33

Es regnete in den Drachenzähnen. Das kalte Nieseln erstreckte sich von einem Ende des Horizonts zum anderen. Morgan Leah stand auf einem Pfad am Abgrund und lugte unter der Kapuze seines Mantels hervor.

Er blinzelte die Regentropfen fort, die der Wind ihm in die Augen blies. Sein rötliches Haar klebte an seiner Stirn, und sein Gesicht war kalt. Sein Körper unter der durchnäßten Kleidung schmerzte. Während er den Lauten um sich herum lauschte, zitterte er. Das Heulen des Windes, der über die Felsen und durch die Bäume fegte, erhob sich augenblicksweise über das Donnergrollen weit oben im Norden. Reißende Bäche stürzten durch die Felsen hinter ihm ins Tal.

Der Tag war wie geschaffen dafür, über das Leben an sich nachzudenken, dachte Morgan grimmig. Es war ein Tag für einen neuen Anfang.

Padishar Creel trat von hinten an ihn heran, eine verhüllte, massige Gestalt. Regen lief ihm übers Gesicht, und seine Kleidung war gleich der von Morgan vollkommen durchnäßt. »Können wir gehen?« fragte er leise.

Morgan nickte.

Padishar Creel sah in den Regen hinaus und seufzte: »Es ist nicht so gekommen, wie wir gehofft haben, nicht wahr?« sagte er. »Nicht im geringsten.«

Morgan dachte kurz nach und antwortete: »Ich weiß nicht, Padishar. Vielleicht doch.«

Unter Padishar Creels Führung hatten die Geächteten am frühen Morgen die Gänge unterhalb des Zeigefingers verlassen und sich auf den Weg zu den Bergen im Norden gemacht. Die Pfade, denen sie folgten, waren schmal und steil und infolge des Regens gefährlich rutschig, aber Padishar hatte gesagt, daß sie auf diesen Pfaden sicherer seien, als wenn sie über den Kennonpaß marschierten, der sicher bewacht wurde. Das Wetter, so schlimm es auch sein mochte, war eher eine Hilfe als eine Behinderung. Der Regen verwusch ihre Fußspuren und damit jeden Hinweis darauf, wo sie gewesen und wohin sie gegangen waren. Die Armee der Föderation hatten sie seit Beginn ihres Zuges nicht zu Gesicht bekommen. Ihre Verfolger waren entweder im Schlamm versunken oder vollkommen verwirrt. Der Zeigefinger war möglicherweise verloren, aber die Geächteten waren entkommen und konnten anderswo kämpfen.

Es war jetzt Nachmittag, und die arg mitgenommene Gruppe befand sich oberhalb der Gabelung des Mermidon, dort wo er sich nach Süden zum Regenbogensee und nach Osten in die Rabbebene ergoß. Auf einem Felsvorsprung, von dem aus sich die Bergpfade in alle Richtungen verzweigten, machten sie Halt, bevor sie sich trennten. Die Trolle würden nach Norden in das Charnalgebirge und ihre Heimat zurückkehren. Die Geächteten würden sich am Firerimstreif, wo eines ihrer anderen Verstecke lag, sammeln. Padishar Creel würde nach Tyrsis zurückkehren, um nach Damson Rhee und den beiden Talbewohnern zu suchen. Morgan würde ostwärts nach Culhaven gehen und das Versprechen einlösen, das er Steff gegeben hatte. In vier Wochen wollten sie sich alle am Jannissonpaß treffen. Bis dahin war hoffentlich die Armee der Trolle zusammengestellt, und die Bewegung hatte hoffentlich ihre Kräfte gesammelt. Dann war es an der Zeit, eine Strategie auszuarbeiten, mit der man den Kampf mit der Föderation gewinnen konnte.

Wenn dann überhaupt noch jemand von ihnen am Leben war, um die Strategie auszuarbeiten, dachte Morgan düster. Das, was mit Teel geschehen war, hatte Zweifel in ihm geweckt. Er wußte jetzt, wie leicht es für die Schattenwesen und ihre Föderationsverbündeten war, in die Reihen ihrer Gegner einzudringen. Jeder konnte ein Feind sein. Der Verrat lauerte überall. Was konnten sie tun, sich zu schützen, wenn sie niemand vertrauen durften?

Auch Padishar Creel litt unter dieser Situation – das wußte Morgan –, obwohl er es nie zugegeben hätte. Morgan hatte ihn seit ihrer Flucht ständig beobachtet, und der große Mann sah an jeder Biegung des Wegs Gespenster.

Aber Morgan ging es ebenso. »Ist es nicht gefährlich für dich, wenn du so bald nach Tyrsis zurückkehrst?« fragte er unvermittelt, nur um irgend etwas zu sagen und die Stimme des anderen zu hören.

Padishar Creel zuckte die Schultern. »Auch nicht gefährlicher als vorher. Ich werde mich auf jeden Fall verkleiden. Mach dir keine Sorgen, Hochländer. Par und Coll werden bald in Sicherheit sein. Dafür werde ich sorgen.«

»Es tut mir leid, daß ich nicht mit dir kommen kann.« Morgan konnte die Bitterkeit in seiner Stimme nicht verbergen. »Ich war schließlich derjenige, der sie überredet hat mitzukommen. Ich habe sie schon einmal im Stich gelassen, in Tyrsis, und jetzt lasse ich sie wieder im Stich.« Müde schüttelte er den Kopf. »Ich muß das tun, was Steff mir aufgetragen hat. Ich kann nicht einfach so tun, als…«

Das Ende des Satzes blieb ihm im Hals stecken, als ihm die Erinnerung an seinen sterbenden Freund kam und der Schmerz über den Verlust zurückkehrte. Einen Augenblick dachte er, er müsse weinen, aber es kamen keine Tränen. Vielleicht hatte er sie alle schon geweint.

Padishar Creel streckte die Hand aus und legte sie auf seine Schulter. »Hochländer, du mußt dein Versprechen halten. Das schuldest du ihm. Wenn du es eingelöst hast, kommst du zurück. Die Talbewohner und ich werden warten, und dann fangen wir wieder von vorne an.«

Immer noch unfähig zu sprechen, nickte Morgan bloß. Er spürte den Regen auf seinen Lippen und leckte ihn ab.

»Wir tun das, was wir in diesem Kampf tun müssen«, fuhr Padishar Creel fort. »Wir alle. Wir sind freie Menschen, wie man so schön sagt, und es ist unser gemeinsamer Krieg. Deshalb gehst du nach Culhaven und hilfst denen, die deine Hilfe brauchen, und ich gehe nach Tyrsis und tue das Gleiche. Aber wir werden einander nicht vergessen, oder?«

Morgan schüttelte den Kopf. »Nein, ganz bestimmt nicht, Padishar.«

Der große Mann trat einen Schritt zurück. »Nimm das.« Er gab Morgan seinen Ring mit dem Zeichen des Falken. »Wenn du mich wieder finden willst, zeig ihn Matty Roh in Varfleet. Ich sorge dafür, daß sie weiß, wo ich mich aufhalte. Mach dir keine Sorgen. Er hat dich schon einmal zu mir geführt; er wird es auch ein zweites Mal tun. Jetzt mach dich auf den Weg. Ich wünsche dir viel Glück.«

Er streckte die Hand aus, und Morgan hielt sie lange fest. »Auch ich wünsche dir Glück, Padishar.«

Padishar Creel lachte. »Immer und überall, mein Junge. Immer und überall.« Er ging zu dem Kiefernwäldchen zurück, wo die Geächteten und Trolle auf ihn warteten.

Jeder, der aufstehen konnte, stand auf. Abschiedsworte wurden gesprochen. Chandos umarmte Padishar Creel, andere klopften ihm auf die Schulter, einige streckten ihm von ihren Bahren die Hände entgegen.

Auch nach allem, was geschehen ist, ist er immer noch der einzige, den sie sich als Führer wünschen, dachte Morgan voller Bewunderung. Er sah, wie sich die Trolle nach Norden in Bewegung setzten und wie ihre plumpen Gestalten schon bald nicht mehr von der Landschaft, die sie durchwanderten, zu unterscheiden waren. Jetzt wandte sich Padishar Creel zu ihm um. Er hob den Arm und winkte ihm zum Abschied.

Morgan wandte sich nach Osten. Der Regen fiel, und er neigte den Kopf, um sein Gesicht zu schützen. Seine Augen waren auf den Pfad vor ihm geheftet.

Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er Padishar Creel nichts von der Zauberkraft erzählt hatte, die immer noch im zerbrochenen Schwert von Leah wohnte und ihnen beiden das Leben gerettet hatte. Er hatte dem anderen mit keinem Wort erzählt, wie er Teel überwältigt hatte, wie es ihm gelungen war, das Schattenwesen zu besiegen. Es war keine Zeit gewesen, darüber zu sprechen. Er wußte nicht, warum die Klinge immer noch Zauberkraft besaß und warum er in der Lage gewesen war, sie zu beschwören. War sie jetzt verbraucht? Oder war noch genügend übrig geblieben, daß sie ihn ein weiteres Mal rettete, sollte dies nötig sein? Par Ohmsford trieb dahin.

Er wollte nicht schlafen, denn während des Schlafs würde er träumen, und seine Träume quälten ihn. Er war auch nicht wach, denn im wachen Zustand hätte er der Wirklichkeit ins Auge sehen müssen, der er so verzweifelt zu entfliehen suchte.

So trieb er einfach dahin, durch eine kaum erkennbare Existenz, umgeben von der grauen Welt zwischen dem, was war, und dem, was nicht war, worin sein Geist sich nicht konzentrieren mußte und seine Erinnerungen nur in Bruchstücken zu ihm drangen, worin er vor der Vergangenheit wie auch der Zukunft sicher war. Dieser Zustand bot ihm Schutz und hielt alles von ihm fern – und genau das brauchte er.

Dennoch hörte er die flüsternde Stimme des Lebens aus der Welt, vor der er sich zu verstecken suchte. Er spürte die Decken, die ihn umhüllten, und das Bett, auf dem er lag. Er sah die Kerzen, die ein weiches Licht aussandten. Seltsame Geschöpfe blickten von Schränken, Regalen und Kommoden auf ihn herab; ihre Gesichter waren aus Stoff und Pelz und hatten Knopfaugen, genähte Nasen und Hängeohren. Er lauschte auf die Worte, die gesprochen wurden.

»Es ist sehr krank, liebliche Damson«, hörte er eine Stimme sagen.

Jemand antwortete: »Er schützt sich dadurch, Maulwurf.«

Damson Rhee und der Maulwurf. Er wußte, wer sie waren, obwohl er sie nicht ganz einordnen konnte. Er wußte ebenfalls, daß sie über ihn sprachen. Es störte ihn nicht.

Manchmal sah er ihre Gesichter. Der Maulwurf war ein behaartes Geschöpf mit runden, fragenden Augen, die nachdenklich dreinblickten. Manchmal setzte er die seltsamen Kreaturen neben Par. Er sah ihnen ziemlich ähnlich, dachte Par. Er nannte sie beim Namen und sprach mit ihnen, aber sie gaben ihm nie eine Antwort.

Das Mädchen fütterte ihn zuweilen. Sie brachte ihm Suppe und ließ ihn trinken, und er folgte ihrer Aufforderung ohne Widerrede. Irgend etwas an ihr war verwirrend, faszinierte ihn, und er versuchte ein- oder zweimal mit ihr zu reden. Aber die Wörter flohen ihn und versteckten sich.

Damson Rhee kam immer wieder an sein Lager. Sie saß neben ihm und hielt seine Hand. Sie sprach leise, berührte sein Gesicht mit ihren Fingern, ließ ihn ihre Anwesenheit spüren, auch wenn sie nichts tat. Es war ihre Anwesenheit, die ihn davor bewahrte, ganz und gar wegzutreiben. Er hätte es vorgezogen, wenn sie ihn nicht daran gehindert hätte. Warum tat sie das alles? War sie darauf bedacht, ihn bei sich zu behalten, oder wollte sie einfach, daß er sie mitnahm?

Er fing an, ihren Worten aufmerksamer zu lauschen. »Es war nicht deine Schuld« – diesen Satz hörte er am häufigsten. »Diese Kreatur war nicht mehr Coll.« Auch das sagte sie. »Du mußtest sie töten.«

Sie sagte diese Dinge, und ab und zu glaubte er fast, daß er sie verstand. Aber dunkle Schatten bemächtigten sich dann seines Geistes, und er suchte sich vor ihnen zu verstecken.

Eines Tages sprach sie die Worte aus, und er verstand sie sofort. Da fing er an zu schreien und schien gar nicht mehr aufhören zu können. Die Erinnerungen kehrten zurück und fegten die Wände, die er so sorgfältig errichtet hatte, um sie fernzuhalten, beiseite, und seine Pein war grenzenlos. Er schrie, und der Maulwurf wich zurück, die seltsamen Geschöpfe fielen von seiner Bettkante, er konnte durch seine Tränen hindurch sehen, wie die Kerzen flackerten.

Das Mädchen hatte ihn gerettet. Sie überhörte seine Schreie und hielt ihn fest an sich gepreßt, als wäre er in Gefahr, vollständig abzutreiben, und als weigerte sie sich, ihn gehen zu lassen. Als seine Schreie endlich ein Ende nahmen, stellte er fest, daß auch er sie festhielt.

Dann fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf, in dem er Ruhe fand. Als er erwachte, war der Wahnsinn zu Ende und der Halbschlaf hinweggespült. Er wußte wieder, wer er war; er erkannte seine Umgebung und die Gesichter Damson Rhees und des Maulwurfs. Sie badeten ihn und gaben ihm saubere Kleider, fütterten ihn und betteten ihn erneut zur Ruhe. Sie sprachen nicht mit ihm. Vielleicht begriffen sie, daß er noch nicht antworten konnte.

Als er wieder erwachte, drängten sich die Erinnerungen, vor denen er sich versteckt hatte, in seine Gedanken. Sie waren nicht mehr so abscheulich, obwohl sie ihn traurig machten. Er stellte sich einer nach der anderen und gestattete ihnen zu sprechen.

Das Schwert von Shannara lag auf dem Bett neben ihm. Er war sich nicht sicher, ob es von Anfang an dort gelegen oder ob Damson Rhee es dorthin gelegt hatte, nachdem er wieder zu Sinnen gekommen war. Alles, was er wußte, war, daß es wertlos war. Es hatte gegen Felsen-Dall vollkommen versagt. Er hatte alles aufs Spiel gesetzt, um das Schwert in seinen Besitz zu bringen, und es schien, als sei alles sinnlos gewesen. Er besaß den Talisman, der ihm versprochen worden war, immer noch nicht.

Lügen und Wahrheit gab es mehr als genug, und das eine ließ sich nur schwer vom anderen trennen. Felsen-Dall log ganz sicher; aber er hatte auch die Wahrheit gesprochen. Allanon hatte die Wahrheit gesprochen, aber er hatte ebenfalls gelogen. Keiner von beiden war ganz das, was er zu sein vorgab. Nichts war in jeder Hinsicht so, wie es der eine oder der andere dargestellt hatte. Möglicherweise war selbst er etwas anderes als das, wofür er sich hielt, und seine Magie das zweischneidige Schwert, vor dem ihn sein Onkel Walker Boh immer gewarnt hatte.

Aber die schlimmste und bitterste Erinnerung, mit der er fertig werden mußte, war die an den armen Coll. Sein Bruder war in ein Schattenwesen verwandelt worden, während er versucht hatte, ihn zu beschützen, war zu einer Kreatur der Schlucht gemacht worden, und Par hatte ihn deshalb getötet. Er hatte es nicht gewollt, aber die Magie war ungebeten aus ihm herausgebrochen und hatte Coll getötet. Dessen Tod war seine Schuld. Sein Bruder hatte die Reise seinetwegen mitgemacht. Er war seinetwegen in die Schlucht hinabgestiegen. Alles, was er getan hatte, hatte er für ihn getan.

Er dachte plötzlich an ihr Zusammentreffen mit dem Geist Allanons, wo jeder Ohmsford mit einer großen Aufgabe betraut worden war, außer Coll. Hatte Allanon gewußt, daß Coll sterben würde? Hatte Coll aus diesem Grund keine Aufgabe erhalten?

Par konnte Colls Stimme hören, den rauhen Tonfall, die ihr eigene Klangfarbe. Im Geist durchlebte er noch einmal die Abenteuer, die sie gemeinsam erlebt hatten, als sie Kinder waren, die Tage, an denen sie ohne die Erlaubnis ihrer Eltern fortgegangen waren, die Orte, die sie aufgesucht hatten, die Menschen, denen sie begegnet waren und mit denen sie gesprochen hatten. Er ging die Ereignisse der vergangenen Wochen seit ihrer Flucht aus Varfleet noch einmal durch. Er wollte sich daran erinnern, wie sein Bruder in dieser Zeit gewesen war.

Coll, der jetzt tot war.

So lag er stundenlang da und hing seinen Gedanken nach; er versuchte die Tatsachen zu begreifen und anzunehmen. Ein Teil seines Selbsts weigerte sich zuzugeben, daß Coll nicht mehr lebte, obwohl er wußte, daß er tot war.

Nur selten sprach er mit Damson Rhee. Er lag in der unterirdischen Behausung des Maulwurfs inmitten der Stofftiere, die über ihn wachten.

Gleichwohl arbeitete sein Geist fieberhaft. Irgendwann würde er wieder zu Kräften kommen, das nahm er sich vor. Und dann würde ihm irgend jemand Rede und Antwort stehen müssen über das, was Coll angetan worden war.

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