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Der alte Mann saß allein im Schatten der Drachenzähne und beobachtete, wie im Wes-ten das Licht des Tages der hereinbrechenden Dunkelheit wich. Es war ein kühler Tag gewesen, ungewöhnlich kühl für einen Sommertag, und die Nacht versprach kalt zu werden. Vereinzelte Wolken verdeckten den Himmel und warfen ihre Schatten auf die Erde. Eine Stille füllte die Leere, die durch das dahinschwindende Licht entstand, gleich einer Stimme, die darauf wartet zu sprechen. Es war eine Stille, die von Zauberei flüsterte, dachte der alte Mann. Ein Feuer brannte vor ihm, noch klein, gerade ausreichend für seine Zwecke. Schließlich würde er mehrere Stunden abwesend sein. Er starrte in das Feuer mit einer Mischung aus Erwartung und Unbehagen, bevor er sich bückte und die größeren Holzscheite hineinwarf, die die Flammen schon bald auflodern ließen. Er schürte es mit einem Stock, um dann, als die Hitze ihm entgegenschlug, zurückzutreten. Er stand am Rande des Lichtscheins, gefangen zwischen dem Feuer und der wachsenden Dunkelheit, ein Wesen, das sowohl zu beidem als auch zu keinem hätte gehören können. Seine Augen funkelten, als er in die Ferne blickte. Die Gipfel der Drachenzähne ragten in den Himmel und erinnerten an Knochen, die die Erde nicht zu umschließen vermochte. Es lag eine Stille über den Bergen, eine Verschwiegenheit, die ihnen anhaftete wie Reif einem frostigen Morgen und die Träume aller Zeiten verbarg. Funken stoben aus dem Feuer, und der alte Mann schlug nach einer umherschwirrenden Flocke glühender Asche, die sich auf ihm niederzulassen drohte. Er glich einem Bündel locker zusammengebundener Stäbe, das beim kleinsten Windhauch zu einem Häufchen Staub zusammenzufallen drohte. Sein graues Gewand und eine Decke hingen an ihm wie an einer Vogelscheuche. Seine lederne und braune Haut überzog tief zerfurcht und faltig seine Knochen. Das dünne, fedrige weiße Haar und der Bart umkränzten seinen Kopf und hoben sich gegen den Feuerschein wie Wattebäusche ab. Er war so runzlig und gebeugt, daß er aussah, als wäre er hundert Jahre alt.

In Wirklichkeit war er fast tausend Jahre alt.

Merkwürdig, dachte er plötzlich, als ihm all die Jahre in den Sinn kamen. Paranor, der Rat der Rassen, sogar die Druiden – alles Vergangenheit. Merkwürdig, daß ausgerechnet er alle überdauert haben sollte.

Er schüttelte den Kopf. All das hatte sich vor so langer Zeit ereignet, lag so weit zurück, daß es ein Teil seines Lebens war, den er kaum noch wiedererkannte. Er hatte geglaubt, dieser Teil sei abgeschlossen, für immer vorbei. Er hatte geglaubt, frei zu sein. Jetzt wurde ihm klar, daß er das nie gewesen war. Es war nicht möglich, frei zu sein von etwas, das schließlich die Verantwortung dafür trug, daß er noch am Leben war.

Wie hätte er sonst, trotz allem, abgesehen vom Schlaf der Druiden, immer noch hier stehen können?

Ein Schauer durchlief ihn im schwächer werdenden Licht, die Dunkelheit umhüllte ihn jetzt ganz, da die Sonne am unteren Rand des Horizonts verschwand. Es war Zeit. Seine Träume hatten ihn wissen lassen, daß es jetzt sein mußte, und er glaubte seinen Träumen, weil er sie verstand. Auch das war ein Teil seines alten Lebens, der ihn nicht loslassen würde – seine Träume, Visionen von jenseitigen Welten, von Warnungen und Wahrheiten, von Dingen, die sein konnten und manchmal sein mußten.

Er trat vom Feuer zurück und betrat den schmalen Weg, der zu den Felsen hinaufführte. Schatten umfingen ihn, deren Berührung ihn schaudern ließ. Lange Zeit ging er so, durch schmale Schluchten, um riesige Felsblöcke, entlang felsigen Abhängen und schroffen Spalten. Als er wieder ans Licht trat, stand er am Rande eines flachen, steinigen Tales, in dessen Mitte sich ein See befand, dessen glatte Oberfläche wie ein greller grüner Spiegel wirkte.

Der See war der Ort, an dem die Schatten der Druiden zwischen Kommen und Gehen verweilten. Hierher, zum Hadeshorn, war er gerufen worden.

»So soll es denn sein«, sagte er leise.

Langsam und vorsichtig bewegte er sich hinunter zum Tal, sein Herz schlug bis zum Hals. Er war lange fort gewesen. Das Wasser vor ihm bewegte sich nicht; die Schatten schliefen. So war es am besten, dachte er. Es war am besten, sie nicht zu stören.

Er erreichte das Ufer des Sees und hielt inne. Alles war ruhig. Er atmete tief ein, und die ausströmende Luft verursachte ein Geräusch wie raschelndes Laub. Er tastete nach seinem Beutel, den er um den Bauch trug, und lockerte die Schnur. Vorsichtig faßte er hinein und holte eine Handvoll schwarzes Pulver heraus, in das Silberstaub gemischt war. Nach kurzem Zögern warf er es über das Wasser.

Das Pulver explodierte in der Luft und verbreitete ein unnatürliches Licht, das die Nacht um ihn herum wieder zum Tag werden ließ. Er spürte keine Wärme, sah nur Licht. Es flimmerte und tanzte in der Dunkelheit wie ein lebendiges Wesen. Der alte Mann stand da und schaute, hielt Gewand und Decke eng um sich geschlungen, und in seinen Augen spiegelte sich das Leuchten. Er wiegte sich leise vor und zurück und fühlte sich einen Augenblick lang wieder jung.

Plötzlich trat ein Schatten in das Licht, lautlos wie ein Geist, eine schwarze Gestalt, die sich ebenso gut aus der dahinterliegenden Finsternis verirrt haben konnte. Aber der alte Mann wußte es besser. Diese Gestalt hatte sich nicht verirrt, sondern war gerufen worden. Langsam nahm sie deutlichere Konturen an. Es waren die Umrisse eines Mannes, ganz in Schwarz gehüllt, eine große und bedrohliche Erscheinung, die jeder, der sie irgendwann zu Gesicht bekommen hatte, sofort wiedererkannt hätte.

»Also du, Allanon«, flüsterte der alte Mann.

Das verhüllte Haupt neigte sich zurück, so daß die dunklen, harten Züge klar zum Vorschein kamen – das eckige bärtige Gesicht, die lange Nase und der Mund, die drohenden Brauen, die wie aus Eisen gegossen wirkten, die darunterliegenden Augen, die in die Seele zu schauen schienen. Die Augen fixierten den alten Mann und hielten ihn fest.

»Ich brauche dich«, glaubte der Alte zu hören. Fast wie ein Flüstern nahm er die Stimme wahr und spürte, daß Unzufriedenheit und Ungeduld von ihr ausgingen. Der Schatten teilte sich ihm nur über die Gedanken mit. Der alte Mann wich einen Augenblick zurück und wünschte, daß diese Erscheinung, die er gerufen hatte, nicht mehr da sein möge. Doch dann faßte er sich wieder und sah seiner Angst beherzt ins Auge. »Ich gehöre nicht mehr zu euch!« gab er bissig zurück, während sich seine Augen gefährlich verengten, und vergaß dabei, daß es unnötig war, laut zu sprechen. »Du kannst mir nicht befehlen!«

»Ich befehle nicht. Ich bitte. Hör mir zu. Du bist der einzige, der noch übrig ist, vielleicht so lange der einzige, bis mein Nachfolger bestimmt ist. Verstehst du?«

Der alte Mann lachte nervös. »Verstehen? Wer könnte besser verstehen als ich?«

»Ein Teil von dir wird immer das bleiben, was du früher nie in Frage gestellt hättest. Der Zauber bleibt ein Teil von dir. Immer. Hilf mir. Ich schicke die Träume, aber die Shannara-Kinder antworten nicht. Es muß sie jemand aufsuchen und mit ihnen sprechen, damit sie verstehen. Du.«

»Nein, nicht ich! Ich lebe schon seit Jahren nicht mehr bei den Rassen, und ich möchte nichts mit ihren Schwierigkeiten zu tun haben!« Der alte Mann richtete sich auf und runzelte die Stirn. »Ich habe mich schon vor langer Zeit von diesem Unsinn freigemacht.«

Der Schatten schien in die Höhe zu schweben und vor seinen Augen plötzlich größer zu werden, und auch er fühlte, wie sich sein Körper vom Boden abhob. Er schwang sich empor, hinein in die Nacht. Er wehrte sich nicht, nahm jedoch all seinen Willen zusammen, obwohl er spürte, wie der Zorn des anderen gleich einem schwarzen Fluß durch ihn hindurchströmte. Die Stimme des Schattens erinnerte an den Klang von Knochen, die zermahlen werden.

»Sieh hin!«

Die Vier Länder erschienen vor seinen Augen. Wie ein Gemälde breiteten sich Wiesen, Berge, Hügel, Seen, Wälder und Flüsse vor ihm aus, im Sonnenlicht farbig leuchtende Flecken der Erde. Er hielt den Atem an, als er das Bild so deutlich und aus so großer Höhe sah, obwohl er wußte, daß alles nur eine Vision war. Aber das Sonnenlicht begann fast augenblicklich zu schwinden, die Farben zu verblassen. Dunkelheit umfing ihn, Dunkelheit, in die sich düsterer grauer Nebel und schwefelhaltige Asche mischten, die aus ausgebrannten Kratern aufstieg. Das Land verlor seine Eigenart und wurde öd und leer. Er spürte, wie er sich darauf zubewegte; nur mit Widerwillen näherte er sich diesem Anblick und Geruch. Menschliche Wesen zogen in Scharen durch dieses verwüstete Land, mehr Tier als Mensch. Sie zerrten und rissen aneinander, sie schrien und kreischten. Dunkle Gestalten huschten um sie herum, körperlose Schatten mit Augen aus Feuer. Die Schatten bewegten sich zwischen den menschlichen Wesen, berührten sie, wurden eins mit ihnen und verließen sie wieder. Sie bewegten sich in einer Art Tanz, der zugleich gespenstisch und doch zielgerichtet war. Er sah, daß die Schatten die Menschen verschlangen. Die Menschen dienten ihnen als Nahrung.

»Sieh hin!«

Die Vision veränderte sich. Er sah sich selbst, einen abgemagerten, in Lumpen gekleideten Bettler vor einem Kessel voll seltsamen weißen Feuers, das blubberte und wirbelte und seinen Namen flüsterte. Nebel stiegen aus dem Kessel auf und bahnten sich ihren Weg zu ihm herunter, umhüllten ihn, liebkosten ihn, als wäre er ihr Kind. Schatten huschten um ihn herum, zogen zuerst an ihm vorbei, dann drangen sie in ihn ein wie in eine leere Hülle, in der es ihnen zu spielen beliebte. Er fühlte ihre Berührung; er wollte schreien.

»Sieh hin!«

Wieder veränderte sich die Vision. Sie offenbarte ihm ein riesiges Waldstück, in dessen Mitte sich ein hoher Berg erhob. Auf der Spitze des Berges ruhte ein Schloß, alt und verwittert, Türme und Mauern ragten in das Dunkel hinein. Paranor, dachte er. Paranor ist wieder da! Er spürte etwas Heiteres und Hoffnungsvolles in sich aufsteigen und wollte seine Freude hinausschreien. Aber schon schlangen sich die Nebel um das Schloß. Die Schatten huschten ganz nahe vorbei. Die uralte Festung begann zu bröckeln und zu zerfallen, die Mauern und der Mörtel brachen wie unter einem Schraubstock. Die Erde erzitterte, und Schreie erhoben sich von den Menschen, die zu Tieren wurden. Feuer trat aus der Erde und spaltete den Berg, auf dem Paranor ruhte, zerstörte schließlich das Schloß selbst. Wehklagen erfüllte die Luft, es war der Schrei eines seiner letzten Hoffnung Beraubten. Der alte Mann erkannte, daß es sein eigenes Wehklagen war, das er hörte.

Dann sah er nichts mehr. Er befand sich wieder vor dem Hadeshorn, im Schatten der Drachenzähne, ganz allein mit Allanon. Trotz der Erleichterung zitterte er.

Der Schatten deutete auf ihn. »All das, was du gesehen hast, wird Wirklichkeit, sollten die Träume keine Beach-tung finden. So wird es sein, wenn du nicht handelst. Du mußt helfen. Such sie auf – den Jungen, das Mädchen und den Dunklen Onkel. Erzähl ihnen, daß die Träume wahr sind. Bitte sie, mich in der ersten Nacht des neuen Mondes, wenn der Mondzyklus geschlossen ist, hier aufzusuchen. Dann werde ich mit ihnen sprechen.«

Der alte Mann zog die Stirn in Falten und murmelte vor sich hin, während sich seine Unterlippe sorgenvoll nach vorne schob. Seine Finger zogen noch einmal die Beutelschnur fest, bevor er den Beutel zurück in seinen Gürtel steckte. »Ich werde es tun, weil kein anderer dafür in Frage kommt«, sagte er schließlich und versuchte gar nicht, seinen Widerwillen zu verbergen. »Aber erwarte nicht…«

»Such sie nur auf. Das ist alles, was ich verlange. Das ist alles, worum ich dich bitte. Geh jetzt!«

Der Schatten Allanons schimmerte hell und verschwand. Das Licht verschwand, und das Tal war wieder leer. Der alte Mann stand da und blickte auf das ruhige Wasser des Sees, bevor er sich abwandte.

Als er zurückkehrte, brannte das Feuer, das er verlassen hatte, immer noch, doch es war jetzt weit heruntergebrannt und hob sich nur schwach gegen die Dunkelheit ab. Der alte Mann starrte gedankenverloren in die Flammen, um sich dann vor ihnen niederzukauern. Während er in der Asche herumstocherte, lauschte er der Stille seiner Gedanken.

Der Junge, das Mädchen und der Dunkle Onkel – er kannte sie. Sie, die Kinder von Shannara, konnten alle retten, sie konnten den Zauber wieder zum Leben erwecken. Er schüttelte sein ergrautes Haupt. Wie sollte es ihm gelingen, sie zu überzeugen? Wenn sie nicht einmal auf Allanon hörten, warum sollten sie dann auf ihn hören?

Noch einmal sah er im Geist die schrecklichen Visionen. Er wußte, daß er gut daran tat, einen Weg zu finden, um sich ihnen begreiflich zu machen. Er kannte ja die Kraft der Visionen – und dieses Wissen erfüllte ihn mit Stolz –, und die, die er gesehen hatte, entsprachen der Wahrheit, die sogar einer wie er, der den Druiden und ihrem Zauber abgeschworen hatte, erkennen konnte.

Falls die Kinder von Shannara nicht begriffen, würden diese Visionen Wirklichkeit werden.

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