6

Morgan Leah konnte sehr bestimmend sein, wenn er wollte, und das erfuhren Par und Coll im regenverhüllten Hochland auch in dieser Nacht.

Er hatte sich die Sache offenbar reiflich überlegt, und seine Schlußfolgerung war dementsprechend wohl durchdacht. Er behauptete schlichtweg, sie hätten die Wahl. Es dauerte nicht lange, bis er sich seiner nassen Kleider entledigt und abgetrocknet hatte und die Brüder mit Bier und Brot im Schneidersitz vor dem wärmenden Feuer saßen und seinen Ausführungen lauschten.

Er begann mit den bekannten Tatsachen. Sie wußten, daß sie nicht nach Shady Vale zurückkehren konnten – weder jetzt noch in naher Zukunft. Ebenso wenig konnten sie nach Callahorn zurückkehren. Eigentlich konnten sie so gut wie nirgendwo hingehen, wo man sie hätte vermuten können, denn da die Föderation so viel Zeit und Mühe aufgewandt hatte, sie so weit zu verfolgen, würde sie jetzt von ihrer Suche kaum ablassen. Felsen-Dall war als hartnäckiger Sucher bekannt. Er hatte ihre Verfolgung persönlich übernommen, und er würde so leicht nicht aufgeben. Die Sucher würden überall dort, wo die Föderation herrschte, nach ihnen suchen – und ihr Herrschaftsgebiet war riesengroß. Par und Coll konnten sich praktisch als Geächtete betrachten.

Wie sollten sie sich also verhalten? Da sie nirgendwohin gehen konnten, wo man sie vermutet hätte, mußten sie dorthin gehen, wo man sie nicht vermutete. Natürlich war der Trick dabei, nicht einfach irgendwohin zu gehen, sondern dorthin, wo sie gleichzeitig etwas erreichen konnten.

»Ihr könntet natürlich hier bleiben, wenn ihr wolltet, und würdet wer weiß wie lange nicht entdeckt werden, weil die Föderation niemals auf die Idee käme, hier im Hochland nach euch zu suchen.« Morgan zuckte die Schultern. »Es könnte sogar ganz lustig werden. Aber was würdet ihr damit erreichen? Zwei Monate, vier Monate, wie lang auch immer – ihr wärt immer noch Geächtete, könntet immer noch nicht nach Hause gehen, und nichts hätte sich geändert. Das können wir also streichen, oder? Ich schlage vor, daß ihr selbst aktiv werdet. Es wäre sinnlos, einfach nur dazusitzen und darauf zu warten, daß sich die Dinge ändern; ihr müßt selbst etwas tun.«

Was er damit sagen wollte, war, daß sie versuchen sollten, das Rätsel der Träume zu lösen. An der Tatsache, daß sie von der Föderation verfolgt wurden, daß die Soldaten Shady Vale besetzt hielten und daß sie jetzt Geächtete waren, konnten sie nichts ändern. Eines Tages würde sich all das vielleicht ändern, aber ganz sicher nicht in der nahen Zukunft. Die Träume waren dagegen eine Sache, mit der sie sich aktiv auseinandersetzen konnten. Falls sie sie wirklich für wichtig hielten, mußten sie ihnen nachgehen. Der alte Mann hatte ihnen mitgeteilt, daß sie in der ersten Nacht des neuen Mondes am Hadeshorn erwartet würden. Sie hatten sich bisher aus zwei guten Gründen dagegen gesträubt. Erstens wußten sie nicht genügend über die Träume, um zu wissen, ob sie wahr waren oder nicht, und zweitens waren sie nur zu zweit und würden sich damit möglicherweise in große Gefahr begeben.

»Warum also nicht etwas tun, das diese Ungewißheit lindert?« endete Morgan. »Warum nicht nach Osten gehen und Walker Boh suchen? Der alte Mann hat doch behauptet, daß Walker Boh die Träume ebenfalls geschickt wurden. Wäre es nicht vernünftig, ihn zu fragen, was er von den Träumen den Träumen hält? Der alte Mann wollte auch mit ihm reden. Und selbst wenn er das nicht getan hat, wäre es interessant, die Meinung Walker Bohs zu hören. Ich muß zugeben, ich habe euren Onkel immer für einen komischen Kauz gehalten, aber dumm ist er ganz bestimmt nicht. Und die Geschichten über ihn kennen wir alle. Sollte er tatsächlich immer noch einen Teil der Shannara-Magie besitzen, hätten wir jetzt die Möglichkeit, es herauszufinden.« Er nahm einen großen Schluck, lehnte sich vor und deutete mit dem Finger auf sie. »Falls Walker Boh an die Träume glaubt und sich entschließt, das Hadeshorn aufzusuchen, dann bekämt ihr vielleicht ebenfalls Lust hinzugehen. Dann wären wir schon zu viert. Wer uns dann etwas anhaben wollte, müßte es sich zweimal überlegen.« Er hob die Schultern. »Selbst wenn ihr euch entschließen solltet, nicht zu gehen, hättet ihr wenigstens eure Neugier befriedigt, anstatt hier oder anderswo einfach nur herumzusitzen. Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn die Föderation euch im Anar suchen würde! Das ist der letzte Ort, an dem sie euch vermuten werden.« Er nahm noch einen Schluck sowie ein Stück frisches Brot und blickte sie an. Sie bemerkten wieder den Ausdruck in seinen Augen, der verriet, daß er etwas wußte, das sie nicht wußten, und er schien sich köstlich darüber zu amüsieren. »Nun?« sagte er schließlich.

Die Brüder schwiegen. Par dachte an seinen Onkel und erinnerte sich an die Geschichten über Walker Boh, die man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte. Er war ein selbsternannter Gelehrter des Lebens, der behauptete, Visionen zu haben; er blieb dabei, daß er Dinge sehen und spüren konnte, die andere nicht sehen und spüren konnten. Es gab Gerüchte, die besagten, daß er eine unbekannte Art von Zauberkraft besaß. Irgendwann hatte er das Vale verlassen und war ins Ostland gezogen. Das war vor fast zehn Jahren gewesen. Obwohl Par damals noch ein Kind gewesen war, erinnerte er sich gut daran.

Plötzlich räusperte sich Coll, rutschte nach vorn und schüttelte den Kopf. Par war sicher, daß sein Bruder Morgan erklären würde, wie lächerlich seine Idee sei, doch statt dessen fragte er: »Und wie finden wir Walker?«

In einem kurzen Augenblick der Verwunderung sah Par zu Morgan und Morgan zu Par. Beide hatten erwartet, daß Coll sich einem solch unerhörten Plan widersetzen und ihn als tollkühn abtun würde. Aber damit hatten sie nicht gerechnet.

Coll bemerkte die Blicke der beiden und sagte: »An eurer Stelle würde ich meine Gedanken nicht laut aussprechen. Keiner von euch kennt mich so gut, wie er mich zu kennen glaubt. Wer gibt mir also eine Antwort auf meine Frage?«

Morgan unterdrückte schnell ein Schuldgefühl. »Zuerst gehen wir nach Culhaven. Ich habe dort einen Freund, der uns sicher sagen kann, wo Walker sich aufhält.«

»Culhaven?« fragte Coll mißbilligend. »Culhaven ist föderationsbesetztes Land.«

»Aber trotzdem sind wir dort sicher«, beharrte Morgan. »Die Föderation sucht dort ganz bestimmt nicht nach euch, und wir halten uns ja höchstens einen oder zwei Tage dortauf. Wir werden uns sowieso nicht allzu oft in der Öffentlichkeit zeigen.«

»Und unsere Familien? Sie werden sich bestimmt Sorgen um uns machen.«

»Meine nicht. Mein Vater ist daran gewöhnt, daß er mich wochenlang nicht zu Gesicht bekommt. Er ist davon überzeugt, daß ich unzuverlässig bin. Und für Jaralan und Mirianna ist es besser, wenn sie nicht wissen, wo ihr seid. Ganz zweifellos machen sie sich auch so schon genug Sorgen.«

»Was ist mit Wren?« fragte Par.

Morgan schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie wir Wren finden können. Wenn sie immer noch bei den Fahrenden ist, kann sie überall und nirgends sein.« Er hielt inne. »Außerdem weiß ich nicht, welche Hilfe Wren für uns sein könnte. Sie war ein kleines Mädchen, als sie das Vale verließ, Par. Uns bleibt keine Zeit, beide zu finden. Walker Boh scheint mir da vielversprechender.«

Par nickte langsam. Mit unsicherem Blick blickte er Coll an, und Coll gab seinen Blick zurück. »Was meinst du?«

Coll seufzte. »Ich meine, wir hätten in Shady Vale bleiben sollen. Ich glaube, wir hätten im Bett bleiben sollen.«

»Ach komm, Coll Ohmsford!« rief Morgan scherzhaft aus. »Denk an das Abenteuer! Ich verspreche, daß ich auf dich aufpasse.«

Coll sah Par an. »Muß ich mich jetzt sicher fühlen?«

Par atmete tief ein. »Ich bin dafür, wir gehen.«

Coll warf ihm einen eindringlichen Blick zu und nickte. »Also gut, was haben wir schon zu verlieren?«

Die Sache war also entschieden. Wenn er später daran zurückdachte, wußte er, daß er im Grunde genommen nicht überrascht war. Schließlich war alles eine Frage der Entscheidung, und egal, wie man es sah, die anderen Möglichkeiten boten wenig, das für sie sprach.

Den nächsten Morgen verbrachten sie damit, Vorräte aus der Vorratskammer für die Reise zusammenzupacken. Die Brüder fanden Waffen, Decken, Mäntel und Ersatzkleidung, die ihnen zum Teil ganz gut paßte. Sie packten gepökeltes Fleisch, Gemüse und Obst sowie Käse und Butter ein, des weiteren Kochgeräte und Medikamente. Sie versorgten sich mit allem, was sie brauchten, da in der Hütte alles reichlich vorhanden war. Gegen Mittag waren sie soweit, daß sie sich auf den Weg machen konnten.

Als sie das Haus verließen und die Tür hinter sich verriegelten, traten sie in einen grauen, wolkenverhangenen Tag hinaus; der Regen war in ein Nieseln übergegangen, der Boden unter ihren Füßen nicht mehr fest und staubig, sondern feucht und nachgiebig wie ein Schwamm. Sie machten sich wieder auf den Weg zum Regenbogensee, den sie vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen hofften. Morgans Plan für die erste Etappe der Reise war einfach. Sie würden diesmal mit dem Boot, das die Brüder an der Mündung des Rappahalladran zurückgelassen hatten, am südlichen Ufer entlangsegeln und zwar in ausreichender Entfernung vom Tiefland von Clete, den Schwarzen Eichen und dem Nebelsumpf, den Gebieten, die Gefahren bargen, denen man am besten aus dem Weg ging. Am gegenüberliegenden Seeufer wollten sie den Silberfluß erreichen und seinem Lauf bis nach Culhaven folgen.

Der Plan war gut, wenn auch nicht problemlos. Morgan hätte es vorgezogen, den Regenbogensee im Schutz der Dunkelheit zu überqueren, mit dem Mond und den Sternen als Wegweiser. Aber als sich der Tag dem Ende zuneigte und der See in Sicht kam, zeigte es sich, daß die Nacht ohne Mond und Sterne bleiben und ihnen demzufolge kein Licht den Weg weisen würde. Falls sie versuchten, den See unter diesen Bedingungen zu überqueren, mußten sie sich darauf gefaßt machen, daß sie zu weit nach Süden abtrieben und schließlich doch noch den Gefahren in die Arme liefen, die sie zu umgehen gehofft hatten.

Sie beschlossen deshalb, am Ufer zu bleiben. Nachdem sie sich vergewissert hatten, daß ihr Boot immer noch seetüchtig war, verbrachten sie ihre erste Nacht auf einem kalten, durchnäßten Lagerplatz in der Nähe des Seeufers und träumten von angenehmeren Zeiten. Der Morgen brachte einen gewissen Wetterumschwung. Es hörte auf zu regnen und wurde wärmer, doch die Wolken und der vom See aufsteigende Nebel hüllten den See von einem Ende bis zum anderen völlig ein.

Unsicher schauten Par und Coll sich um.

»Er wird sich verziehen«, versicherte ihnen ein ungeduldiger Morgan.

Sie stießen das Boot ins Wasser und ruderten so lange, bis sie im aufkommenden Wind ihr Behelfssegel hissen konnten. Die Wolken stiegen in die Höhe, und der Himmel klärte ein wenig auf, aber der Nebel blieb auch weiterhin wie Schafswolle auf der Wasseroberfläche liegen und deckte alles mit einem undurchdringlichen Schleier zu. Selbst der Mittag und der Nachmittag brachten keine Veränderung, und schließlich mußte sogar Morgan zugeben, daß er jede Orientierung verloren hatte.

Beim Anbruch der Dunkelheit befanden sie sich immer noch auf dem See, und schon bald war die Nacht um sie herum kohlrabenschwarz. Der Wind legte sich, und das Boot schaukelte in der Stille. Sie beschlossen zu essen, nicht etwa, weil sie besonders hungrig waren, sondern weil sie essen mußten. Danach versuchten sie abwechselnd zu schlafen.

»Erinnerst du dich an die Geschichten von Shea Ohms-ford und an das Wesen, das im Nebelsumpf hauste?« flüsterte Coll Par irgendwann zu. »Ich wäre keineswegs überrascht, wenn wir heute nacht herausfinden würden, ob das alles wahr war!«

Die lautlose Nacht, der ein bevorstehendes Unheil anzuhaften schien, verstrich nur langsam. Sie verging jedoch ohne Zwischenfälle, und am Morgen hob sich der Nebel, der Himmel hellte sich auf, und die Freunde stellten erfreut fest, daß sie sich sicher in der Mitte des Sees befanden und nur die Spitze ihres Bootes nach Norden wies. Erleichtert neckten sie sich gegenseitig ob ihrer Angst, drehten das Boot nach Osten und wechselten sich beim Rudern ab, während sie auf eine Brise warteten. Schon bald verzog sich der Nebel vollständig, die Wolken rissen auf, und sie sichteten das Südufer des Regenbogensees. Gegen Mittag erhob sich eine Brise aus nordöstlicher Richtung, so daß sie ihre Ruder verstauen und Segel setzen konnten.

Die Zeit verstrich, und das Boot segelte nach Osten. Das Tageslicht wich bereits der hereinbrechenden Dunkelheit, als sie schließlich das andere Seeufer erreichten und ihr Boot in einer baumgeschützten Bucht in der Nähe der Mündung des Silberflusses an Land zogen. Sie verbargen das Boot im Schilf, befestigten es sorgfältig mit Tauen und machten sich auf den Weg landeinwärts. Die Sonne war jetzt beinahe untergegangen, und der Himmel nahm eine rosarote Farbe an, während sich im schwächer werdenden Licht eine neue Mischung aus tiefhängenden Wolken und Nebelschwaden abzeichnete. Es war immer noch ruhig im Wald. Sie hörten, wie der Fluß träge an seine Ufer schwappte. Sie fühlten sich von Schatten umgeben, die Bäume drängten sich scheinbar enger aneinander, und das Licht wurde schwächer und schwächer. Bereits nach kurzer Zeit hatte die Dunkelheit sie vollständig eingehüllt.

Sie sprachen kurz über den König des Silberflusses.

»Aus und vorbei wie die ganze Magie«, erklärte Par, während er sich vorsichtig auf dem aufgeweichten Pfad vorwärtsbewegte. In dieser Nacht war die Sicht etwas besser, wenn auch nicht so gut, wie sie es sich gewünscht hätten; der Mond und die Sterne spielten mit den Wolken Verstecken. »Aus und vorbei wie die Druiden, die Elfen – wie alles, außer den Geschichten.«

»Vielleicht auch nicht«, wandte Morgan ein. »Einige behaupten immer wieder, sie hätten ihn gesehen, einen alten Mann mit einer Laterne, der ihnen den Weg weist und sie beschützt, obwohl sie natürlich zugeben, daß seine Macht nicht mehr das ist, was sie einmal war. Er erhebt nur Anspruch auf den Fluß und einen kleinen Teil des angrenzenden Landes. Der Rest gehört uns.«

»Der Rest gehört der Föderation, genau wie alles andere!« schnaubte Coll.

Morgan versetzte einem Stück Holz einen Fußtritt, daß es wirbelnd durch die Nacht flog. »Ich kenne einen Mann, der behauptet, mit dem König des Silberflusses gesprochen zu haben, einen Trommler, der im Hochland und im Anar allerlei Waren verkauft. Er durchquert dieses Gebiet ständig, und einmal, als er sich im Tiefland von Battle Mound verirrt hat, ist, so hat er erzählt, der alte Mann mit seiner Laterne aufgetaucht und hat ihn auf den rechten Weg zurückgebracht.« Morgan schüttelte den Kopf. »Ich habe nie gewußt, ob ich ihm glauben kann oder nicht.«

»Ich glaube nicht, daß es ihn noch gibt«, sagte Par, der plötzlich eine traurige Sicherheit in sich aufsteigen fühlte. »Die Magie kann nicht von Dauer sein, wenn sie nicht ausgeübt wird und man nicht daran glaubt. Der König des Silberflusses kam weder in den Genuß des einen noch des anderen. Er ist nur noch eine Legende, an die keiner außer dir und Coll und mir und vielleicht ein paar anderen glaubt.«

»Wir Ohmsfords glauben einfach alles«, bemerkte Coll ruhig.

Schweigend gingen sie weiter auf dem Pfad, der sich nach Osten schlängelte, und lauschten den Geräuschen der Nacht. Sie wußten, daß sie Culhaven in dieser Nacht nicht mehr erreichen würden, aber da sie noch nicht Halt machen wollten, marschierten sie einfach weiter, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Je weiter sie landeinwärts vordrangen, in den unteren Anar, desto dichter wurde der Wald, und das Unterholz ließ den Pfad immer schmäler werden.

»Der Weg nach Culhaven ist auch nicht mehr das, was er einmal war«, murmelte Morgan irgendwann.

Par und Coll wußten darauf nichts zu erwidern, da keiner von beiden je im Anar gewesen war. Sie sahen einander an und schwiegen.

Plötzlich wurde der Pfad von einigen umgefallenen Bäumen versperrt. Ein zweiter Pfad führte vom Fluß weg in den dichten Wald hinein. Morgan entschied sich nach kurzem Zögern, den Weg auf diesem Pfad fortzusetzen. DieBaumkronen und Äste bildeten ein Dach über ihnen, das das Mondlicht nur schwach durchscheinen ließ; die drei Freunde waren deshalb gezwungen, sich ihren Weg mühsam zu ertasten. Wieder murmelte Morgan, diesmal so leise, daß die anderen beiden es nicht verstehen konnten, aber der Ton in seiner Stimme war unmißverständlich. Da ihnen jetzt tief herunterhängende Äste und Zweige ins Gesicht schlugen, mußten sie gebückt weitergehen. Der Wald um sie herum strömte mit einemmal einen Geruch der Verwesung aus. Par versuchte, den durchdringenden Gestank nicht einzuatmen. Er wollte sein Tempo beschleunigen, um Morgan einzuholen; aber dieser lief so schnell, wie er nur konnte.

»Es riecht, als ob hier etwas gestorben wäre«, flüsterte Coll hinter Par.

Plötzlich fiel es Par wieder ein. Er erinnerte sich an den Geruch, der die Hütte der Waldfrau umgeben hatte, die nach Aussage des alten Mannes ein Schattenwesen gewesen war. Der Geruch, der ihm hier in die Nase stieg, war genau der gleiche.


Im nächsten Augenblick traten sie aus dem Dickicht des Waldes auf eine Lichtung, die von toten Baumstämmen kreisförmig umgeben und mit fauligem Laub und herumliegenden Knochen bedeckt war. Ein stehender Tümpel blubberte in der Mitte der Lichtung und erinnerte an einen großen Kessel, unter dem ein Feuer brannte. Großäugige Aasfresser starrten ihnen aus der Dunkelheit entgegen.

Die Freunde blieben unschlüssig stehen.

»Morgan, das ist genau so wie…«, setzte Par an, hielt jedoch plötzlich inne.

Das Schattenwesen, das lautlos zwischen den Bäumen hervorgetreten war, stand jetzt direkt vor ihnen. Par zweifelte keine Sekunde lang daran, was es war; er wußte es ganz instinktiv. Skepsis und Zweifel, die jahrelange Ungewißheit, ob Schattenwesen das waren, was vernünftige Menschen glaubten, nämlich Gerüchte und Ammenmärchen, waren augenblicklich verschwunden. Vielleicht war es die Warnung des alten Mannes, die er im Geiste zu hören glaubte und die seine Bekehrung bewirkte. Vielleicht war es aber auch nur der Anblick dieses Wesens. Es spielte keine Rolle, was es war, denn die Wirklichkeit war furchtbar und unvergeßlich.

Dieses Schattenwesen war vollkommen neu. Es war ein riesengroßes, watschelndes Etwas mit menschlichen Zügen, jedoch mindestens zweimal so groß wie ein Mensch, dabei kauernd und mit hängenden Schultern wie ein Gorilla, dessen Körper über und über mit zottigem, struppigem Haar bedeckt war und dessen riesige Gliedmaßen in Krallen ausliefen. Aus dem Haar lugte ein runzliges und zerknittertes Gesicht hervor, das man kaum als menschlich bezeichnen konnte. Verfaulte Stumpen ragten aus seinem Maul, und seine Augen, die zwischen ledrigen Hautfalten lagen, leuchteten wie Feuer. Dieses einfältig wirkende Scheusal stand jetzt dicht vor ihnen und betrachtete sie eindringlich.

»Oho«, sagte Morgan leise.

Das Schattenwesen machte einen Schritt auf sie zu. »Was macht ihr hier?« Es sprach mit einer schnarrenden Stimme, die von ganz tief innen an ihre Ohren drang.

»Wir haben den falschen…«, fing Morgan an.

»Ihr habt mein Land betreten«, unterbrach ihn das Schattenwesen unfreundlich, wobei seine Zähne bedrohlich klapperten. »Ihr macht mich wütend. Ich werde einen von euch zur Entschädigung behalten. Gebt mir einen von euch!«

Die drei Freunde warfen einander Blicke zu. Sie wußten, daß es für sie nur einen Ausweg gab. Diesmal konnten sie nicht darauf hoffen, daß ein alter Mann ihnen zu Hilfe eilte. Sie mußten es aus eigener Kraft schaffen.

Morgan griff nach hinten und zog das Schwert von Leah aus der Scheide. Die blitzende Klinge spiegelte sich schwach in den Augen des Ungeheuers wider. »Entweder du läßt uns hier passieren…«, begann er.

Er konnte den Satz nicht zu Ende führen, denn das Schattenwesen stürzte sich mit einem Schrei auf ihn. Trotzdem gelang es dem Hochländer, die Klinge noch rechtzeitig zu ziehen, um die Kreatur aus dem Gleichgewicht zu bringen, so daß sie zur Seite fiel und ihr Angriff mißlang. Coll hieb mit dem kurzen Schwert auf sie ein, das er bei sich trug, und Par traf sie mit der Zauberkraft des Wunschlieds, indem er einen Schwarm von Insekten heraufbeschwor.

Mit zornigem Gebrüll kam das Schattenwesen wieder auf die Beine, um sofort auf sie zuzustürzen. Es versetzte Morgan, noch bevor dieser zur Seite springen konnte, einen schmerzenden Schlag, und er fiel zu Boden. Als das Schattenwesen sich umdrehte, schlug Coll mit dem Schwert so heftig auf es ein, daß er einen Arm über dem Ellbogen durchtrennte. Das Schattenwesen taumelte, griff aber sofort nach seinem abgetrennten Arm und wich dann zurück. Ganz vorsichtig setzte es seinen Arm an der Schulter an. Plötzlich nahmen sie eine Bewegung wahr, Sehnen und Muskeln und Knochen wanden sich in schlangenartigen Bewegungen. Der Arm war wieder festgewachsen.

Das Schattenwesen zischte voll Vergnügen. Dann kam es wieder auf sie zu.

Par versuchte seine Bewegungen durch die Beschwörung von Wölfen zu verlangsamen, doch das Schattenwesen nahm sie kaum wahr. Es prallte so heftig mit Morgan zusammen, daß dieser nach hinten fiel. Er wäre höchstwahrscheinlich verloren gewesen, hätten nicht die Ohmsfords sich auf die Bestie gestürzt und sie zu Boden geworfen. Es gelang ihnen jedoch nicht, sie länger als einen Augenblick am Boden zu halten. Sie bäumte sich auf, befreite sich aus ihrem Griff und schleuderte sie von sich weg. Einer der riesigen Arme traf Par im Gesicht, sein Kopf flog zurück, und vor seinen Augen flimmerten tausend Sterne. Er versuchte wieder auf die Beine zu kommen und hörte Colls Warnschrei. Er zwang sich aufzustehen und versuchte verzweifelt, seine Benommenheit abzuwerfen.

Das Schattenwesen war vor ihm, seine Krallen streckten sich nach ihm aus. Coll lag ein paar Schritte zu seiner Linken unter einem Baum. Von Morgan fehlte jede Spur. Par bewegte sich langsam rückwärts. Es blieb ihm jetzt keine Zeit für Magie. Die Bestie war schon zu nah. Plötzlich spürte er die rauhe Rinde eines Baumstamms in seinem Rücken.

Dann war plötzlich Morgan wieder da, der aus der Dunkelheit kam und sich mit dem Schrei »Leah, Leah« auf das Schattenwesen stürzte. Sein Gesicht und seine Kleidung waren blutbespritzt, und seine Augen funkelten vor Zorn und Entschlossenheit. Er ließ das leuchtende Schwert von Leah in einem Bogen niedersausen – und etwas Wundersames geschah. Das Schwert traf das Schattenwesen und sprühte Flammen.

Par blinzelte und hob einen Arm schützend vor sein Gesicht. Nein, dachte er, das ist kein Feuer, das ist Magie!

Das Schattenwesen versteifte sich und stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Die Zauberkraft des Schwertes von Leah fuhr in seinen Körper und durchtrennte ihn gleich einem Rasiermesser. Das Schattenwesen erzitterte, sank scheinbar in sich zusammen, verlor seine Konturen und löste sich schließlich in nichts auf.

Im gleichen Augenblick senkte sich Dunkelheit über das Schwert von Leah. Plötzliche Stille herrschte. Rauchschwaden erhoben sich von der kleinen Lichtung. Der Tümpel blubberte noch einmal, bevor die Stille sich auch über ihn senkte.

Morgan Leah fiel auf die Knie, das Schwert sank zu Bo-den.

Par war sogleich an seiner Seite und kniete neben ihm. Das Gesicht des Hochländers war blutverschmiert. »Die Zauberkraft steckt immer noch in ihm, Morgan«, flüsterte er, ganz aufgeregt darüber, daß so etwas möglich war. »Niemand hat es gewußt, aber die Zauberkraft steckt immer noch in ihm!«

Morgan sah ihn verständnislos an.

»Begreifst du nicht? Die Zauberkraft hat seit Allanons Zeiten darin geschlummert! Sie wurde nicht gebraucht! Erst eine andere Zauberkraft konnte sie wieder wecken! Es bedurfte einer Bestie wie des Schattenwesens!«

Coll schleppte sich zu ihnen herüber. Einer seiner Arme hing schlaff herunter. »Ich glaub’, der ist gebrochen«, murmelte er.

Er war zwar nicht gebrochen, aber doch so stark verletzt, daß Par es für besser hielt, ihn für ein paar Tage zu schienen. Sie wuschen sich, verbanden ihre Wunden und standen sich dann schweigend gegenüber.

»Der alte Mann hat uns gesagt, daß viele Dinge hinter uns her sein würden«, flüsterte Par endlich.

»Ich bin mir nicht sicher, ob das Ding hinter uns her war oder ob wir bloß darüber gestolpert sind.« Colls Stimme war rauh. »Ich bin mir nur sicher, daß ich so einem Kerl nie wieder begegnen möchte.«

»Wenn wir dennoch einem begegnen sollten«, sagte Morgan leise, »wissen wir jetzt, wie wir damit fertig werden.« Er streichelte die Klinge des Schwertes von Leah.

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