Danach ging jeder seiner eigenen Wege und zog sich an ein ungestörtes Plätzchen zurück, um seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Blicke wanderten ruhelos über den funkelnden Teppich des Tales aus schwarzem Stein, dann wieder zurück zu den trägen Wassern des Hadeshorns, auf der Suche nach Zeichen neuer Bewegung.
Es gab keine.
Vielleicht passiert gar nichts, dachte Par. Vielleicht war alles nur eine Lüge.
Er spürte, wie eine Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung seine Brust zusammenschnürte, und versuchte seine Gedanken auf anderes zu lenken. Coll war nur wenige Schritte von ihm entfernt, aber er weigerte sich, ihn anzusehen. Er wollte allein sein. Es gab Dinge, die überlegt werden wollten, und Coll würde ihn dabei nur stören.
Komisch, wie viel Mühe er seit Beginn dieser Reise darauf verwendet hatte, sich von seinem Bruder zu distanzieren, dachte er plötzlich. Vielleicht lag es daran, daß er sich Sorgen um ihn machte…
Noch einmal, diesmal jedoch wütend, versuchte er seine Gedanken auf anderes zu lenken. Cogline. Wer war dieser alte Mann, der scheinbar so viel über alles wußte? Ein verhinderter Druide, sagte er sich. Allanons Bote. Doch diese kurzen Erklärungen schienen nicht auszureichen. Hinter den Beziehungen zwischen ihm, Allanon und Walker Boh verbarg sich gewiß eine Reihe von Ereignis sen, die den anderen vorenthalten blieb. Allanon hätte kaum einen verhinderten Druiden um Hilfe gebeten, selbst unter den schlimmsten Umständen nicht. Es gab einen Grund, warum Cogline bei diesem Treffen anwesend war, den sie nicht kannten.
Er warf einen Blick auf den alten Mann, der sich in beunruhigender Nähe des Wassers des Hadeshorns aufhielt. Irgendwie wußte er alles über die Schattenwesen. Und irgendwie hatte er auch mehr als einmal mit Allanon gesprochen. Er war der einzige lebende Mensch, der seit dem Tod des Druiden vor dreihundert Jahren mit ihm gesprochen hatte. Par dachte an die Geschichten von Cogline zur Zeit von Brin Ohmsford. Damals war Cogline ein halbwahnsinniger Mann, der die Magie gegen die Dämonen wie eine Art Besen gegen den Staub einsetzte – dieses Bild beschworen die Geschichten in ihm herauf. Aber jetzt war er alles andere als das. Er wirkte beherrschter – verschroben und exzentrisch zwar, aber meist beherrscht.
Irgendwo weit draußen in der Nacht nahm er ein kurzes Leuchten wahr, eine flüchtige Helligkeit, die sofort wieder verschwand. »Ein Leben vergeht, ein neues Leben beginnt«, pflegte seine Mutter zu sagen. Er seufzte. Seit der Flucht aus Varfleet hatte er nur selten an seine Eltern gedacht. Ein leises Schuldgefühl beschlich ihn. Er fragte sich, ob es ihnen gut ging und ob er sie jemals Wiedersehen würde.
Sein Gesicht nahm einen Ausdruck von Entschlossenheit an. Natürlich würde er sie wiedersehen! Alles würde gut werden. Allanon würde ihm die Antworten geben können – auf die Fragen nach der Anwendung der Magie des Wunschliedes, nach den Gründen der Träume, was mit den Schattenwesen und der Föderation geschehen sollte… einfach auf alles.
Allanon würde es wissen.
Die Zeit verging, Minuten wurden zu Stunden und die Nacht langsam zum Tag. Par suchte Coll, denn er wollte seinem Bruder nahe sein. Die anderen reckten und streckten sich und bewegten sich mit einem Gefühl des Unbehagens.
Im Osten wurden die ersten Anzeichen des Morgens sichtbar.
Er kommt nicht, dachte Par bedrückt.
Es war, als erhielte er eine Antwort, als sich die Wasser des Hadeshorns plötzlich aufbäumten und das Tal zitterte, als erwachte etwas unter ihm zum Leben. Steine stoben auseinander, und die Mitglieder der kleinen Gruppe kauerten sich schützend zusammen. Der See begann zu kochen, das Wasser schäumte und erhob sich in einer Fontäne zum Himmel. Stimmen wurden laut, unmenschlich und erfüllt von Sehnsucht. Sie stiegen aus der Erde empor, kämpften gegen Fesseln an, die den Neun, die im Tal versammelt waren, verborgen blieben und die sie doch bildhaft vor Augen hatten. Walker Boh warf Silberstaub in die Luft, der sie wie ein Vorhang umgab, doch auch das konnte die Laute nicht von ihnen fernhalten.
Dann fing die Erde an zu beben, Donner entwand sich der Tiefe und übertönte selbst die Schreie. Coglines magerer Arm erhob sich und deutete starr auf den See. Der Hadeshorn-See verwandelte sich in einen Strudel, seine Wasser wirbelten wild durcheinander, und aus ihren Tiefen erhob sich…
»Allanon!« schrie Par aufgeregt.
Es war der Druide. Alle erkannten sie ihn augenblicklich. Sie erinnerten sich seiner aus den Geschichten der vergangenen drei Jahrhunderte; sie erkannten ihn mit einer Gewißheit, die nur aus dem tiefsten Innern kommt. Umgeben von flackerndem Licht, stieg er in die Nacht empor, auf geheimnisvolle Weise von den Wassern des Hadeshorn-Sees freigegeben. Er stand auf der Wasseroberfläche, ein Schatten aus dem Niemandsland, der sich nur schwach von der Dunkelheit abhob. Von Kopf bis Fuß eingehüllt in Gewänder, bot er das mächtige Bild des Mannes, der er einmal gewesen war; sein langes, markantes, bärtiges Gesicht wandte sich ihnen zu, seine Augen schienen alles zu durchdringen.
Par zitterte.
Die Wogen des Wassers glätteten sich, das Dröhnen ließ nach, das Wehklagen verklang zu einem Schweigen, das noch lange über dem Tal schwebte. Der Schatten bewegte sich auf sie zu, scheinbar ohne Hast, so als wolle er Coglines Worte Lügen strafen, der behauptet hatte, er könne nur einen Augenblick in der Welt der Menschen verweilen. Seine Augen blieben auf die ihren geheftet. Par hatte sich noch nie so sehr gefürchtet. Er wollte weglaufen. Er wollte um sein Leben laufen, aber er blieb wie angewurzelt stehen, unfähig, sich zu rühren.
Der Schatten kam zum Rand des Wassers und blieb stehen. Aus der Tiefe ihrer Gedanken hörten sie ihn sprechen.
»Ich bin Allanon, der war.«
Ein Gemurmel erfüllte die Luft, Stimmen von Dingen, die nicht mehr lebten, die Worte des Geistes verstärkend.
»Ich habe euch in euren Träumen gerufen – Par, Wren und Walker. Kinder von Shannara, ich habe euch kom men lassen. Das Rad der Zeit hat sich wieder einmal gedreht – die Magie wird wiedergeboren, das Vertrauen, das euch geschenkt wurde, wird geehrt, viele Dinge werden begonnen und beendet.«
Die tiefe, klangvolle Stimme, die sie vernahmen, wurde so rauh, daß sie ihnen durch Mark und Bein ging.
»Die Schattenwesen kommen. Sie kommen in der Absicht zu zerstören, sie breiten sich mit einer Unaufhaltsamkeit in den Vier Ländern aus, die so sicher ist, wie der Tag auf die Nacht folgt.«
Die Stimme verklang, während die schmalen Hände des Geistes eine Vision seiner Worte erstehen ließen, die einen Augenblick wie ein farbiges Gemälde in der Finsternis schwebte. Die Träume, die er geschickt hatte, wurden lebendig, wurden zu Bildern alptraumhaften Wahnsinns. Dann verblaßten sie und waren verschwunden.
Die Stimme flüsterte lautlos: »So soll es sein, wenn ihr nicht auf der Hut seid.«
Par spürte, wie die Worte in seinem Körper nachhallten wie das Beben der Erde. Er wollte die anderen anschauen, wollte den Ausdruck ihrer Gesichter sehen, aber die Stimme des Geistes hielt ihn gefangen.
Nicht jedoch Walker Boh. Seine Stimme war so frostig wie die des Geistes. »Sag uns, was du willst, Allanon! Bring’s hinter dich!«
Allanons Blick wandte sich der dunklen Gestalt zu und blieb auf ihr haften. Walker Boh trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Der Geist sprach weiter.
»Vernichtet die Schattenwesen! Sie verderben die Menschen der Rassen, bemächtigen sich ihrer Körper, nehmen nach Belieben ihre Gestalt an, werden eins mit ihnen, benutzen sie, verwandeln sie in mißgestaltete Riesen und irre Waldfrauen, die ihr bereits kennt, und in noch Schlimmeres. Niemand gebietet ihnen Einhalt. Keiner wird Einhalt gebieten, wenn nicht ihr –«
»Aber was sollen wir tun?« fragte Par sogleich, fast ohne zu überlegen.
Der Geist war, als er zuerst erschienen war, stark und kräftig gewesen, ein Geist, der noch einmal des Lebens Fülle gekostet hatte. Aber jetzt begannen seine Umrisse zu verblassen, und der, der einst Allanon gewesen war, schien nur noch mit der durchscheinenden und flüchtigen Vergänglichkeit von Rauch vor ihnen zu stehen.
»Kind von Shannara. Es gibt ein Gleichgewicht, das wieder hergestellt werden muß, bevor die Schattenwesen vernichtet werden können – nicht nur für eine bestimmte Zeit, nicht nur in diesem Zeitalter, sondern für immer. Magie wird gebraucht. Magie, um dem Mißbrauch des Lebens ein Ende zu setzen. Magie, um die menschliche Existenz in der sterblichen Welt wiederherzustellen. Diese Magie ist euer Erbe – deines wie das von Wren und Walker. Ihr müßt es anerkennen und annehmen.«
Die Wasser des Hadeshorn-Sees fingen wieder an sich zu bewegen, und die Mitglieder der kleinen Gruppe wurden durch sein Schäumen und Spritzen zurückgetrieben – nicht jedoch Cogline, der mit gebeugtem Haupt wie ein Fels vor den anderen stand.
Der Schatten von Allanon schien sich noch einmal gegen die Nacht durchzusetzen und hob sich vor ihren Augen empor. Die Gewänder breiteten sich aus. Die Augen des Schattens richteten sich auf Par, und der Talbewohner spürte, wie ein unsichtbarer Finger sich in seine Brust bohrte.
»Par Ohmsford, Träger der Verheißung, Sänger des Wunschlieds, ich trage dir auf, das Schwert von Shannara zu suchen. Denn nur durch das Schwert kann die Wahrheit enthüllt werden, und nur durch die Wahrheit können die Schattenwesen überwunden werden. Nimm das Schwert, Par, und gebrauche es so, wie dein Herz es dir befiehlt – du sollst der sein, der die Wahrheit über die Schattenwesen enthüllt.«
Die Augen wanderten weiter.
»Wren, deine Aufgabe ist von gleicher Wichtigkeit. Die Länder und ihre Menschen können nicht ohne die Zauberkraft der Elfen geheilt werden. Finde sie und bring sie zurück in die Welt der Menschen. Nur dann kann die Krankheit ein Ende nehmen.«
Der Hadeshorn-See brach mit einem dröhnenden Grollen aus.
»Walker Boh, der du ohne Glauben bist, suche diesen Glauben und erhalte ihn dir. Begib dich auf die Suche nach den Heilmitteln, die nötig sind, damit die Länder gesunden. Mache dich auf die Suche nach dem verschwundenen Paranor und gib den Ländern die Druiden wieder.«
Erstaunen spiegelte sich in allen Gesichtern, und einen Augenblick erstickte es den Zweifel. Dann schrien alle wild durcheinander, aber die Schreie verstummten, als die Arme des Geistes in einer Bewegung nach oben fuhren, die die Erde erneut erzittern ließ. »Haltet ein!«
Die Wasser des Hadeshorn-Sees schäumten und spritzten hinter ihm, als er die Gruppe anblickte. Im Osten wurde es bereits hell.
Die Stimme des Geistes war wieder ein Flüstern.
»Ihr wollt mehr wissen. Aber ich habe euch gesagt, was ich weiß. Mehr kann ich euch nicht sagen. Die Macht, über die ich im Leben verfügt habe, flieht mich im Tode. Es ist mir nur gestattet, Teile der vergangenen Welt und der kommenden Zukunft zu sehen. Das, was euch verborgen bleibt, kann ich nicht finden, denn ich bin in einer Welt eingeschlossen, in der die Materie wenig Bedeutung hat. Mit jedem Tag wird meine Erinnerung daran schwächer. Ich fühle das, was ist, und das, was möglich ist; das muß genügen. Deshalb müßt ihr meiner Weisung folgen. Ich kann euch nicht begleiten. Ich kann euch nicht führen. Ich kann die Fragen, die ihr vor mich bringt, nicht beantworten – weder Fragen nach Magie noch nach eurer Familie noch nach euch selbst. Meine Zeit in den Vier Ländern ist zu Ende, Kinder von Shannara. So wie es einst Bremen ergangen ist, ergeht es jetzt mir. Meine Ketten bestehen nicht aus Fesseln des Versagens, aber ich bin nichtsdestoweniger angekettet. Der Tod begrenzt sowohl die Zeit als auch das Leben. Ich bin die Vergangenheit. Die Zukunft der Vier Länder liegt in euren Händen, allein in euren.«
»Aber du verlangst Unmögliches von uns!« warf Wren verzweifelt ein.
»Schlimmer noch! Du verlangst Dinge, die nie sein können!« tobte Walker Boh. »Die Druiden sollen wieder auferstehen? Paranor soll wiederkehren?«
Die Antwort des Schattens war sanft.
»Ich verlange das, was sein muß. Ihr besitzt die Fähigkeiten, den Mut, das Recht und das Verlangen, das zu tun, was ich von euch verlange. Glaubt meinen Worten. Tut, was ich euch aufgetragen habe. Dann werden die Schattenwesen vernichtet.«
Die Verzweiflung schnürte Par die Kehle zu. Allanons Gestalt begann vor ihren Augen zu verblassen.
»Wo sollen wir suchen?« schrie Par außer sich. »Wo sollen wir mit unserer Suche beginnen? Allanon, du mußt es uns sagen!«
Er erhielt keine Antwort. Der Geist entfernte sich noch weiter von ihnen.
»Nein! Du darfst nicht gehen!« schrie Walker Boh.
Der Schatten versank langsam in den Wassern des Ha- deshorn-Sees.
»Druide, ich verbiete es dir!« schrie Walker zornig, und seine erhobenen Arme schleuderten Funken seiner eigenen Magie, als wolle er den anderen aufhalten.
Das Tal schien zu explodieren. Die Erde bebte, und Steine wurden durch die Luft gewirbelt; die Luft wurde von einem aus den Bergen kommenden Sturm gepeitscht; der Hadeshorn-See schäumte in einem Strudel des Zorns, und der Schatten Allanons ging in Flammen auf. Die Gruppe wurde zu Boden geworfen.
Endlich kehrten wieder Ruhe und Dunkelheit ein. Vorsichtig sahen sie sich um. Weder Schatten noch Geister waren zu sehen. Die Erde hatte sich wieder beruhigt, und der Hadeshorn-See war wieder ein stilles, friedlich leuchtendes Gewässer, das die Helligkeit der Sonne widerspiegelte, die im Osten die Dunkelheit verdrängte.
Langsam kam Par Ohmsford auf die Beine. Er hatte das Gefühl, aus einem Traum erwacht zu sein.