Nachdem Walker Boh die kleine Truppe am Hadeshorn verlassen hatte, kehrte er zum Kamin zurück. Er ritt auf seinem Pferd nach Osten, überquerte den Rabb, ritt an Storlock und seinen Heilern vorbei, überquerte das Wolfsktaag-Gebirge und den Jadepaß und folgte dem Mangoldfluß aufwärts bis zum Dunkelstreif. Drei Tage später war er wieder zu Hause. Während seiner Reise sprach er mit niemand, hielt sich von allen und allem fern und legte nur dann eine Pause ein, wenn er essen und schlafen mußte. Er hätte, das wußte er, keinen guten Reisebegleiter abgegeben. Er war besessen von dem Gedanken an seine Begegnung mit dem Geist Allanons.
Während der ersten vierundzwanzig Stunden nach seiner Rückkehr wurde der Anar von einem besonders schweren Sturm heimgesucht, und Walker Boh schloß sich trotzig in seinem Haus ein, während die Winde um dessen Bretterwände heulten und der Regen auf sein Dach niederprasselte. Das waldige Tal wurde überflutet, von Blitzen und langem, unheimlichem Donner erschüttert. Das Prasseln des Regens übertönte jedes andere Geräusch, und Walker Boh saß in Decken eingehüllt da; er verspürte einen so großen seelischen Schmerz, wie er ihn nicht für möglich gehalten hätte. Langsam kroch die Verzweiflung in ihm hoch.
Es war die Unvermeidlichkeit der Dinge, die er fürchtete. Er war, welchen Namen er sich auch zulegte, nichtsdestoweniger ein Ohmsford, und er wußte, daß die Ohmsfords, ungeachtet ihrer Bedenken, letztendlich immer dazu gezwungen worden waren, dem Ruf der Druiden zu folgen. So war es Shea und Flick ergangen, genauso wie Wil, Brin und Jair. Jetzt war er an der Reihe, ebenso wie Wren und Par. Par nahm die Aufgabe natürlich mit Freuden an. Par war ein unverbesserlicher Romantiker, ein selbsternannter Helfer der Unterdrückten und Gequälten. Par war ein Narr.
Oder ein Realist, je nachdem, wie man die Sache betrachtete. Denn er tat nichts anderes, als ohne Widerrede das auszuführen, wozu auch Walker Boh gezwungen sein würde, nämlich Allanons Willen, dem Willen eines toten Mannes, Folge zu leisten. Der Geist war ihnen erschienen wie ein strafender Erzvater, der der Umarmung des Todes entkommen war, der sie ob ihres fehlenden Eifers tadelte, sie ob ihrer Bedenken schalt und sie mit einer Aufgabe betraute, die zugleich selbstzerstörerisch war. Sorgt für die Rückkehr der Druiden! Laßt Paranor wieder lebendig werden! Tut dies, weil ich euch sage, daß es notwendig ist, weil ich, ein körper- und seelenloses Wesen, es verlange!
Walker Bohs Stimmung verschlechterte sich in dem Maße, in dem er sich die ganze Angelegenheit vor Augen führte; eine Schwermut überfiel ihn, die den Sturm und das Gewitter draußen widerspiegelte. Verändert das Angesicht der Erde – das war es, was der Geist von ihnen verlangte, von Par, Wren und ihm selbst. Nehmt die dreihundertjährige Entwicklung in den Vier Ländern und macht sie in einem einzigen Augenblick zunichte! Was konnte der Geist wollen, wenn nicht das? Die Rückkehr der Magie, die Rückkehr derer, die die Magie ausübten, und aller Dinge, die mit diesem Geist vor dreihundert Jahren ein Ende gefunden hatten. Wahnsinn! Sie sollten wie Schöpfer mit dem Leben spielen, obwohl sie dazu kein Recht hatten!
Durch den Schleier seiner Wut und Angst gelang es Walker, die Züge des Geistes heraufzubeschwören. Allanon, der letzte der Druiden, der Bewahrer der Geschichte der Vier Länder, der Beschützer der Rassen, der Spender der Magie und der Geheimnisse – seine dunkle Gestalt erhob sich im Angesicht der Jahre gleich einer Wolke im Angesicht der Sonne, deren Wärme und Licht sie in sich aufsaugt. Alles, was sich zu seinen Lebzeiten zugetragen hatte, trug seinen Stempel. Und vor ihm war es Bremen gewesen und vor ihm die Druiden des Ersten Rates der Rassen. Die Kriege der Magie, das Ringen ums Überleben, die Kämpfe zwischen Licht und Dunkel waren sämtlich das Werk der Druiden.
Und jetzt verlangte man von ihm, all das zurückzuholen.
Man konnte behaupten, daß es notwendig war. Genau das war schon immer behauptet worden. Man konnte sagen, daß die Druiden lediglich am Erhalten und Beschützen interessiert waren und nie am Lenken. Aber hatte es schon jemals das eine ohne das andere gegeben? Dämonenlords, Dämonen und Mordgeister waren verschwunden; an ihre Stelle waren Schattenwesen getreten. Aber wer oder was waren diese Schattenwesen, daß die Menschen der Hilfe der Druiden und der Magie bedurften? Konnten die Menschen den Mißständen der Welt nicht aus eigener Kraft begegnen? Mußten sie sich einer Macht beugen, die sie kaum verstanden? Magie war immer mit Leid wie mit Freude verbunden, ihre schwarze Seite konnte so leicht beeinflussen und verändern wie ihre weiße. Sollte er ihr zur Rückkehr verhelfen, nur um sie den Männern zu überlassen, die wiederholt bewiesen hatten, daß sie nicht in der Lage waren, ihrer Wahrheiten Herr zu werden?
Wie konnte er?
Doch ohne sie konnte die Welt zu dem werden, was der Geist Allanons ihnen gezeigt hatte, zu einem Alptraum aus Feuer und Finsternis, in den nur Kreaturen wie die Schattenwesen gehörten. Vielleicht entsprach es doch der Wahrheit, daß die Magie das einzige Mittel war, die Rassen vor solchen Wesen zu schützen.
Vielleicht.
Die Wahrheit war, daß er an dem, was geschehen würde, schlichtweg nicht teilhaben wollte. Er war weder im Geist noch im Fleisch ein Kind der Rassen der Vier Länder und war es auch nie gewesen. Er konnte ihren Männern und Frauen auch kein Mitgefühl entgegenbringen. Er gehörte nicht zu ihnen. Er war gestraft mit seiner eigenen Magie, und sie hatte ihm seine Menschenwürde sowie seinen Platz unter den Menschen geraubt, hatte ihn von allen anderen Lebewesen isoliert. Es war eine Ironie, daß er als einziger keine Angst vor den Schattenwesen hatte. Möglicherweise konnte er sogar Schutz vor ihnen bieten, wenn er darum gebeten wurde. Aber keiner würde ihn darum bitten. Er war ebenso gefürchtet wie sie. Er war der Dunkle Onkel, der Nachfahre von Brin Ohmsford, Träger ihres Vermächtnisses, Vollstrecker einer namenlosen Aufgabe von Allanon…
Aber die Aufgabe war nicht mehr namenlos. Das Geheimnis war enthüllt worden. Er sollte Paranor und den Druiden die Rückkehr ermöglichen, die Rückkehr aus der Vergangenheit, aus dem Nichts.
Genau das hatte der Geist von ihm verlangt, und die Forderung geisterte unablässig durch die Windungen seines Gehirns, überwand Hindernisse, überlistete seinen Verstand.
Er nagte an diesem Gedanken wie ein Hund an seinem Knochen, und die Tage schleppten sich dahin. Der Sturm ließ nach, die Sonne erschien am Himmel und trocknete die Ebenen, überzog jedoch die Wälder mit Hitze. Nach einiger Zeit verließ er das Haus, durchschritt das Tal in Begleitung von Ondit, der riesigen Moorkatze, die aus den Regenwäldern gekommen war. Die Katze war ihm ein Gefährte, doch sie bot ihm keinen Ausweg aus seinem Dilemma und keine Linderung seiner quälenden Gedanken. Im Verlauf der folgenden Tage und Nächte wanderten sie gemeinsam.
In der Nacht, in der Par Ohmsford und seine Gefährten bei dem Versuch, das Schwert von Shannara in Besitz zu nehmen, verraten wurden, kehrte Cogline in das Kamintal zurück und zerstörte damit die Illusion der Abgeschiedenheit, die Walker Boh so verzweifelt aufrechtzuerhalten suchte. Es war spät am Abend, die Sonne war im Westen untergegangen, am Himmel standen der Mond und die Sterne, und die Sommerluft verströmte den Duft des neuen Wachstums. Walker Boh kehrte von einem Aufenthalt am Kaminfelsen zurück, einem Zufluchtsort, der ihm besonders tröstlich erschien; der riesige Stein war eine Quelle, aus der er Kraft schöpfen konnte. Obwohl die Tür seiner Hütte offen und die Zimmer wie immer beleuchtet waren, spürte Walker Boh sofort, noch bevor Ondits Schnurren verstummte, daß etwas anders war. Ganz vorsichtig trat er auf die Veranda und die Tür zu.
Cogline saß am hölzernen Eßtisch. Ein großes, viereckiges Paket, in Öltuch eingewickelt und mit einer Schnur zusammengebunden, lag neben ihm. Ein fast unberührtes Glas Bier stand vor ihm auf dem Tisch. »Ich habe auf dich gewartet, Walker«, begrüßte er den anderen, der sich noch immer im Dunkeln auf der anderen Seite der Tür befand.
Walker Boh trat ein. »Du hättest dir die Mühe sparen können.«
»Mühe?« Der alte Mann streckte seine verknöcherte Hand aus, und Ondit trabte auf ihn zu, um zutraulich den Kopf an ihm zu reiben. »Es wurde Zeit, daß ich mein Zuhause wiedersah.«
»Ist dies dein Zuhause?« fragte Walker Boh. Er wartete auf eine Antwort, doch sie blieb aus. »Wenn du gekommen bist, um mich dazu zu überreden, die Aufgabe, die mir vom Geist Allanons zugeteilt wurde, zu übernehmen, sollst du wissen, daß ich genau das niemals tun werde.«
»Mein guter Walker, niemals ist eine unendlich lange Zeit. Außerdem habe ich nicht die Absicht, dich zu irgend etwas zu überreden. Ich nehme an, daß du bereits in ausreichendem Maß überredet worden bist.«
Walker Boh begab sich zum Tisch, wo er sich Cogline gegenüber niedersetzte.
Der alte Mann nahm einen Schluck Bier zu sich. »Vielleicht hast du nach meinem Verschwinden am Hadeshorn gedacht, daß ich für immer verschwunden sei«, sagte er leise. In seiner Stimme schwang ein Ton mit, den der andere weder deuten konnte noch wollte. »Vielleicht hast du’s dir sogar gewünscht.«
Walker Boh sagte nichts.
»Ich bin in der Welt draußen gewesen, Walker. Ich habe die Vier Länder und die Rassen gesehen, bin durch die Städte und das Land gezogen; ich habe den Puls des Lebens gespürt und habe festgestellt, daß er immer schwächer wird. Ein Bauer sprach mit mir, ein Mann, den die Sinnlosigkeit dessen, was er gesehen hat, zermürbt und zerbricht. ›Nichts wächst‹, flüsterte er. ›Die Erde krankt, als sei sie von irgendeiner Seuche befallen.‹ Die Vier Länder welken und verdorren, und es ist, als ob ihnen jeder Überlebenswille abhanden gekommen wäre. Mensch und Tier erkranken gleichermaßen und sterben. Alles wird zu Staub.«
Walker Boh schüttelte den Kopf. »Das Land und seine Menschen haben schon immer schwere Zeiten erlitten, Cogline. Du siehst die Vision Allanons, weil du sie sehen willst.«
»Nein, Walker.« Der alte Mann schüttelte entschlossen den Kopf. »Ich will nicht teilhaben an den Visionen der Druiden. Ich bin ebenso wie du ein Opfer. Glaub, was du willst, aber ich möchte damit nichts zu tun haben. Ich habe mich für mein Leben entschieden, so wie du dich für deines entschieden hast. Aber du glaubst mir nicht, stimmt’s?«
Walker Boh lächelte unfreundlich. »Du hast dich für die Magie entschieden, weil du es so wolltest. Als ehemaliger Druide hattest du die Wahl. Du hast dich mit den Wissenschaften und mit Zauberei befaßt, weil du dich dafür interessiert hast. Bei mir war das ganz und gar nicht der Fall. Ich mußte mit einem Erbe leben, das ich besser nie gekannt hätte. Die Magie wurde mir gegen meinen Willen aufgezwungen. Ich gebrauche sie, weil ich keine andere Wahl habe. Sie ist wie ein Mühlstein, der mich zu Boden zwingt. Ich mache mir nichts vor. Sie hat aus meinem Leben einen Trümmerhaufen gemacht.« Aus seinen dunklen Augen sprach Bitterkeit. »Versuch nicht, uns beide auf eine Stufe zu stellen, Cogline.«
»Harte Worte, Walker Boh. Du hast meine Unterweisung in der Magie einstmals nur allzu bereitwillig angenommen. Damals war sie dir willkommen, und du wolltest die Geheimnisse kennenlernen.«
»Eine Frage des Überlebens und sonst nichts. Ich war ein Kind, das in der Gewalt eines Druiden war. Ich habe dich benutzt, um selbst am Leben zu bleiben. Du warst der einzige, den ich hatte. Erwarte keine Dankbarkeit von mir, Cogline.«
Cogline erhob sich mit einer Schnelligkeit, die seinen gebrechlichen Körper Lügen strafte. Er überragte die ihm gegenübersitzende Gestalt, und auf seinem verwitterten Gesicht lag ein drohender Ausdruck. »Armer Walker«, flüsterte er. »Du leugnest immer noch, wer du bist – und du leugnest damit deine Existenz. Wie lange wirst du das noch fertigbringen?«
Die Stille, die nun eintrat, war unheilvoll. Ondit, der sich auf einem Teppich vor dem Feuer zusammengerollt hatte, schaute erwartungsvoll auf. Glühende Asche stob aus dem Herd und erfüllte die Luft mit einem Funkenregen.
»Warum bist du gekommen, Alter?« fragte Walker Boh schließlich; in seiner Stimme schwang eine kaum beherrschte Wut.
»Um zu versuchen, dir zu helfen«, erwiderte Cogline. Er sagte dies ohne jegliche Ironie. »Um dein Denken in eine bestimmte Richtung zu lenken.«
»Ich bin auch ohne dich ganz zufrieden.«
»Zufrieden?« Der andere schüttelte den Kopf. »Nein, Walker, du wirst erst dann zufrieden sein, wenn du aufhörst, gegen dich selbst zu kämpfen. Ich habe geglaubt, daß das, was du von mir über den Gebrauch der Magie gelernt hast, dich von solchen Kindereien abgebracht hätte – aber es scheint, daß dem nicht so ist. Dir stehen noch schwere Lektionen bevor, Walker. Es kann sein, daß du sie nicht überlebst.« Er schob das schwere Paket über den Tisch. »Öffne es.«
Walker Boh zögerte, starrte wie gebannt auf das Dargebotene. Dann streckte er die Hand aus, öffnete mit einer einzigen Bewegung den Knoten der Schnur und schlug das Öltuch auf.
Er blickte auf ein großes, ledergebundenes Buch, das mit verschnörkelten Goldbuchstaben beschriftet war. Er streckte die Hand aus und berührte es vorsichtig, schlug es auf und warf einen kurzen Blick hinein, um augenblicklich zurückzufahren, als hätte er sich die Finger verbrannt.
»Ja, Walker. Es ist eins der verlorengegangenen Bücher der Druiden, nur ein einziger Band.«
»Woher hast du das?« erkundigte sich Walker Boh barsch.
»Aus dem verschwundenen Paranor.«
Walker Boh erhob sich langsam. »Du lügst.«
»Meinst du? Schau mir in die Augen und sag, was du siehst.«
Walker wich zurück. Er zitterte. »Es ist mir egal, woher du es hast oder welche Hirngespinste du zusammengebraut hast, um mich etwas glauben zu machen, von dem ich im tiefsten Herzen weiß, daß es unmöglich ist! Trag es dorthin zurück, wo du es her hast, oder wirf es in den See! Ich will damit nichts zu tun haben.«
Cogline schüttelte den Kopf. »Nein, Walker, ich werde es nicht wieder mitnehmen. Ich habe es aus vergangenen Zeiten geholt, um es dir zu geben. Ich bin nicht dein Peiniger. Ich bin der beste Freund, den du je haben wirst, selbst wenn du das jetzt nicht glauben kannst.« Das zerfurchte Gesicht wurde weich. »Ich habe bereits gesagt, daß ich gekommen bin, um dir zu helfen. Das will ich auch tun. Lies das Buch, Walker. Es enthält Wahrheiten, die erkannt werden müssen.«
»Das werde ich nicht tun!« schrie der andere zornig.
Cogline betrachtete den jüngeren Mann lange, dann seufzte er. »Wie du willst. Aber das Buch bleibt hier. Ob du es liest oder nicht, liegt ganz bei dir. Du kannst es sogar vernichten, wenn du willst.« Er trank den Rest seines Biers, stellte das Glas vorsichtig auf den Tisch und sah auf seine verknöcherten Hände hinunter. »Für mich gibt es hier nichts mehr zu tun.« Er ging um den Tisch herum und trat vor den anderen. »Bis dann, Walker. Ich würde bleiben, wenn das nützen würde. Ich würde dir alles in meiner Macht Stehende geben, wenn du es annehmen wolltest. Aber du bist noch nicht bereit dazu. Ein andermal vielleicht.« Er wandte sich ab und verschwand in der Dunkelheit. Er schaute sich nicht einmal um.
Walker Boh beobachtete, wie er langsam verschwand, ein Schatten, der in die Dunkelheit hineintrat, die ihn geschaffen hatte.
Die Hütte schien, als er gegangen war, plötzlich leer und still. »Es wird gefährlich sein, Par«, flüsterte Damson Rhee.
Par Ohmsford schwieg. Sie befanden sich wieder inmitten des Volksparks und kauerten in einem Zedernwäldchen, gegen das Licht geschützt, das von den Lampen des Wachhauses in den Park geworfen wurde. Es war weit nach Mitternacht.
»Erinnerst du dich an sein Aussehen?« fragte Damson. Par nickte. Es war kaum wahrscheinlich, daß er das Gesicht von Felsen-Dall je vergessen würde.
Sie schwieg kurz. »Falls wir gestellt werden, mußt du ihre Aufmerksamkeit auf dich lenken. Ich werde mit allen Gefahren fertig.«
Wieder nickte er. Regungslos warteten sie in ihrem Unterschlupf, lauschten in die Stille hinaus, hingen ihren eigenen Gedanken nach. Sie waren die einzige Chance für Coll und die anderen. Sie würden das riskante Unternehmen erfolgreich durchführen, weil sie keine andere Wahl hatten.
Die Torwachen rührten sich, als die anderen, die an der westlichen Mauer des Parks patrouillierten, aus der Dunkelheit auftauchten. Sie wechselten ein paar Worte, bis auch die Wachen der östlichen Mauer auftauchten. Eine Flasche wurde herumgereicht, bis sie wieder in westlicher und östlicher Richtung verschwanden. Die Torwachen bezogen wieder ihren Posten.
Die Minuten schleppten sich dahin. Die Einsamkeit, die das Wachhaus zuvor umgeben hatte, kehrte zurück. Die Wachen gähnten. Einer der beiden lehnte sich müde auf den Schaft seiner Streitaxt.
»Jetzt«, erklärte Damson Rhee. Sie packte den Talbewohner bei den Schultern. Ihre Lippen streiften seine Wange. »Wünsch uns Glück, Par Ohmsford.«
Und schon machten sie sich auf den Weg. Sie traten frech in den Lichtschein hinein, als wären sie dort zu Hause, und auf das Wachhaus zu. Par hatte bereits das Wunschlied angestimmt, wob seinen Zauber durch die Stille der Nacht, erfüllte den Geist der Wachen mit den Bildern, die sie sehen sollten.
Was sie sahen, waren zwei Sucher; der größere von beiden war Felsen-Dall.
Sie standen sofort stramm. Par sang mit gleichförmiger Stimme; die Magie hielt den Geist der willfährigen Männer in ihrem fortwährenden Bann.
»Öffnet!« befahl Damson Rhee mit befehlsgewohnter Stimme, als sie das Wachhaus erreichten.
Die Wachen überschlugen sich vor Eifer. Sie zogen das verriegelte Tor auf, öffneten die Schlösser und hämmerten ungeduldig an die Türen, um die Wachen drinnen zu verständigen. Eine winzige Tür öffnete sich, so daß Par das Zentrum seiner Aufmerksamkeit ein wenig verlagerte. Verschlafene Augen spähten heraus, und die Schlösser wurden aufgesperrt. Die Türen flogen zurück, und Par und Damson drängten hinein.
Sie befanden sich in einem Wachraum und sahen sich allerhand Waffen, die in den Wandregalen aufbewahrt wurden, und einem Haufen verblüffter Soldaten gegenüber. Die Soldaten hatten in der festen Überzeugung, daß die Nacht keine Aufregungen mehr bereit hielt, Karten gespielt und getrunken. Sie wurden vom Eintreffen der Sucher überrascht, was sich in ihren Gesichtern widerspiegelte. Par füllte den Raum mit dem leisen Summen des Wunschliedes. Es kostete ihn all seine Kraft.
Damson Rhee verstand, an welch dünnem Faden ihr Unternehmen hing. »Alle raus hier!« befahl sie.
Der Raum leerte sich augenblicklich. Ein Mann, offen sichtlich der Wachoffizier, blieb. Er stand unsicher vor ihnen, und obwohl er sich wünschte, irgendwo anders zu sein, war er unfähig zu gehen.
»Führ uns zu den Gefangenen«, sagte Damson Rhee, die jetzt zur linken Seite des Mannes stand.
Der Offizier räusperte sich, nachdem er vergeblich versucht hatte zu sprechen. »Ich muß zuerst die Erlaubnis des Kommandanten einholen«, wagte er zu sagen.
Damson Rhee richtete ihren Blick auf das Ohr des Mannes, wodurch er gezwungen war, in eine andere Richtung zu schauen. »Wo ist dein Kommandant?« fragte sie.
»Er schläft unten«, antwortete der Mann. »Ich werde ihn wecken.«
»Nein.« Damson Rhee verbot ihm zu gehen. »Wir wecken ihn gemeinsam auf.«
Sie verließen den Raum durch eine Tür am anderen Ende des Zimmers und betraten die Treppe, die nach unten führte und von Öllampen schwach erhellt war. Par ließ das Wunschlied auch weiterhin im Ohr des verängstigten Mannes erklingen. Alles lief wie geplant. Sie schritten die Treppe hinunter, Stufe um Stufe; das Stampfen ihrer Stiefel war das einzige Geräusch in der Stille. Am unteren Ende der Treppe befanden sich zwei Türen. Der Wachoffizier blieb stehen und klopfte an eine. Als er keine Antwort erhielt, klopfte er noch einmal, diesmal kräftiger.
»Was zum Teufel ist los?« schnauzte eine Stimme.
»Öffnet sofort die Tür, Kommandant!« antwortete Damson Rhee.
Man hörte ein Tasten und Tappen, und die Tür öffnete sich. Der Föderationskommandant mit dem kurzgeschnit tenen Haar und den unangenehmen Augen stand mit nur halbzugeknöpftem Rock vor ihnen. Er erblickte die Sucher. Schlimmer noch, er erblickte Felsen-Dall. Er machte sich nicht die Mühe, seinen Rock zuzuknöpfen, sondern kam eilig heraus. »Ich habe so schnell niemand erwartet. Tut mir leid. Gibt es Probleme?«
»Wir reden später darüber, Kommandant«, erklärte Damson Rhee. »Im Augenblick braucht Ihr uns nur zu den Gefangenen zu führen.«
Kurz flackerte Zweifel in den Augen des anderen Mannes, ein Hauch von Besorgnis, daß vielleicht doch nicht alles mit rechten Dingen zuging. Par verstärkte den Druck des Wunschliedes auf den Geist des Mannes, vermittelte ihm einen Vorgeschmack des Schreckens, der ihn erwartete, wenn er dem Befehl nicht gehorchte. Der Kommandant hastete zur Treppe, zog einen Schlüssel von der Kette an seiner Taille und öffnete die zweite Tür.
Sie traten in einen Verbindungsgang, der von einer einzigen Lampe beleuchtet wurde. Der Kommandant nahm die Lampe in die Hand und ging voraus. Damson Rhee folgte. Par bedeutete dem Wachoffizier, ihm vorauszugehen, und bildete die Nachhut. Seine Stimme wurde langsam müde von der Anstrengung, die Maskerade aufrechtzuerhalten. Es war schwieriger, seine Kraft auf zwei Personen zu lenken. Er hätte den zweiten Mann wegschicken sollen.
Die Wände des Verbindungsgangs bestanden aus schwarzen Steinblöcken und rochen nach Schimmel und Verfall. Par erkannte, daß sie sich unter der Erde befanden, offensichtlich unter der Schlucht.
Sie hatten nur wenige Schritte zurückgelegt, als sie die Zellen erreichten, eine Anzahl von niedrigen Käfigen, die nicht hoch genug waren, damit ein Mann sich darin aufrichten konnte. Die ganze Gruppe war in den ersten Käfig hineingepfercht worden, wo sie auf dem Steinboden kauerte oder saß.
Coll begriff, was gespielt wurde. Er war bereits auf den Beinen, drängte zur Tür und bedeutete den anderen, es ihm gleichzutun.
»Öffnet die Tür«, befahl Damson Rhee.
Wieder spiegelte sich in den Augen des Föderationskommandanten Zweifel.
»Öffnet die Tür, Kommandant«, wiederholte Damson Rhee ungeduldig.
Der Kommandant fingerte nach seinem zweiten Schlüssel, steckte ihn in das Schloß und drehte ihn um. Die Zellentür flog auf. Im gleichen Augenblick griff Padishar Creel nach dem Hals des erstaunten Mannes und drückte zu, bis dieser kaum noch atmen konnte. Der Wachoffizier taumelte zurück und versuchte an Par vorbeizukommen, wurde aber von Morgan von hinten gepackt und bewußtlos geschlagen.
Die Gefangenen drängten auf den schmalen Verbindungsgang und begrüßten Par und Damson Rhee.
Padishar Creel schenkte ihnen keine Beachtung. Seme Aufmerksamkeit galt einzig und allem dem Föderationskommandanten. »Wer hat uns verraten?« zischte er ungeduldig. »Wer war es?«
Der zu Tode erschrockene Mann schlug wild um sich, bis Padishar Creel seinen Kopf mit aller Wucht gegen die Steinwand stieß. Der Kommandant sackte wie eine Stoffpuppe zusammen.
»Genug«, sagte Damson Rhee mit ruhiger Stimme und übersah den Zorn, der in den Augen des anderen brannte. »Wir verschwenden unsere Zeit. Es ist klar, daß er es nicht weiß. Wir sollten machen, daß wir hier herauskommen. Wir sind für heute genügend Risiken eingegangen.«
Der Anführer der Geächteten blickte sie einen Augenblick wortlos an. »Ich werde es trotzdem herausfinden«, schwor er.
Par hatte noch nie einen Menschen so zornig gesehen. Aber Damson Rhee ging nicht darauf ein. Sie drehte sich um und bedeutete Par aufzubrechen. Der Talbewohner ging die Treppe hinauf, und die anderen folgten ihm einer nach dem anderen. Sie hatten sich, als sie beschlossen hatten, ihre Freunde zu befreien, keinen Plan für den Rückzug zurechtgelegt.
Der Zufall half ihnen. Der Wachraum war, als sie ihn erreichten, leer, und sie gingen schnell hindurch. Nur Morgan blieb stehen, um in den Waffenregalen zu wühlen, bis er das Schwert von Leah gefunden hatte. Mit einem grausamen Lächeln schnallte er es an seinem Gürtel fest und folgte den anderen.
Das Glück blieb ihnen treu. Die Wachen draußen konnten überwältigt werden, noch bevor sie wußten, wie ihnen geschah. Die Nacht um sie herum war still, der Park leer, die Patrouillen immer noch auf Rundgang, die Stadt in tiefem Schlaf.
Als sie sich eilig davonmachten, schenkte Damson Rhee Par ein strahlendes Lächeln und gab ihm einen Kuß mitten auf den Mund. Der Kuß schmeckte verheißungsvoll.
Trotzdem war es nicht Damson Rhees Kuß, der Par von all den Ereignissen dieser Nacht am nachhaltigsten im Gedächtnis blieb. Es war die Tatsache, daß die Magie des Wunschliedes sich endlich als nützlich erwiesen hatte.