7

Sie setzten ihren Weg nach Culhaven fort, entschlossen, die ganze Nacht und, wenn notwendig, einen weiteren Tag zu marschieren, anstatt in diesem Wald noch einen Augenblick länger zu bleiben. Sie waren zum großen Weg zurückgekehrt, dort, wo er sich parallel zum Silberfluß nach Osten wandte. Als sie so dahingingen, einerseits vorwärtsgetrieben von ihrer Angst, andererseits gelähmt von Müdigkeit, wanderten ihre Gedanken wie grasende Rinder zu grüneren Weiden, und Par Ohmsford mußte an die Lieder denken.

Er erinnerte sich an die Legenden, die besagten, daß die Macht des Schwertes von Leah im wahrsten Sinne des Wortes zweischneidig war. Allanon hatte dem Schwert zu Zeiten Brin Ohmsfords Zauberkraft verliehen, als er mit dem Mädchen aus dem Vale und ihrem Beschützer Rone Leah, Morgans Vorfahren, nach Osten gereist war. Der Druide hatte das Schwert in die verbotenen Wasser des Hadeshorns getaucht und sein Wesen damit für immer verändert. Es war von da an mehr als nur eine einfache Klinge; es wurde zum magischen Schwert, das selbst den Mordgeistern widerstehen konnte. Aber die Magie war wie alle alten Magien; sie war sowohl Segen als auch Fluch. Seine Macht machte süchtig, machte den Besitzer in immer größerem Maße abhängig. Brin Ohmsford hatte die Gefahr erkannt, aber Rone Leah ließ ihre Warnung unbeachtet. Während ihrer letzten Auseinandersetzung mit der dunklen Magie hatte nur die Macht von Jair und ihre eigene sie gerettet und dafür gesorgt, daß die Zauberkraft des Schwertes nicht mehr benötigt wurde. Niemand wußte, was mit dem Schwert danach geschehen war – man wußte nur, daß es nicht mehr gebraucht und deshalb auch nicht mehr benutzt wurde.

Bis jetzt. Und jetzt schien es so, als sei es Pars Pflicht, Morgan vor den Gefahren zu warnen, die mit dem Gebrauch der Zauberkraft des Schwertes verbunden waren. Aber wie sollte er das anstellen? Morgan Leah war neben Coll sein bester Freund, und seine Zauberkraft, um die Par ihn so beneidete, hatte ihnen eben das Leben gerettet! Schuldgefühle plagten ihn, sobald er an die Eifersucht in seinem Inneren dachte. Wie konnte er Morgan erklären, daß er die Zauberkraft nicht anwenden sollte?

Der Kampf in seinem Inneren dauerte nicht lange. Er konnte sein Unbehagen und seine Erinnerung an den Atem der Bestie, den er über sich gespürt hatte, einfach nicht aus seinem Gedächtnis verbannen. Er beschloß, ruhig zu sein. Vielleicht bestand gar keine Notwendigkeit, überhaupt darüber zu sprechen. Sollte es doch notwendig werden, konnte er immer noch reden.

In dieser Nacht sprachen sie nur wenig, und wenn, dann über die Schattenwesen. Ihre Zweifel an der Existenz dieser Wesen waren endgültig beseitigt. Selbst Coll ließ keine ironischen Bemerkungen mehr fallen, wenn er von der Bestie sprach, die sie angegriffen hatte. Doch die Gewißheit brachte noch keine neuen Erkenntnisse. Die Schattenwesen blieben weiterhin ein Rätsel. Sie wußten weder, woher noch warum sie kamen. Falls die Bestien hinter ihnen her waren, wußten sie nicht, wie sie sich dagegen wehren sollten. Sie wußten nur, daß der alte Mann recht gehabt hatte, als er sie zur Vorsicht ermahnt hatte.

Kurz nach Sonnenaufgang erreichten sie Culhaven. Müde traten sie aus dem Schatten des Waldes in das Halblicht des neuen Tages hinaus. Wolken bedeckten den östlichen Himmel und hüllten die am Boden kauernde Zwergenstadt in ein frostiges Gewand. Die Gefährten blieben stehen, reckten sich, gähnten, sahen sich um. Sie gewahrten eine Ansammlung von Hütten, aus deren Schornsteinen sich der Rauch zum Himmel erhob, sowie Schuppen und kleine Gehege, in denen Tiere eingepfercht waren. Gemüsegärten machten dem überall wuchernden Unkraut die Erde streitig.

Frauen schlurften aus den Türen. Alle sahen auf die gleiche Weise zerlumpt und ungepflegt aus. In den Höfen, auf den Wegen spielten Kinder, die so zottig aussahen wie Bergschafe.

Morgan bemerkte die Blicke, mit denen Par und Coll die vor ihnen liegende Stadt anstarrten. »Das Culhaven, das ihr kennt, kennt ihr nur aus euren Geschichten. Aber das ist längst Vergangenheit. Ich weiß, ihr seid müde, aber da ihr nun schon mal hier seid, müßt ihr euch einige Dinge anschauen.« Er führte sie zur Stadt.

Die Häuser sahen mit jedem Schritt verkommener aus. Der Weg war seit ewigen Zeiten nicht mehr hergerichtet worden und bestand aus Löchern, die mit Abfällen und Steinen gefüllt waren. Die Frauen, die ihren alltäglichen Arbeiten nachgingen, warfen den Fremden, die an ihnen vorbeigingen, argwöhnische Blicke zu, aus denen Mißtrauen und Angst sprach.

»Culhaven, die schönste Stadt im ganzen Ostland, das Herz und die Seele des Zwergenvolkes«, sagte Morgan leise. »Ich kenne die Geschichten. Culhaven galt einst als Heiligtum, als Stätte der feinen Lebensart, als Wahrzeichen dessen, was durch Leistung erarbeitet wird.«

Einige Kinder liefen auf sie zu und bettelten um Geld. Freundlich schüttelte Morgan den Kopf, strich dem einen oder anderen übers Haar und ging weiter.

Sie bogen in eine Gasse ein, die zu einem Bach hinunterführte, der durch Müll verstopft war. Die an seinen Ufern hin- und herlaufenden Kinder stocherten mit ihren Stöcken im vorbeitreibenden Unrat. Ein Übergang brachte sie auf die andere Seite. Alles um sie herum verströmte einen fauligen Geruch.

»Wo sind die Männer?« fragte Par.

Morgan sah ihn an. »Die glücklichen unter ihnen sind tot. Die anderen sind in den Minen oder Arbeitslagern. Aus diesem Grund sieht hier alles so aus, wie es aussieht. In dieser Stadt gibt es nur noch Kinder, alte Leute und ein paar Frauen.« Er blieb stehen. »Und so ist es hier seit fünfzig Jahren. Dafür hat die Föderation gesorgt.«

Er führte sie durch eine enge Gasse zu einer Reihe von Hütten, die einen sehr viel gepflegteren Eindruck machten. Diese Heime waren frisch gestrichen, die Gärten und Rasen mustergültig. Hier war alles hell und neu und sauber.

Morgan führte sie eine Böschung hinauf zu einem kleinen Park, wo sie sich vorsichtig einem kleinen Tannenwäldchen näherten. »Seht ihr die dort?« fragte er und deutete auf die wenigen gepflegten Hütten. Par und Coll nick-ten. »Dort leben die hier stationierten Föderationssoldaten und Beamten. Die jüngeren Zwergenfrauen müssen für sie arbeiten. Die meisten müssen sogar mit ihnen leben.« Er warf ihnen einen vielsagenden Blick zu.

Sie verließen den Park und gingen einen Abhang hinunter, der zur Mitte der Ansiedlung führte. Läden und Geschäfte verdrängten jetzt die Häuser, und Fußgänger füllten die Straßen. Die Zwerge, die sie hier zu Gesicht bekamen, waren damit beschäftigt, zu kaufen und zu verkaufen, aber es waren nur wenige und auch hier meist alte. Die Straßen waren mit Fremden bevölkert, die hier Handel betrieben. Und die Soldaten der Föderation waren allgegenwärtig.

Morgan drängte die Brüder weiter, dorthin, wo sie unbemerkt bleiben würden; er zeigte ihnen alles Mögliche, und seine Stimme war bitter. »Dort drüben, das ist die Silberbörse. Man zwingt die Zwerge, das Silber aus den Minen zu fördern, wobei sie die meiste Zeit unter Tage verbringen – ihr wißt, was das heißt –, es dann zu Föderationspreisen zu verkaufen und den größten Teil ihrer Gewinne an ihre Herren abzuliefern. Und die Tiere gehören ebenfalls der Föderation. Für die Zwerge wird alles streng rationiert. Dort, das ist der Markt. Alles Gemüse und Obst wird von den Zwergen angebaut und verkauft, und der Gewinn fällt zu einem großen Teil ebenfalls an die Föderation. Jetzt wißt ihr also, wie es hier zugeht, und könnt euch ein Bild davon machen, was es für die Leute hier bedeutet, unter dem ›Schutz‹ der Föderation zu leben.«

Am Ende der Straße blieben sie stehen, in ausreichendem Abstand von einer Menschenmenge, die sich um eine Tribüne drängte, auf der Zwergenmänner und -frauen aneinandergekettet zum Verkauf angeboten wurden. Sie sahen zu, und Morgan sagte: »Hier werden die verkauft, die nicht zur Arbeit gebraucht werden.«

Er führte sie auf eine langgestreckte Anhöhe, die sich über der Stadt erhob. Die Anhöhe war ohne Leben, ein riesiger dunkler Fleck in einer baumlosen Landschaft. Einst war sie terrassenförmig angelegt gewesen; das, was jetzt noch von der Anlage übrig war, ragte gleich Grabsteinen aus der Erde.

»Wißt ihr, was das ist?« fragte er sie leise. Sie schüttelten den Kopf. »Das sind die Überreste des einstigen Meade-Gartens. Ihr kennt die Geschichte. Die Zwerge haben diesen Garten angelegt und dafür aus dem umliegenden Land Humus herbeigeschafft, Humuserde, die so schwarz war wie Kohle. Jede Blume, die die Rassen kannten, wurde gepflanzt und gehegt. Mein Vater hat gesagt, daß es das Schönste war, das er je gesehen hat. Er war einmal hier, als er noch ein kleiner Junge war.«

Morgan schwieg, während sie die Ruinen betrachteten, und fuhr dann fort: »Die Föderation hat den Garten niedergebrannt, als die Stadt in ihre Hände fiel. Und jedes Jahr wird er von neuem angezündet, damit auch ja nichts wächst.«

Während sie zurückgingen, fragte Par: »Woher weißt du das alles, Morgan? Von deinem Vater?«

Morgan schüttelte den Kopf. »Mein Vater war seit damals nie wieder hier. Ich glaube, er möchte gar nicht wissen, wie es jetzt hier aussieht, sondern es so in Erinnerung behalten, wie es einmal war. Nein, ich habe hier Freunde, die mir erzählen, was die Zwerge durchmachen, was ich bei meinen Besuchen selbst nicht sehe. Ich habe euch bisher nicht viel davon erzählt. Aber es hat sich alles erst in jüngster Vergangenheit zugetragen, im letzten halben Jahr vielleicht. Ich werde euch später mehr davon erzählen.«

Sie lenkten ihre Schritte in den ärmeren Teil der Stadt und folgten dabei einer neuen Straße, die aber ebenso abgenutzt und mit Löchern übersät war wie die anderen. Nach einem kurzen Fußmarsch bogen sie in eine Gasse ein, die zu einem weiträumigen Gebäude aus Stein und Holz führte, das aussah, als wäre es einmal eine Art Gasthaus gewesen. Das dreistöckige Gebäude war umgeben von einer überdachten Veranda, auf der sich Schaukeln und Schaukelstühle befanden. Der Hof war leer, aber ohne Müll und Unrat und voll von spielenden Kindern.

»Eine Schule?« vermutete Par.

Morgan schüttelte den Kopf. »Ein Waisenhaus.« Er führte sie durch eine Gruppe von Kindern über die Veranda zu einer Seitentür, die im Schatten einer laubüberwucherten Nische versteckt lag. Er klopfte an die Tür und wartete. Als die Tür sich einen Spalt breit öffnete, sagte er: »Habt ihr etwas zu essen für einen armen Mann?«

»Morgan!« Die Tür flog auf. Eine ältere Zwergenfrau stand in der Tür, grauhaarig und gutmütig. »Morgan Leah, was für eine angenehme Überraschung! Wie geht es dir, mein Junge?«

»Gut«, antwortete er. »Dürfen wir eintreten?«

»Natürlich. Seit wann mußt du fragen?« Die Frau trat zur Seite und machte ihnen Platz; sie umarmte Morgan und verbeugte sich vor Par und Coll. Sie schloß die Tür hinter ihnen und sagte: »Ihr habt wohl Hunger, wenn ich recht sehe?«

»Wir sind bereit, für ein gutes Mahl unser Leben zu lassen«, erklärte Morgan lachend. »Großmütterchen Elise, das sind meine Freunde, Par und Coll Ohmsford aus Shady Vale. Sie sind derzeit… heimatlos.«

»Geht es uns nicht allen so?« erwiderte Elise barsch. Sie streckte ihre schwielige Hand aus, und die Brüder ergriffen sie einer nach dem anderen. Sie betrachtete sie mit prüfendem Blick. »Hast dich wohl mit einem Bären auf einen Ringkampf eingelassen, Morgan?«

Morgan berührte vorsichtig die Schnitt- und Schürfwunden in seinem Gesicht. »Schlimmer noch als das, fürchte ich. Die Straße nach Culhaven ist nicht mehr das, was sie einmal war.«

»Genauso ist es mit Culhaven. Nehmt Platz, du und deine Freunde. Ich bringe euch Kuchen und Obst.«

Mehrere lange Tische mit Bänken standen in der Mitte der geräumigen Küche, und die drei Freunde ließen sich am ersten Tisch nieder. Die Küche war groß, aber ziemlich dunkel, die Einrichtung geradezu ärmlich. Elises geschäftiges Hantieren verriet, daß sie das versprochene Frühstück und eine Art von frischgepreßtem Saft für sie zubereitete. »Ich würde euch gern etwas Milch anbieten, aber ich muß die wenige, die ich habe, für die Kinder einteilen«, sagte sie entschuldigend.

Hungrig machten sie sich über das Frühstück her, als eine zweite Frau eintrat, ebenfalls eine Zwergin, mit schnellen Bewegungen, die an einen Vogel erinnerten und scheinbar nie zum Stillstand kamen. Sie ging schnurstracks auf Morgan zu, der sich sofort erhob und ihr einen Kuß auf die Wange hauchte.

»Tante Jilt«, stellte Morgan sie vor.

»Sehr angenehm«, erwiderte sie, nahm neben Elise Platz und begann unverzüglich an einer Stickerei zu arbeiten, die sie mitgebracht hatte; ihre Finger flogen geradezu über ihre Arbeit.

»Diese Damen sind jedermanns Mütter«, erklärte Morgan, als er sich wieder seinem Essen zuwandte. »Auch meine, obwohl ich im Gegensatz zu ihren anderen Schützlingen keine Waise bin. Sie haben mich adoptiert, weil ich so unwiderstehlich bin.«

»Du hast uns, als du uns das erste Mal gesehen hast, genauso angefleht wie alle anderen, Morgan Leah!« warf Jilt ein, ohne dabei von ihrer Stickerei aufzusehen. »Das ist der einzige Grund, warum wir dich aufgenommen haben – der einzige Grund, warum wir überhaupt jemand aufnehmen.«

»Sie sind Schwestern, auch wenn man das nie vermuten würde«, fuhr Morgan schnell fort. »Elise ist wie eine Daunendecke, wunderbar weich und warm. Aber Tante Jilt – tja, Tante Jilt ist eher wie eine Steinpritsche.«

Jilt rümpfte die Nase. »Steine sind in diesen Zeiten sehr viel haltbarer als Daunen. Und beide sind immer noch haltbarer als hochländisches Süßholzgeraspel!«

Morgan und Elise lachten, Jilt stimmte nach einem Augenblick in ihr Lachen ein, und auch Par und Coll mußten lächeln.

Als sie ihr Frühstück beendet hatten, beschäftigte Elise sich mit dem Geschirr, und Jilt verließ sie, um nach den Kindern zu sehen.

Morgan flüsterte: »Die beiden leiten dieses Waisenhaus bereits seit dreißig Jahren. Die Föderation läßt sie in Ruhe, weil sie die Kinder davor bewahren, unter die Räder zu kommen. Da es Hunderte von Kindern ohne Eltern gibt, ist das Waisenhaus immer voll. Sobald die Kinder alt genug sind, werden sie hinausgeschmuggelt. Wenn man sie zu lange hier behält, schickt die Föderation sie in die Arbeitslager oder verkauft sie.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie die beiden das aushalten. Ich wäre schon längst verrückt geworden.«

Elise kam an den Tisch und setzte sich zu ihnen. »Hat Morgan euch erzählt, wie wir uns kennengelernt haben?« fragte sie die Ohmsfords. »Er brachte uns Essen und Kleidung für die Kinder, er gab uns Geld und half uns, ein Dutzend Kinder nach Norden zu schmuggeln, damit sie dort bei Familien in den freien Gebieten leben konnten.«

»Um Himmels willen, Großmütterchen!« unterbrach sie ein verlegener Morgan.

»Genau so war es! Und er hilft uns auch jetzt, wenn er kommt«, fügte sie trotz seines Einwandes hinzu.

Morgan griff in seine Tasche und holte einen kleinen Beutel heraus. Der Inhalt klimperte, als er ihn ihr überreichte. »Ich habe vor einer Woche eine kleine Wette gewonnen.«

»Gott segne dich, Morgan.« Elise erhob sich von ihrem Platz, kam zu ihm herüber und küßte ihn auf die Wange. »Ihr scheint mir ziemlich erschöpft – alle drei. Wir haben hinten noch ein paar freie Betten und einige Decken. Ihr könnt euch bis zum Abendessen ruhig hinlegen.«

Sie führte sie von der Küche in einen kleinen Raum im hinteren Teil des großen Hauses, in dem sich mehrere Betten, ein Waschbecken, Decken und Handtücher befanden. Par blickte sich um und bemerkte sofort, daß alle Fenster mit Läden verschlossen und die Vorhänge sorgfältig zugezogen waren.

Elise erhaschte den Blick, den Par seinem Bruder zuwarf. »Manchmal möchten meine Gäste gern ungestört bleiben«, sagte sie ruhig. »Ihr doch auch, oder?«

Morgan ging auf sie zu und küßte sie zärtlich. »Scharfsichtig wie immer, Großmütterchen. Wir müssen uns mit Steff treffen. Kannst du das arrangieren?«

Elise sah ihn kurz an, nickte dann schweigend, küßte ihn ebenfalls und verließ das Zimmer.

Die Dämmerung war bereits hereingebrochen, als sie aufwachten. Elise erschien, huschte auf Zehenspitzen durchs Zimmer, um jeden zu wecken und ihm zuzuflüstern, daß es Zeit sei, und verschwand dann ebenso lautlos, wie sie gekommen war. Morgan Leah und die Ohmsfords fanden ihre Kleider sauber und wohlriechend wieder. Elise war fleißig gewesen, während sie geschlafen hatten.

Während sie sich ankleideten, sagte Morgan: »Wir treffen uns heute abend mit Steff. Er gehört zur Widerstandsbewegung der Zwerge, und die Bewegung hat ihre Augen und Ohren überall. Falls Walker Boh sich immer noch im Ostland aufhält, auch wenn es im tiefsten Anar sein sollte, wird Steff es wissen.« Er zog seine Stiefel hoch und stand auf. »Steff war eine der Waisen, die Elise großgezogen hat. Er ist für sie wie ein Sohn. Außer Jilt ist er der einzige, der ihr geblieben ist.«

Sie verließen das Schlafzimmer und begaben sich in die Küche. Die Kinder hatten ihre Abendmahlzeit bereits beendet und sich in ihre Zimmer in den beiden oberen Stockwerken zurückgezogen, außer ein paar ganz Kleinen, die Jilt noch fütterte, indem sie geduldig zuerst dem einen, dann dem anderen einen Löffel Suppe in den Mund schob. Als die drei eintraten, sah sie kurz auf und nickte ihnen zu.

Elise bat sie, an einem der Tische Platz zu nehmen, und tischte Schüsseln voll köstlichen Essens und dunkles Bier auf. Von oben hörten sie die Sprünge und Schreie der spielenden Kinder. »Es ist schwer, alle zu beaufsichtigen, wenn man nur zu zweit ist«, entschuldigte sie sich, während sie Coll eine zweite Portion des Fleischeintopfs auflegte. »Aber die Frauen, die wir anstellen, halten es nie sehr lange aus.«

»Konntest du Steff verständigen?« fragte Morgan leise.

Elise nickte mit einem plötzlich traurigen Lächeln. »Ich wünschte, ich könnte ihn öfter sehen, Morgan. Ich mache mir solche Sorgen um ihn.«

Sie beendeten ihre Mahlzeit und saßen schweigend da, während Elise und Jilt die Kinder fertig machten und sie zu Bett brachten. Zwei Kerzen brannten auf dem Tisch, an dem die drei Platz genommen hatten.

Nach einer Weile kehrte Jilt zurück und setzte sich zu ihnen. Sie sprach kein Wort. Ihr Gesicht war über die Stickerei gebeugt, an der sie arbeitete.

Draußen ertönte ein Klingeln. Jilt sah kurz von ihrer Arbeit auf. »Die Föderation kündigt die Sperrstunde an«, murmelte sie. »Keiner darf danach das Haus verlassen.«

Elise trat in den Raum und arbeitete schweigend am Spülbecken. Oben begann eines der Kinder zu weinen, und sie ging hinauf. Die Ohmsfords und Morgan Leah sahen einander an und warteten.

Plötzlich klopfte es leise an der Küchentür. Drei Klopfzeichen. Jilt sah auf. Dann ein erneutes Klopfen, dreimal. Eine Pause, und dann wieder dreimal.

Jilt eilte zur Tür, öffnete sie einen Spalt breit und spähte hinaus. Dann öffnete sie die Tür ganz, und eine schattenhafte Gestalt huschte herein. Jilt verriegelte die Tür hinter ihr. Im gleichen Augenblick trat Elise aus dem Gang herein und führte Morgan, Par und Coll zu dem Fremden. »Das ist Teel«, sagte sie. »Sie wird euch zu Steff bringen.«

Viel konnten sie von Teel nicht erkennen. Sie war eine Zwergin, aber kleiner als die meisten und in einen schwarzen Mantel mit Kapuze gehüllt. Ihr Gesicht war von einer seltsamen ledernen Maske verhüllt. Ihr dunkelblondes Haar lugte stellenweise unter ihrer Kopfbedeckung hervor.

Elise stellte sich auf die Zehenspitzen und umarmte Morgan. »Sei vorsichtig, mein Kleiner«, ermahnte sie ihn. Sie lächelte, klopfte Par und Coll leicht auf die Schulter und eilte zur Tür. Sie spähte kurz durch die Vorhänge hindurch, dann nickte sie. Wortlos ging Teel zur Tür hinaus. Die Ohmsfords und Morgan Leah folgten ihr.

Draußen bewegten sie sich lautlos an der Hauswand entlang, schlüpften dann durch den hinteren Zaun auf einen schmalen Weg. Sie folgten ihm bis zu einer leeren Straße und bogen dann rechts ab. Die Hütten und Verschläge, die die Straße säumten, waren allesamt dunkel. Teel drängte sie schnell die Straße hinunter und in ein Tannenwäldchen. Sie blieb stehen, kauerte sich auf den Boden und bedeutete den anderen, es ihr gleichzutun. Wenige Sekunden später erblickten sie eine fünfköpfige Föderationspatrouille. Die Männer lachten und unterhielten sich, während sie vorbeigingen, ohne sich um mögliche Zuhörer zu kümmern. Dann verhallten ihre Stimmen in der Ferne. Teel stand auf, und gemeinsam machten sie sich wieder auf den Weg.

Sie folgten der Straße etwa hundert Meter, bevor sie in den Wald traten. Sie huschten zwischen den Bäumen hindurch, und hier und da blieb Teel stehen, um zu horchen, bevor sie weitergingen. Der Duft wilder Blumen erfüllte die Luft.

Dann blieb Teel vor dichtem Strauchwerk stehen, schob die Zweige beiseite, bückte sich nach einem verborgenen Eisenring und zog. Die Geheimtür, die sich vor ihren Augen auftat, ließ eine Treppe sehen. Sie tasteten sich an der Wand entlang. Teel verriegelte hinter ihnen die Tür, zündete eine Kerze an und übernahm wieder die Führung. Die kleine Truppe machte sich auf den Weg nach unten.

Es war ein kurzer Abstieg. Die Treppe endete nach zwei Dutzend Stufen und mündete in einen Tunnel, dessen Wände und Decke durch dicke Holzbalken abgestützt waren. Teel verlor kein Wort über den Tunnel, sondern trat einfach vor ihnen hinein. Zweimal teilte er sich in mehrere Arme, und jedesmal ging sie ohne zu zögern weiter. Par dachte flüchtig daran, daß sie ohne die Hilfe von Teel nie wieder aus diesen Gängen herausfinden würden.

Der Tunnel endete Minuten später vor einer eisernen Tür. Teel stieß mit dem Griff ihres Dolches dagegen. Das Schloß auf der anderen Seite der Tür wurde geöffnet, und die Tür sprang auf.

Der Zwerg, der ihnen entgegentrat, war kaum älter als sie, ein kräftiger, muskulöser Bursche mit einem Bart und langem zimtfarbenen Haar, einem Gesicht, das über und über mit Narben bedeckt war, und der größten Keule auf seinem Rücken, die Par je gesehen hatte. Die obere Hälfte eines Ohrs fehlte ihm, und von der unteren Hälfte baumelte ein goldener Ohrring. »Morgan!« Er begrüßte und umarmte den Hochländer aufs herzlichste. Ein Lächeln erhellte sein düsteres Antlitz, als er den anderen an sich zog und an ihm vorbei einen Blick auf Par und Coll warf, die bereits ungeduldig warteten. »Freunde?«

»Die besten«, antwortete Morgan. »Steff, das sind Par und Coll Ohmsford aus Shady Vale.«

Der Zwerg nickte. »Seid willkommen, Talbewohner!« Er wandte sich von Morgan ab und streckte ihnen seine Hand entgegen. »Kommt, setzt euch und erzählt, was euch hergeführt hat.«

Sie befanden sich in einem unterirdischen Raum, in dem um einen langen Tisch mit Bänken allerlei Vorräte in Schachteln und Kisten lagerten. Steff forderte sie auf, sich auf den Bänken niederzulassen, füllte dann für jeden einen Krug mit Bier und setzte sich zu ihnen. Teel ließ sich in der Nähe der Tür auf einem kleinen Schemel nieder.

»Hier lebst du also jetzt?« fragte Morgan und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. »Könnte eine kleine Renovierung gebrauchen!«

Wieder huschte ein Lächeln über Steffs grobe Züge. »Ich habe viele Wohnsitze, und sie bedürfen alle der Renovierung. Dieser hier ist besser als die meisten. Wir Zwerge leben derzeit alle im Untergrund, entweder hier oder in den Minen oder in unseren Gräbern. Traurig.« Erhob seinen Krug. »Auf unsere Gesundheit und das Unglück unserer Feinde!« lautete sein Trinkspruch.

Alle tranken, außer Teel, die Wache hielt.

Steff stellte seinen Krug wieder auf den Tisch. »Ich hoffe, deinem Vater geht es gut«, sagte er zu Morgan.

Der Hochländer nickte. »Ich war bei Elise und habe ihr ein kleines Geschenk gemacht, mit dem sie Brot kaufen kann. Sie macht sich Sorgen um dich. Wie lang ist es her, daß du sie besucht hast?«

Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Zwergs. »Im Augenblick ist es zu gefährlich, sie zu besuchen. Sieh dir mein Gesicht an!« Er berührte seine Narben. »Die Föderation hat mich vor drei Monaten geschnappt.« Er sah verschwörerisch Par und Coll an. »Morgan hat davon keine Ahnung, müßt ihr wissen. Er hat mich in letzter Zeit selten besucht. Wenn er nach Culhaven kommt, bevorzugt er die Gesellschaft von Kindern und alten Damen.«

Morgan überhörte die letzten Worte Steffs. »Was ist passiert, Steff?«

Der Zwerg hob die Schultern. »Ich bin entkommen – wenigstens teilweise.« Er hob seine linke Hand hoch. Der kleine Finger und der Ringfinger fehlten. »Genug davon, Hochländer! Sag mir lieber, was dich in den Osten geführt hat.«

Morgan setzte zum Sprechen an, blickte dann zu Teel hinüber und hielt inne.

Steff folgte seinem Blick und sagte: »O ja, Teel. Ich bin wohl doch gezwungen, etwas über sie zu sagen.« Er richtete seinen Blick wieder auf Morgan. »Ich wurde von der Föderation festgenommen, als ich dabei war, ihr Hauptwaffenlager in Culhaven auszuräumen. Sie steckten mich in ihr Gefängnis, um herauszufinden, was ich ihnen sagen konnte. Das ist mir als Erinnerung daran geblieben.« Er berührte sein Gesicht. »Teel saß als Gefangene in der Zelle neben mir. Was sie mit mir getan haben, ist nichts im Vergleich mit dem, was sie mit ihr gemacht haben. Sie zerschlugen ihr Gesicht und ihren Rücken zur Strafe dafür, daß sie den Lieblingshund eines höheren Beamten der Stadtverwaltung von Culhaven getötet hat. Sie tötete den Hund vor lauter Hunger. Wir unterhielten uns durch die Wand hindurch und lernten uns so kennen. Eines Nachts, zwei Wochen, nachdem sie mich gefangengenommen hatten und mir immer klarer wurde, daß die Föderation kein weiteres Interesse an mir hatte und ich umgebracht werden sollte, gelang es Teel, den Wärter in ihre Zelle zu locken. Sie tötete ihn, nahm seine Schlüssel an sich, befreite mich, und wir entkamen. Seitdem sind wir zusammen.«

Nach einem langen Schweigen sagte Morgan: »Steff, wir brauchen deine Hilfe, um jemand zu finden, einen Mann, von dem wir annehmen, daß er im tiefen Anar lebt. Sein Name ist Walker Boh.«

»Walker Boh«, wiederholte Steff ruhig. Der Art, wie er den Namen aussprach, konnten sie entnehmen, daß er ihn kannte.

»Meine Freunde Par und Coll sind seine Neffen.« In kurzen Zügen erzählte Morgan die Geschichte ihrer Reise, die sie nach Culhaven geführt hatte, von der Flucht der Brüder Ohmsford aus Varfleet bis zu ihrem Kampf mit den Schattenwesen. Er berichtete von dem alten Mann und seinen Warnungen, von Pars Träumen, die ihn zum Hades-horn riefen, und von seiner eigenen Entdeckung der Zauberkraft des Schwertes von Leah. Steff hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Er saß regungslos auf seinem Platz; sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske.

Als Morgan seine Erzählung beendet hatte, schüttelte Steff den Kopf. »Druiden und Magie und Geschöpfe der Nacht. Hochländer, du hast mich wieder einmal überrascht!« Er erhob sich, ging um den Tisch herum und richtete seinen gedankenverlorenen Blick kurz auf Teel, bevor er sagte: »Ich habe von Walker Boh gehört.«

»Und?« drängte ihn Morgan.

»Und der Mann jagt mir Angst ein.« Steff sah Par und Coll an. »Euer Onkel, wie lang ist es her, seit ihr ihn zum letztenmal gesehen habt – zehn Jahre? Dann solltet ihr mir gut zuhören. Der Walker Boh, den ich kenne, ist vielleicht nicht derselbe Onkel, den ihr in Erinnerung habt. Dieser Walker Boh lebt eher in Gerüchten als in Wirklichkeit, ist aber trotz allem sehr wirklich – er ist jemand, dem selbst die Dinge, die in den dunkleren Teilen des Landes wohnen und sich an den Reisenden, Wanderern und Verirrten vergreifen, tunlichst aus dem Weg gehen.« Er setzte sich wieder hin, nahm seinen Bierkrug und trank.

Morgan Leah und die Ohmsfords sahen einander schweigend an. Schließlich sagte Par: »Ich glaube, wir haben uns schon entschieden. Wer oder was Walker Boh auch ist, uns verbindet außer unserer Blutsverwandtschaft ein weiteres gemeinsames Band – unsere Träume von Allanon. Ich muß wissen, was mein Onkel vorhat. Wirst du uns helfen, ihn zu finden?«

Ganz unerwartet ging ein schwaches Lächeln über Steffs Gesicht. Er sah Morgan an. »Ich nehme an, er spricht auch für seinen Bruder. Spricht er auch für dich?« Morgan nickte. Gedankenverloren ließ Steff seinen Blick geraume Zeit auf ihnen ruhen. »Dann werde ich euch helfen«, bekundete er schließlich. Er hielt inne und achtete auf ihre Reaktion. »Ich werde euch zu Walker Boh führen – falls er sich finden läßt. Aber ich tue das, weil ich meine eigenen Gründe dafür habe, und ich glaube, es ist am besten, wenn ihr darüber Bescheid wißt.« Er senkte den Kopf, und einen Augenblick legte sich ein Schatten auf sein Gesicht. »Die Föderation hat euch eure Häuser genommen und sie zu ihrem Besitz erklärt. Nun, die Föderation hat mir mehr als das weggenommen. Sie hat mir alles genommen – mein Heim, meine Familie, meine Vergangenheit und sogar meine Zukunft. Die Föderation hat all das zerstört, was war und ist, und hat mir nur das gelassen, was vielleicht sein wird. Sie ist mein Erzfeind, und ich würde alles tun, um sie zu vernichten. Nichts von all dem, was ich hier tue, wird mich zum Ziel führen. Was ich tue, dient nur dazu, mich am Leben zu erhalten. Jetzt hab’ ich genug davon. Jetzt will ich mehr.« Er hob den Kopf, und seine Augen leuchteten wild. »Falls es eine Magie gibt, die von den Ketten der Zeit befreit werden kann, falls es immer noch Druiden gibt,Geister oder Ähnliches, die dazu in der Lage sind, dann gibt es vielleicht eine Möglichkeit, mein Land und mein Volk zu befreien – Möglichkeiten, von denen wir bisher noch nichts ahnten. Wenn wir diese Möglichkeiten entdecken, dann müssen sie dazu benutzt werden, meinem Volk und meinem Land zu helfen.« Er schwieg. »Ich will, daß ihr ein Versprechen ablegt.«

Eine lange Stille erfüllte den Raum, während seine Zuhörer einander ansahen.

Dann sagte Par leise: »Ich schäme mich für das Südland, wenn ich sehe, was hier geschehen ist. Ich kann es einfach nicht begreifen. Falls wir irgend etwas entdecken, das den Zwergen ihre Freiheit wiedergeben könnte, werden wir davon Gebrauch machen.«

»Das werden wir«, bestätigte Coll, und auch Morgan Leah nickte.

Steff holte tief Luft. »Wir haben also eine Abmachung. Ich werde euch zu Walker Boh bringen – das heißt Teel und ich, denn wo ich hingehe, geht auch sie hin.« Er sah von einem zum anderen. »Wir werden ungefähr einen Tag brauchen, um alles Notwendige zusammenzupacken und einige Erkundigungen einzuziehen. Obwohl es unnötig ist, erinnere ich euch trotzdem daran, wie schwierig und gefährlich diese Reise höchstwahrscheinlich sein wird. Geht zu Elise zurück und ruht euch aus. Teel wird euch hinbringen. Wenn alle Vorbereitungen getroffen sind, schicke ich nach euch.«

Sie erhoben sich, und der Zwerg umarmte Morgan, lächelte dann unerwartet und schlug ihm auf die Schulter. »Du und ich, Hochländer – egal, wer da draußen lauert, vor uns muß er sich hüten!« Er lachte, und sein Lachen hallte im ganzen Raum wider.

Teel beobachtete sie mit Augen, die so kalt schienen wie Eis.

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