Wo war Teel? Morgan Leah kniete neben Steff nieder, berührte sein Gesicht und spürte dessen Kälte in seinen Fingern. Er packte Steff, aber dieser schien nicht einmal das zu spüren. Morgan löste seine Hände von ihm und setzte sich wieder auf die Fersen. Seine Augen durchbohrten die Dunkelheit um ihn herum.
Wo war Teel?
Die verschiedenen Möglichkeiten zogen an seinem geistigen Auge vorbei. War sie aufgestanden, um Steff etwas zu trinken, etwas Warmes zu essen, vielleicht eine wärmere Decke zu holen? Oder um nach dem Rechten zu sehen, weil sie durch eine Ahnung oder jenen sechsten Sinn aus dem Schlaf geschreckt worden war, der einem das Leben rettet, wenn man ständig auf der Flucht ist?
Nein. Er kannte die Antwort. Sie war zum Geheimgang gegangen, und zwar um die Soldaten der Föderation durch ihn zum Zeigefinger zu führen. Sie war im Begriff, sie ein letztes Mal zu verraten.
»Keiner außer Damson, Chandos und mir kennt den anderen Zugang – jetzt da Hirehone tot ist.«
Das waren Padishar Creels Worte gewesen, als er von dem geheimen Fluchtweg gesprochen hatte – Worte, die Morgan völlig entfallen waren. Die Klarheit der Erinnerung ließ ihn frösteln. Wenn seine Folgerungen stimmten, wenn es stimmte, daß der Verräter ein Schattenwesen war, das ihnen in Hirehones Gestalt nach Tyrsis gefolgt war, dann besaß es Hirehones Gedächtnis und kannte auch den Geheimgang.
Und wenn das Schattenwesen jetzt in Gestalt von Teel…
Morgan spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Die Föderation würde Monate brauchen, um den Zeigefinger durch Belagerung einzunehmen. Aber was war, wenn die Belagerung nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver war? Was war, wenn selbst der Kriecher, der freilich versagt hatte, nur zur Ablenkung gedient hatte? Was war, wenn es von Anfang an die Absicht der Föderation gewesen war, den Zeigefinger von innen einzunehmen, durch Verrat, durch den Gang, der den Geächteten als Fluchtweg hatte dienen sollen?
Morgan Leah war wie gelähmt. Er mußte Steff allein lassen und unverzüglich mit Padishar Creel sprechen. Wenn sein Verdacht in bezug auf Teel stimmte, mußte sie gefunden und aufgehalten werden.
Daß Teel möglicherweise der schlimmste ihrer Feinde war, der sie allesamt seit Culhaven verfolgt und so vollkommen getäuscht hatte, ganz besonders Steff, der davon überzeugt war, daß er ihr sein Leben verdankte, und der sie liebte – das Entsetzen, das von diesem Gedanken ausging, schnürte ihm die Kehle zu. Er wußte, daß dieses Entsetzen nicht von der bloßen Möglichkeit des Verrats herrührte, sondern von der Gewißheit.
Steff klammerte sich ängstlich an ihm fest. »Wo ist sie, Morgan? Du weißt es! Ich sehe es dir an!«
Morgan versuchte nicht sich loszumachen. Statt dessen sah er seinem Freund ins Gesicht und sagte: »Ich glaube, daß ich es weiß. Aber du mußt hier warten, Steff. Du mußt mich sie allein suchen lassen.«
»Nein.« Unwillig schüttelte Steff den Kopf. »Ich kom- me mit.« »Das kannst du nicht. Du bist zu schwach…« »Ich komme mit, Morgan! Sag mir, wo sie ist.« Der Zwerg wurde immer wieder von Fieberanfällen geschüttelt, aber Morgan wußte, daß er sich nur mit Gewalt aus dem Griff seines Freundes befreien konnte. »Also gut«, stimmte er zu.
Er stützte seinen Freund, und gemeinsam stapften sie in die Dunkelheit hinein. Er konnte Steff nicht allein zurücklassen, obwohl er wußte, daß sich die Dinge in seiner Gegenwart sehr viel schwieriger gestalten würden. Er würde einfach das tun, was er tun mußte, und zwar ungeachtet des Freundes. Plötzlich stolperte er und Steff mit ihm, weil sie die Rolle Tauwerk nicht gesehen hatten, die am Boden lag. Morgan erkannte jetzt erst, daß er sich noch nicht einmal die Zeit genommen hatte, seine Mutmaßung zu Ende zu denken. Teel war die Verräterin. Er mußte es akzeptieren. Steff konnte es zwar nicht, aber er hatte keine andere Wahl. Teel war diejenige…
Er dachte nicht weiter.
Nein. Nicht Teel. Nenn dieses Ding nicht Teel. Teel ist tot. Also nicht Teel. Das Schattenwesen, das sich in Teel versteckt.
Sein Atem ging immer schneller, als er mit Steff, der sich an ihm festhielt, durch die Nacht eilte. Das Schattenwesen mußte ihren Körper verlassen und Hirehones Gestalt angenommen haben, um Padishar Creels kleiner Truppe zu folgen und sie an die Föderation zu verraten. Dann hatte es Hirehones Körper verlassen, war zum Lager zurückgekehrt, hatte die Wachen getötet, um unbemerkt zu bleiben, und erneut von Teel Besitz ergriffen. Steff hatte überhaupt nicht mitbekommen, was geschehen war. Er hatte geglaubt, Teel sei vergiftet worden. Das Schattenwesen ließ ihn in dem Glauben. Es hatte es sogar fertiggebracht, den Verdacht auf Hirehone zu lenken, indem es ihm erzählt hatte, daß es ihm vor der Bewußtlosigkeit zum Rand der Anhöhe gefolgt sei. Er fragte sich, wie lange Teel schon ein Schattenwesen war. Schon sehr lange, entschied er. Er stellte sich ihren Körper als eine leere Hülle vor, und er knirschte mit den Zähnen ob dieser Vorstellung. Er erinnerte sich an Pars Bericht davon, wie das Schattenwesen auf dem Tofferkamm in Gestalt eines kleinen Mädchens versucht hatte, von ihm Besitz zu ergreifen. Er erinnerte sich an das Entsetzen und den Ekel, von dem der Talbewohner gesprochen hatte.
Es blieb keine Zeit mehr, über die Angelegenheit weiter nachzugrübeln. Sie näherten sich der großen Höhle. Der Eingang war von Fackeln erleuchtet. Dort stand Padishar Creel. Der Anführer der Geächteten war wach, wie Morgan gehofft hatte, und unterhielt sich in seinem leuchtend roten Gewand mit den Männern, die die Kranken und Verwundeten betreuten.
»Was tust du?« schrie Steff zornig. »Das ist eine Sache nur zwischen uns beiden, Morgan!«
Aber Morgan überging seine Proteste und zog ihn ins Licht. Als die beiden Männer auf ihn zustolperten, drehte Padishar Creel sich um und packte sie an den Schultern. »Langsam, langsam! Was habt ihr denn für einen Grund, so durch die Dunkelheit zu stürmen? Eure Augen verraten mir allerdings, daß euch etwas einen Schrecken eingejagt hat. Was ist passiert?«
Steff versteifte sich vor Zorn, und seine Augen waren hart. Morgan zögerte. Die Männer, die um Padishar Creel herumstanden, warfen ihnen neugierige Blicke zu; sie standen außerdem nahe genug, um zu hören, was er, Morgan, zu sagen hatte. Er lächelte sein entwaffnendes Lächeln. »Ich glaube, ich weiß jetzt, wer die Person ist, hinter der du her bist«, sagte er zu dem großen Mann.
»Nun, wenn’s weiter nichts ist.« Padishar Creels scherzhafte Worte waren ebenso an seine Männer gerichtet wie an Morgan und Steff. »Also dann, kommt kurz mit und erzählt mir davon.« Er legte den Arm um Steffs Schultern, als wäre alles in schönster Ordnung, und zog den Hochländer und den Zwerg in den Schatten. »Was hast du herausgefunden?« wollte er dort von Morgan wissen.
Morgan sah Steff an und schüttelte den Kopf. Sein Körper war unter seinen Kleidern jetzt schweißbedeckt, und sein Gesicht lief rot an. »Padishar«, sagte er, »Teel ist verschwunden. Steff weiß nicht, was mit ihr passiert ist. Ich glaube, daß sie möglicherweise in den Geheimgang gegangen ist.«
Er wartete, während seine Augen den großen Mann fixierten; im stillen hoffte er, der andere möge keine weitere Erklärung fordern. Er war sich immer noch nicht sicher, nicht absolut sicher, und Steff würde ihm in keinem Fall glauben.
Padishar Creel verstand. »Wir wollen nachschauen. Du und ich, Hochländer.«
Steff hielt Morgan am Arm fest. »Ich komme mit.« Sein Gesicht war schweißüberströmt und seine Augen glasig, aber an seiner Entschlossenheit bestand kein Zweifel.
»Du bist noch immer viel zu schwach, mein Junge.«
»Das ist meine Sache!«
Mit einem Ruck wandte Padishar Creel sein Gesicht zum Licht. Es war über und über mit Striemen und Schnittwunden bedeckt, die vom Kampf der vergangenen Nacht zeugten. »Auf keinen Fall meine«, sagte er leise. »Nur damit wir uns verstehen.«
Sie gingen in das Krankenrevier, wo Padishar Creel einen der Geächteten beiseite nahm und leise mit ihm redete. Morgan konnte gerade noch verstehen, was er sagte.
»Weck Chandos«, befahl Padishar Creel. »Sag ihm, er soll das Lager mobilisieren. Bereitet alles zum Aufbruch vor. Dann soll er mir in den Geheimgang nachkommen. Aber nicht allein. Sag ihm, daß die Geheimnistuerei ein Ende hat und daß es ganz egal ist, ob die anderen wissen, was er vorhat.«
Der Mann eilte davon, und Padishar Creel bedeutete Morgan und Steff, ihm zu folgen. Er führte sie durch die Haupthöhle zu der abgeschiedenen Stelle, wo die Vorräte aufbewahrt wurden. Er zündete drei Fackeln an, von denen er eine selbst behielt und die anderen beiden an den Hochländer und den Zwerg weitergab. Dann ging er voraus zu dem Raum, wo die Kisten an der Felswand lagerten, übergab Morgan seine Fackel, ergriff die Kisten mit beiden Händen und zog. Die Geheimtür ging auf und gab den dahinterliegenden Gang frei. Nachdem sie durch die Öffnung geschlüpft waren, zog Padishar Creel die Kisten wieder davor. »Bleibt dicht bei mir«, mahnte er.
Mit rauchenden Fackeln eilten sie in die Dunkelheit hinein. In den Gang hineinragende Stalaktiten wie Stalagmiten, bösartige steinerne Eiszapfen, machten den Weg gefährlich. Das von der Decke tropfende Wasser sammelte sich in kleinen Seen im Fels. In den Höhlen war es kalt, und die Kälte drang innerhalb kürzester Zeit durch Morgans Kleider. Er zitterte, während er hinter Padishar herging. Steff bildete die Nachhut; er schleppte sich mit unsicheren Schritten und keuchend hinter ihnen her.
Morgan fragte sich plötzlich, was sie tun würden, wenn sie auf Teel stießen. Im Geist überprüfte er seine Waffen. Er trug sein neu erworbenes Breitschwert auf dem Rücken, einen Dolch an seinem Gürtel und einen zweiten im Stiefelschaft. Um seine Taille hing die gekürzte Scheide, in der das, was vom Schwert von Leah übriggeblieben war, steckte.
Keine große Hilfe im Kampf gegen ein Schattenwesen, dachte er voller Sorge. Und wieviel Hilfe konnte er von Steff erwarten, selbst wenn dieser die Wahrheit erkannte? Was würde er tun?
Wenn ich nur noch die Zauberkraft hätte… Er zwang sich, nicht mehr daran zu denken, wohl wissend, wohin ihn seine Gedanken führen würden, und fest entschlossen, nicht mehr zuzulassen, daß seine Unentschlossenheit ihn lahmte.
Sie durchschritten eine Reihe von unterirdischen Höhlen, in denen das Licht ihrer Fackeln die Schatten, die die gewölbten Decken umspielten, nicht im entferntesten zu durchdringen vermochte. Kurz danach stießen sie auf eine Anzahl von Spalten, von denen einige mehr als zwanzig Meter breit waren. Holzbrücken führten über sie.
Die ganze Zeit über hielten sie Ausschau nach Teel. Aber sie war nicht zu sehen.
Steff konnte nur mit Mühe mit ihnen Schritt halten. Er verfügte im gesunden Zustand über enorme Kräfte, aber welche Krankheit ihn auch befallen haben mochte – wenn es sich tatsächlich um eine Krankheit handelte und er nicht, wie Morgan allmählich vermutete, vergiftet worden war –, sie hatte ihn so ziemlich aller Kräfte beraubt. Padishar Creel ging schnell voran. Der große Mann hatte gemeint, was er gesagt hatte – Steff war für sich selbst verantwortlich. Der Zwerg hatte es aufgrund seiner Entschlossenheit bis hierher geschafft, aber Morgan erkannte, daß er dem Tempo, das der Anführer der Geächteten vorgab, nicht länger gewachsen war. Der Hochländer blickte sich zu seinem Freund um, aber dieser, der mit gehetztem Blick die Schatten jenseits des Lichts absuchte, sah ihn anscheinend nicht.
Sie waren bereits mehr als eine Meile in den Berg hinein vorgedrungen, als sie einen Lichtschein bemerkten. Padishar Creel verlangsamte sein Tempo nicht. Der Gang verbreiterte sich, und die vor ihnen liegende Öffnung glänzte im Licht der Fackeln. Morgan spürte, wie sein Herz anfing schneller zu schlagen.
Sie betraten eine gewaltige unterirdische Höhle, die in hellem Licht erstrahlte. Die in den Wänden steckenden Fackeln erfüllten die Luft mit Rauch und dem Geruch von verkohltem Holz und brennendem Pech. In der Mitte der Höhle teilte ein breiter Spalt den Boden in zwei Hälften. Wieder spannte sich eine Brücke über die schmälste Stelle der Spalte, diesmal jedoch aus Eisen bestehend. An ihren Seiten befanden sich Vorrichtungen zum Hochziehen und Niederlassen der Brücke. Jetzt war sie unten und verband die beiden Hälften des Höhlenbodens. Dahinter erstreckte sich der Fels in den Gang hinein, der wieder in der Dunkelheit verschwand.
Teel stand neben einer der Winden und hämmerte auf sie ein.
Padishar Creel blieb stehen, und Morgan und Steff eilten neben ihn. Teel hatte sie bisher weder gehört noch gesehen, da das Licht ihrer Fackeln sich in der Helligkeit der Höhle verlor.
Padishar Creel legte seine Fackel zu Boden. »Sie hat eine der Winden zertrümmert.« Seine Augen richteten sich auf Steff. »Wenn wir sie nicht aufhalten, wird sie die Föderation auf direktem Wege zu uns führen.«
Mit wildem Blick starrte Steff ihn an. »Nein«, stieß er ungläubig hervor.
Padishar Creel schenkte ihm keine Beachtung. Er zog sein Breitschwert aus der Scheide und lief auf Teel zu.
Steff streckte die Hand aus, um ihn zurückzuhalten, stolperte und fiel. Wie von Sinnen schrie er: »Teel!«
Teel wirbelte herum. In der Hand hielt sie eine Eisenstange, auf deren glatter Oberfläche, wo sie die Winde getroffen hatte, schimmernde Kerben zu sehen waren. Morgan konnte das Ausmaß des Schadens jetzt deutlich erkennen. Teels Haar schimmerte golden im Licht. Unter ihrer Maske starrte sie sie an, einem Stück Leder, in dem es nur zwei dunkle Löcher gab.
Mit seinen großen Händen umfaßte Padishar Creel sein Breitschwert und hob die Klinge ins Licht. »Das war’s, Mädchen«, schrie er ihr entgegen.
Das Echo seiner Worte erfüllte die Höhle, und Steff kam torkelnd auf die Beine. »Padishar, warte!« heulte er auf.
Morgan warf sich ihm entgegen, bekam ihn am Arm zu fassen und riß ihn herum. »Nein, Steff, das ist nicht Teel! Nicht mehr!«
Steffs Augen glänzten vor Zorn und Angst.
Morgan sprach jetzt leise. »Hör mich an. Das ist ein Schattenwesen, Steff. Wie lange ist es her, seit du das Gesicht unter der Maske zum letzten Mal gesehen hast? Hast du es angeschaut? Es ist nicht mehr Teels Gesicht. Teel gibt es schon lange nicht mehr.«
Der Zorn und die Angst Steffs verwandelten sich in Entsetzen. »Morgan, nein! Ich würde es wissen! Ich würde es wissen, wenn es nicht mehr Teel wäre!«
»Steff, hör mir zu…«
Steff riß sich los, und Morgan packte ihn erneut. »Steff, schau dir an, was sie getan hat! Sie hat uns verraten!«
»Nein!« schrie der Zwerg und versetzte ihm einen Schlag.
Morgan sackte zusammen, die Härte des Schlages machte ihn benommen. Seine erste Reaktion war Überraschung; er hatte es nicht für möglich gehalten, daß Steff immer noch solche Kräfte besaß. Er stützte sich auf Hände und Knie und beobachtete, wie der Zwerg Padishar Creel nachrannte, während er ihm etwas zurief, das der Hochländer nicht verstehen konnte.
Steff hatte den großen Mann eingeholt, als er nur noch ein paar Schritte von Teel entfernt war. Der Zwerg warf sich von hinten auf Padishar Creel, packte den Arm, mit dem er das Schwert hielt, und drückte ihn nach unten. Außer sich vor Zorn schrie Padishar Creel auf und versuchte sich zu befreien, ohne Erfolg.
In dieser Verwirrung schlug Teel zu. Mit erhobener Eisenstange sprang sie sie wie eine Katze an. Die Eisenstange sauste auf sie nieder, und in wenigen Sekunden lagen Padishar Creel und Steff blutend auf dem Boden der Höhle.
Morgan kam taumelnd auf die Beine.
Ohne Hast ging sie auf ihn zu, und während sie sich ihm näherte, drängten sich ihm plötzlich alle Erinnerungen an sie auf. Er sah sie als kleines, verwahrlostes Mädchen, das er in Culhaven in der Küche von Großmütterchen Elise und Tantchen Jilt kennengelernt hatte, ihr honigfarbenes Haar, das unter den Falten ihrer Kapuze kaum sichtbar war, und ihr Gesicht, das unter der ledernen Maske verborgen war. Er sah, wie sie am Lagerfeuer den Gesprächen der kleinen Gruppe lauschte, die durch das Wolfsktaaggebirge marschiert war. Er sah, wie sie sich am Fuß der Drachenzähne, bevor sie aufbrachen, um den Geist von Allanon zu finden, an Steff ankuschelte – mißtrauisch und scheu.
Er verscheuchte die Bilder, zwang sich, sie so zu sehen, wie sie jetzt war, ein Wesen, das Padishar Creel und Steff niedergestreckt hatte; sie war zu schnell und zu stark, als daß sie das hätte sein können, was sie vorgab zu sein. Trotzdem fiel es ihm schwer zu glauben, daß sie ein Schattenwesen war, und noch schwerer, die Tatsache hinzunehmen, daß sie alle vollkommen getäuscht worden waren.
Er riß das Breitschwert hoch und wartete. Er mußte schnell sein. Er erinnerte sich an die Bestien in der Schlucht. Eisen hatte nicht ausgereicht, sie zu töten.
Teel kauerte sich zusammen, als sie sich ihm näherte. Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, war hart und unmißverständlich. Morgan täuschte einen Scheinangriff vor, um in der gleichen Sekunde einen Schlag gegen die Beine des Mädchens zu führen. Sie wich dem Schlag mühelos aus. Er ließ das Schwert erneut niedergehen – einmal, zweimal. Sie parierte die Hiebe, und der Aufprall des Schwertes auf die Eisenstange fuhr ihm durch Mark und Bein. Sie kauerten einander gegenüber, hieben in Scheinattacken aufeinander ein und warteten darauf, daß der andere sich zu einer Unvorsichtigkeit würde hinreißen lassen.
Dann ließ er das Breitschwert in einer Reihe von Hieben auf die Eisenstange niedersausen, und die Klinge zerbrach. Er stürmte mit dem Stumpf auf die Stange los, erwischte sie mit dem Schwertknauf und entriß sie ihr. Stange und Schwert flogen in hohem Bogen in die Dunkelheit.
Im gleichen Augenblick warf sich Teel auf Morgan, und ihre Hände griffen nach seiner Kehle. Sie war unglaublich stark. Es blieb ihm nur ein Augenblick zu handeln, während er nach hinten fiel. Seine Hand faßte nach dem Dolch an seinem Gürtel, riß ihn heraus und rammte ihn in ihre Brust. Überrascht wich sie zurück. Er stieß mit den Beinen nach ihr, zog den Dolch aus seinem Stiefel, stieß ihn ihr in die Seite und schlitzte ihr Fleisch auf.
Sie erwischte ihn mit einem Schlag ihres Handrückens und traf ihn so hart, daß er das Gleichgewicht verlor. Mit einem erstickten Schrei ging er zu Boden; der Schlag hatte ihn so hart getroffen, daß ihm die Luft wegblieb. Sterne tanzten vor seinen Augen, aber schließlich gelang es ihm, sich aufzuraffen.
Teel hatte sich nicht von der Stelle gerührt; die Dolche ragten immer noch aus ihrem Körper. Sie streckte die Hand nach ihnen aus, riß sie heraus und warf sie zur Seite.
Sie weiß, daß ich ihr nichts anhaben kann, dachte er voller Verzweiflung. Sie weiß, daß ich nichts besitze, womit ich ihr Einhalt gebieten könnte.
Sie schien vollkommen unverletzt, als sie auf ihn zu- kam. Er konnte keine Regung hinter ihrer dunklen Maske erkennen, nichts in ihren Augen; er sah nur eine Leere, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Während er zur Seite wich, suchte er den Höhlenboden nach einer brauchbaren Waffe ab. Sein Blick fiel auf die Eisenstange, nach der er in seiner Verzweiflung sofort die Hand ausstreckte.
Teel schien das keineswegs zu stören. Durch ihren ganzen Körper schien eine Bewegung zu gehen, als ob das Wesen, das in ihr lebte, Kräfte sammelte.
Morgan wich zu der Erdspalte zurück. Konnte es ihm gelingen, das Wesen nahe genug zum Abgrund zu locken, um ihm dann einen Stoß zu versetzen? Konnte er es auf diese Weise töten? Er wußte es nicht. Alles, was er wußte, war, daß er der einzige war, der es aufhalten konnte, der verhindern konnte, daß es die Geächteten an die Föderation verriet. Wenn er versagte, würden sie alle sterben.
Aber ich bin nicht stark genug – nicht ohne die Zauberkraft!
Er war nur noch wenige Schritte vom Rand der Spalte entfernt. Teel verkürzte den Abstand zwischen ihnen mit schnellen Schritten. Er versuchte sie mit der Stange zu treffen, doch sie bekam sie zu fassen, entriß sie ihm und schleuderte sie weg.
Dann war sie auch schon auf ihm. Ihre Hände umklammerten seine Kehle, raubten ihm die Luft, erstickten ihn. Mit aller Kraft versuchte er sich loszureißen, aber sie war viel zu stark. Vor lauter Schmerz kniff er die Augen zusammen; gleichzeitig spürte er einen kupferartigen Geschmack im Mund. Plötzlich fiel etwas Schweres über ihn.
»Teel, nicht!« hörte er jemand schreien, mit einer fast unmenschlichen, von Schmerz gepeinigten Stimme.
Steff!
Die Hände gaben etwas nach, und er sah, daß Steff auf Teel lag, sie festhielt und nach hinten zerrte. Blut rann ihm über das Gesicht. Eine klaffende Schädelwunde entstellte ihn.
Morgans rechte Hand tastete nach seinem Gürtel und fand den Knauf des Schwertes von Leah.
Teel riß sich von Steff los. Zorn stach aus ihren Augen. Sie riß Steffs Dolch aus der Scheide und stieß ihn tief in seine Brust. Steff stürzte nach hinten.
Teel wandte sich um, um Morgan den Todesstoß zu versetzen, und während sie sich halb über ihn beugte, stieß er ihr die zerbrochene Schwertklinge in den Bauch.
Schreiend bäumte sie sich auf, so daß Morgan erschrak. Seine Hände hielten den Knauf des Schwertes fest umklammert. Dann geschah etwas sehr Seltsames. Das Schwert von Leah wurde warm und leuchtete. Er spürte, wie es sich regte und zum Leben erwachte.
Die Zauberkraft! Großer Gott, es war die Zauberkraft!
Eine Kraft wogte durch die Klinge, die Teel in einen roten Feuerball verwandelte. Ihre Hände rissen an der Klinge, an ihrem Gesicht, und die Maske fiel herab. Morgan sollte niemals vergessen, was sich darunter verbarg – ein Anlitz aus den schwärzesten Abgründen der Unterwelt, besessen von Dämonen, wie er sie sich in seinen schlimmsten Träumen nicht vorgestellt hatte.
Unsichtbare Hände wollten sich Morgans bemächtigen, wollten ihm Waffe und Seele entreißen.
»Leah! Leah!« Sein Schrei erinnerte an den Schlacht- ruf seiner Vorfahren, an die Könige, die sein Land tausend Jahre lang regiert hatten.
Das Schattenwesen stieß ein gellendes Kreischen aus. Während es zusammenbrach, zerfiel die Finsternis, die ihm seine Kraft gab, zu Staub. Teel kam wieder zum Vorschein, ein zerbrechliches, kraftloses Bündel. Sie fiel auf ihn nieder und war tot. Es dauerte mehrere Minuten, bis Morgan genügend Kraft hatte, um Teel von sich wegzuschieben. Er lag in einer Pfütze von Blut und lauschte der plötzlichen Stille. Er konnte nur den einen Gedanken fassen, daß er überlebt hatte.
Langsam fing sein Herz an, wie wild zu schlagen. Es war die Zauberkraft, die ihn gerettet hatte, die Zauberkraft des Schwertes von Leah. Himmel, sie war also doch nicht ganz verloren gegangen! Wenigstens ein Teil von ihr war erhalten geblieben, und wenn ein Teil erhalten war, dann bestand die Möglichkeit, daß sie vollständig zurückkehrte…
Gierig atmete er die Luft ein und schob den leblosen Körper von sich weg. Er war überraschend leicht. Während er sich auf seine Hände und Knie erhob, sah er sie an. Ihr Gesicht war nach wie vor verzerrt und voller Narben, doch die Dämonen, die er in ihm gesehen hatte, waren verschwunden.
Dann hörte er, wie Steff nach Luft rang. Unfähig, vollends aufzustehen, kroch er auf Knien zu seinem Freund. Steff lag auf dem Rücken; der Dolch steckte immer noch in seiner Brust. Morgan streckte die Hand aus, um ihn herauszuziehen, hielt jedoch sofort wieder inne. Er hatte gesehen, daß er zu spät kam, daß er seinen Freund nicht mehr retten konnte. Behutsam legte er die Hand auf dessen Schulter.
Steff schlug die Augen auf, die umherirrten, bis sein Blick auf Morgan fiel. »Teel?« fragte er leise.
»Sie ist tot«, flüsterte Morgan.
Das Gesicht des Zwergs verkrampfte sich vor Schmerz. Er hustete Blut. »Es tut mir leid, Morgan. Entschuldige… ich war blind.«
»Nicht nur du.«
»Ich hätte es sehen müssen… die Wahrheit. Hätte sie erkennen müssen. Ich… wollte nicht, glaube ich.«
»Steff, du hast uns das Leben gerettet. Wenn du mich nicht geweckt hättest…«
»Hör mir zu. Du bist mein bester Freund. Ich möchte… du sollst etwas für mich tun.« Wieder mußte er husten. »Ich möchte, daß du nach Culhaven zurückgehst und sicherstellst, daß Großmütterchen Elise und Tantchen Jilt versorgt sind.« Seine Augen schlossen sich und öffneten sich wieder. »Du verstehst doch, Morgan? Sie sind in Gefahr, weil Teel…«
»Ich verstehe«, unterbrach ihn Morgan.
»Ich habe nur noch sie«, flüsterte Steff, während er seine Hand nach Morgan ausstreckte. »Du mußt es mir versprechen.« Ein Seufzer entrang sich seiner Kehle, und die folgenden Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Ich habe Teel geliebt, Morgan.« Dann fiel seine Hand herunter, und er starb. An alles, was danach passierte, erinnerte sich Morgan nur ganz schemenhaft. Eine Weile blieb er neben Steff sitzen, so benommen, daß er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Dann erinnerte er sich an Padishar Creel. Er zwang sich, aufzustehen und nach dem großen Mann zu sehen. Padishar Creel lebte noch, war jedoch bewußtlos; sein linker Arm, mit dem er versucht hatte, die Hiebe mit der Eisenstange abzuwehren, war gebrochen, und aus der klaffenden Wunde an seinem Kopf sickerte Blut. Mit einem Druckverband versuchte Morgan die Blutung zu stillen, ließ jedoch den linken Arm, wie er war. Es blieb ihm keine Zeit, sich jetzt darum zu kümmern.
Die Brückenwinde war zerstört, und er sah keine Möglichkeit, sie zu reparieren. Falls die Föderation die Absicht hatte, einen Teil ihrer Armee noch heute nacht in den Geheimgang eindringen zu lassen, dann war es unmöglich, die Brücke hochzuziehen, um sie aufzuhalten. In wenigen Stunden war es Morgen. Das hieß, daß die Soldaten der Föderation höchstwahrscheinlich bereits losmarschiert waren. Selbst ohne ihre Führerin Teel würden sie keine Schwierigkeiten haben, dem Geheimgang bis zum Zeigefinger zu folgen.
Plötzlich wurde ihm bewußt, daß Chandos und die Männer, die er mitbringen sollte, immer noch nicht da waren. Sie hätten längst eintreffen müssen.
Er sagte sich, daß er es nicht riskieren konnte, auf sie zu warten. Er mußte diesen Ort verlassen. Er würde Padishar Creel tragen, da seine Bemühungen, ihn zu Bewußtsein zu bringen, gescheitert waren. Steff würde er zurücklassen müssen.
Als erstes rettete er das Schwert von Leah und steckte es vorsichtig in die provisorische Scheide. Dann trug er Teel und danach Steff zu der Spalte und warf sie hinunter.
Mittlerweile war er so schwach, daß er nicht mehr dar- an glaubte, den weiten Weg durch den Geheimgang zurücklegen zu können, ganz zu schweigen davon, daß er Padishar Creel tragen mußte. Aber es gelang ihm, ihn auf seine Schulter zu heben, und mit einer Fackel, die ihm den Weg wies, ging er los.
Es schien ihm, als wäre er bereits Stunden unterwegs, während er nichts hörte als die Geräusche seiner Stiefel auf dem Stein. Wo war Chandos? fragte er sich ein ums andere Mal. Warum war er nicht gekommen? Er stolperte und fiel fast unaufhörlich. Seine Knie und Hände bluteten. Plötzlich kamen ihm wunderliche Dinge in den Sinn, seine Jugendzeit und seine Familie, die Abenteuer, die er zusammen mit Par und Coll erlebt hatte, Steff und die Zwerge von Culhaven. Zeitweise mußte er weinen, als er daran dachte, was aus ihnen geworden war. Immer wenn er das Gefühl hatte, gleich zusammenzubrechen, redete er auf Padishar Creel ein, doch dieser schlief ruhig weiter. Und es schien, als nähme der Weg kein Ende.
Als Chandos schließlich in Begleitung einer Schar Geächteter sowie Axhinds und seiner Trolle doch noch auftauchte, hatte Morgan aufgegeben. Erschöpft war er zusammengebrochen.
Ebenso wie Padishar Creel wurde er den Rest des Weges getragen; dabei versuchte er zu berichten, was passiert war. Er wußte nicht wirklich, was er sagte. Er erinnerte sich später daran, daß Chandos von einem erneuten Angriff der Föderation berichtete, der ihn daran gehindert hatte, so schnell zu kommen, wie er vorgehabt hatte.
Es war immer noch dunkel, als sie auf der Anhöhe ankamen, und Morgan mußte feststellen, daß der Zeigefinger tatsächlich angegriffen wurde, vielleicht zur Ablenkung von den Soldaten, die durch den Geheimgang heran- schlichen. Die Vorbereitungen für die Flucht waren jedoch abgeschlossen. Die Verwundeten waren transportbereit. Morgan gehörte zu den letzteren. Chandos tauchte auf und unterhielt sich mit Morgan.
»Alles in Ordnung, Hochländer«, hörte Morgan ihn sagen. »Die Soldaten der Föderation befinden sich bereits im Geheimgang, aber die Taue der Brücken sind gekappt worden. Das wird sie für einige Zeit aufhalten – lang genug, damit wir uns sicher aus dem Staub machen können. Wir nehmen andere Stollen. Auch sie führen nach draußen, verstehst du? Der Weg wird etwas beschwerlicher durch die vielen Abzweigungen, die man nicht verfehlen darf. Aber Padishar Creel weiß, was er tut. Er überläßt nichts dem Zufall. Er ist wieder wach und kümmert sich darum, daß alle in Sicherheit kommen. Er ist zäh, der alte Padishar. Aber nicht zäher als du. Du hast ihm das Leben gerettet, jawohl. Du hast ihn in letzter Minute gerettet. Ruh dich jetzt aus. Es geht bald los.«
Morgan schloß die Augen und fiel in Schlaf. Er wurde durch das Rucken der Bahre, auf der er lag, sowie das Flüstern und die Schmerzensschreie der Männer, die ihn umgaben, mehr als einmal aus dem Schlaf gerissen.
Schließlich zwang er sich, wach zu bleiben, und versuchte den Kopf zu heben. Doch der Schmerz, der ihm wie ein Messer in den Nacken fuhr, ließ ihn sofort wieder niedersinken.
Padishar Creel trat zu ihm. Ein riesiger Verband zierte seinen Kopf, und sein Arm war geschient. »Nun, mein Junge, wie geht’s?« fragte er.
Morgan nickte, schloß die Augen und öffnete sie wieder.
»Wir verlassen diesen Ort jetzt«, sagte Padishar Creel. »Daß wir es können, verdanken wir dir. Und Steff. Chandos hat mir alles erzählt. Er war sehr mutig, der Zwerg.« Er wandte sich ab. »Tja, der Zeigefinger ist verloren, aber das ist ein kleiner Preis für unser Leben.«
Morgan stellte fest, daß er keine Lust hatte, sich über den Preis des Lebens zu unterhalten. »Hilf mir auf, Padishar«, bat er. »Ich möchte diesen Ort auf meinen eigenen Füßen verlassen.«
Der Anführer der Geächteten lächelte. »Wollen wir das nicht alle, mein Junge?« fragte er. Dann streckte er seinen gesunden Arm aus und half Morgan in die Höhe.