Genau in derselben Nacht machte sich Par Ohmsford zum letzten Mal auf den Weg hinunter in die Schlucht, um das Schwert von Shannara zu gewinnen.
Die Dunkelheit hatte sich bereits über die Stadt Tyrsis gesenkt. Regen und Dunst hatten sich in einen dichten Nebel verwandelt, der die Dächer und Wände der Häuser, die Karren und Stände auf den Märkten, ja selbst die Pflastersteine der Straße einhüllte und ihren Blicken entzog. Weder Mond noch Sterne waren zu sehen, und die Lichter der Stadt flackerten wie Kerzen, die jeden Augenblick auszugehen drohten.
Damson Rhee führte die Talbewohner, die die Kapuzen ihrer Mäntel tief in ihre Gesichter gezogen hatten, aus dem Schuppen der Gärtnerei. Sie waren buchstäblich allein in den leeren Straßen. Jedesmal, wenn sie Passanten begegneten, was einmal, höchstens zweimal geschah, nahmen sie deren Gegenwart kaum mehr als einen Augenblick wahr. Geräusche, die an ihr Ohr drangen, entbehrten sowohl eines Ursprungs wie einer Richtung.
Nach einer Weile verlangsamte Damson Rhee ihren Schritt. Sie hatten die schmalen Steintreppen erreicht, die sich zu den Abwasserkanälen hinunterwanden. Sie warf einen Blick auf Par und Coll; ihre grünen Augen waren hart. Dann begann sie mit dem Abstieg. Die Talbewohner folgten ihr. Keiner sprach. Par war sich nicht sicher, ob er hätte sprechen können, wenn er es versucht hätte. Sein Mund und seine Kehle fühlten sich an, als seien sie voll Watte.
Damson Rhee brachte eine Fackel hervor, mit der sie ihnen leuchtete, während sie sich lautlos vorwärtsbewegten. Par blickte abwechselnd von Damson Rhee zu Coll. Ihre Gesichter waren blaß und angespannt.
Sie brauchten weniger als eine Stunde, bis sie bei dem Maulwurf anlangten. Als sie aus dem trockenen Brunnen herausstiegen, wartete er bereits auf sie; er kauerte im Schatten.
»Maulwurf?« rief Damson Rhee leise.
Einen Augenblick blieb alles still.
Der Maulwurf hatte sich in eine Ritze in der Felswand der Kammer verkrochen und war in der Dunkelheit fast unsichtbar. Hätten sie nicht die Fackel gehabt, hätten sie ihn vollkommen übersehen. Ohne einen Ton von sich zu geben, starrte er sie an, so als wolle er sich erst von ihrer wirklichen Anwesenheit überzeugen. Schließlich schleppte er sich zwei Schritte vor und blieb stehen. »Guten Abend, liebliche Damson«, flüsterte er. Er warf einen kurzen Blick auf die Talbewohner, ohne sie zu begrüßen.
»Guten Abend, Maulwurf«, antwortete Damson Rhee. »Warum hast du dich versteckt?«
Der Maulwurf blinzelte. »Ich habe nachgedacht.«
Damson Rhee runzelte die Stirn. Sie schob die Fackel in eine Spalte im Fels hinter sich, wo das Licht ihren seltsamen Freund nicht stören würde. Dann kauerte sie vor ihm nieder. Die Talbewohner blieben stehen. »Was hast du herausgefunden, Maulwurf?« fragte sie leise.
Der Maulwurf verlagerte sein Gewicht. »Es gibt einen Weg in den Palast der Könige von Tyrsis und von dort in die Schlucht«, sagte er. »Und es gibt auch Schattenwesen.«
Damson Rhee nickte. »Können wir an ihnen vorbei?«
Der Maulwurf rieb sich die Nase. »Vielleicht«, sagte er schließlich. »Wollen wir’s versuchen?«
Damson Rhee lächelte und nickte wieder. Der Maulwurf erhob sich. Er war winzig, eine haarige Kugel mit Armen und Beinen, die aussahen, als hätte man sie nachträglich angebracht. Was war er? fragte sich Par. Ein Zwerg? Ein Gnom?
»Hier entlang«, sagte der Maulwurf und gab ihnen ein Zeichen, ihm in den dunklen Gang zu folgen. »Nimm die Fackel mit, wenn du willst. Wir können sie eine Weile benutzen.« Er warf den Talbewohnern einen scharfen Blick zu. »Aber Reden ist verboten.«
Das war der Anfang, Er führte sie in die Eingeweide der Stadt hinunter, in ihre tiefsten Kanäle, in Gänge, die seit Jahrhunderten kein Mensch mehr betreten hatte. Die Gänge gruben sich in die Felsen, nach oben und nach unten, durch Räume, die den Verteidigern der Stadt einst als Vorrats- und Waffenlager, als Zufluchtsstätte für die gesamte Bevölkerung von Tyrsis gedient hatten. Hie und da stießen sie auf Türen, die von ihren verrosteten Scharnieren herunterhingen. Von Zeit zu Zeit liefen Ratten durch die Dunkelheit, die jedoch beim Anblick der Menschen und des Lichts flohen.
Die Zeit ging dahin. Par verlor jedes Gefühl dafür, wie lange sie sich schon in den unterirdischen Stollen aufhielten, während sie langsam, aber stetig der gedrungenen Gestalt des Maulwurfs folgten. Hin und wieder ließ er sie ausruhen, obwohl er selbst keine Rast zu brauchen schien. Als sie die wenigen Male anhielten, saßen sie in der fast vollständigen Dunkelheit jedesmal im Kreis, vier einsame Wesen, begraben unter riesigen Steinmassen.
Sie gingen, bis Pars Beine anfingen zu schmerzen. Dutzende von Stollen lagen hinter ihnen. Die Fackel, die sie mit sich führten, war zweimal heruntergebrannt und erneuert worden. Ihre Kleider und Stiefel waren mit Staub bedeckt, ihre Gesichter verschmiert.
Dann blieb der Maulwurf stehen. Sie befanden sich in einem trockenen Brunnen, der von einer Reihe von Gängen durchzogen wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite war eine schwere Eisenleiter in den Felsen eingelassen. Sie ragte nach oben in die Dunkelheit, wo sie verschwand.
Der Maulwurf drehte sich um, deutete empor und legte einen schmutzigen Finger auf den Mund. Jeder wußte sofort, was die Geste zu bedeuten hatte.
Schweigend stiegen sie die Leiter hinauf, setzten einen Fuß vor den anderen, hörten, wie die Sprossen unter ihrem Gewicht krachten und ächzten. Das Licht der Fackel warf ihre Schatten in seltsamen Formen an die Wände des Brunnens. Die Gänge unter ihnen verloren sich in der Dunkelheit.
Am oberen Ende der Leiter stießen sie auf eine Luke. Der Maulwurf stemmte sich dagegen. Er öffnete die Luke einen Spaltbreit und spähte hinaus. Zufrieden stieß er die Luke auf, die mit einem dumpfen Schlag nach hinten fiel. Er kletterte hindurch, gefolgt von Damson Rhee und den Talbewohnern.
Sie standen in einem riesigen, leeren Keller, einem steinernen Verlies mit gewaltigen Fässern, mit Handfesseln und Ketten, die verstreut auf dem Boden lagen. Eine breite Treppe am anderen Ende des Kellers führte nach oben. Die Stille war erdrückend.
Der Maulwurf schob sich an Damson Rhee heran und flüsterte ihr etwas zu. Sie nickte, drehte sich zu den Talbewohnern um, deutete auf die Treppe, die nach oben führte, und formte mit ihren Lippen das Wort »Schattenwesen«.
Der Maulwurf führte sie geschwind durch den Keller zu einer winzigen Tür, die in die Wand zu ihrer Rechten eingelassen war, drückte geräuschlos die Klinke nach unten und schob sie hindurch, bevor er die Tür hinter ihnen wieder zuzog. Sie befanden sich in einem kurzen Gang, der in einen zweiten mündete. Der Maulwurf führte sie auch durch diese Tür und in den dahinterliegenden Raum.
Der Raum war leer, mit Ausnahme einiger Holzstücke, die von Kisten stammen mochten, einiger Blechplatten und einer Ratte, die eilig in einer Ritze zwischen den Steinquadern verschwand.
Der Maulwurf zog Damson Rhee am Ärmel, worauf sie sich zu ihm hinunterbeugte, um ihn anzuhören. Danach wandte sie sich den Talbewohnern zu. »Wir sind durch die Felsen am Westende des Volksparks gegangen und befinden uns jetzt unter dem Palast. Wir sind dort, wo früher die Gefängnisse waren. Genau an dieser Stelle haben zur Zeit von Balinor Buckhannah, dem letzten König von Tyrsis, die Armeen des Dämonenlords einen Durchbruch versucht.«
Der Maulwurf redete weiter.
Damson Rhee runzelte die Stirn. »Der Maulwurf sagt, daß sich in den Räumen über uns möglicherweise Schattenwesen befinden – nicht die Schattenwesen aus der Schlucht, sondern andere. Er sagt, daß er spürt, daß sie da sind, obwohl er sie nicht sehen kann.«
»Was bedeutet das?« fragte Par.
»Das bedeutet, daß sein Gespür ihm genügt.« Damson Rhee wandte ihr Gesicht von der Fackel ab und betrachtete die Decke des Raumes. »Es bedeutet, daß, wenn er sich so weit heranwagt, daß er sie sehen kann, sie ihn zweifellos ebenfalls sehen können.«
Voll Unbehagen folgte Par ihrem Blick. Sie hatten sich zwar nur flüsternd unterhalten, aber konnte nicht selbst das gefährlich werden? »Können sie uns hören?« flüsterte er in ihr Ohr.
Sie schüttelte den Kopf. »Hier offenbar nicht.« Sie sah zu Coll hinüber. Er stand regungslos in der Dunkelheit. »Wir sind noch immer ziemlich weit weg von der Schlucht. Wir müssen durch die Katakomben unter dem Palast, um die Stelle zu erreichen, von wo aus wir hinuntersteigen können. Der Maulwurf kennt den Weg. Aber wir müssen äußerst vorsichtig sein. Gestern, als er den Stollen durchsucht hat, waren noch keine Schattenwesen da, aber das könnte sich geändert haben.«
Par warf einen Blick auf den Maulwurf. Er hockte an einer Wand und beobachtete sie mit funkelnden Augen. Eine Hand streichelte unablässig das Haar auf seinem Arm.
»Bist du sicher, daß wir ihm trauen können?« meinte Par zu Damson Rhee.
Der Ausdruck auf ihrem blassen Gesicht veränderte sich nicht, aber ihr Blick schien in weite Ferne gerichtet. »So sicher, wie man nur sein kann.« Sie hielt inne. »Glaubst du, daß wir eine Wahl haben?«
Langsam schüttelte Par den Kopf.
Damson Rhee lächelte ironisch. »Dann sollten wir uns darüber keine Sorgen machen, glaubst du nicht auch?«
Sie hatte recht, natürlich. Nichts konnte seinen Verdacht zerstreuen, solange er nicht gewillt war umzukehren, und er hatte bereits beschlossen, unter keinen Umständen umzukehren.
»Die werden wir jetzt nicht mehr brauchen«, sagte Damson Rhee und wies auf die Fackel. Sie reichte sie Par und kramte dann in ihren Taschen, bis sie ein Paar weiße Steine mit silbernen Streifen hervorholte. Sie behielt den einen und gab Par den anderen. »Lösch die Fackel«, wies sie ihn an. »Dann nimm den Stein in deine Hände und wärme ihn. Wenn du die Wärme spürst, öffne deine Hände.«
Par erstickte die Flamme der Fackel im Staub. Vollkommene Finsternis senkte sich über den Raum. Er hielt den seltsamen Stein in seinen Händen. Nach wenigen Sekunden spürte er, wie der Stein warm wurde. Als er eine Hand von ihm löste, strahlte der Stein ein schwaches silbernes Licht ab. Sobald sich Pars Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er, daß das Licht stark genug war, daß man die Gesichter seiner Gefährten und eine Fläche von mehreren Quadratmetern erkennen konnte.
»Wenn das Licht schwächer wird, wärmst du den Stein einfach wieder mit den Händen.«
Damson Rhee legte ihre Hand auf die seine, hielt sie fest und zog sie dann wieder weg. Das silberne Licht strahlte jetzt noch heller.
Unwillkürlich mußte Par lächeln. »Ganz guter Trick, Damson«, meinte er.
»Ein wenig von meiner eigenen Magie«, sagte sie, während ihre Augen ihn festhielten. »Straßenkunststücke eines Straßenmädchens. Nicht so wunderbar wie die echte Magie, aber zuverlässig. Kein Rauch, kein Geruch. Besser als das Licht einer Fackel, wenn wir unsichtbar bleiben wollen.«
»Viel besser«, pflichtete er bei.
Dann führte der Maulwurf sie aus dem Raum hinaus und in die Dunkelheit hinein. Damson Rhee folgte mit ihrem Stein in der Hand, hinter ihr schritt Par mit seinem Stein, und Coll bildete wie immer die Nachhut. Sie traten durch eine zweite Tür in einen Stollen hinaus, der sich an mehreren Türen und Räumen vorbei erstreckte. Sie bewegten sich völlig geräuschlos.
Par grübelte wieder über den Maulwurf nach. War er vertrauenswürdig? War der kleine Kerl der, der er vorgab zu sein, oder ein anderer? Die Schattenwesen konnten jede Gestalt annehmen. Was war, wenn der Maulwurf ein Schattenwesen war? Wieder Fragen, auf die es keine Antworten gab. Es gab niemand, dem er vertrauen konnte, dachte er freudlos, niemand außer Coll. Und Damson Rhee. Er vertraute ihr.
Oder doch nicht?
Er wehrte sich gegen den plötzlichen Zweifel, der ihn zu verschlingen drohte. Er konnte es sich nicht leisten, in diesem Augenblick solche Fragen zu stellen.
Während er wieder über das Rätsel der Schattenwesen nachdachte, über das Geheimnis, wer und was sie waren und wie sie so viele Gestalten annehmen konnten, kam ihm plötzlich die Frage in den Sinn, ob es Schattenwesen im Lager der Geächteten gab, ob der Feind, vor dem sie sich so verzweifelt zu verstecken suchten, in Wirklichkeit bereits mitten unter ihnen war. Der Verräter, dem Padishar Creel auf der Spur war, konnte ein Schattenwesen sein, das menschlich aussah, das scheinbar einer von ihnen war. Wie sollten sie es wissen? Waren sie nur mit Hilfe der Magie zu entlarven? Sollte das etwa der Zweck des Schwertes von Shannara sein, die wahre Identität des Feindes, dem sie auf der Spur waren, zu enthüllen? Diese Frage hatte er sich seit dem Augenblick gestellt, in dem Allanon ihn auf die Suche nach dem Schwert geschickt hatte. Aber wie unmöglich schien es doch, daß das magische Schwert diesen Zweck haben sollte. Es würde bis in alle Ewigkeit dauern, wollte er jeden, der möglicherweise ein Schattenwesen war, mit dem Schwert prüfen.
Plötzlich vernahm er die flüsternde Stimme Allanons: »Nur durch das Schwert kann sich die Wahrheit zeigen, und nur durch die Wahrheit können die Schattenwesen vernichtet werden.«
Wahrheit. Das Schwert von Shannara war ein magisches Symbol, das in der Lage war, Wahrheit zu enthüllen, Lügen zu zerstören und das Echte dem gegenüberzustellen, was nur den Anschein von Echtheit besaß. Diese Möglichkeiten hatte Shea Ohmsford ihm verliehen, als er den Dämonenlord vernichtet hatte.
Sie stiegen die lange, sich windende Treppe ganz nach oben. Eine geschlossene Tür in der Wand vor ihnen war verriegelt. Sie standen dicht beieinander auf dem Treppenabsatz, während sich der Maulwurf an den Riegeln zu schaffen machte. Unter leisem metallischen Kratzen öffnete er einen nach dem anderen; dann drückte er die Klinke behutsam nach unten. Par hörte, wie sein Herz in Antwort auf die Angst, die ihn durchströmte, wie wild hämmerte. Er fühlte, wie die in der Dunkelheit verborgenen Schattenwesen sie beobachteten. Er spürte ihre Gegenwart. Sein Gefühl war irrational und eingebildet, aber nichtsdestoweniger vorhanden.
Dann öffnete der Maulwurf die Tür, und sie schlüpften hastig hindurch.
Sie befanden sich in einem winzigen, fensterlosen Raum, von dessen Mitte aus sich eine Treppe nach unten in die Finsternis wand und auf dessen linker Seite eine Tür zu einem leeren Gang hinausführte. Lichtstrahlen drangen durch die Ritzen der Gangwand. Am anderen Ende des Ganges, vielleicht dreißig Meter von ihnen entfernt, bemerkten sie eine weitere verschlossene Tür.
Der Maulwurf winkte sie in den Gang hinein und machte die erste Tür hinter ihnen zu. Par ging zu einer der Ritzen in der Wand und spähte hinaus. Sie waren irgendwo im Palast, und zwar wieder über der Erde. Vor ihm erhoben sich Felsen, deren Abhänge mit Kiefern bedeckt waren. Am Himmel hingen dicke, finstere Wolken.
Par trat zurück. Es war beinahe Morgen. Sie waren die ganze Nacht hindurch gegangen.
»Liebliche Damson«, sagte der Maulwurf mit sanfter Stimme, als Par sich zu ihnen gesellte, »vor uns befindet sich eine Hängebrücke, die den Palasthof überquert. Wenn wir darüber gehen, sparen wir ziemlich viel Zeit. Wenn du und deine Freunde Wache halten wollt, werde ich mich vergewissern, daß die Schattenwesen uns nicht in die Quere kommen.«
Damson Rhee nickte. »Wo sollen wir auf dich warten?«
Sie kamen überein, daß Coll dort stehen bleiben sollte, wo er war. Par und Damson Rhee begaben sich mit dem Maulwurf zum anderen Ende des Ganges. Dort verließ sie der Maulwurf mit einem aufmunternden Lächeln, schlüpfte durch die Tür hindurch und war verschwunden.
Par und das Mädchen saßen nahe bei der Tür einander gegenüber. Er spähte durch den schwach erhellten Gang, um sich zu vergewissern, daß er Coll noch sehen konnte. Das rauhe Gesicht seines Bruders kam kurz in Sicht, und Par winkte ihm flüchtig zu. Coll winkte zurück.
Dann saßen sie in der Stille und warteten. Die Minuten gingen dahin, und der Maulwurf kehrte nicht zurück.
Par wurde langsam unbehaglich zumute. Er rückte näher an Damson Rhee heran. »Glaubst du, daß er in Ordnung ist?« fragte er flüsternd.
Sie nickte wortlos.
Par rutschte wieder weg. »Ich hasse dieses Warten.«
Sie gab keine Antwort. Sie hatte den Kopf an die Wand gelehnt und hielt die Augen geschlossen. Lange Zeit verharrte sie in dieser Stellung. Par hielt es für möglich, daß sie schlief. Als er noch einmal durch den Gang nach Coll sah, stellte er fest, daß Coll genau wie vorher dasaß, so daß er sich wieder Damson Rhee zuwandte. Ihre Augen waren jetzt offen und auf ihn gerichtet.
»Möchtest du, daß ich dir etwas aus meinem Leben erzähle, das sonst niemand weiß?« fragte sie leise.
Wortlos betrachtete er ihr Gesicht, ihre zarten, ebenmäßigen Züge, die jetzt so angespannt schienen, ihre smaragdfarbenen Augen und ihre blasse Haut, die teilweise von ihrem roten Haar verdeckt wurde. Sie kam ihm wunderschön und geheimnisvoll vor, und er wollte alles von ihr wissen. »Ja«, antwortete er.
Sie rutschte an ihn heran, bis sich ihre Schultern berührten. Sie warf ihm einen Blick zu und schaute dann weg. Er wartete.
»Wenn man jemand ein Geheimnis von sich selbst erzählt, ist es so, als gäbe man ihm damit einen Teil seiner selbst«, sagte sie. »Es ist ein Geschenk, aber es ist viel wertvoller als etwas, das man kaufen kann. Ich würde nicht sagen, daß ich vielen Menschen Dinge über mich erzähle. Ich nehme an, daß es daher kommt, daß ich nie viel mehr als mich selbst besessen habe, und deshalb möchte ich das wenige nicht auch noch weggeben.«
Sie neigte den Kopf. Ihr Haar fiel nach vorn und bedeckte ihr Gesicht gleich einem Schleier, weshalb er es nur undeutlich sehen konnte. »Aber dir möchte ich etwas geben. Du bist mir so vertraut. Von Anfang an, seit dem ersten Tag im Park. Vielleicht deshalb, weil wir beide über Magie verfügen – sie verbindet uns. Vielleicht habe ich deshalb das Gefühl, daß wir uns ähnlich sind. Ich weiß, daß deine Magie anders ist als meine, aber das macht nichts. Was zählt, ist, daß die Magie Teil unseres Lebens ist. Die Magie sind wir. Durch sie leben wir.«
Sie hielt inne, und weil er glaubte, sie erwarte eine Antwort, nickte er. Er konnte jedoch nicht erkennen, ob sie sein Nicken bemerkte.
Sie seufzte. »Weißt du, Elfenjunge, ich mag dich. Du bist entschlossen, ja stur, und manchmal siehst du die Dinge und die Menschen um dich herum überhaupt nicht – nur dich selbst. Aber da sind wir uns ähnlich. Vielleicht schaffen wir es dadurch, nicht so zu werden wie alle anderen. Und vielleicht gelingt es uns so zu überleben.« Wieder hielt sie inne und sah ihn an. »Ich habe darüber nachgedacht – wenn ich sterben müßte, möchte ich dir gern etwas von mir hinterlassen, etwas, das nur du hast. Etwas Besonderes.«
Par wollte protestieren, aber sie legte schnell ihre Finger auf seinen Mund. »Bitte laß mich ausreden. Ich will damit nicht sagen, daß ich sterben werde, aber es ist immerhin möglich. Und es könnte doch sein, daß ich dadurch, daß ich dir ein Geheimnis mitteile, davor geschützt werde, wie durch einen Talisman, und daß er alles Übel von mir fernhält. Verstehst du?« Sie nahm ihre Finger weg. »Erinnerst du dich, als ich dir das erstemal von mir erzählt habe, in der Nacht, in der du der Föderation entwischt bist, nachdem ihr alle gefangengenommen worden wart? Ich habe versucht, dich davon zu überzeugen, daß ich euch nicht verraten hatte. Jeder hat dem anderen Dinge von sich selbst erzählt. Du hast mir von deiner Magie erzählt, und wie sie funktioniert. Erinnerst du dich?«
Er nickte. »Du hast mir erzählt, daß du mit acht Jahren deine Eltern verloren hast und daß die Föderation daran schuld war.«
Sie zog die Knie an wie ein Kind. »Ich habe dir erzählt, daß meine Familie in einem Brand umgekommen ist, den die Föderationssucher gelegt haben, nachdem sie entdeckt hatten, daß mein Vater die Bewegung mit Waffen versorgt hat. Ich habe dir erzählt, daß mich ein Zauberer kurz danach als Lehrling bei sich aufgenommen hat und daß ich von ihm das Handwerk gelernt habe.« Sie holte tief Luft. »Was ich dir erzählt habe, entsprach nicht ganz der Wahrheit. Mein Vater ist nicht im Feuer umgekommen. Er konnte fliehen. Mit mir. Und es war mein Vater, der mich aufgezogen hat, nicht meine Tante, nicht ein Zauberer. Ich bin auf der Straße groß geworden und dort habe ich auch das Handwerk gelernt, aber es war mein Vater, der für mich gesorgt hat. Und mein Vater sorgt auch jetzt noch für mich.« Ihre Stimme zitterte. »Mein Vater ist Padishar Creel.«
Mit großen Augen starrte Par sie an. »Padishar Creel ist dein Vater?«
Ihre Augen hielten ihn fest. »Keiner außer dir weiß davon. Es ist sicherer so. Wenn die Föderation erfahren würde, wer ich bin, würde sie versuchen, über mich an ihn heranzukommen. Par, was du in jener Nacht, als ich dir von meiner Kindheit erzählt habe, wissen mußtest, war, daß ich niemals jemand verraten könnte, nachdem meine Familie an die Föderation verraten worden ist. So viel entsprach der Wahrheit. Mein Vater ist deswegen so zornig, weil möglicherweise einer seiner eigenen Männer der Verräter ist. Er kann nicht vergessen, was mit meiner Mutter, meinem Bruder und meiner Schwester geschehen ist. Die Vorstellung, noch einen Menschen, der ihm nahesteht, durch Verrat zu verlieren, bringt ihn beinahe um den Verstand.« Sie betrachtete ihn gespannt. »Ich habe versprochen, niemand zu erzählen, wer ich wirklich bin, aber für dich breche ich dieses Versprechen. Ich möchte, daß du es weißt. Auf diese Weise kann ich dir etwas schenken, das nur dir gehört.«
Dann lächelte sie, und ein Teil seiner Anspannung fiel von ihm ab. »Damson«, sagte er und lächelte, »ich will nicht, daß dir etwas geschieht. Und wenn dir doch etwas geschieht, ist es ganz allein meine Schuld, denn ich habe dich hierher gebracht. Wie könnte ich deinem Vater danach je wieder unter die Augen treten? Ich könnte nicht einmal mehr in seine Nähe kommen!«
Sie drückte sich an ihn. Einen Augenblick blieb er steif sitzen, und seine Augen wanderten in die Richtung, wo Coll saß, ein undeutlicher Schatten am anderen Ende des Ganges. Aber sein Bruder sah nicht zu ihnen her. Von Anfang an waren Freunde und Verräter in dieses Unternehmen verwickelt gewesen, und es war nahezu unmög- lich gewesen, die einen von den anderen zu unterscheiden. Mit Ausnahme von Coll. Und jetzt Damson Rhee. Er legte seine Arme um sie und drückte sie an sich.
Wenige Augenblicke später kehrte der Maulwurf zurück. Er schlich sich so leise an sie heran, daß sie ihn erst bemerkten, als sie von der Tür zur Seite geschoben wurden. Par ließ Damson Rhee los und sprang auf, die Klinge seines langen Messers blitzte auf. Der Maulwurf lugte durch die Tür, um sich ihren Blicken sogleich wieder zu entziehen.
Damson Rhee packte Par am Arm. »Maulwurf!« flüsterte sie. »Es ist alles in Ordnung!«
Das rundliche Gesicht des Maulwurfs kam wieder zum Vorschein. Als er sah, daß Par seine Waffe wieder eingesteckt hatte, schlüpfte er durch die Tür. Coll eilte durch den Gang auf sie zu.
Der Maulwurf sagte: »Niemand ist in der Nähe der Hängebrücke, und wenn wir uns beeilen, können wir ungehindert darübergehen. Aber ihr müßt ganz leise sein.«
Sie schlüpften durch die Tür und befanden sich auf einem Söller, der um eine riesige, leere Rotunde herumführte. Sie bewegten sich mit schnellen Schritten, vorbei an verschlossenen Türen und dunklen Alkoven. Auf halbem Weg führte der Maulwurf sie durch eine Halle ins Freie; von dort spannte sich eine Hängebrücke zu einer riesigen Mauer. Der Hof war einst eine Gartenlandschaft mit unzähligen Wegen gewesen; jetzt bedeckten Steinplatten die kahle Erde. Hinter der Brücke lag die Schlucht.
Der Maulwurf winkte ihnen ängstlich zu. Sie betraten die Hängebrücke, die unter ihrem Gewicht hin- und her- schaukelte. Der Wind fegte in schnellen Stößen über sie hinweg, und sein Heulen, als er über die kahlen Steinmauern und den leeren Hof brauste, glich einem tiefen Wehklagen. Unter ihnen zitterten und wiegten sich die Grashalme. Die Dunkelheit war totenstill und kein Schattenwesen zu sehen.
Die Palastmauer kam immer näher. Als sie das andere Ende der Brücke erreicht hatten, traten sie schnell auf die Mauer, jeder streckte die Hand aus, um dem nächsten zu helfen; alle waren erleichtert.
Der Maulwurf führte sie zu einem Schacht, wo sie auf eine weitere Treppe stießen, die sich in die Finsternis hinunterwand. Während sie mit den Steinen leuchteten, die Damson Rhee ihnen gegeben hatte, stiegen sie in die Tiefe. Sie waren ihrem Ziel jetzt sehr nah; nur die steinerne Mauer trennte sie noch von der Schlucht. Die Aufregung ließ Par das Blut in den Ohren dröhnen und spannte seine Nerven zum Zerreißen an.
Nur noch wenige Minuten…
Unten angekommen, gewahrten sie einen Gang, der an einer verwitterten, eisenbeschlagenen Holztür endete. Der Maulwurf ging auf die Tür zu und blieb vor ihr stehen.
Als er sich zu ihnen umdrehte, wußte Par sofort, was dahinter lag. »Danke dir, Maulwurf«, sagte er.
»Ja, danke dir«, wiederholte Damson Rhee.
Der Maulwurf blinzelte verlegen. Dann sagte er: »Hier könnt ihr durchsehen.« Er faßte nach oben und zog vorsichtig eine winzige Klappe zurück, hinter der sich eine Ritze im Holz verbarg.
Par trat vor und spähte hinaus.
Vor seinen Augen erstreckte sich die Schlucht, eine nebelverhangene Wildnis mit Bäumen und Steinbrocken, ein Tal, das mit Buschwerk bedeckt war, eine Dunkelheit, in der sich Schatten bewegten. Auf der rechten Seite lagen die Überreste der Sendic-Brücke, die vom grauen Nebel fast verschluckt wurden.
Par sah keinen Kuppelbau, in dem sich das Schwert von Shannara befand. Dennoch hatte er ihn wahrgenommen, unmittelbar hinter der Mauer des Palastes. Die Magie des Wunschliedes hatte ihn zum Vorschein gebracht. Er war dort, dessen war er sich sicher. Er fühlte seine Gegenwart gleich der eines lebendigen Wesens.
Er ließ Damson Rhee durchschauen, dann Coll. Als Coll zurücktrat, standen sie einander schweigend gegenüber.
Par schlüpfte aus seinem Mantel. »Wartet hier auf mich. Und gebt acht auf die Schattenwesen.«
»Gib acht auf dich«, sagte Coll barsch, während er seinen eigenen Mantel abwarf. »Ich gehe mit dir.«
»Und ich auch«, sagte Damson Rhee.
Aber Coll versperrte ihr den Weg. »Nein, das tust du nicht. Nur einer kann Par begleiten. Sieh dich doch um, Damson! Siehst du nicht, wo wir sind? Wir sitzen in einer Falle. Aus der Grube führt kein anderer Weg hinaus als durch diese Tür und aus dem Palast nur die Hängebrücke. Der Maulwurf kann die Hängebrücke im Auge behalten, aber er kann nicht gleichzeitig diese Tür hier bewachen. Deshalb mußt du sie bewachen.«
Damson Rhee wollte Einspruch erheben, aber Coll ließ sie nicht zu Wort kommen. »Es hat keinen Sinn zu streiten, Damson. Du weißt, daß ich recht habe. Ich habe auf dich gehört, wenn es sein mußte; diesmal mußt du auf mich hören.«
»Es tut nichts zur Sache, wer hier auf wen hört. Ich möchte, daß keiner von euch beiden mitkommt«, sagte Par nachdrücklich.
Coll schenkte seinen Worten keine Beachtung. »Dir bleibt keine Wahl.«
»Warum darf ich nicht mitkommen?« wollte Damson Rhee ärgerlich wissen.
»Weil er mein Bruder ist!« Colls Stimme glich einem Peitschenschlag, und seine rauhen Züge wurden hart. Aber als er wieder zu sprechen anfing, war seine Stimme seltsam weich. »Es kann kein anderer sein als ich; aus diesem Grund bin ich mitgekommen. Aus diesem Grund bin ich überhaupt hier.«
Damson Rhee wurde bleich und verstummte. »Also gut«, stimmte sie zu, aber ihr Mund zuckte, als sie es sagte. Sie wandte sich ab. »Maulwurf, bewache die Hängebrücke.«
Der kleine Kerl ließ seinen Blick abwechselnd von einem zum anderen schweifen; in seinen leuchtenden Augen lag ein Ausdruck von Bestürzung. »Ja, liebliche Damson«, murmelte er und verschwand auf den Stufen.
Par wollte gerade das Wort ergreifen, als Coll ihn bei den Schultern packte und gegen die verwitterte Tür drückte. Ihre Blicke trafen sich und hielten einander fest.
»Wir sollten unsere Zeit nicht länger mit Streiten vergeuden«, sagte Coll. »Wir wollen’s einfach hinter uns bringen. Du und ich.«
Par versuchte sich loszumachen, aber Colls große Hände hielten ihn fest wie Schraubstöcke, und er gab nach. Coll ließ ihn los. »Par«, sagte er, und seine Worte klangen fast wie ein Flehen, »ich habe die Wahrheit gesagt. Ich muß mit dir gehen.«
Schweigend sahen sie einander an.
Par mußte plötzlich an all das denken, was sie durchgemacht hatten, an die Mühsale, die sie auf sich genommen hatten. Er wollte Coll wissen lassen, daß ihm dies sehr viel bedeute, daß er ihn liebe, daß er sich um ihn sorge. Aber statt dessen sagte er einfach: »Ja, ich weiß.«
Dann ging er auf die schwere, verwitterte Tür zu, schob den Riegel zurück und drückte die abgenutzte Klinke nach unten. Die Tür flog auf, und der Nebel drang zu ihnen herein.
Par blickte sich nach Damson Rhee um. Sie nickte. Hieß das, daß sie warten würde? Daß sie ihn verstand? Er wußte es nicht.
Mit Coll an seiner Seite trat er in die Schlucht hinaus.