29

Der Morgen brachte dem Zeigefinger einen Wetterumschwung, da der Sturm von Tyrsis nach Norden zum Parmakeil weiterwanderte. Es war noch dunkel, als die ersten Wolken am Himmel aufzogen und den Mond und die Sterne verdeckten. Dann legte sich der Wind. Ein paar Tropfen fielen auf die Gesichter der Wachen des Geächtetenlagers und wurden immer mehr. Dunstschwaden stiegen aus dem unterhalb liegenden Waldland auf. Als die Dämmerung anbrach, war aus dem anfänglichen Schauer ein anhaltender Regen geworden, der alle, selbst die Wachen, einen Unterschlupf suchen ließ. Aus diesem Grund bemerkte niemand den Kriecher. Er mußte den Wald im Schutz der Dunkelheit verlassen und sich auf den Weg nach oben gemacht haben. Das kratzende Geräusch, das er verursachte, während er kletterte, das Schaben seiner Klauen und seines Panzers, während er sich mühsam nach oben zog, all diese Geräusche wurden verschluckt vom fernen Donnergrollen, vom prasselnden Regen und den Bewegungen der Menschen und Tiere im Lager. Zudem waren die Wachen müde und der festen Überzeugung, daß sich vor dem Morgen nichts ereignen würde. Der Kriecher hatte die Anhöhe fast erreicht, bevor sie ihren Fehler erkannten und lauthals losschrien. Die Schreie ließen Morgan aus dem Schlaf hochfahren. Er war in dem kleinen Espenwäldchen eingeschlafen, während er darüber nachgrübelte, wie er mit seinem Verdacht am besten umgehen konnte. Eingehüllt in seinen Jagdmantel, der ihn vor der Kälte schützte, lag er zusammengerollt unter den Wipfeln der Bäume. Seine verkrampften Muskeln schmerzten, so daß er nicht gleich stehen konnte. Doch aus den Schreien hörte er schon bald Panik und Todesangst. Er zwang sich aufzustehen, zog sein Breitschwert, das er auf dem Rücken trug, und stolperte in den Regen hinaus.

Auf der Anhöhe herrschte ein heilloses Chaos. Überall liefen Männer hin und her und griffen nach Waffen. Vereinzelt flackerten Fackeln auf, aber ihr Licht wurde vom Regen fast augenblicklich ausgelöscht. Mit den anderen eilte Morgan dahin, um die Ursache des wahnsinnigen Treibens auszumachen.

Und dann sah er ihn. Der Kriecher hatte die Anhöhe erklommen, war aus dem Abgrund emporgestiegen und erhob sich jetzt drohend über der Festung der Geächteten, während sich seine Klauen in den Fels eingruben, an dem er sich festhielt.

Leichtfertig drängten die Geächteten nach vorn, ergriffen Pfähle und Speere, um sie in den gewaltigen Körper des Monsters zu rammen. Doch der Kriecher war riesengroß; er ragte über ihnen wie eine riesige Mauer empor. Voll Entsetzen verlangsamte Morgan seine Schritte. Sie hätten ebenso gut versuchen können, den Lauf eines Flusses zu verändern. Kein Wesen von dieser Größe konnte allein mit menschlicher Kraft unschädlich gemacht werden.

Der Kriecher warf sich mitten in seine Angreifer. Die Pfähle und Speere zersplitterten. Die Männer, die unter ihn zu liegen kamen, starben noch im gleichen Augenblick, andere wurden von seinen Klauen in die Höhe geschleudert. Ein Teil der Befestigungsanlage des Zeigefingers brach unter dem Gewicht der Bestie zusammen. Die Geächteten wichen zurück, als er zwischen sie fuhr, Waffen, Ausrüstungen und Zelte zertrümmerte und seine Klauen nach allem ausstreckte, was sich bewegte. Schwerter und Messer sausten auf seinen Körper nieder, aber der Kriecher schien sich davon nicht beirren zu lassen. Er drängte unablässig weiter, griff nach den Männern, die vor ihm zurückwichen, zerstörte alles, was sich ihm in den Weg stellte.

»Es lebe die Freiheit!« ertönte ein gellender Schrei. »Zu mir!«

Padishar Creel war wie aus dem Nichts aufgetaucht, eine leuchtend rote Gestalt inmitten von Regen und Nebel, und scharte jetzt seine Männer um sich. Sie antworteten ihm mit wilden Schreien, während sie sich um ihn drängten. Eilig ließ er Gruppen bilden; die eine Hälfte griff den Kriecher mit riesigen Pfählen an, um seine Klauen abzuwehren, während die andere auf die Seiten und den Rücken des Monsters einhieb. Der Kriecher krümmte und wand sich, ging jedoch unaufhaltsam weiter.

Plötzlich waren Axhind und seine Bergtrolle da; ihre riesigen Körper waren von Kopf bis Fuß in Rüstungen gehüllt, und sie schwangen ihre gewaltigen Streitäxte. Als sie den Kriecher frontal angriffen, richteten sie ihre Äxte in erster Linie auf die Klauen. Drei von ihnen wurden von ihm schnell zerfetzt. Aber die anderen schlugen mit solcher Entschlossenheit auf ihn ein, daß sie seine linke Klaue zertrümmerten. Augenblicke später trennten sie sie vollständig vom Körper des Kriechers ab.

Dieser wurde langsamer. Der Boden hinter ihm war mit leblosen Leibern bedeckt. Unfähig, sich zu entscheiden, was er tun sollte, verharrte Morgan regungslos zwischen dem Monster und den Höhlen. Er sah, wie sich die Bestie aufrichtete, bis ihr Oberkörper in der Luft stand wie eine Schlange, die zum Angriff ansetzt. Die Geächteten und die Trolle wichen zurück.

Morgan sah sich nach Padishar Creel um, doch der Anführer der Geächteten war verschwunden. Kurz hielt er es für möglich, daß jener gefallen war. Der Regen rann über seine Stirn in seine Augen, und ungeduldig schüttelte er das Wasser ab. Seine Hand hielt den Knauf seines Breitschwertes fest umklammert, doch er verharrte noch immer unschlüssig.

Schritt für Schritt bewegte sich der Kriecher vorwärts, während er gleichzeitig nach links und rechts schielte, um sich vor möglichen Angriffen zu schützen. Ein einziger Schlag mit seinem Schwanz reichte aus, um mehrere Männer durch die Luft zu wirbeln. Speere und Pfeile flogen auf ihn zu und prallten an ihm ab. Stetig drang er weiter vor, wodurch die Verteidiger immer näher an die Höhlen gedrängt wurden. Bald würden sie keine Möglichkeit mehr haben, ihm auszuweichen.

Morgan Leah zitterte. »Tu etwas!« schrie es in seinem Kopf.

Im gleichen Augenblick erschien Padishar Creel in der Öffnung der größten Höhle und schrie seinen Männern zu, sich zurückzuziehen. Etwas Riesiges rumpelte quietschend und knarrend hinter ihm hervor. Zahlreiche Männer zerrten an Seilen, und das Ding nahm langsam Gestalt an. Als es aus dem Höhleneingang heraustrat und ins Licht kroch, konnte Morgan es endlich erkennen. Es war eine riesige hölzerne Armbrust.

Padishar Creel befahl den Männern, die sie zogen, sie gegenüber dem Kriecher in Stellung zu bringen. Obenauf stand Chandos, der mit Hilfe einer schweren Winde die Armbrustsehne zurückzog.

Der Kriecher zögerte, so als wolle er die Gefahr, die ihm von dieser neuen Waffe drohte, abschätzen. Doch dann kam er weiter auf sie zu.

Padishar Creel befahl, den ersten Pfeil abzufeuern, als die Bestie noch zwanzig Meter entfernt war. Der Pfeil flog in hohem Bogen zur Seite. Der Kriecher beschleunigte sein Tempo, während Chandos in aller Eile die Armbrustsehne erneut zurückzog. Wieder wurde ein Pfeil abgeschossen. Der Kriecher wurde mit solcher Wucht getroffen, daß er zur Seite fiel und einen Augenblick liegen blieb, ehe er sich wieder aufrichtete und seinen Weg fortsetzte.

Morgan erkannte, daß keine Zeit blieb für einen dritten Schuß. Der Kriecher war bereits zu nahe. Trotzdem blieb Chandos auf der Armbrust stehen und versuchte verzweifelt die Sehne ein drittes Mal zurückzuziehen. Der Kriecher war bereits bis auf wenige Schritte herangekommen. Von allen Seiten hieben jetzt Geächtete und Trolle mit Äxten und Schwertern auf ihn ein, aber er ließ sich nicht aufhalten. Er hatte begriffen, daß die Armbrust die einzige Waffe war, die ihm wirklich gefährlich werden konnte, und machte sich nun eiligst an deren Zerstörung.

Chandos legte den dritten Pfeil auf die Sehne und streckte die Hand nach dem Abzug aus. Er schaffte es nicht. Der Kriecher holte aus, traf die Armbrust von oben und zertrümmerte sie. Das Holz splitterte in tausend Stücke, und die Räder, auf der die Waffe ruhte, brachen zusammen. Chandos wurde heruntergeschleudert. Schreiende Männer suchten verzweifelt das Weite. Der Kriecher drehte sich auf dem Trümmerhaufen herum. Seine Bewegungen waren bedächtig, da er spürte, daß er ge- siegt hatte, und wußte, daß er nur noch einmal zuschlagen mußte, um sein Zerstörungswerk zu vollenden.

Aber Padishar Creel war schneller. Während die anderen Geächteten flohen, Chandos bewußtlos dalag und Morgan weiter mit seiner Unentschlossenheit kämpfte, ging Padishar Creel zum Angriff über. Kaum mehr als ein roter Fleck in der regennassen Dämmerung, ergriff der Anführer der Geächteten einen der Armbrustpfeile, der aus dem Köcher gefallen war, tauchte blitzschnell unter den Kriecher und rammte das hintere Ende des Pfeils senkrecht in die Erde. Der Kriecher, der eifrig damit beschäftigt war, die Armbrust zu zerstören, bemerkte ihn nicht, sondern ließ sich mit seinem ganzen Gewicht auf die bereits schwer beschädigte Waffe fallen und damit auf die eiserne Pfeilspitze. Die Wucht, mit der sich die Bestie auf die Armbrust warf, trieb die Pfeilspitze auf einer Seite ihres Körpers hinein und auf der anderen Seite heraus. Padishar Creel gelang es gerade noch rechtzeitig, sich zur Seite zu wälzen, bevor die Bestie zusammenkrachte.

Das vor Schmerz und Überraschung bebende Monster bäumte sich auf. Es wand sich verzweifelt, um den tödlichen Pfeil loszuwerden, bis es schließlich das Gleichgewicht verlor, zusammensackte und mit dem Bauch nach oben liegen blieb.

»Es lebe die Freiheit!« schrie Padishar Creel, und die Geächteten und die Trolle machten sich über den Kriecher her. Stücke der Bestie flogen durch die Luft, als Schwerter und Äxte auf sie niedersausten. Die zweite Klaue wurde abgetrennt.

Obwohl der Kriecher schwer verletzt am Boden lag, war er immer noch gefährlich. Männer, die unter ihm eingequetscht wurden, wurden augenblicklich zermalmt, andere durch die Luft geworfen, wenn er sich aufbäumte, oder von seinen Klauen in Stücke gerissen. Alle Anstrengungen, ihm den Garaus zu machen, waren erfolglos, bis schließlich ein Pfeil durch das Auge des Monsters in sein Gehirn gerammt wurde. Ein letztes Zucken ging durch den Körper des Kriechers, bevor er leblos liegen blieb.

Morgan Leah verfolgte das Geschehen wie aus weiter Ferne. Als der Kampf zu Ende war, stand er immer noch zitternd da. Er war in Schweiß gebadet und die ganze Zeit über unfähig gewesen, auch nur einen Finger zu bewegen. Danach ging im Lager der Geächteten eine tiefe Veränderung vor sich, die in der wachsenden Überzeugung zum Ausdruck kam, daß der Zeigefinger nicht länger uneinnehmbar war. Padishar Creel verfiel in die schlechteste aller Stimmungen, beschimpfte alles und jeden und ließ seinem Zorn darüber, daß die Föderation einen Kriecher eingesetzt hatte, daß die Wachen ihre Pflicht verletzt hatten und daß ganz besonders er selbst nicht ausreichend vorbereitet gewesen war, freien Lauf. Seine Männer gingen verdrießlich ihrer Arbeit nach. Wenn die Föderation in der Lage war, einen Kriecher auf sie zu hetzen, was sollte sie dann davon abhalten, einen zweiten loszuschicken? Und wenn ein zweiter losgeschickt wurde, womit sollten sie ihn dann aufhalten? Und was sollten sie tun, falls die Föderation eine noch schlimmere Bestie auf sie hetzte?

Achtzehn Männer hatten im Kampf ihr Leben gelassen, und zweimal so viele waren verwundet, von denen einige schwerlich den nächsten Tag erleben würden. Padishar Creel ließ die Toten am Rande der Anhöhe begraben und die Verwundeten in die größte Höhle schaffen, die nun als Krankenrevier dienen mußte. Die Schreie der Verwundeten und Sterbenden hingen in der Stille des frühen Morgens.

Der Kriecher wurde zum Rand der Anhöhe geschleppt und in den Abgrund geworfen. Es war eine anstrengende Arbeit, aber Padishar Creel war nicht gewillt, die Anwesenheit der Bestie auf der Anhöhe auch nur eine Sekunde länger als notwendig zu ertragen. Mit Seilen und Flaschenzügen machten sie sich an die Arbeit; die Seile, deren Enden am Rumpf des toten Monsters befestigt waren, wurden von Dutzenden von Männern ergriffen, die zogen und zerrten, um den Kriecher Schritt für Schritt durch das zerstörte Lager zu schleifen. Die Arbeit nahm den ganzen Morgen in Anspruch. Morgan hatte sich ihnen angeschlossen, sprach jedoch mit niemandem ein Wort und gab sich die größte Mühe, nicht aufzufallen, während er sich immer noch abmühte zu begreifen, was mit ihm geschehen war.

Schließlich begriff er es. Es war das Schwert von Leah, das für seinen Zustand verantwortlich war, erkannte er plötzlich – oder genauer gesagt, die Magie, die es enthalten hatte. Es war der Verlust der Magie, der ihn gelähmt hatte und für seine Unentschlossenheit und Angst verantwortlich war. Als er die Zauberkraft des Schwertes entdeckt hatte, hatte er sich für unverwundbar gehalten. Dieses Gefühl der Macht ließ sich mit keinem anderen Gefühl, das er irgendwann empfunden oder das er überhaupt für möglich gehalten hatte, vergleichen. Mit der Macht, die ihm damit zur Verfügung stand, konnte er alles erreichen. Er konnte sich noch gut an das Gefühl erinnern, als er den Schattenwesen in der Schlucht buch- stäblich allein gegenübergetreten war. Herrlich. Aufregend. Aber gleichzeitig anstrengend. Jedesmal, wenn er diese Macht anrief, schien er einen Teil seiner eigenen Kraft einzubüßen.

Als das Schwert von Leah entzweibrach und damit die Zauberkraft verloren war, hatte er begriffen, wieviel sie ihm abverlangt hatte. Er spürte die Veränderung fast auf der Stelle. Padishar Creel wollte ihn davon überzeugen, daß er unrecht hatte, daß er den Verlust bald verschmerzen würde, daß er weiterleben konnte wie zuvor. Doch er wußte jetzt, daß dem nicht so war. Er würde den Schmerz niemals verwinden, nicht vollständig. Nachdem er die Zauberkraft einmal gebraucht hatte, war er unwiderruflich ein anderer. Er konnte nicht darauf verzichten; ohne sie war er nicht mehr der gleiche Mann. Obwohl er sie nur kurze Zeit besessen hatte, hatte selbst dieser kurze Besitz eine dauerhafte Wirkung. Er dürstete danach, sie wieder zu besitzen. Ohne sie war er verloren; er war verwirrt und ängstlich. Genau das war der Grund, warum er im Kampf mit dem Kriecher nicht zu handeln vermocht hatte. Es lag nicht daran, daß er nicht wußte, was er tun sollte. Es lag daran, daß er die Zauberkraft nicht mehr beschwören konnte.

Dieses Eingeständnis kostete ihn mehr, als er sich erklären konnte. Er lebte weiter, lebte gleich einer gefühllosen Maschine, gelähmt vom Verlust der Zauberkraft. Er lebte nur in seiner Gedankenwelt und hoffte, daß keiner – insbesondere nicht Padishar Creel – sein Versagen bemerkte.

Nach einiger Zeit kam ihm Par in den Sinn. Er hatte nie zuvor darüber nachgedacht, was es für den Talbewohner bedeutete, ständig um seine Magie ringen zu müssen. Jetzt, wo er gezwungen war, sich mit der Bedeutung der Zauberkraft des Schwertes von Leah auseinanderzusetzen, glaubte Morgan zu verstehen, wie schwer es Par hatte. Wie hatte sein Freund gelernt, mit der Kraft des Wunschlieds zu leben? Was ging in ihm vor, wenn sie sich ihm versagte, wie sie es so oft auf ihrer Reise zu Allanon getan hatte? Wie wurde er mit seiner Schwäche fertig? Das Wissen, daß Par seinen Weg dennoch gefunden hatte, verlieh Morgan neue Kraft.

Gegen Mittag war der Kriecher fortgeschafft und die Schäden, die er im Lager angerichtet hatte, fast vollständig behoben. Der Regen ließ nach, als der Sturm nach Osten weiterzog. Die Wolken teilten sich, und die Sonne brach in langen Strahlen durch, die auf der grünen Weite des Parmakeils tanzten. Der Nebel verzog sich.

Die Föderation machte sich unverzüglich daran, ihre Wurfmaschinen und Belagerungstürme wieder in Stellung zu bringen und ihren Angriff auf den Zeigefinger wieder aufzunehmen. Die Wurfmaschinen schleuderten Steine, die Belagerungstürme wurden mit Bogenschützen bemannt, die einen unablässigen Pfeilhagel auf das Geächtetenlager niedergehen ließen. Es wurde jedoch nichts unternommen, um die Höhe zu stürmen. Die Geächteten konnten sich nicht wehren; die Angreifer waren zu weit weg und zu gut geschützt. Außerhalb der Höhlen gab es keine Stelle, an der die Geächteten sich hätten gefahrlos bewegen können. Es schien offensichtlich, daß der Verlust des Kriechers die Föderation nicht entmutigt hatte. Die Belagerung würde so lange fortgesetzt, bis die Verteidiger geschwächt waren und der Sturm gelingen konnte.

Auf der Anhöhe sprangen die Verteidiger zwischen den niedergehenden Pfeilen hindurch, riefen ihren Angreifern herausfordernde Worte zu und gingen ihrer Arbeit nach, so gut sie dies vermochten. Aber der Zeigefinger konnte auf Dauer nicht gehalten werden.

Morgan Leah war mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt. Er hatte sich von den anderen entfernt und war wieder zu seinem Versteck im Espenwäldchen am äußersten Rand der Anhöhe zurückgekehrt, weit weg von den Verteidigungsstellungen des Lagers, auf die sich die Attacken der Föderation konzentrierten. Wenn er seine Unfähigkeit, mit dem Verlust der Zauberkraft des Schwertes von Leah fertig zu werden, vergaß, sah er sich gezwungen, sich mit seinem Verdacht in bezug auf die Person des Verräters auseinanderzusetzen.

Es fiel ihm schwer, einen Entschluß zu fassen. Er wußte lediglich, daß er seinen Verdacht jemand mitteilen mußte. Aber wem?

Padishar Creel? Wenn er mit ihm sprach, standen die Chancen, daß der Anführer der Geächteten ihm glaubte, fünfzig zu fünfzig; er machte sich zu diesem Zeitpunkt weder etwas aus Steff noch aus Teel und würde einfach versuchen, sie loszuwerden. Schließlich konnte niemand mit Sicherheit sagen, welcher von beiden es war – sofern es überhaupt einer von beiden war.

Morgan schüttelte den Kopf. Mit Padishar Creel konnte er nicht reden.

Steff? Wenn er mit Steff redete, entschied er sich dafür, daß Teel die Verräterin war. Das wollte er zwar glauben, aber konnte er es mit Sicherheit behaupten? Selbst wenn sie es war, wußte er, wie Steff reagieren würde. Sein Freund liebte Teel. Sie hatte ihm das Leben gerettet. Er würde kaum gewillt sein, Morgans Verdacht ohne Beweis für zutreffend zu halten. Und Morgan hatte keinen Beweis, zumindest keinen, der sich vorzeigen ließ. Sein Verdacht blieb eine Vermutung, mochte sie auch noch so durchdacht sein.

Er saß unter den Bäumen und lauschte den fernen Schreien der Verteidiger, den Geräuschen der Wurfmaschinen und Bogen, dem Knarren von Eisen und Holz, dem Schwirren der Pfeile, die durch die Luft flogen, und dem Krachen, wenn sie aufprallten. Er war einsam, ziellos umherschwimmend in einem Meer der Unentschlossenheit und des Zweifels. Er mußte etwas tun; aber der Weg, den er hätte einschlagen können, wollte sich ihm nicht zu erkennen geben. Wie sehr hatte er sich gewünscht, an dem Kampf gegen die Föderation teilzunehmen, nach Norden zu ziehen, um sich den Geächteten anzuschließen, sich auf die Suche nach dem Schwert von Shannara zu begeben, die Schattenwesen zu vernichten. Er war dazu bestimmt, etwas Großes zu bewirken, etwas Wunderbares… Etwas, das den Lauf der Geschichte verändern würde.

Jetzt war seine Stunde gekommen. Er konnte den Lauf der Geschichte verändern wie kein anderer. Und er saß da, gelähmt.

Der Nachmittag ging langsam in den Abend über, die Belagerung hielt unvermindert an, und Morgans Zwiespalt blieb bestehen. Ein einziges Mal verließ er das Wäldchen, um nach Steff und Teel zu sehen, oder genauer, um ihnen nachzuspionieren, um zu sehen, ob sie sich auf irgendeine Weise verrieten. Aber die Zwerge verhielten sich wie immer. Steff war immer noch schwach und nicht in der Lage, sich mehr als ein paar Minuten zu unterhalten, bevor ihn der Schlaf wieder übermannte; Teel war schweigsam und auf der Hut. Obwohl er beide so verstohlen beobachtete, wie er nur konnte, um etwas zu entdecken, das seinen Verdacht bestätigte, ging er mit leeren Händen von dannen.

Es war beinahe dunkel, als Padishar Creel ihn endlich fand.

»Dir scheint’s allein am besten zu gefallen, stimmt’s?«

Morgan sprang auf. »Tut mir leid, Padishar.«

Der große Mann ließ sich ihm gegenüber nieder. Sein Gesicht war mit Staub und Schweiß bedeckt. Falls er Morgans Unbehagen bemerkte, ließ er sich nichts anmerken. Er streckte die Beine aus und lehnte sich zurück, wobei er sich mit seinen Ellbogen abstützte, was ihm offensichtlich Schmerzen bereitete. »Ein miserabler Tag, Hochländer«, sagte er. Die Worte wurden von einem bitteren Seufzer begleitet. »Zweiundzwanzig Männer tot, morgen früh werden’s noch zwei mehr sein, und wir verkriechen uns wie aufgescheuchte Füchse.«

Morgan nickte, ohne zu antworten. Er dachte krampfhaft darüber nach, was er sagen sollte.

»Tatsache ist, daß es mir gar nicht gefällt, wie sich die Dinge hier entwickeln.« Padishar Creels hartes Gesicht war ohne Regung. »Die Föderation wird uns so lange belagern, bis wir vergessen haben, warum wir überhaupt hier sind, und das trägt nicht gerade zur Verwirklichung meiner Pläne bei. Eingesperrt, wie wir hier sind, sind wir niemand von Nutzen. Es wird eine andere Gelegenheit geben, um mit diesen Feiglingen abzurechnen, die nur Wesen der dunklen Magie auf uns hetzen können, anstatt uns selbst gegenüberzutreten. Deshalb habe ich beschlossen, daß es an der Zeit ist, von hier zu verschwinden.«

Morgan beugte sich vor. »Fliehen?«

»Durch die Hintertür, von der wir gesprochen haben. Ich meine, daß du es wissen solltest. Ich brauche deine Hilfe.«

Morgan starrte ihn an. »Meine Hilfe?«

Padishar Creel setzte sich langsam auf. »Ich will, daß jemand eine Nachricht nach Tyrsis bringt – zu Damson und den Talbewohnern. Sie müssen wissen, was hier geschehen ist. Ich würde selber gehen, aber ich muß bleiben, um meine Männer in Sicherheit zu bringen. Deshalb habe ich gedacht, daß du vielleicht interessiert wärst.«

Morgan willigte sofort ein. »Das bin ich. Ich gehe.«

Der andere hob warnend die Hand. »Nicht so schnell. Wir werden den Zeigefinger nicht sofort verlassen, wahrscheinlich erst in drei oder vier Tagen. Die Verletzten sind noch nicht transportfähig. Aber ich möchte, daß du schon eher gehst. Morgen, wenn’s dir recht ist. Damson ist ein kluges Mädchen, aber sie ist eigensinnig. Seit du mich gefragt hast, ob sie möglicherweise versuchen könnte, die Talbewohner hierher zu bringen, habe ich ein wenig über die Sache nachgedacht. Sie könnte es tatsächlich versuchen. Du mußt sicherstellen, daß sie es nicht tut.«

»Das werde ich.«

»Also durch die Hintertür, wie ich schon gesagt habe. Und du gehst allein.«

Morgan runzelte die Stirn.

»Allein, mein Junge. Deine Freunde bleiben hier. Erstens kannst du nicht durch Tyrsis laufen mit einem Paar Zwerge im Schlepptau. Die Föderation würde euch innerhalb von zwei Minuten in Ketten legen. Und zweitens können wir kein Risiko eingehen nach all dem Verrat, der begangen worden ist. Keiner darf von deinem Vorhaben erfahren.«

Der Hochländer überlegte. Padishar Creel hatte recht. Es hatte wenig Sinn, unnötige Risiken einzugehen. Besser war es, allein zu gehen und niemand von seinem Vorhaben zu erzählen – ganz besonders nicht Steff und Teel. Er war drauf und dran, Padishar Creel von seinem Verdacht zu berichten, besann sich aber dann eines Besseren und nickte.

»Gut. Die Sache ist also geregelt. Bleibt nur noch eins.« Padishar Creel stand auf. »Folge mir.« Er führte Morgan durch das Lager in die größte Höhle, an der Stelle vorbei, wo die Verwundeten versorgt wurden, und in die dahinterliegenden Gewölbe. Von dort aus gelangten sie zu einem guten Dutzend Gängen, die in alle Richtungen auseinanderliefen und irgendwo in der Dunkelheit endeten. Auf dem Weg in die Gänge ergriff Padishar Creel eine Fackel und entzündete sie. Er führte den Hochländer zwischen Vorräten hindurch zu der tiefsten Stelle der Höhle, zu einer Wand, vor der sich Kisten auftürmten. Hier war es still.

Padishar Creel reichte Morgan die Fackel und streckte beide Hände aus, erfaßte mit den Fingern eine Kiste und zog. Ein ganzer Teil der Wand bewegte sich und gab einen dahinterliegenden Gang frei.

»Hast du gesehen, wie ich’s gemacht habe?« fragte Padishar Creel leise.

Morgan nickte.

Padishar Creel nahm die Fackel wieder an sich. Morgan beugte sich vor. Der Geheimgang wand sich in den Felsen hinein, bis er in der Dunkelheit verschwand.

»Der Gang führt durch den ganzen Felsen hindurch«, sagte Padishar Creel. »Wenn du bis zum Ende gehst, kommst du über dem Parmakeil südlich der Drachenzähne und östlich des Kennonpasses heraus.« Er sah Morgan scharf an. »Wenn du versuchen solltest, durch die anderen Gänge hinauszugelangen, würden wir dich wahrscheinlich nie Wiedersehen. Verstanden?« Er stieß die Geheimtür wieder zu und trat zurück. »All das zeige ich dir jetzt, weil ich, wenn du dich auf den Weg machst, nicht bei dir sein werde. Ich werde draußen sein und dir den Rücken freihalten.« Er lächelte sein hartes Lächeln. »Das Beste ist, wenn du schnell hindurchgehst.«

Sie gingen zum Ausgang zurück und traten auf die Anhöhe hinaus. Es war bereits dunkel. Der Anführer der Geächteten blieb stehen, reckte sich und sog die Abendluft ein. »Hör mir gut zu, mein Junge«, sagte er leise. »Da ist noch etwas. Du mußt aufhören, darüber nachzudenken, was mit dem Schwert, das du trägst, geschehen ist. Du kannst diese Last nicht mit dir herumschleppen und gleichzeitig einen klaren Kopf behalten; die Last ist zu schwer, selbst für einen kräftigen Kerl wie dich. Leg sie ab. Laß sie hinter dir. Du besitzt genügend Mut, um dich ohne das Schwert durchzuschlagen.«

Padishar Creel weiß, was sich heute morgen zugetragen hat, erkannte Morgan plötzlich. Er weiß es und gibt mir zu verstehen, daß alles in Ordnung ist.

Padishar Creel drehte sich um und verschwand in der Dunkelheit. Morgan hätte ihm um ein Haar nachgerufen. Er wollte ihm von seinem Verdacht über den Verräter erzählen. Er wäre von der Last, das Geheimnis ganz allein zu tragen, erlöst worden.

Er kämpfte mit seiner Unentschlossenheit jetzt genau so, wie er den ganzen Tag mit ihr gerungen hatte. Aber wieder einmal verlor er den Kampf. Danach schlief er unter den Espen, eingehüllt in seinen Mantel. Die Erde war nach dem morgendlichen Regen wieder trocken; die Nacht war warm und die Luft erfüllt mit den Düften des Waldes. Sein Schlaf war tief und traumlos. Sorgen und Unentschlossenheit fielen von ihm ab.

Und dann wurde er wach.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter, hielt ihn fest. Die Berührung erschreckte ihn dermaßen, daß er einen Augenblick glaubte, er werde angegriffen. Er warf seinen Mantel von sich und sprang wild um sich fuchtelnd auf. Da bemerkte er, daß er Steff vor sich hatte.

Eingehüllt in seine Decke und mit zu Berge stehenden Haaren kauerte der Zwerg vor ihm am Boden; sein narbiges Gesicht war blaß und trotz der nächtlichen Kühle schweißüberströmt. In seinen dunklen Augen brannte das Fieber, und aus seinem Blick sprachen Entsetzen und Verzweiflung. »Teel ist fort«, flüsterte er rauh.

Morgan atmete tief ein. »Wohin?« brachte er schließlich heraus, während seine Hand immer noch fest auf dem Dolchknauf an seinem Gürtel lag.

Steff schüttelte den Kopf; sein keuchender Atem erfüllte die nächtliche Stille. »Ich weiß es nicht. Vor ungefähr einer Stunde ist sie aufgestanden. Ich habe sie beobachtet. Sie hat geglaubt, daß ich schlafe, aber…« Seine Stimme versagte. »Irgend etwas stimmt nicht, Morgan. Irgend etwas.« Er konnte kaum noch sprechen. »Wo ist sie?«

Im gleichen Augenblick wußte Morgan die Antwort.

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