die ihr Gesicht bedeckte, glich einer Mauer, die sie von allen anderen trennte. Selbst Steff ließ sie in Ruhe.

Die Nacht senkte sich herab, und die Sterne tauchten zuerst vereinzelt, dann in großer Zahl am Himmel auf, bis er von ihnen über und über bedeckt war. Kein Mond war zu sehen; es war dies die verheißene Zeit. Die Geräusche des Tages verklangen, und die der Nacht waren noch nicht zu hören. Das Feuer knisterte und knackte in der Stille. Einer oder zwei rauchten, und der durchdringende Geruch durchdrang die Luft. Morgan zog das glänzende Schwert von Leah aus der Scheide und fing an, es zu polieren. Wren und Garth fütterten und striegelten die Pferde. Walker Boh begab sich ein Stück den Pfad hinauf und starrte in Richtung der Berge. Die anderen saßen gedankenverloren um das Feuer herum.

Alle warteten. Es war Mitternacht, als Cogline sie holen kam. Der alte Mann trat wie ein Geist aus den Schatten heraus und stand so urplötzlich vor ihnen, daß sie alle aufschreckten. Niemand, nicht einmal Walker Boh, hatte ihn kommen sehen.

»Es ist Zeit«, verkündete er.

Lautlos erhoben sie sich und folgten ihm. Er führte sie den Pfad hinauf in die allmählich dichter werdenden Schatten der Drachenzähne. Cogline schien die Augen einer Katze zu besitzen. Seine Schützlinge hatten alle Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Par, Coll und Morgan gingen unmittelbar hinter dem alten Mann, gefolgt von Wren und Garth sowie Steff und Teel; Walker Boh bildete die Nachhut. Der Pfad stieg, nachdem sie die ersten Zacken erreicht hatten, steil an, und sie schritten durch einen engen Hohlweg, der sich wie eine Tasche in die Berge hinein öffnete. Es war still hier, so still, daß sie einander atmen hören konnten, während sie mühsam nach oben stapften.

Die Minuten vergingen wie im Flug. Steinblöcke versperrten ihnen den Weg, und der Pfad wand sich vor ihnen wie eine Schlange. Par stolperte und schürfte sich die Knie auf, denn die herumliegenden Steine waren so scharf wie Glas. Ihre Farbe war ein seltsames, spiegelartiges Schwarz, das ihn an Kohle erinnerte. Aus reiner Neugierde hob er einen kleinen Stein auf und steckte ihn in seine Tasche.

Dann plötzlich teilten sich die Berge vor ihren Augen, und sie betraten den Rand des Tales von Shale. Es war kaum mehr als eine breite, flache Mulde, die von Steinen übersät war, die allesamt mit der gleichen spiegelartigen Schwärze glitzerten wie der Stein, den Par eingesteckt hatte. Das Tal wies kein Leben auf. In seiner Mitte lag ein See, dessen grünlich-schwarzes Wasser träge Strudel bildete.

Cogline hielt an und blickte sich zu ihnen um. »Das Hadeshorn«, flüsterte er. »Heimstatt für die Geister der Zeiten, für die Druiden der Vergangenheit.« Sein verwittertes altes Gesicht nahm einen fast ehrfurchtsvollen Ausdruck an. Dann drehte er sich um und ging ihnen voraus ins Tal hinunter.

Mit Ausnahme der Atemzüge und der Geräusche, die ihre Stiefel auf den Steinen verursachten, war das Tal in vollkommene Stille gehüllt. Augen spähten achtsam, suchten Geister, wo es keine gab, vermuteten Leben in jedem Schatten. Es herrschte eine seltsame Wärme an diesem Ort, die Hitze des Tages schien durch die Kühle der Nacht gefangen. Par spürte, wie Schweiß seinen Rücken hinunterrann.

Dann betraten sie den Talboden. Sie konnten jetzt die Bewegungen des Wassers genauer sehen, sie hörten das Plätschern der winzigen Wellen. Sie nahmen den durchdringenden Geruch von alternden und verwesten Dingen wahr.

Sie waren immer noch mehrere Dutzend Meter vom Rande des Wassers entfernt, als Cogline ihnen Einhalt gebot, indem er beide Hände erhob. »Bleibt hier stehen. Kommt nicht näher. Die Wasser des Hadeshorns bedeuten Gift und Tod für jeden Sterblichen!« Er kauerte am Boden und legte einen Finger an seine Lippen.

Sie folgten seiner Bitte. Sie spürten etwas Greifbares, das in der Luft hing wie Rauch, der aus einem Holzfeuer aufsteigt. Sie bewegten sich nicht von der Stelle, wachsam, erfüllt von einer Mischung aus Erstaunen und Zaudern. Keiner sprach ein Wort. Der sternenbedeckte Himmel erstreckte sich wie ein endloses Gewölbe über ihnen.

Schließlich erhob sich Cogline und bedeutete ihnen mit Bewegungen seiner Hände, sich dicht bei ihm aufzustellen. Erst als sie Schulter an Schulter um ihn herumstanden, fing er an zu sprechen. »Allanon wird kurz vor Tagesanbruch erscheinen.« Die scharfen alten Augen blickten sie feierlich an. »Er wünscht, daß zuerst ich mit euch spreche. Er ist nicht mehr der, der er einmal war. Er ist nur noch ein Schatten. Die Zeit, die ihm zur Verfügung steht, ist kaum mehr als ein Wimpernschlag. Jedesmal, wenn er die Welt der Geister verläßt, kostet es ihn unendliche Kraft. Er kann nur kurze Zeit hier verweilen. Die Zeit, die ihm zur Verfügung steht, muß er weise nutzen. Er wird euch mitteilen, auf welche Weise er euch braucht. Er hat es mir überlassen, euch zu erklären, warum ihr gebraucht werdet. Ich muß euch deshalb von den Schattenwesen berichten.«

»Du hast also mit ihm gesprochen?« fragte Walker Boh.

Cogline schwieg.

»Warum hast du bis jetzt gewartet, um uns von den Schattenwesen zu erzählen?« Par war plötzlich ärgerlich. »Warum jetzt, Cogline, wenn du uns schon sehr viel früher davon hättest erzählen können?«

Der alte Mann schüttelte den Kopf, sein Gesicht drückte sowohl Tadel wie auch Mitgefühl aus. »Es stand nicht in meiner Macht, mein Junge. So lange nicht, bis ihr alle hier zusammengekommen seid.«

»Kindereien!« murmelte Walker Boh und schüttelte angewidert den Kopf.

Der alte Mann schenkte ihm keine Beachtung. »Du kannst denken, was du willst, solange du nur zuhörst. Ich erzähle euch jetzt das über die Schattenwesen, was Allanon mir aufgetragen hat. Das Böse in ihnen ist von unvorstellbarem Ausmaß. Sie sind weder Gerüchte noch Legenden, wie die meisten glauben wollen, sondern Lebewesen wie ihr und ich. Sie sind aus einem Irrtum hervorgegangen, den selbst Allanon in all seiner Weisheit nicht vorhersehen konnte. Als Allanon die Welt der Sterblichen verließ, glaubte er, das Zeitalter der Magie nähere sich seinem Ende und ein neues Zeitalter breche an. Den Dämonenlord gab es nicht mehr. Die Dämonen der alten Zauberwelt waren wieder eingekerkert. Der Ildatch war zerstört. Paranor war in die Geschichte eingegangen, und der letzte der Druiden war im Begriff, diesem Schicksal zu folgen. Es schien, als wäre die Magie nicht mehr vonnöten.«

»Die Magie ist immer vonnöten«, sagte Walker Boh schnell.

Wieder schenkte ihm der alte Mann keine Beachtung. »Die Schattenwesen sind ein Irrtum. Sie sind eine Magie, die aus der Anwendung anderer Magie hervorgegangen ist, ein Überrest dessen, was einmal war. Die Saat war schon in den Vier Ländern vorhanden, blieb jedoch zu Zeiten Allanons unentdeckt und ging erst auf, als die Druiden und ihre schützende Macht nicht mehr vorhanden waren. Niemand hatte wissen können, daß es sie gab, nicht einmal Allanon. Sie waren die Überreste der vergangenen Magie.«

»Nun mach mal halb lang!« wandte Par ein. »Was sagst du da, Cogline? Die Schattenwesen sind nur Teilchen einer abartigen Magie?«

Cogline atmete tief ein, während er die Hände faltete. »Talbewohner, ich habe dir schon einmal gesagt, daß du trotz der ganzen Magie, über die du verfügst, sehr wenig von ihr weißt. Die Magie ist eine Naturgewalt, so wie das Feuer im Erdinnern, wie die Gezeiten des Meeres und der Wind, der Wälder zerbricht, oder der Hunger, der ganze Völker auslöscht. Die Magie ist nicht etwas, das da ist, um dann spurlos zu verschwinden. Denk nach! Was war mit Wil Ohmsford und den Elfensteinen, als sein Elfenblut nicht mehr ausreichte, um über die Macht der Elfensteine zu gebieten? Sie blieb als das Wunschlied erhalten, das in deinen Vorfahren weiterlebte. War das etwa bedeutungslos? Jede Magie hat Auswirkungen, die über das Unmittelbare hinausgehen. Und alle sind sie wichtig.«

»Welche Magie hat denn nun die Schattenwesen geschaffen?« fragte Coll, dessen Gesicht wie versteinert war.

Der alte Mann schüttelte sein strähniges Haupt. »Allanon weiß es nicht. Niemand kann es mit Sicherheit sagen. Es könnte sich jederzeit im Leben Shea Ohmsfords und seiner Nachfahren ereignet haben. In jenen Zeiten gab es allerlei Magie, und nicht selten handelte es sich um schwarze Magie. Die Schattenwesen konnten aus allen möglichen Quellen hervorgehen.« Er hielt inne. »Am Anfang waren die Schattenwesen gar nichts. Sie waren der Abfall der angewandten Magie. Irgendwie haben sie unbemerkt überleben können. Erst als Allanon und Paranor verschwunden waren, sind sie in die Vier Länder eingedrungen und wurden allmählich mächtiger. Inzwischen herrschte, was die höhere Ordnung der Dinge anbetraf, eine Lücke, die auf jeden Fall gefüllt werden mußte, und die Schattenwesen haben nicht gezögert, sie zu füllen.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Par eilig. »Was für eine Lücke meinst du?«

»Und warum hat Allanon sie nicht vorausgesehen?« fügte Wren hinzu.

Der alte Mann hob eine Hand in die Höhe und bog ihre Finger, während er sprach, einen nach dem anderen nach unten. »Das Leben war schon immer ein Kreislauf. Macht kommt und geht; sie nimmt verschiedene Formen an. Irgendwann war es die Wissenschaft, die der Menschheit ihre Macht verlieh. Seit einiger Zeit ist es die Magie. Allanon sah die Rückkehr der Wissenschaft als ein Mittel zum Fortschritt voraus, im besonderen im Zusammenhang mit dem Niedergang der Druiden und Paranors. Das war das Zeitalter, das kommen sollte. Aber die Entwicklung der Wissenschaft ging zu langsam vonstatten, als daß sie die Lücke hätte füllen können. Zum Teil ist dies auf die Föderation zurückzuführen. Die Föderation hat dafür gesorgt, daß das Alte intakt blieb; sie verbot die Ausübung jeder Art von Macht mit Ausnahme ihrer eigenen, und ihre eigene war primitiv und kriegerisch. Sie dehnte ihren Einflußbereich auf alle Vier Länder aus, bis alle Lebewesen ihrem Gesetz unterworfen waren. Aber auch die Elfen besaßen Macht und Einfluß; aus Gründen, die wir noch nicht kennen, sind sie verschwunden. Sie waren die ausgleichende Kraft, das letzte Volk der Zauberwelt der alten Zeit. Ihre Gegenwart war unbedingt erforderlich, sollte der Übergang von der Magie zur Wissenschaft reibungslos erfolgen.« Er schüttelte den Kopf. »Doch selbst wenn die Elfen in der Welt der Sterblichen geblieben und die Föderation weniger mächtig gewesen wäre, gäbe es möglicherweise heute Schattenwesen. Die Lücke entstand, als die Druiden verschwanden. Nichts hätte daran etwas ändern können.« Er seufzte. »Allanon hat nicht alles vorausgesehen, was er hätte voraussehen sollen. Er hat nicht mit den Schattenwesen gerechnet. Während er am Leben war, tat er, was er konnte, um die Vier Länder zu beschützen – und er blieb am Leben, solange er dies vermochte.«

»Scheinbar war das nicht genug«, sagte Walker Boh spitz.

Cogline sah ihn an, und der Zorn in seiner Stimme war offensichtlich. »Nun, Walker Boh, vielleicht hast du eines Tages Gelegenheit zu zeigen, daß du es besser kannst.«

Einen Augenblick herrschte bedrückendes Schweigen. Dann wandte Cogline seinen Blick ab. »Ihr müßt verstehen, was die Schattenwesen sind. Die Schattenwesen sind Parasiten. Sie leben auf Kosten der sterblichen Lebewesen. Sie sind eine Magie, die sich von lebendigen Dingen ernährt. Sie dringen in sie ein, saugen sie aus und nehmen ihre Gestalt an. Par, denk an die Waldfrau, auf die du und Coll gestoßen seid, als wir uns zum erstenmal getroffen haben. Sie war ein Schattenwesen, ein vergiftetes, ehemals sterbliches Wesen, ein zerstörtes Wesen, das sich ebenso wenig in der Gewalt hatte wie ein wildes Tier. Und erinnerst du dich an das kleine Mädchen am Tofferkamm?«

In Par stieg die Erinnerung an das Monster, dem ihn die Spinnengnome ausgeliefert hatten, auf. Er spürte wieder, wie sie sich an ihn heranschlich und ihn bat: »Drück mich, drück mich«, spürte, wie verzweifelt sie seine Umarmung wünschte. Die Erinnerung ließ ihn zusammenzucken.

Coglines Hand legte sich fest auf seinen Arm. »Auch das war ein Schattenwesen, selbst wenn es auf den ersten Blick nicht als solches zu erkennen war. Sie treten zuweilen auf wie wir, verbergen sich hinter einer menschlichen Maske. Manche nehmen in Gestalt und Verhalten groteske Formen an; diese sind leicht zu erkennen. Andere dagegen sind nicht so leicht zu erkennen.«

»Aber warum gibt es solche und solche?« fragte Par unsicher.

»Wieder einmal weiß Allanon darauf keine Antwort. Die Schattenwesen haben ihr Geheimnis vor ihm bewahrt.« Coglines Gesicht drückte Verzweiflung aus. »Es ist wie eine Seuche. Die Krankheit breitet sich aus, bis sich die Zahl der Erkrankten ins Unermeßliche steigert. Jedes einzelne Schattenwesen kann die Krankheit übertragen. Je größer ihre Zahl, desto stärker sind sie. Was würdest du tun, um eine Seuche zu bekämpfen, deren Ursache unbekannt ist, deren Symptome erst dann ersichtlich werden, wenn sie ausgebrochen ist, und gegen die es keine Gegenmittel gibt?«

Die Mitglieder der kleinen Gruppe blickten einander mit sichtlichem Unbehagen an.

Schließlich sagte Wren: »Verfolgen sie mit ihrem Tun eine bestimmte Absicht, Cogline? Eine Absicht, die über die Ansteckung lebendiger Wesen hinausgeht? Können sie denken wie du und ich, oder sind sie ohne Geist und Verstand?«

Par schaute das Mädchen mit unverhohlener Bewunderung an. Ihre Frage war die beste von allen. Er wünschte, er hätte sie gestellt.

»Sie denken wie du und ich, Fahrende, und mit ziemlicher Sicherheit verfolgen sie mit ihrem Tun eine Absicht. Aber wir kennen diese Absicht nicht.«

»Sie wollen uns vernichten«, warf Morgan hitzig ein. »Das ist doch wahrlich Absicht genug.«

Aber Cogline schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie wollen noch mehr.«

Und jäh stieg der Gedanke an die Träume, die Allanon geschickt hatte, in Par wieder auf, die Visionen einer alptraumhaften Welt, in der das Leben unkenntliche Formen angenommen hatte. Gerötete Augen leuchteten feurig, und schattenhafte Gestalten huschten durch einen Nebel aus Asche und Rauch. Er erkannte, daß es genau das war, was die Schattenwesen erreichen wollten. Ohne zu überlegen, sah er Wren an und fand seine Frage in ihren Augen bestätigt. Er wußte instinktiv, was in ihr vorging. Das Gleiche sah er in Walker Bohs Augen. Sie hatten die Träume geteilt, und diese Träume verbanden sie, und zwar so sehr, daß ihre Gedanken einen Augenblick dieselben waren.

»Irgend etwas führt die Schattenwesen«, flüsterte Cogline. »Es gibt eine Macht, die alles, was wir kennen, übersteigt…« Er ließ den Satz unbeendet, als versage ihm die Stimme den Dienst.

Seine Zuhörer blickten einander an.

»Was sollen wir tun?« fragte Wren schließlich.

Mühsam erhob sich der alte Mann. »Genau das, wozu wir hergekommen sind, Fahrende – hören, was Allanon uns zu sagen hat.« Schwerfällig ging er davon, und keiner versuchte ihn aufzuhalten.

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