27

Erst drei Tage, nachdem sie beschlossen hatten, sich noch einmal in die Schlucht hineinzuwagen, um das Schwert von Shannara zu gewinnen, hatte Damson Rhee eingewilligt, die Talbewohner aus ihrem Schuppen auf die Straßen von Tyrsis zu führen. Par war mittlerweile außer sich vor Ungeduld. Er hatte sogleich gehen wollen; Zeit war das Wichtigste, hatte er ihr vorgehalten. Aber Damson Rhee hatte sich geweigert. Es sei zu gefährlich, hatte sie behauptet. Zu viele Föderationspatrouillen durchkämmten nach wie vor die Stadt. Sie mußten warten. Par hatte keine andere Wahl gehabt, als sich zu fügen.

Selbst jetzt, als ihr das Risiko klein genug schien, um einen Versuch zu wagen, hatte sie eine Nacht ausgewählt, in der sich vernünftige Menschen ein solches Vorhaben zweimal überlegt hätten, eine eiskalte Nacht, in der die Stadt sich in einen Mantel aus Nebel und Regen gehüllt hatte.

Damson Rhee hatte die kleine Gruppe mit Regenumhängen ausgerüstet, und sie hatten sie jetzt fest um sich gezogen, während sie durch die Feuchtigkeit und die Stille gingen. Wasser tropfte aus den Dachrinnen, und der Nebel setzte sich mit kühler, besitzergreifender Berührung auf ihnen nieder. Sie folgten wie immer den Nebenstraßen und hielten sich von der Tyrsian-Allee und den anderen Hauptstraßen, die von den Föderationspatrouillen bewacht wurden, fern.

Sie waren auf dem Weg zum »Maulwurf«.

»So wird er genannt«, hatte ihnen Damson Rhee er- klärt, kurz bevor sie ihr Versteck verlassen hatten. »Das Gassenvolk nennt ihn so, weil er so genannt werden will. Ich glaube kaum, daß er sich an seinen wirklichen Namen erinnert, wenn er überhaupt je einen gehabt hat. Seine Vergangenheit ist ein gut gehütetes Geheimnis. Er lebt als Einsiedler in den Abwässerkanälen und Katakomben von Tyrsis. Seine Welt ist der Untergrund der Stadt, und keiner weiß mehr darüber als er.«

»Und wenn es unter dem Palast der Könige von Tyrsis immer noch Stollen gibt, kennt sie der Maulwurf?« drängte Par.

»Er kennt sie.«

»Können wir ihm trauen?«

»Die Frage ist nicht, ob wir ihm trauen können, sondern ob er uns traut. Wie ich schon gesagt habe, lebt er sehr zurückgezogen. Es ist gut möglich, daß er überhaupt nicht mit uns reden will.«

Par sagte einfach: »Er muß.«

Coll sagte gar nichts. Er hatte den ganzen Tag über wenig gesprochen, kaum ein Wort, seit sie beschlossen hatten, in die Schlucht zurückzukehren. Er hatte die Nachricht von ihrem Vorhaben geschluckt wie eine Medizin, die ihn entweder umbringen oder heilen würde, und er wartete gespannt auf das Ergebnis. Er schien zu dem Schluß gekommen, daß es nutzlos war, über das zu streiten, was er für eine Torheit hielt, und hatte deshalb eine fatalistische Haltung angenommen.

Er bildete jetzt die Nachhut, als sie durch die düstere Nacht von Tyrsis liefen, hielt sich dabei jedoch dicht an Par und drängte sich mit seiner stummen Anwesenheit auf eine Weise auf, die entnervend war. Par waren diese Gefühle für seinen Bruder alles andere als lieb, aber er konnte nichts dagegen tun. Coll hatte sich für die Rolle entschieden. Er war weder bereit, Pars Vorhaben gutzuheißen, noch war er gewillt, sich davon loszusagen. Er wollte einfach dabei sein, auf Gedeih und Verderb, bis eine Lösung gefunden war.

Damson Rhee führte sie eine schmale Steintreppe hinunter, die zwei leere, unbeleuchtete Gebäude verband. Par hörte Wasser fließen, ein leises Glucksen, als ob das Wasser über irgendein Hindernis plätscherte. Vorsichtig stiegen sie die schlüpfrige Treppe nach unten; ein verrostetes Geländer bot ihnen unsicheren Halt. Als sie das Ende der Treppe erreichten, befanden sie sich auf einem schmalen Weg, der parallel zum Abwasserkanal verlief.

Damson Rhee führte die Talbewohner in den Kanal. Er war dunkel und von unangenehmen, durchdringenden Gerüchen erfüllt. Damson Rhee blieb stehen, tastete im Dunkeln herum und brachte eine Fackel hervor, die sie schließlich mit Hilfe eines kleinen Feuersteins anzündete. Das Licht erhellte die Finsternis so weit, daß sie jeweils mehrere Schritte voraussehen konnten, und so marschierten sie los. Unsichtbare Lebewesen schwirrten in der vor ihnen liegenden Dunkelheit umher. Wasser tropfte von der Decke, rann die Wände hinunter und floß stetig durch den Kanal. Die Luft war kühl und bar allen Lebens.

Sie erreichten eine zweite Treppe, die noch weiter in die Tiefe führte, und betraten sie. Diesmal durchschritten sie mehrere Ebenen, und das Geräusch des Wassers verstummte. Kälte umfing sie mit lästiger Hartnäckigkeit. Die Talbewohner zogen ihre Umhänge fester um sich. Die Stufen endeten, und sie stießen auf einen neuen Durchgang, der jedoch schmäler war als der vorherige. Um vorwärtszukommen, mußten sie jetzt kriechen, und die Feuchtigkeit wich Staub. Sie bewegten sich stetig vorwärts, und die Minuten vergingen. Mittlerweile befanden sie sich weit unter der Stadt. Die Talbewohner hatten jede Orientierung verloren.

Als sie den Boden eines ausgetrockneten Brunnens erreichten, an den eine Eisenleiter gelehnt war, hielt Damson Rhee an. »Jetzt ist es nicht mehr weit«, sagte sie leise. »Von der Spitze der Leiter sind es nur noch ein paar hundert Meter. Dann mußten wir ihn finden – oder er uns. Er hat mich vor langer Zeit hierher gebracht, als ich ihm eine kleine Freundlichkeit erwiesen habe.« Sie zögerte. »Er ist lieb, aber auch seltsam. Seid vorsichtig in der Wahl eurer Worte.«

Sie führte sie die Leiter hinauf zu einer Stelle, von der eine Reihe von Gängen wegführte. Dort war es wärmer, weniger staubig, die Luft abgestanden, aber nicht übelriechend. »Diese Stollen dienten den Verteidigern der Stadt einst als Schlupflöcher; an einigen Stellen reichten sie bis hinunter in die Ebene.« Ihr rotes Haar glänzte, als sie es aus dem Gesicht strich. »Bleibt dicht hinter mir.«

Sie betraten einen der Gänge und machten sich auf den Weg nach unten. Die Fackel zischte und dampfte. Der Gang kreuzte andere Gänge und wand sich durch Räume, die durch Holzbalken gestützt wurden; all das trug lediglich dazu bei, daß die Talbewohner immer weniger Ahnung hatten, wo sie sich befanden. Aber Damson Rhee zögerte nie, sie kannte den Weg, dem sie entweder anhand von Zeichen folgte, die ihnen verborgen blieben, oder aber anhand einer Karte, die sie sich ins Gedächtnis rief.

Schließlich betraten sie einen Raum, den ersten von vielen, die alle miteinander verbunden waren; große Räume mit Fußböden aus Steinplatten, mit Wänden, an denen Vorhänge und Tapeten hingen, und einem Speicher. Der Raum war vom Boden bis zur Decke und von einer Wand zur anderen mit Kisten voll alter Kleider vollgestopft, Regale waren mit Schriftstücken, die fast schon zu Staub verfallen waren, Federn, unechtem Schmuck und Stofftieren jeder Form und Größe gefüllt. Verrostete Waffen lagen zerstreut im Raum herum.

Licht gab es ebenfalls. Öllampen, die an der Wand befestigt waren, tauchten den Raum in eine verschwommene Helligkeit; der entstehende Rauch zog durch Luftlöcher ab, die in den Ecken des Raumes in den darüberliegenden Fels gehauen waren.

Die Talbewohner sahen sich erwartungsvoll um. Außer ihnen war niemand im Raum.

Damson Rhee schien keineswegs überrascht. Sie führte sie in einen Raum, in dessen Mitte ein Tisch mit gebogenen Beinen und acht Stühle mit hoher Rückenlehne standen, und bedeutete ihnen, Platz zu nehmen. Auf jedem Stuhl saß ein Tier, und die Talbewohner sahen das Mädchen fragend an.

»Sucht euch einen Platz aus, nehmt dann das Tier, das auf dem Stuhl sitzt, und setzt es auf euren Schoß«, erklärte sie ihnen und zeigte ihnen sogleich, was sie damit meinte. Sie wählte einen Stuhl, auf dem ein ausgestopfter Hase saß, hob die Kreatur hoch und legte sie, nachdem sie sich gesetzt hatte, bequem auf ihren Schoß.

Coll tat es ihr gleich; sein Gesicht war ausdruckslos, als er seinen Blick auf einen Fleck auf der gegenüberliegenden Wand heftete, als sei er überzeugt, daß das Geschehen keineswegs seltsamer war, als er dies vorausgesehen hatte. Par zögerte, bevor er sich gleichfalls nieder- ließ mit einem Tier, das sowohl eine Katze wie auch ein Hund hätte sein können – es war unmöglich festzustellen, worum es sich tatsächlich handelte. Er kam sich irgendwie lächerlich vor.

Sie saßen einfach nur da und warteten schweigend. Damson Rhee fing an, den pelzigen Rücken ihres Hasen zu streicheln. Coll saß wie versteinert da. Par wurde mit jeder Minute, die ereignislos verstrich, ungeduldiger.

Dann gingen die Lichter aus, nicht alle auf einmal, sondern eins nach dem anderen. Par wollte schon aufspringen, als Damson Rhee schnell sagte: »Bleib sitzen.«

Alle Lichter erloschen, bis auf eines. Das eine, das noch brannte, befand sich am Eingang des ersten Raumes, den sie betreten hatten. Es leuchtete in der Ferne, und der Lichtschein reichte kaum bis zu dem Tisch, an dem sie saßen. Par wartete darauf, daß sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten; als er wieder sehen konnte, stellte er fest, daß er auf ein rundliches, bärtiges Gesicht starrte, das auf der anderen Seite des Tisches zwei Stühle von Damson Rhee entfernt plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war. Weit geöffnete Augen blickten ihn an, wandten sich dann in Richtung Coll, blinzelten und starrten weiter.

»Sei gegrüßt, Maulwurf«, sagte Damson Rhee.

Der Maulwurf hob fast unmerklich den Kopf; sein Nacken und seine Schulter wurden sichtbar, und seine Hände und Arme zeigten sich auf dem Tisch. Der Maulwurf war vollkommen mit Haar bedeckt, einem dunklen, pelzigen Mantel. Es wuchs auf jedem sichtbaren Fleckchen Haut, nur dort nicht, wo seine Nase, seine Wangen und ein Stückchen seiner Stirn wie Elfenbein im schwachen Lichtschein schimmerten. Sein runder Kopf wackelte, und seine kindlichen Finger waren in einer Geste der Zufriedenheit gefaltet. »Auch dir einen guten Abend, liebliche Damson«, sagte er.

Er sprach mit kindlicher Stimme, die jedoch irgendwie seltsam klang, so als käme sie aus einem hohlen Faß oder aus dem Wasser. Seine Augen blickten von Par zu Coll, dann von Coll zu Par. »Ich habe euch kommen hören und die Lichter für euch angemacht«, sagte er. »Aber ich mag die Lichter nicht so recht, und deshalb habe ich sie, da ihr jetzt da seid, wieder ausgemacht. Ist euch das recht?«

Damson Rhee nickte. »Ganz gewiß.«

»Wen hast du mir denn mitgebracht?«

»Talbewohner.«

»Talbewohner?«

»Zwei Brüder, aus einem Dorf im Süden, weit weg von hier. Par Ohmsford. Coll Ohmsford.«

Sie zeigte auf jeden, und die Augen sprangen von einem zum anderen. »Willkommen in meinem Heim. Wollen wir ein Täßchen Tee trinken?«

Er verschwand, ohne eine Antwort abzuwarten, und bewegte sich dabei so lautlos, daß Par ihn, so sehr er sich auch bemühte, selbst in der absoluten Stille nicht hören konnte. Er roch den Tee, als er gebracht wurde, konnte ihn jedoch erst dann sehen, als die Tassen auf den Tisch gestellt wurden. Es waren zwei Tassen, eine normal große und eine winzige. Sie waren alt und die Farbe, mit der sie bemalt worden waren, verblichen und kaum noch zu sehen.

Unschlüssig beobachtete Par die Szene, während Damson Rhee dem Stoffhasen, den sie auf ihrem Schoß hielt, einen Schluck aus der winzigen Tasse anbot. »Sind alle Kinder wohlauf?« fragte sie höflich.

»Das kann man sagen«, antwortete der Maulwurf, der jetzt wieder auf dem Platz saß, den er zuerst belegt hatte. Er hielt einen großen Bären, dem er Tee aus seiner eigenen Tasse anbot. »Chalt, das muß ich leider sagen, war schon wieder unartig. Er hat am Tee und den Keksen genascht und das Leben hier empfindlich gestört. Immer wenn ich nach oben gehe, um mich durch die Straßengitter und Mauerritzen über die letzten Neuigkeiten zu informieren, glaubt er, er habe die Genehmigung, die Dinge hier nach seinem Gutdünken umzugestalten. Sehr ärgerlich.« Er warf dem Bären einen schrägen Blick zu. »Lida hatte schlimmes Fieber, aber es geht ihr wieder besser. Und Westra hat sich in die Pfote geschnitten.«

Par warf Coll einen Blick zu, und diesmal erwiderte sein Bruder seinen Blick.

»Jemand Neues in der Familie?«

»Everlind«, sagte der Maulwurf. Er sah sie einen Augenblick an und zeigte dann auf den Hasen, den sie auf dem Schoß hielt. »Sie gehört seit zwei Tagen zu unserer Familie. Es gefällt ihr hier sehr viel besser als auf der Straße.«

Par wußte kaum, was er davon halten sollte. Offensichtlich sammelte der Maulwurf den Müll der Menschen in der Stadt über ihm und brachte ihn in seinen Speicher. Für ihn waren die Tiere lebendig, oder er tat zumindest so. Par fragte sich voll Unbehagen, ob er das überhaupt unterscheiden konnte.

Der Maulwurf sah ihn an. »In der Stadt flüstert man sich Dinge zu, die die Föderation aufgebracht haben – Anschläge, Eindringlinge, eine Bedrohung ihrer Herrschaft. Die Straßenpatrouillen sind verstärkt worden, und die Torwachen halten jeden auf. Die Sicherheitsvorkehrungen werden verstärkt.« Er machte eine Pause und wandte sich dann an Damson Rhee. »Das Leben hier ist sehr viel angenehmer, liebliche Damson – hier, unter der Erde.«

Damson Rhee stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Die Anschläge sind ein Grund, warum wir hier sind, Maulwurf.«

Der Maulwurf schien sie nicht gehört zu haben. »Ja, es lebt sich besser, sicherer unter der Erde, unter den Straßen, dort, wohin die Föderation niemals einen Fuß setzt.«

Damson Rhee schüttelte energisch den Kopf. »Wir sind nicht gekommen, um Zuflucht zu suchen.«

Der Maulwurf blinzelte; in seinen Augen spiegelte sich Enttäuschung. Er stellte seine Tasse sowie das Tier, das er auf dem Arm hielt, beiseite und stützte seinen runden Kopf in die Hände. »Ich habe Everlind hinter dem Haus eines Mannes gefunden, der den Steuereintreibern der Föderation zur Hand geht. Er kann gut mit Zahlen umgehen und sehr viel besser rechnen als andere seines Faches. Einst war er als Berater für die Bewohner der Stadt tätig, aber sie konnten ihm nicht so viel bezahlen wie die Föderation, und deshalb hat er der Föderation seine Dienste angeboten. Den lieben langen Tag arbeitet er in dem Gebäude, wo die Steuergelder aufbewahrt werden; danach geht er nach Hause zu seiner Familie, zu seiner Frau und seiner Tochter, der Everlind einst gehörte. Letzte Woche brachte der Mann seiner Tochter ein neues Stofftier mit, mit seidigem weißen Fell und grünen Kulleraugen. Er bezahlte dafür mit dem Geld der Föderation, das diese eingetrieben hatte. Deshalb hat seine Tochter Everlind nicht mehr haben wollen. Das neue Tierchen war viel schöner anzusehen.« Er sah sie an. »Weder der Vater noch die Tochter begreifen, worauf sie verzichtet haben. Beide sehen nur das, was an der Oberfläche ist, und nichts von dem, was darunter liegt. Das ist die Gefahr, wenn man über der Erde lebt.«

»Du hast recht«, stimmte Damson Rhee leise zu. »Aber genau das müssen wir ändern, wenigstens diejenigen von uns, die auch weiterhin dort leben wollen.«

Der Maulwurf rieb sich wieder die Hände, wobei er seinen Blick auf ihnen ruhen ließ und scheinbar seinen eigenen Gedanken nachhing. Der Raum glich einem Stilleben, in dem der Maulwurf und seine Gäste inmitten des Mülls saßen und den Dingen lauschten, die möglicherweise das Raunen ihrer eigenen Leben waren.

Der Maulwurf sah wieder hoch, und seine Augen hielten Damson Rhee fest. »Liebliche Damson, weshalb bist du gekommen?«

Damson Rhee richtete sich auf und strich die Locken aus ihrem Gesicht. »Es gab einmal Stollen unter dem Palast der Könige von Tyrsis. Wenn sie immer noch dort sind, müssen wir hinein.«

Der Maulwurf erstarrte. »Unter dem Palast?«

»Unter dem Palast. Wir müssen in die Schlucht hinein.«

In der darauffolgenden langen Stille starrte der Maulwurf sie an, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Fast unbewußt streckte er die Hände nach dem Tier aus, das er im Arm gehalten hatte. Er tätschelte es behutsam. »In der Schlucht gibt es Dinge, die aus der schwärzesten Nacht und dem schwärzesten Geist geboren sind«, sagte er leise.

»Schattenwesen«, sagte Damson.

»Schattenwesen? Ja, der Name paßt zu ihnen.«

»Hast du sie gesehen, Maulwurf?«

»Ich habe alles gesehen, was in dieser Stadt lebt. Ich bin das Auge der Erde.«

»Gibt es Stollen, die in die Schlucht hineinführen? Kannst du uns hinführen?«

Jeglicher Ausdruck wich aus dem Gesicht des Maulwurfs, als er sich in den Schatten zurücksinken ließ. Einen Augenblick glaubte Par, er sei gegangen. Aber er hatte sich nur versteckt, hatte sich in die Behaglichkeit der Dunkelheit zurückgezogen, um über das, worum er gebeten worden war, nachzudenken. Das Stofftier begleitete ihn, und das Mädchen und die Talbewohner blieben allein zurück, als wäre der kleine Kerl tatsächlich verschwunden. Geduldig und stumm warteten sie.

»Erzähl ihnen, wie wir uns kennengelernt haben«, sagte der Maulwurf plötzlich aus seinem Refugium heraus. »Erzähl ihnen, wie es war.«

Folgsam wandte sich Damson Rhee den Talbewohnern zu. »Ich ging eines schönen Abends in einem der Parks spazieren, nach Einbruch der Dunkelheit, als die Sterne langsam den Himmel erhellten. Es war Sommer; in der warmen Luft lag der Duft von Blumen und frischem Gras. Ich hatte mich gerade auf einer Bank niedergelassen, als der Maulwurf neben mich trat. Er hatte auf der Straße meine Vorstellung gesehen, hatte sich jedoch, während er zusah, in der Menge versteckt und bat mich, ein Kunststück nur für ihn vorzuführen. Ich führte mehr als eines vor. Er bat mich, in der nächsten Nacht wiederzukommen, und ich erfüllte seine Bitte, eine ganze Woche lang. Danach nahm er mich in sein unterirdisches Reich mit und zeigte mir sein Heim und seine Familie. So sind wir Freunde geworden.«

»Gute Freunde, liebliche Damson. Die besten Freunde.« Das Gesicht des Maulwurfs kam wieder zum Vorschein, löste sich aus dem Schatten. Die Augen waren ernst. »Du weißt, ich kann dir nichts abschlagen. Aber ich wünschte, du würdest mich nicht darum bitten.«

»Es ist wichtig, Maulwurf.«

»Du bist wichtig«, erwiderte der Maulwurf. »Ich habe Angst um dich.«

Sie streckte langsam die Hand aus und berührte seinen Handrücken. »Du brauchst keine Angst zu haben.«

Der Maulwurf wartete, bis sie ihre Hand wegnahm, und ließ seine schnell unter dem Tisch verschwinden. Widerstrebend fuhr er fort: »Es gibt Stollen, die unter dem Palast der Könige von Tyrsis durch den Fels führen. Sie führen zu Kellern und Verliesen, an die sich keiner mehr erinnert. Einige führen in die Schlucht.«

Damson Rhee nickte. »Du mußt uns hinführen.«

Der Maulwurf zitterte. »Dunkle Wesen, Schattenwesen halten sich dort auf. Was passiert, wenn sie uns entdecken?«

Damson Rhee blickte zu Par hinüber. »Dieser Talbewohner gebietet auch über Magie, Maulwurf. Aber es handelt sich in seinem Fall nicht um Magie wie die meine, mit der man Kunststücke vorführen und die Menschen unterhalten kann, sondern um echte Magie. Er hat keine Angst vor den Schattenwesen. Er wird uns beschützen.«

Par spürte, wie sich sein Magen bei diesen Worten verkrampfte – Worte, mit denen ein Versprechen gegeben wurde, das er, wenn er ehrlich war, vielleicht nicht würde halten können.

Wieder ließ der Maulwurf seinen Blick auf ihm ruhen. Seine dunklen Augen blinzelten. »Also gut. Morgen werde ich in die Stollen gehen und feststellen, ob sie noch begehbar sind. Ihr könnt dann bei Nacht wiederkommen, und wenn der Zugang offen ist, werde ich euch hinführen.«

»Danke dir, Maulwurf«, sagte Damson Rhee.

»Trinkt euren Tee aus«, sagte der Maulwurf leise, ohne sie anzusehen.

Schweigend saßen sie in Gesellschaft der Stofftiere beisammen und taten wie geheißen. Es regnete immer noch, als sie das Labyrinth der unterirdischen Gänge und Abwässerkanäle verließen und durch die leeren Straßen der Stadt huschten. Damson Rhee ging voraus, ging mit sicherem Schritt durch den Nebel und die Feuchtigkeit, gleich einer Katze, der die Nässe nichts ausmachte. Sie führte die Talbewohner zu dem Schuppen hinter der Gärtnerei zurück und ließ sie dann allein, damit sie sich ausruhen konnten. Sie sagte, daß sie gegen Mittag wiederkommen werde. Sie wolle vorher noch ein paar Dinge erledigen.

Aber Coll und Par war nicht nach Schlaf zumute. Sie blieben wach, saßen an den Fenstern und sahen in den Nebel hinaus. Es war mittlerweile fast Morgen, und der Himmel im Osten hellte sich auf.

Im Schuppen war es kalt, und die Brüder wickelten sich in ihre Decken.

Lange Zeit sprach keiner von beiden. Schließlich ergriff Par, der seine Ungeduld nicht mehr länger beherr- schen konnte, das Wort: »Woran denkst du?«

Coll antwortete nicht.

»Denkst du an den Maulwurf?«

Coll seufzte. »Vielleicht.« Er verkroch sich unter seiner Decke. »Ich sollte mich eigentlich fürchten, wenn ich daran denke, daß ich mein Leben in die Hände eines Burschen lege, dessen Besitztümer aus Müll bestehen und dessen Gefährten Stofftiere sind, aber ich fürchte mich nicht. Ich kann nicht sagen, warum es so ist. Ich glaube, es hat damit zu tun, daß er keineswegs merkwürdiger erscheint als alle anderen, die unseren Weg gekreuzt haben, seit wir Varfleet verlassen haben. Er scheint mir nicht verrückter.«

Par erwiderte nichts. Es gab nichts, was er hätte sagen können, was nicht schon gesagt worden war. Er wußte um die Gefühle seines Bruders. Er wünschte, das Warten wäre vorbei und die Zeit gekommen, etwas zu unternehmen. Er haßte das Warten. »Coll, warum läßt du mich das nicht allein machen?« fragte er. Sein Bruder sah ihn an. »Ich weiß, wir haben das schon erörtert; du brauchst mich nicht daran zu erinnern. Aber warum läßt du mich nicht? Es gibt keinen Grund, warum du mitgehen solltest. Ich weiß, wie du über die Sache denkst. Vielleicht hast du recht. Du solltest hier bleiben und auf mich warten.«

»Nein.«

»Aber warum nicht? Ich kann allein auf mich aufpassen.«

Coll starrte ihn an. »Tatsache ist, daß du es nicht kannst«, sagte er ruhig. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Unglaube. »Ich glaube, das ist das Lächerlichste, was ich jemals aus deinem Mund gehört habe.«

Par lief vor Zorn rot an. »Nur weil…«

»Es hat während der ganzen Reise, oder wie man es nennen will, keinen einzigen Augenblick gegeben, in dem du nicht irgend jemand gebraucht hättest.« Colls dunkle Augen verengten sich. »Versteh mich nicht falsch. Ich will damit nicht sagen, daß du der einzige gewesen wärst. Wir haben alle Hilfe gebraucht, haben einander gebraucht. Die Sache ist die, daß es alle anderen erkennen und akzeptieren. Aber du versuchst ständig, alles allein zu machen und derjenige zu sein, der alles am besten weiß, der alle Antworten kennt, alle Möglichkeiten einschätzen kann und einen besonderen Einblick hat, der den anderen abgeht, der dir erlaubt zu entscheiden, was am besten ist. Du verschließt dich vor der Wahrheit. Weißt du was, Par? Der Maulwurf mit seiner Stofftierfamilie und seinem unterirdischen Versteck – du bist genau wie er. Ganz genau so. Du schaffst dir deine eigene Wirklichkeit – die Wahrheit oder das, was andere denken, kümmert dich nicht.« Er zog die Decke fest um sich. »Ich gehe mit, weil du genau das brauchst. Es ist nötig, daß ich dir den Unterschied zeige zwischen den Stofftieren und den echten.«

Par kniff den Mund zusammen. Das ausdruckslose Gesicht seines Bruders war zum Verrücktwerden. »Ich kenne den Unterschied, Coll!« schnauzte er.

Coll schüttelte den Kopf. »Nein, das tust du nicht. Für dich ist alles eins. Stofftiere oder echte, für dich gibt es keinen Unterschied. Wichtig ist allein, wie du es siehst.«

»Das ist nicht wahr!«

»Nein? Dann erklär mir Folgendes. Was geschieht morgen, wenn du dich irrst? Was ist, wenn das Schwert von Shannara sich gar nicht dort befindet? Was ist, wenn die Schattenwesen schon auf uns warten? Was ist, wenn das Wunschlied nicht so funktioniert, wie du es dir vorstellst? Was geschieht, wenn die Stofftiere sich als echte Tiere entpuppen? Was gedenkst du dann zu tun? Das ist ein weiterer Grund, warum ich mitgehe.«

»Wenn sich herausstellen sollte, daß ich unrecht hatte, was macht es dann für einen Unterschied, ob du mitgehst oder nicht?« schrie Par zornig.

Coll antwortete nicht sofort. Dann wandte er seinen Blick Par zu. Ein ironisches Lächeln umspielte seinen Mund. »Kannst du dir das nicht denken?«

Par biß sich ärgerlich auf die Lippen. Er fühlte sich plötzlich klein und ängstlich; er wußte, daß sein Bruder recht hatte, daß er sich wie ein Narr benahm, daß er, indem er darauf beharrte, in die Schlucht zurückzukehren, das Leben aller in Gefahr brachte. Aber er mußte gehen. Coll hatte auch in diesem Punkt recht; die Entscheidung war nun einmal gefällt, und er würde sie nicht ändern.

Dann sagte Coll ruhig: »Ich mag dich, Par. Und ich würde sagen, daß ich, wenn man es genau nimmt, deshalb mitgehe.«

Ein Gefühl der Wärme durchströmte Par. Als er ansetzte, um zu sprechen, versagte seine Stimme. Mit einem Seufzer atmete er aus. »Ich brauche dich an meiner Seite, Coll«, brachte er schließlich heraus. »Wirklich.«

Coll nickte.

Keiner von beiden sprach danach.

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