13

Vereinzelte Sonnenstrahlen drangen durch die Bäume, brachen sich auf der ruhigen Oberfläche des Myriansees, tauchten das Wasser in leuchtendes Rotgold und ließen Wren Ohmsford blinzeln. Weiter im Westen ragten die Zacken des Irrybisgebirges in den Himmel, bildeten gleichsam eine Grenze zwischen Erde und Firmament und warfen die ersten Schatten der Nacht über die riesige Ebene von Tirfing.

In einer Stunde würde es dunkel werden, dachte sie.

Am Ufer des Sees hielt sie an und sog, wenn auch nur für einen kurzen Moment, die Abgeschiedenheit der herannahenden Dämmerung in sich ein. Mit der behaglichen Selbstzufriedenheit einer schlafenden Katze breitete sich das gesamte Westland in der schimmernden Hitze des sich dem Ende zuneigenden Sommertages aus, wartete geduldig auf das Herannahen der Nacht und die damit verbundene Kühle.

Sie hatte nicht mehr viel Zeit.

Einen Augenblick suchte sie nach den Spuren, die sie vor einigen hundert Metern verloren hatte, und fand nichts. Er hätte sich ebenso gut in Luft auflösen können. Sie kam zu dem Schluß, daß er es ihr mit diesem Katz- und-Maus-Spiel nicht leicht machte. Vielleicht war sie schuld daran.

Der Gedanke trieb sie weiter, ließ sie lautlos zwischen den Bäumen am Seeufer hindurchhuschen, das Laub und die Erde mit neuer Entschlossenheit überprüfen. Sie war klein und von schmächtigem Wuchs, gleichzeitig aber zäh und stark. Ihre Haut hatte durch den Wind und die Sonne eine nußbraune Färbung angenommen, und ihr kurzes hellblondes Haar, das in kleinen Löckchen an ihrem Kopf lag, gab ihr ein jungenhaftes Aussehen. Ihre Gesichtszüge erinnerten eindeutig an eine Elfin, die Augenbrauen standen schräg, die Ohren waren klein und spitz, die hohen Wangenknochen ließen ihr Gesicht schmal erscheinen. Ihre haselnußfarbenen Augen blickten sich, während sie sich bewegte, rastlos und suchend um.

Seinen ersten Fehler entdeckte sie nach etwa dreißig Metern in Form eines winzigen abgebrochenen Ästchens und kurz darauf seinen zweiten in Form eines Stiefelabdrucks. Unwillkürlich mußte sie lächeln. Ihre Zuversicht wuchs, und erwartungsvoll hob sie den glatten dicken Stock, den sie bei sich trug.

Der See, der sich an dieser Stelle zwischen die Bäume schob, bildete eine tiefe Bucht, wodurch sie gezwungen war, durch ein dichtes Kiefernwäldchen zu ihrer Linken zurückzukehren. Sie verlangsamte ihr Tempo und bewegte sich noch vorsichtiger. Die Kiefern machten jetzt dichtem Buschwerk Platz, das nahe an einem Zedernhain wuchs. Sie umging das Buschwerk und bemerkte dabei eine frische Kratzspur an einer Baumwurzel. Jetzt wird er unvorsichtig, dachte sie, oder will es mich zumindest glauben machen.

Sie entdeckte die Falle erst in dem Augenblick, als ihr Fuß schon über ihr schwebte. Die dazugehörigen Drähte zogen sich von einer sorgfältig versteckten Schlinge in das dichte Buschwerk hinein und von dort zu einem kräftigen jungen Baum, an dem sie befestigt waren. Hätte sie sie nicht gesehen, wäre sie in die Höhe gerissen worden und würde jetzt dort baumeln.

Gleich danach bemerkte sie die zweite Falle, die noch besser versteckt war, und zwar für den Fall, daß sie der ersten entgehen sollte. Sie entkam auch dieser und bewegte sich jetzt noch vorsichtiger.

Trotzdem hätte sie ihn beinahe nicht gesehen, als er ungefähr fünfzig Meter weiter von einem Ahornbaum zu Boden glitt. Er war es müde, sie im Wald immer wieder zu verlieren, und hatte deshalb beschlossen, die Sache ein für allemal und schnell hinter sich zu bringen. Während sie zwischen den Bäumen hindurchhuschte, glitt er lautlos zu Boden, und einzig ihr Gespür rettete sie. In dem Augenblick, als er den Boden berührte, sprang sie zur Seite, holte mit ihrem großen Stock aus und erwischte ihn mit einem hörbaren Schlag an seiner riesigen Schulter. Ihr Angreifer schüttelte den Schlag ab und erhob sich mit einem lauten Grunzen. Er war ein Mann von beträchtlichen Ausmaßen. Er lief auf Wren zu, doch mit Hilfe ihres Stocks gelang es ihr, einen großen Sprung zu machen. Beim Aufkommen rutschte sie aus, und mit einer erstaunlichen Behendigkeit war er über ihr. Sie wälzte sich zur Seite, wobei sie ihn mit ihrem Stock abwehrte, bis es ihr schließlich gelang, den hölzernen Dolch hervorzuziehen und ihn zum Schein in seinen Bauch zu rammen.

Das sonnengebräunte, bärtige Gesicht wandte sich dem ihren zu, und die tiefliegenden Augen starrten nach unten. »Du bist tot, Garth«, erklärte sie ihm lächelnd. Dann bewegten sich ihre Finger und formten das Zeichen.

Der Fahrende fiel in gespielter Unterwerfung zusammen, bevor er sich erhob. Dann lächelte auch er. Sie säuberten ihre Kleider und standen sich im schwächer werdenden Licht gegenüber.

»Ich werde immer besser, stimmt’s?« fragte Wren, wo­ bei sie ihre Worte mit Gesten begleitete.

Garth antwortete ohne Laute, seine Finger bewegten sich in der Sprache, die er ihr beigebracht hatte. »Besser, aber noch nicht gut genug«, übersetzte sie. Als sie nach seinem Arm faßte, breitete sich ein Lächeln über sein ganzes Gesicht aus. »Für dich vermutlich nie gut genug. Denn sonst wärst du arbeitslos!«

Sie hob ihren Stock auf und täuschte einen Angriff vor, was den anderen sofort Deckung suchen ließ. Sie sahen einander einen Augenblick aufmerksam an, bevor sie sich wieder entspannten und sich auf den Weg zurück zum Seeufer machten. Eine halbe Stunde jenseits der Bucht befand sich eine kleine Lichtung, ein idealer Platz, um ein Lager für die Nacht zu errichten. Wren hatte sie während ihrer Verfolgungsjagd gesehen und ging jetzt schnurstracks dorthin.

»Ich bin müde, und mir tut alles weh, und ich habe mich noch nie besser gefühlt«, verkündete das Mädchen fröhlich, als sie gingen und dabei die letzten Sonnenstrahlen des Tages auf dem Rücken spürten, die Gerüche des Waldes einatmeten und voll Leben und Frieden waren. Sie sang und summte Lieder von Fahrenden und vom freien Leben, davon, wie das Leben war und wie es sein würde. Garth folgte ihr gleich einem stillen Schatten.

Sie erreichten die Lichtung, machten Feuer, bereiteten ihr Essen zu und aßen; dazu tranken sie aus dem großen ledernen Bierschlauch. Die Nacht war angenehm warm, und Wren Ohmsfords Gedanken waren voller Zufriedenheit. Es blieben ihnen noch fünf Tage, bevor sie wieder zurückerwartet wurden. Sie genoß ihre Streifzüge mit Garth; sie bedeuteten Aufregung und Herausforderung. Der Fahrende war der beste aller Lehrer – einer, der seinen Schülern gestattete, durch eigene Erfahrung zu lernen. Niemand wußte so viel wie er über Fährtensuche, Deckung, Fallen, Schlingen, und niemand kannte so viele Schliche in der schönen Kunst des Überlebens. Er war von Anfang an ihr Lehrer gewesen. Sie hatte nie gefragt, warum er sich gerade sie ausgesucht hatte; sie war einfach nur dankbar dafür, daß er es getan hatte.

Das Leben, das sie führte, war hart, aber es wäre ihr unmöglich gewesen, sich ein anderes Leben auch nur vorzustellen. Als Fahrende war sie geboren worden und hatte mit Ausnahme der ersten Jahre, die sie in dem Dörfchen Shady Vale im Südland bei ihren Verwandten, den Ohmsfords, verbracht hatte, immer unter den Fahrenden gelebt. Seit Jahren lebte sie jetzt im Westland, wo sie mit Garth und den anderen herumstreifte, denjenigen, die sie nach dem Tod ihrer Eltern bei sich aufgenommen hatten und sie in allen Dingen des Lebens unterrichteten. Das gesamte Westland gehörte den Fahrenden vom Kershaltgebirge bis zum Irrybisgebirge, vom Tal von Rhenn bis zur Blauen Spalte. Einst hatte es ebenso den Elfen gehört. Aber die Elfen gab es nicht mehr, sie waren verschwunden. Bei den Fahrenden hieß es, sie hätten sich wieder ins Reich der Sagen zurückbegeben. Sie hatten jegliches Interesse an der Welt der Sterblichen verloren und waren ins Zauberland zurückgekehrt.

Manche zogen das in Zweifel. Andere wiederum behaupteten, die Elfen seien immer noch da und hätten sich nur versteckt. Sie selbst wußte dazu nichts zu sagen. Sie wußte lediglich, daß die Elfen ein verwildertes Paradies zurückgelassen hatten.

Garth reichte ihr den Bierschlauch, und sie nahm einen großen Schluck, bevor sie ihn wieder zurückreichte. Sie wurde zunehmend schläfrig. In der Regel trank sie nur wenig. Aber heute war sie ganz besonders stolz auf sich selbst. Es kam nicht oft vor, daß sie Garth überlistete.

Sie ließ ihren Blick kurz auf ihm ruhen, während sie daran dachte, wie viel er ihr in der Zwischenzeit bedeutete. Ihre Zeit in Shady Vale schien so weit entfernt, obwohl sie sich noch gut daran erinnerte. Und an die Ohmsfords, ganz besonders Par und Coll – an sie dachte sie immer noch. Damals waren sie ihre Familie gewesen. Aber es kam ihr vor, als hätte sich all das in einem anderen Leben zugetragen. Garth war ihr jetzt zugleich Vater, Mutter, Bruder und Schwester, die einzige Familie, die sie noch kannte. Sie war mit ihm auf eine Weise verbunden, wie sie noch nie mit jemand verbunden gewesen war. Sie liebte ihn abgöttisch.

Trotzdem, so mußte sie zugeben, fühlte sie sich manchmal in seiner Gegenwart allein – einsam und verlassen, wie ein herumirrendes Wesen, das von einer Familie zur nächsten weitergereicht wird, ohne irgendwo wirklich dazuzugehören und ohne zu wissen, wer oder was es wirklich war. Es ärgerte sie, daß weder sie noch die anderen mehr über sie wußten. Sie hatte oft genug gefragt, doch die Antworten waren immer nur dürftig ausgefallen. Ihr Vater war ein Ohmsford gewesen, ihre Mutter eine Fahrende. Es war unklar, wie die beiden ums Leben gekommen waren. Niemand wußte, was mit den anderen Familienmitgliedern passiert war. Und niemand wußte, wer ihre Vorfahren waren.

Sie besaß in der Tat nichts anderes als einen Gegenstand, der Aufschluß darüber geben konnte, wer sie war: einen kleinen Lederbeutel, den sie immer um den Hals trug und der drei vollkommen geformte Steine enthielt. Elfensteine, hätte man meinen können – bis man beim genaueren Hinsehen feststellte, daß es sich um ganz gewöhnliche Steine handelte, die blau gefärbt waren. Aber sie waren das einzige, was man bei ihr als Kind gefunden hatte.

Sie vermutete, daß Garth darüber mehr wußte, als er zugab. Als sie ihn danach fragte, hatte er vorgegeben, nichts zu wissen, doch etwas an seinem Leugnen hatte sie davon überzeugt, daß er nicht die Wahrheit sagte. Garth konnte Geheimnisse sehr viel besser als jeder andere bewahren, aber sie kannte ihn zu gut, um sich hinters Licht führen zu lassen. Manchmal, wenn sie darüber nachdachte, wollte sie eine Antwort aus ihm herausschütteln. Doch sie hütete sich davor, ihren Ärger zu zeigen. Man konnte Garth zu nichts zwingen. Er würde erst reden, wenn er von selbst dazu bereit war.

Sie zuckte die Schultern, so wie sie dies immer tat, wenn sie über ihre Familiengeschichte nachdachte. Sie war die, die sie war, eine Fahrende, und führte ein Leben, um das viele sie beneideten, vorausgesetzt, sie waren ehrlich zu sich selbst. Ihr gehörte die ganze Welt, weil sie ihr nicht verpflichtet war. Sie konnte gehen, wohin sie wollte, und tun und lassen, was sie wollte, und das war mehr, als den meisten vergönnt war. Zudem waren viele ihrer Gefährten von zweifelhafter Abstammung. Sie schwelgten in ihrer Freiheit, in ihrer Fähigkeit, alles, was ihnen in den Sinn kam, für sich zu beanspruchen. Sollte das nicht auch für sie gut genug sein?

Natürlich war keiner von ihnen ein Elf, oder? In keinem von ihnen floß das Ohmsford-Shannara-Blut, das die Magie der Elfen in sich trug. Keiner von ihnen wurde von Träumen heimgesucht…

Ihre haselnußbraunen Augen wandten sich unvermittelt Garth zu, als sie seinen Blick auf sich ruhen spürte. Sie gab ihm eine harmlose Antwort, während sie daran dachte, daß keiner der anderen Fahrenden die Kunst des Überlebens so gründlich gelernt hatte wie sie.

Sie tranken noch ein Bier, legten weitere Scheite auf das Feuer und hüllten sich in ihre Decken. Wren blieb noch lange wach, länger, als ihr lieb war; sie wurde wieder einmal von den unbeantworteten Fragen und ungelösten Rätseln, die ihr Leben begleiteten, eingeholt. Nachdem sie endlich eingeschlafen war, warf sie sich unter ihrer Decke ruhelos von einer Seite auf die andere, heimgesucht von Träumen, die ihrem Gedächtnis sofort entglitten.

Als sie aufwachte, dämmerte es bereits, und der alte Mann saß ihr gegenüber und stocherte mit einem langen Stock müßig in der Asche des Feuers. »Es wird langsam Zeit«, schnarrte er.

Sie blinzelte ungläubig, um im nächsten Augenblick unter ihrer Decke hervorzuschnellen. Der immer noch schlafende Garth wurde durch ihre ruckartige plötzliche Bewegung geweckt. Sie langte nach dem langen Stock an ihrer Seite, während ihr unzählige Fragen auf einmal durch den Sinn gingen. Woher kam dieser alte Mann? Wie hatte er es fertiggebracht, sich ihnen zu nähern, ohne sie aufzuwecken?

Der alte Mann hob jetzt beruhigend seinen klapprigen Arm und sprach: »Es ist unnötig, sich aufzuregen. Seid einfach dankbar, daß ich euch habe schlafen lassen.«

Garth war jetzt ebenfalls auf den Beinen und kauerte am Boden, aber zu Wrens großem Erstaunen begann der alte Mann, mit dem Fahrenden in dessen Zeichensprache zu sprechen, ihm das verständlich zu machen, was er Wren schon gesagt hatte, und ihm zu versichern, daß er keine Bedrohung darstellte. Offensichtlich überrascht, zögerte Garth, setzte sich dann jedoch wieder.

»Wie kannst du das?« brachte Wren hervor. Sie hatte außer dem Anführer der Fahrenden noch nie jemand erlebt, der Garths Sprache beherrschte.

»Tja, ich weiß so einiges über die Kunst der Verständigung«, erwiderte der alte Mann, während ein selbstzufriedenes Lächeln seinen Mund umspielte. Seine Haut war vom Wetter gebräunt und zerfurcht, sein weißes Haar und sein Bart strähnig, seine hagere Gestalt mager wie eine Vogelscheuche. Staubige graue Kleidungsstücke hingen lose an ihm herunter. »Ich weiß beispielsweise«, fuhr er fort, »daß Botschaften übermittelt werden können mit Hilfe von Papier, von Mund zu Mund, durch Handzeichen…« Er hielt inne. »Und sogar durch Träume.«

Wren schnappte hörbar nach Luft. »Wer bist du?«

»Mir scheint«, sagte der alte Mann, »das ist jedermanns Lieblingsfrage. Mein Name ist unwichtig. Wichtig ist allein die Tatsache, daß ich geschickt wurde, um dir zu sagen, daß du deine Träume nicht mehr länger mißachten darfst. Diese Träume, Fahrende, sind dir von Allanon geschickt.«

Während er redete, sprach er gleichzeitig für Garth in der Zeichensprache, und zwar so flink, als beherrsche er die Sprache schon von jeher. Wren war sich bewußt, daß Garth zu ihr herüberblickte, aber sie konnte ihren Blick nicht von dem alten Mann losreißen. »Woher weißt du von den Träumen?« fragte sie leise.

Er erzählte ihr also, daß er Cogline sei, ein ehemaliger Druide, der noch einmal seine Pflicht erfüllte, weil die echten Druiden aus den Vier Ländern verschwunden waren und niemand sonst die Mitglieder der Familie Ohmsford hätte aufsuchen und sie davon unterrichten können, daß die Träume wahr waren. Er erzählte ihr, daß Allanons Geist ihn geschickt habe, um sie von dem Zweck der Träume zu unterrichten, um ihr zu sagen, daß sie die Wahrheit sprachen, daß die Vier Länder sich in größter Gefahr befanden, daß die Magie fast verloren war, daß nur die Ohmsfords sie wieder zum Leben erwecken konnten und daß sie ihn in der ersten Nacht des neuen Mondes aufsuchen mußten, um zu erfahren, was zu tun war. Er schloß seine Ausführungen, indem er ihr mitteilte, daß er zuerst Par Ohmsford und dann Walker Boh aufgesucht habe, denen die Träume gleichfalls geschickt worden waren, und schließlich sie, Wren Ohmsford.

Als er seine Rede beendet hatte, dachte sie kurz nach, bevor sie sprach. »Die Träume beunruhigen mich schon seit geraumer Zeit«, bekannte sie. »Ich habe sie für einfache Träume gehalten und sonst nichts. Die Magie der Ohmsfords hat noch nie zu meinem Leben gehört…«

»Und du fragst dich, ob du überhaupt eine Ohmsford bist«, unterbrach sie der alte Mann. »Du bist dir nicht sicher, stimmt’s? Wenn du keine Ohmsford bist, dann gehört die Magie tatsächlich nicht zu deinem Leben. Aber wenn es nach dir ginge, könnte das sehr wohl der Fall sein, nicht wahr?«

Wren starrte ihn an. »Woher weißt du das alles, Cogline?« Sie stellte seine Behauptung, Cogline zu sein, nicht in Frage; sie nahm sie hin, weil sie davon überzeugt war, daß dies so oder so keine Rolle spielte. »Woher weißt du so viel über mich?« Mit plötzlich erwachender Erwartung beugte sie sich vor. »Kannst du mir sagen, wer ich wirklich bin?«

Der alte Mann hob die Schultern. »Es ist sehr viel wichtiger zu wissen, was du sein könntest, als zu wissen, was du bist«, lautete seine rätselhafte Antwort. »Wenn du mehr darüber erfahren willst, solltest du der Aufforderung der Träume Folge leisten. Geh zum Hadeshorn und sprich mit Allanon.«

Sie warf einen Blick auf Garth, bevor ihr Blick wieder zurückwanderte. »Du treibst ein Spiel mit mir«, sagte sie zu dem alten Mann.

»Vielleicht.«

»Warum?«

»Oh, wenn dich meine Geschichte fesselt, wirst du vielleicht meiner Bitte zustimmen und mit mir gehen. Ich habe den anderen Mitgliedern deiner Familie gedroht und sie gescholten. Bei dir wollte ich etwas Neues versuchen. Die Zeit läuft uns davon, und ich bin ein alter Mann. Es sind nur noch sechs Tage bis zum neuen Mond. Selbst zu Pferd braucht man mindestens vier Tage bis zum Hadeshorn – fünf, wenn ich die Reise mitmache.«

Alles, was er sagte, erklärte er Garth in der Zeichensprache, und nun gab Garth eine schnelle Antwort. Der alte Mann lachte. »Ob ich die Reise mitmachen werde? Ja, zum Donnerwetter, das werde ich! Ich kümmere mich jetzt seit Wochen um die Angelegenheiten eines Schattens. Ich glaube, es steht mir zu zu erfahren, wie die Sache ausgeht.« Nachdenklich hielt er inne. »Außerdem weiß ich nicht, ob mir wirklich eine Wahl bleibt…«

Wrens Blick wandte sich nach Osten, wo die Sonne als blasse weiße Kugel teilweise verdeckt von Wolken und Nebel am Rande des Horizonts ruhte. »Was hat mein Vetter…?« setzte sie an, um sofort wieder zu verstummen. Das Wort klang, während sie es aussprach, irgendwie falsch. Es drückte einen Abstand zwischen ihnen aus, der ihr nicht gefiel. »Wozu hat Par sich entschlossen?« fragte sie.

»Er sagte, daß er darüber nachdenken wolle«, erwiderte der alte Mann. »Er und sein Bruder. Ich habe beide zusammen angetroffen.«

»Und mein Onkel?«

Der andere zuckte die Schultern. »Er sagte das Gleiche.« Aber es lag etwas in seinen Augen, das seinen Worten widersprach.

Wren schüttelte den Kopf. »Du spielst schon wieder mit mir. Was hat er wirklich gesagt?«

Die Augen des alten Mannes verengten sich. »Meine Liebe, du stellst meine Geduld auf eine harte Probe. Ich habe nicht die Kraft, dir ganze Gespräche zu wiederholen. Hast du keinen eigenen Verstand? Wenn sie der Aufforderung folgen, tun sie das aus ihren Gründen und nicht aus Gründen, die du ihnen vielleicht lieferst. Meinst du nicht, du solltest das Gleiche tun?«

Wren Ohmsfords Gesicht versteinerte sich. »Was haben sie gesagt?« wiederholte sie und wog dabei jedes Wort sorgfältig ab, bevor sie es aussprach.

»Was sie wollten!« schnappte der andere und machte seine Antworten Garth verständlich, obwohl seine Augen auf Wren geheftet blieben. »Bin ich denn ein Papagei, der die Sätze anderer zu deinem Vergnügen wiederholt?« Er durchbohrte sie mit seinem Blick, um dann seine Arme in die Luft zu werfen. »Nun gut! Du sollst also die ganze Geschichte hören! Der junge Par wurde zusammen mit seinem Bruder von der Föderation aus Varfleet vertrie­ ben, weil er seine Magie dazu benutzt hat, Geschichten über ihre Familie und über die Druiden zu erzählen. Er war gerade auf dem Weg nach Hause, als ich ihn zuletzt sah, und dachte etwas eingehender über die Träume nach. Er wird in der Zwischenzeit begriffen haben, daß er dazu nicht mehr in der Lage ist, daß seine Heimat sich in der Hand der Föderation befindet und seine Eltern – ehemals auch deine Eltern, könnte man sagen -Gefangene sind!«

Überrascht wollte Wren etwas antworten, aber der alte Mann überging sie. »Mit Walker Boh ist es etwas anderes. Er glaubt, er habe nichts mehr mit der Familie Ohmsford zu tun. Er lebt allein und ist zufrieden dabei. Er will nichts mit seiner Familie, mit der Welt zu tun haben und mit den Druiden schon gar nichts. Er glaubt, daß nur er den richtigen Gebrauch der Magie kennt und daß die anderen, die über ein bißchen Zauberkraft verfügen, keinen eigenen Verstand besitzen. Er vergißt, wer ihm das alles beigebracht hat. Er…«

»Du«, unterbrach ihn Wren.

»… hält sich für den Größten in seiner selbstgewählten Mission des…« Er hielt plötzlich inne. »Was? Was hast du gesagt?«

»Du«, wiederholte Wren, wobei sie ihn nicht aus den Augen ließ. »Du warst sein Lehrer, stimmt’s?«

In der darauffolgenden Stille blickten die Augen des Alten sie abschätzend an. »Ja, Mädchen, das war ich. Bist du jetzt zufrieden? Ist das die Antwort, die du gesucht hast? Oder wünschest du sonst noch etwas?«

Er hatte vergessen, Garth mit seinen Händen über das Gesagte zu unterrichten, doch Garth schien von seinen Lippen gelesen zu haben. Als er Wrens Blick erhaschte, nickte er zustimmend. Versuch immer etwas über deinen Gegner in Erfahrung zu bringen, was dieser vor dir geheimhalten will, hatte er sie gelehrt. Dadurch bist du im Vorteil.

»Das heißt also, daß er nicht geht, stimmt’s?« drängte sie. »Ich meine Walker.«

»Ich bin gerade zu dem Schluß gekommen, daß du ein kluges Mädchen bist, und schon beweist du mir das Gegenteil!« Der alte Mann zog eine Augenbraue in die Höhe. »Walker sagt, daß er nicht geht, und er ist überzeugt davon, daß er nicht geht. Aber das stimmt nicht. Das Gleiche gilt für Par. So wird es sein! Die Dinge entwickeln sich immer so, wie wir es nie für möglich halten. Aber vielleicht steckt dahinter nur die Magie der Druiden, mit der sie die Versprechungen und Gelübde, die wir so leichtfertig eingehen, umkehren und uns dorthin lenken, wo wir am allerwenigsten sein wollen.« Er zog seine Kleider enger um sich und beugte sich vor. »Wie steht’s nun mit dir, kleine Wren? Tapferer Adler oder ängstlicher Spatz – was bist du? Die Situation erfordert eine klare Entscheidung. Wähle also.«

Wren ließ ihren Blick kurz zu Garth gleiten, bevor er sich im Wald verlor und tief in die Schatten eintauchte. Ihre Gedanken und Fragen der vorhergegangenen Nacht holten sie wieder ein, setzten sich mit quälender Beharrlichkeit in ihr fest. Sie wußte, daß sie gehen konnte, wenn sie nur wollte. Die Fahrenden würden sie nicht aufhalten, nicht einmal Garth – obwohl er darauf bestehen würde, sie zu begleiten. Sie konnte dem Schatten von Allanon entgegentreten. Sie konnte mit dem Geist einer Legende sprechen, mit einem Mann, an dessen Existenz viele zweifelten. Sie konnte ihm die Fragen stellen, die sie schon seit vielen Jahren mit sich herumtrug, vielleicht einige Antworten erhalten, möglicherweise sogar etwas über sich selbst erfahren, das ihr bis jetzt verborgen geblieben war. Ein ziemlich ehrgeiziges Unterfangen, dachte sie, und gleichzeitig ein rätselhaftes.

Es würde bedeuten, daß sie Par, Coll und Walker Boh Wiedersehen würde – ihre andere Familie, die vielleicht gar keine richtige Familie war. Nachdenklich schürzte sie die Lippen. Vielleicht würde sie sogar Gefallen daran finden.

Aber es würde auch bedeuten, daß sie sich mit der Wirklichkeit ihrer Träume auseinandersetzen mußte – oder zumindest mit der Wirklichkeit eines Geistes. Und das konnte gleichzeitig ihr ganzes Leben verändern, ein Leben, mit dem sie vollkommen zufrieden war. Es konnte bedeuten, daß ihr Leben dadurch zerstört wurde, daß sie in Dinge verwickelt wurde, die sie besser gemieden hätte.

Ihre Gedanken rasten. Sie spürte das Gewicht des kleinen Beutels mit den gefärbten Steinen um ihren Hals, so, als sollte sie an die vor ihr liegenden Möglichkeiten erinnert werden. Auch sie kannte die Geschichten um die Ohmsfords und die Druiden, und sie war vorsichtig.

Ganz unerwartet mußte sie lächeln. Seit wann hielt die Vorsicht sie vom Handeln ab? Himmel! Sie stand vor einer verschlossenen Tür, die nur daraufwartete, aufgestoßen zu werden.

Der alte Mann unterbrach sie in ihren Gedanken. »Mädchen, ich werde langsam müde. Diese alten Knochen müssen bewegt werden, wenn sie nicht einrosten sollen. Laß mich wissen, wie du dich entschieden hast. Oder brauchst du, ähnlich wie die anderen in deiner Familie, ein unbegrenztes Maß an Zeit, um diese Angelegenheit hin- und herzuüberlegen?«

Mit hochgezogener Augenbraue warf Wren einen flüchtigen Blick in Garths Richtung. Das Nicken des Fahrenden war kaum wahrnehmbar. Sie wandte sich wieder Cogline zu. »Du bist so gereizt, Großväterchen«, tadelte sie. »Wo ist deine Geduld?«

»Mit meiner Jugend verschwunden, mein Kind«, sagte er unerwartet milde. »Wofür hast du dich nun entschieden?«

Sie lächelte. »Für das Hadeshorn und Allanon«, antwortete sie. »Was hast du denn erwartet?«

Aber der alte Mann gab ihr keine Antwort.

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