Die üblich hatte Morgan Leah einen Plan. »Wenn wir bei unserer Suche nach dem Schwert erfolgreich sein wollen, brauchen wir Hilfe. Wir fünf sind einfach zu wenig. Die Suche nach dem Schwert von Shannara entspricht höchstwahrscheinlich der buchstäblichen Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen – und wir wissen einfach nicht genügend über den Heuhaufen. Steff, du und Teel, ihr kennt euch wahrscheinlich im Ostland aus, aber Callahorn und die Grenzgebiete sind euch fremd. Das Gleiche gilt für Par, Coll und für mich – wir wissen einfach nicht genügend über das Land. Und wir dürfen außerdem nicht vergessen, daß die Föderation wahrscheinlich jeden Ort, den wir voraussichtlich aufsuchen werden, durchsuchen wird. Soweit ich weiß, sind Zwerge und Flüchtlinge keine gern gesehenen Gäste im Südland. Zudem müssen wir uns vor den Schattenwesen in Acht nehmen. Tatsache ist, daß sie von der Magie angezogen werden wie die Wölfe vom Geruch frischen Blutes, und wir können nicht davon ausgehen, daß wir keinen mehr begegnen. Es ist schon schwierig genug, uns vor ihnen zu schützen, geschweige denn herauszufinden, was mit dem Schwert von Shannara geschehen ist. Wir brauchen jemand, der uns hilft, jemand, der genauestens über die Vier Länder Bescheid weiß, jemand, der uns mit Männern und Waffen versorgen kann.« Sein Blick wandte sich Par zu. »Wir brauchen deinen Freund von der Bewegung.«
Par stöhnte. Er war nicht darauf versessen, sich mit den Geächteten einzulassen. Aber Steff und Teel und sogar Coll hießen die Idee gut, und nachdem sie eine Zeitlang darüber gesprochen hatten, blieb ihm keine andere Wahl, als den Vorschlag des Hochländers ebenfalls anzunehmen. Die Geächteten besaßen die Mittel, die ihnen fehlten, und kannten sich zudem in den Grenzgebieten und den angrenzenden freien Gebieten aus. Von ihnen würden sie erfahren, wo sie zu suchen hatten und vor welchen Fallen sie sich auf ihrer Suche vorsehen mußten. Darüber hinaus schien Pars Retter ein Mann, auf den man sich verlassen konnte.
»Er hat dir doch gesagt, daß du, solltest du ihn brauchen, jederzeit mit ihm rechnen kannst«, erklärte Morgan. »Ich meine, daß es jetzt an der Zeit ist, von diesem Angebot Gebrauch zu machen.«
Genau das ließ sich nicht leugnen, womit die Sache entschieden war. Sie verbrachten den Rest des Tages im Lager. Als der Morgen anbrach, packten sie ihre Sachen zusammen, bestiegen ihre Pferde und ritten davon. Der Plan war einfach. Sie würden nach Varfleet reiten, die Kiltan-Schmiede am Nordrand der Stadt aufsuchen und nach dem Bogenschützen fragen – genau wie es Pars geheimnisvoller Retter angegeben hatte. Dann würde man weitersehen.
Sie ritten durch das mit Buschwerk und Gestrüpp bedeckte Gebiet nach Süden, bis sie den östlichen Nebenfluß des Mermidon erreichten, wo sie sich nach Westen wandten. Sie folgten dem Fluß bis zum frühen Nachmittag; vom wolkenlosen Himmel brannte die Sonne auf das Land herab. Niemand redete viel, während sie dahinritten, denn jeder war in seine Gedanken versunken. Seit sie aufgebrochen waren, hatten sie nicht mehr über Allanon gesprochen. Auch nicht über Walker Boh oder Wren. Par tastete von Zeit zu Zeit nach dem Ring mit dem Falkenzeichen in seiner Tasche und fragte sich jedesmal nach der Identität des Mannes, der ihn ihm gegeben hatte.
Am Spätnachmittag verließen sie das Flußtal nördlich von Varfleet und näherten sich den Randgebieten der Stadt. Sie erstreckte sich vor ihnen über eine Reihe von Hügeln. Hütten und Schuppen säumten den Rand der Stadt, erbärmliche Quartiere von Männern und Frauen, denen selbst das Nötigste zum Leben fehlte. Sie riefen den Reisenden allerhand zu, als sie vorüberritten, baten um Geld und Nahrung, und Par und Coll reichten ihnen das Wenige, das sie selbst hatten. Morgan warf ihnen einen tadelnden Blick zu.
Wenig später wünschte Par, er hätte daran gedacht, sein Elfengesicht etwas unkenntlicher zu machen. Er würde vorsichtig sein müssen. Er warf einen Blick auf die Zwerge. Sie hatten ihre Umhänge fest um sich gezogen, die Kapuzen bedeckten fast vollständig ihre Gesichter. Sie setzten sich sehr viel größerer Gefahr aus als er. Jedermann wußte, daß es den Zwergen nicht gestattet war, sich im Südland aufzuhalten. Selbst ein Aufenthalt in Varfleet war riskant.
Als sie die ersten Straßen mit Geschäften erreichten, wurde das Gedränge dichter. Schon bald war es beinahe unmöglich vorwärtszukommen. Sie stiegen von ihren Pferden und führten sie, bis sie einen Stall fanden, wo sie sie unterbringen konnten. Während Morgan sich um alles kümmerte, beobachteten die anderen die Menschen der Stadt, die langsam an ihnen vorbeigingen. Bettler kamen auf sie zu und baten um ein paar Münzen. Ein Feuerschlucker führte seine Kunst einer staunenden Menge von Jungen und Männern vor.
»Manchmal hat man Glück«, erklärte ihnen Morgan leise, als er zurückkam. »Wir befinden uns in der Nähe der Kiltan-Schmiede.«
Sie huschten durch das Menschengewühl, bis sie eine weniger lebhafte, wenn auch übelriechende Seitenstraße erreichten. Schon bald führte sie Morgan zu einem zweistöckigen Gebäude, auf dessen Vorderseite ein Holzschild angebracht war, auf dem »Kiltan-Schmiede« geschrieben stand. Schließlich standen sie vor dem Eingang der Schmiede. Eine Handvoll Männer bediente die Schmelzöfen unter der Aufsicht eines großen Kerls mit herabhängendem Schnurrbart und einem kahlen rußgeschwärzten Schädel. Der Kerl schenkte ihnen keine Beachtung, bis sie neben ihm standen. Jetzt drehte er sich um und fragte: »Womit kann ich euch helfen?«
Morgan antwortete: »Wir suchen den Bogenschützen.«
»Und wer soll das sein?«
»Das weiß ich nicht«, gab Morgan zu. »Man hat uns nur gesagt, daß wir hier nach ihm fragen sollen.«
»Wer hat das gesagt?«
»Nun…«
»Wer, hab’ ich gefragt. Weißt du das nicht, Bursche?«
Es war heiß in der Schmiede, und es war klar, daß Morgan bei diesem Mann so nicht weiterkommen würde. Schon jetzt drehten sich Köpfe nach ihnen um. Par drängte sich erregt nach vorne; er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich und seine Gefährten lenken. »Ein Mann, der einen Ring mit dem Zeichen eines Falken trägt.«
Die scharfen Augen des Kerls verengten sich und sahen Par genau an.
»Diesen Ring«, fügte Par hinzu und hielt ihn hoch.
Der andere fuhr zusammen, als wäre er gestochen worden.
»Sag uns, wo wir den Bogenschützen finden!« warf Morgan ein, ohne ein Hehl aus seiner Verärgerung zu machen.
Plötzlicher Lärm auf der Straße veranlaßte sie, sich eilig umzuschauen. Eine Abteilung Föderationssoldaten näherte sich der Schmiede. »Macht euch unsichtbar!« herrschte der Kerl mit dem Schnurrbart sie an und trat zur Seite.
Die Soldaten betraten die Schmiede und blickten sich in der feuererhellten Dunkelheit um. Der Mann mit dem Schnurrbart trat auf sie zu. Morgan und Par gingen zu den Zwergen, doch die Soldaten standen zwischen ihnen und der zur Straße führenden Tür.
»Ein Waffenauftrag, Hirehone«, erklärte der Anführer der Abteilung dem Mann mit dem Schnurrbart, wobei er ein Papier aus der Tasche zog. »Muß bis Ende der Woche fertig sein.«
Hirehone murmelte etwas Unverständliches und nickte. Der Anführer der Abteilung redete auf ihn ein, seine Stimme klang gereizt. Die Soldaten sahen mit unruhigen Blicken um sich. Einer bewegte sich auf die kleine Gruppe zu. Morgan versuchte sich vor seine Gefährten zu stellen und den Soldaten in ein Gespräch zu verwickeln. Der Soldat, ein großer Kerl mit einem rötlichen Bart, zögerte. Dann schien er etwas zu sehen und drängte den Hochländer beiseite. »Du da!« herrschte er Teel an. »Was ist denn mit dir los?« Er streckte eine Hand aus und zog die Kapuze herunter. »Zwerge! Hauptmann, hier sind…«
Er konnte seinen Satz nicht vollenden. Teel tötete ihn mit einem einzigen Hieb ihres langen Messers, das sie ihm in die Kehle stieß. Die anderen Soldaten griffen nach ihren Waffen, aber Morgan war bereits bei ihnen, schwang sein Schwert und drängte sie auf diese Weise zurück. Er rief nach den anderen, und die Zwerge und Par bahnten sich ihren Weg zur Tür. Mindestens ein Dutzend Soldaten hatten die Verfolgung aufgenommen, doch zwei davon waren verletzt und die übrigen standen sich bei dem Versuch, den Hochländer zu fassen, selbst im Weg. Mit einem wilden Schrei hieb Morgan auf den ersten ein. Vor ihm erreichte Steff jetzt die Tür zu einem Lagerhaus, holte seine Keule hervor und schlug das lästige Hindernis mit einem einzigen Schlag in Stücke. Sie eilten zuerst durch das dunkle Innere und dann zu einer anderen Tür hinaus, bogen nach links in ein Gäßchen ein und standen schon bald vor einem Zaun. Verzweifelt machten sie kehrt.
Die Soldaten waren ihnen dicht auf den Fersen.
Par stimmte das Wunschlied an und füllte den zwischen ihnen liegenden Abstand mit einem Schwärm Hornissen. Die Soldaten brüllten und suchten Schutz. In der allgemeinen Verwirrung gelang es Steff, Bretter aus dem Zaun zu brechen. Sie liefen ein zweites Gäßchen hinunter, durch ein Labyrinth von Schuppen, bogen rechts ab und versteckten sich hinter einem Metalltor.
Sie stellten fest, daß sie sich in einem mit Metallabfällen bedeckten Hof hinter der Schmiede befanden. Vor ihnen öffnete sich eine Tür zur Schmiede.
Jemand rief: »Hierher!«
Sie vernahmen Rufe und liefen, ohne lange zu fragen. Sie drängten sich durch die Öffnung in einen kleinen Lagerraum und hörten, wie die Tür hinter ihnen zuschlug.
Vor ihnen stand Hirehone, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich hoffe, ihr seid den ganzen Ärger wert!« sagte er.
Er versteckte sie in einem kleinen Verschlag unter dem Fußboden des Lagerraums, und es kam ihnen vor, als wären sie stundenlang dort. In ihrem Versteck war es heiß, eng und dunkel, und der Klang über ihnen marschierender Stiefel, den sie zweimal vernahmen, nahm ihnen den Atem. Als Hirehone sie endlich befreite, war es Nacht. Er führte sie aus dem Lagerraum in eine kleine angrenzende Küche, hieß sie an einem Tisch Platz nehmen und gab ihnen zu essen.
»Wir mußten warten, bis die Soldaten ihre Suche beendet und sich überzeugt hatten, daß ihr nicht zurückkommt oder euch im Hinterhof versteckt habt«, erklärte Hirehone. »Sie waren zornig, das kann ich euch sagen – ganz besonders wegen des Todes ihres Kameraden.«
Teel zeigte keine Regung, und keiner sprach ein Wort.
Hirehone hob die Schultern. »Mir bedeutet das auch nichts.«
Eine Zeitlang kauten sie schweigend, dann fragte Morgan: »Was ist mit dem Bogenschützen? Können wir ihn jetzt sehen?«
Hirehone grinste. »Ich glaube nicht, daß das möglich ist. Eine solche Person gibt es nicht.«
Morgans Kinn fiel herunter. »Aber warum…?«
»Das ist ein Codewort«, unterbrach ihn Hirehone. »Dadurch weiß ich, was ich zu tun habe. Ich habe euch auf die Probe gestellt. Manchmal gerät das Codewort in die falschen Hände. Ich mußte sichergehen, daß ihr keine Spione der Föderation seid.«
»Du bist ein Geächteter«, sagte Par.
»Und du bist Par Ohmsford«, erwiderte der andere. »Beendet jetzt eure Mahlzeit, bevor ich euch zu dem Mann bringe, den ihr sehen wollt.«
Sie taten wie geheißen und folgten Hirehone zurück ins Innere der Kiltan-Schmiede. Die Schmiede war jetzt leer mit Ausnahme eines einzigen Gehilfen, der die Aufgabe hatte, den Blasebalg zu betätigen, denn die Öfen durften niemals erkalten. Er beachtete sie nicht.
Als sie durch eine Seitentür in die Dunkelheit hinaustraten, flüsterte Morgan Hirehone zu: »Unsere Pferde stehen in einem Stall nicht weit von hier.«
»Keine Sorge«, flüsterte der andere zurück. »Dort, wo ihr hingeht, braucht ihr keine Pferde.«
Sie verließen die Stadt und wanderten am Mermidon hinauf nach Norden, wo sich der Fluß durch das Vorgebirge der Drachenzähne schlängelte. Sie marschierten die ganze Nacht und überquerten den Fluß an der Stelle, wo mehrere Stromschnellen sein Wasser teilten. Da er zu dieser Jahreszeit nur wenig Wasser führte, konnten sie ihn ohne Boot überqueren. Trotzdem reichte das Wasser den Zwergen an einigen Stellen bis zum Hals, und auch den anderen blieb nichts übrig, als ihr Gepäck und ihre Waffen in die Höhe zu halten.
Auf der anderen Seite des Flusses erreichten sie bald dichtbewaldete Schluchten und Hohlwege, die sich meilenweit in die Drachenzähne hinein erstreckten.
»Das ist der Parmakeil«, teilte ihnen Hirehone irgendwann mit. »Ganz schön gefährlich, das Land, wenn man sich nicht auskennt.«
Das war eine gewaltige Untertreibung, wie Par schnell feststellen konnte. Der Parmakeil war ein Gewirr von Höhen, die sich inmitten von Bäumen steil erhoben, um ohne Vorwarnung genauso steil wieder abzufallen. Der neue Mond bot ihnen kein Licht, und die Sterne wurden durch das Dach der Bäume verdeckt.
Selbst bei hellem Tageslicht schien ein Durchkommen unmöglich. Die Bergwälder des Parmakeils lagen beständig in Dunkelheit und Nebel, und die Schluchten und Kämme durchzogen das ganze Land. Es gab jedoch einen Weg, der jedem, der ihn nicht kannte, verborgen geblieben wäre, ein Pfad, dem Hirehone mühelos folgte.
Als sie eine kurze Rast einlegten, um zu essen, fragte Par ihren Führer, ob er ihnen sagen könne, wie weit sie noch zu gehen hatten.
»Nicht mehr weit«, antwortete Hirehone. »Dort.« Er deutete auf einen wuchtigen Felsen, der sich über dem Parmakeil, dort wo der Wald sich an die Berghänge der Drachenzähne anschmiegte, erhob. »Das, Ohmsford, nennen wir den Zeigefinger. Der Zeigefinger ist die Festung der Bewegung.«
Par blickte nachdenklich drein. »Weiß die Föderation davon?« fragte er.
»Sie wissen, daß sich die Festung irgendwo hier befindet«, erwiderte Hirehone. »Sie wissen jedoch nicht genau, wo, und vor allen Dingen nicht, wie man hinkommt.«
»Und Pars geheimnisvoller Retter, dein immer noch namenloser Anführer – hat er keine Angst, daß Besucher wie wir genau das verraten könnten?« fragte Steff.
Hirehone lächelte. »Zwerg, damit du den Weg hierher findest, mußt du erst einmal wieder herausfinden. Glaubst du, daß du das ohne mich schaffen würdest?«
Wider Willen mußte Steff schmunzeln, als er begriff, wie recht Hirehone hatte. Ein Mensch konnte tagelang durch dieses Labyrinth irren, ohne jemals zum Ziel zu kommen.
Als sie den Felsen erreichten, war es bereits Spätnachmittag, und die auf die Wildnis fallenden Schatten hüllten den Wald in ein Halbdunkel. Hirehone hatte in der letzten Stunde mehrere Male laute Pfeiflaute ausgesandt, um nach jedem Pfeifen ein Antwortpfeifen abzuwarten, bevor er den Weg fortsetzte. Am Fuß des Felsens erwartete sie in einer Lichtung ein verschließbarer Aufzug, dessen Seile über ihnen verschwanden. Der Aufzug war groß genug für alle; sie stiegen ein und hielten sich am Geländer fest, während sie langsam in die Höhe gehoben wurden, bis sie sich schließlich über den Bäumen befanden. Sie erreichten einen schmalen Felsvorsprung und wurden von einer Handvoll Männer, die die Winde bedienten, angehalten. Sie bestiegen nun den zweiten Aufzug, der bereits auf sie wartete. Wieder wurden sie hochgehoben. Par sah einmal hinunter und bereute es sofort. Er erhaschte einen Blick auf Steffs Gesicht, das unter der sonnengebräunten Haut auf einmal blutleer schien. Hirehone dagegen schien keineswegs beunruhigt und pfiff vergnügt vor sich hin.
Danach bestiegen sie einen dritten Aufzug, dessen Fahrt jedoch sehr viel kürzer war, und als sie schließlich ausstiegen, befanden sie sich auf einem flachen grünen Hang, der sich mehrere hundert Meter zu einer Reihe von Höhlen hin erstreckte. Wachttürme säumten den Rand des Hangs sowie die Höhlen, und in den zersplitterten Fels über ihnen waren Aussichtslöcher gehauen worden. Aus dem Felsen ergoß sich ein winziger Wasserfall in einen kleinen See, und mehrere Gruppen von breitblättrigen Bäumen standen auf dem Hang. Männer hasteten hin und her, transportierten Werkzeuge, Waffen und Körbe voller Steine, gaben Anweisungen oder antworteten.
Aus ihrer Mitte trat Pars Retter, eine große, in rote Gewänder gehüllte Gestalt. Er war glattrasiert, sein gebräuntes, vom Wetter zerfurchtes Gesicht glich einer Landschaft aus Ebenen und Winkeln. Es war ein Gesicht, das dem Alter trotzte. Sein braunes, etwas schütteres Haar war glatt zurückgekämmt. Er war hager und kräftig und bewegte sich wie eine Katze. Mit einem lauten Willkommensgruß stürmte er auf sie zu; mit einem Arm umfaßte er Hirehone, der andere legte sich um Par.
»So, mein Junge, du hast es dir also anders überlegt? Ich heiße dich willkommen, dich und deine Gefährten. Dein Bruder, ein Hochländer und ein paar Zwerge, nicht wahr? Eine seltsame Gesellschaft, scheint mir. Bist du gekommen, um dich uns anzuschließen?«
Er war so offen, wie Morgan ihn sich immer vorgestellt hatte, und Par spürte, wie er errötete. »Nicht ganz. Wir haben ein Problem.«
»Noch ein Problem?« Der Anführer der Geächteten schien amüsiert. »Schwierigkeiten folgen dir geradezu, habe ich recht? Kann ich jetzt meinen Ring zurückhaben?«
Par holte den Ring aus seiner Tasche und übergab ihn.
Der andere steckte ihn mit einem bewundernden Blick an seinen Finger. »Der Falke. Gutes Symbol für einen freien Mann, meinst du nicht?«
»Wer bist du?« fragte Par unverblümt.
»Wer ich bin?« Der Anführer der Geächteten lachte herzlich. »Bist du noch nicht drauf gekommen, mein Freund? Nein? Dann sag’ ich’s dir.« Er beugte sich vor. »Sieh dir meine Hand an.« Er hielt die Hand hoch. »Eine Hand mit einem Finger, der wie ein Dorn absteht. Wer bin ich also?«
Par starrte ihn verwirrt an.
»Mein Name, Par Ohmsford, ist Padishar Creel«, sagte der Anführer der Geächteten schließlich. »Aber du wirst mich besser kennen als den Nachkommen von Panamon Creel.«
Und endlich begriff Par. An diesem Abend saßen Par und seine Gefährten während des Essens an einem abseits von den anderen Bewohnern des Felsens aufgestellten Tisch und lauschten mit wachsendem Erstaunen der Geschichte, die Padishar Creel zum Besten gab.
»Wir befolgen hier alle die Regel, die besagt, daß die Vergangenheit jedes einzelnen seine eigene Sache ist«, erklärte er ihnen verschwörerisch. »Die anderen würden sich vielleicht komisch dabei vorkommen, wenn sie nun meine Geschichte mitanhören müßten.« Er räusperte sich. »Ich war Grundbesitzer«, fing er an, »und habe Felder bepflanzt und Tiere gehalten; ich war der Herr über ein Dutzend kleine Höfe und zahllose Morgen Wald, in dem nur gejagt wurde. Den größten Teil meines Besitzes habe ich von meinem Vater geerbt, der ihn wieder von seinem Vater geerbt hat. Mir wurde erzählt, daß mein Vorfahr Panamon Creel, nachdem er Shea Ohmsford geholfen hatte, das Schwert von Shannara wiederzufinden, in das Grenzland im Norden ging, wo er in seinem Beruf sehr erfolgreich wurde und ein ziemlich großes Vermögen anhäufen konnte.«
Par mußte beinahe lächeln. Padishar Creel gab seine Geschichte ganz ernsthaft zum Besten, obwohl er ebenso wie Par und Morgan wußte, daß Panamon Creel ein Dieb war, als er Shea Ohmsford begegnete.
»Er nannte sich Baron Creel«, fuhr Padishar Creel gedankenverloren fort. »Jedes Oberhaupt der Familie hat sich seither so genannt. Baron Creel.« Er hielt inne, ließ den Klang auf der Zunge zergehen. Dann seufzte er. »Aber die Föderation riß unser Land an sich, als ich noch ein kleiner Junge war. Mein Vater starb bei dem Versuch, es zurückzuerobern. Und meine Mutter ebenfalls. Ziemlich geheimnisvoll.« Er lächelte. »Danach habe ich mich der Bewegung angeschlossen.«
»Einfach so?« fragte Morgan.
Der Anführer der Geächteten spießte ein Stück Rindfleisch auf sein Messer. »Meine Eltern suchten den Gouverneur der Provinz auf, einen Handlanger der Föderation, der in unser Haus eingezogen war, und mein Vater forderte das, was ihm rechtmäßig gehörte, wobei er andeutete, daß der Gouverneur es sehr bedauern würde, falls dieses Problem nicht gelöst würde. Mein Vater hat nie viel von Vorsicht gehalten. Seine Bitte wurde abgelehnt. Man hat sie später in einem Waldstück gefunden – sie hingen mit aufgeschlitzten Bäuchen an einem Baum.« Kein Groll schwang in seiner Stimme mit, er sprach mit einer Ruhe, die beänstigend war. »Danach bin ich ziemlich schnell erwachsen geworden, könnte man sagen«, endete er.
Ein langes Schweigen schloß sich an.
Padishar Creel zuckte die Achseln. »Das alles ist schon lange her. Ich habe gelernt, zu kämpfen und am Leben zu bleiben. Als ich die Bewegung kennengelernt und gesehen habe, welche Mißstände in ihr herrschten, habe ich meine eigene Organisation gegründet. Einige der anderen Anführer fanden meine Idee gar nicht gut. Sie versuchten mich der Föderation auszuliefern. Das war ihr Fehler. Nachdem ich sie losgeworden war, haben sich die meisten der anderen Gruppen mir angeschlossen. Irgendwann werden es alle tun.« Padishar Creel sah auf. »Ist denn niemand hungrig? Es ist noch genügend Essen da. Es wäre schade, es wegzuwerfen.«
Während sie ihr Mahl schnell beendeten, fuhr der Anführer der Geächteten fort, ihnen im gleichen sachlichen Ton weitere Einzelheiten aus seinem gewalttätigen Leben zu erzählen. Par fragte sich, mit welcher Sorte von Mensch er sich eingelassen hatte. Zuvor hatte er es für möglich gehalten, daß sich sein Retter als der Held erweise, der den Vier Ländern seit der Zeit Allanons fehlte, daß er der Wiedervereiniger der unterdrückten Rassen sein könnte. Den Gerüchten zufolge war dieser Mann der Führer, den die Freiheitsbewegung ersehnt hatte. Jetzt schien er im gleichen Maße ein Mörder. Wie gefährlich Panamon Creel in seiner Zeit auch gewesen sein mochte, Par hielt Padishar Creel für ungleich gefährlicher.
»Jetzt kennt ihr also meine ganze Geschichte«, erklärte Padishar Creel, während er seinen Teller zurückschob. Seine Augen funkelten. »Gibt es irgend etwas, was ihr noch näher erklärt haben wollt?«
Schweigen. Dann schockierte Steff alle, als er murmelte: »Wieviel davon entspricht der Wahrheit?«
Alle erstarrten vor Schreck. Aber Padishar Creel lachte sichtlich amüsiert. »Manches, mein Freund aus dem Ostland, manches.« Er blinzelte. »Und je öfter ich die Geschichte erzähle, desto besser wird sie.« Er nahm sein Glas und schenkte sich aus dem großen Bierkrug ein.
Par starrte mit neuerwachter Bewunderung Steff an. Keiner der anderen hätte gewagt, diese Frage zu stellen.
Der Anführer der Geächteten lehnte sich vor. »Aber genug der Vergangenheit!« Seine Augen richteten sich auf Par. »Es hat etwas mit der Magie zu tun, stimmt’s? Ich kann mir nicht vorstellen, daß dich etwas anderes hierher geführt hat. Erzähle!«
Par zögerte. »Gilt dein Angebot immer noch? Wirst du mir helfen?« fragte er dann.
Der andere schien gekränkt. »Mein Wort ist ein Pfand, mein Junge. Wenn ich gesagt habe, daß ich dir helfe, dann tu’ ich’s auch!«
Par blickte die anderen an und sagte dann: »Ich muß das Schwert von Shannara finden.« Er erzählte Padishar Creel von seiner Begegnung mit dem Geist Allanons und von der Aufgabe, mit der der Druide ihn betraut hatte. Er berichtete von der Begegnung mit den Föderationssoldaten und den Monstern namens Schattenwesen. Trotz der Vorbehalte, die er dem Mann gegenüber hegte, verschwieg er nichts.
Als er zum Ende gekommen war, setzte sich der Anführer der Geächteten langsam zurück, trank das Bier aus dem Glas, an dem er lange genippt hatte, und lächelte verschwörerisch zu Steff hin. »Jetzt wäre es für mich an der Zeit zu fragen, wieviel von dieser Geschichte der Wahrheit entspricht.«
Par wollte protestieren, doch der andere hob die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Nein, mein Junge, spar dir die Mühe. Ich stelle das, was du mir erzählt hast, nicht in Frage. Du erzählst die Geschichte so, wie du sie siehst.«
»Du verfügst über die notwendigen Männer und Waffen, über ein Netz von Spionen, um uns bei unserer Suche zu helfen«, warf Morgan ruhig ein. »Deshalb sind wir hier.«
Padishar Creel rieb sich heftig das Kinn. »Ich hab’ noch mehr als das, meine Freunde«, sagte er mit dem Lächeln eines Wolfes. »Ich glaube an das Schicksal.« Er erhob sich wortlos und führte sie zum Rand des Hanges. Sie blickten von dort über den Parmakeil, über unzählige Baumwipfel und Kämme, die, da die Sonne unterging, in ihre letzten Strahlen getaucht waren. Mit seinem Arm umfaßte er das ganze Land. »Das ist jetzt mein Land, das Land des Barons Creel, wenn ihr so wollt. Aber ich werde nur dann darüber herrschen, wenn es mir gelingt, die Föderation aus den Angeln zu heben.« Er hielt inne. »Das Schicksal, habe ich gesagt. Ich glaube daran. Das Schicksal hat mich zu dem gemacht, was ich bin, und es kann mich auch schnell wieder zunichte machen, wenn ich in diesem Spiel nicht mitspiele. Die Hand, die ich ergreifen muß, glaube ich, ist die, die ihr mir anbietet. Es ist kein Zufall, Par Ohmsford, daß du zu mir gekommen bist. Es ist Bestimmung. Ich bin mir ganz sicher, jetzt sogar noch mehr, nachdem ich gehört habe, was du suchst. Verstehst du, was ich meine? Mein Vorfahr und dein Vorfahr, Panamon Creel und Shea Ohmsford, haben sich vor mehr als dreihundert Jahren auf die Suche nach dem Schwert begeben. Jetzt sind wir an der Reihe, du und ich. Wieder ein Creel und ein Ohmsford, der Anfang einer Veränderung im Land, ein neuer Anfang. Ich spüre es!« Er beobachtete sie gespannt. »Freundschaft hat euch zusammengeführt; zu mir seid ihr gekommen, weil eine Veränderung in eurem Leben ansteht. Par, es gibt tatsächlich Verbindungen zwischen uns, wie ich dir bereits bei unserer ersten Begegnung gesagt habe. Es gibt eine Geschichte, die wiederholt werden will. Abenteuer wollen gemeinsam bestanden und Schlachten gemeinsam gewonnen werden. Genau das hat das Schicksal für uns beide vorgesehen!«
Par, der angesichts dieser Worte ein wenig verwirrt war, fragte: »Dann wirst du uns also helfen?«
»Genau das werde ich.« Der Anführer der Geächteten zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ich gebiete über den Parmakeil, aber nicht über das Südland – meine Heimat, mein Land, mein Erbe. Ich will es zurückhaben. Magie ist die Macht, mit der das Ungeheuer namens Föderation vernichtet werden und in seine Höhle zurückgetrieben werden kann.«
»Das hast du bereits gesagt«, unterbrach ihn Par. »Aber Allanon fürchtet in erster Linie die Schattenwesen, und das Schwert soll gegen die Schattenwesen kämpfen. Weshalb also…?«
»Ja, ja, mein Junge«, unterbrach ihn der andere eilig. »Du triffst wieder einmal den Kern der Sache. Das Böse der Föderation und der Schattenwesen ist ein und dasselbe. Auf irgendeine Art und Weise sind sie miteinander verbunden, vielleicht auf die gleiche Weise wie die Ohmsfords und die Creels. Wenn wir also eine Möglichkeit finden, das eine zu vernichten, finden wir auch eine Möglichkeit, das andere zu vernichten.«
Der Blick seiner Augen zeugte von so wilder Entschlossenheit, daß lange Zeit niemand ein Wort sprach. Die Sonne verschwand am Horizont, und das heraufziehende Dunkel umhüllte den Parmakeil und das Land im Süden und Westen mit einem milchigen Schleier. Die Männer hinter ihnen verließen ihre Tische und begaben sich zu ihren Schlafplätzen, die über den ganzen Hang verstreut waren. Selbst in dieser Höhe war die Nacht warm und windstill. Am Himmel schienen bereits die Sterne und der zunehmende Mond.
»Also«, sagte Par leise, »was kannst du tun, um uns zu helfen?«
Padishar Creel strich die Falten seines Gewandes glatt und sog die Gebirgsluft tief in sich ein. »Ich kann das tun, mein Junge, worum du mich gebeten hast. Ich kann dir helfen, das Schwert von Shannara zu finden.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er hinzufügte: »Ich weiß, wo es ist.«