22

Die Abenddämmerung brach an, als Walker Boh sich seinem Ziel näherte. Am frühen Morgen hatte er den Kamin in Richtung Norden verlassen und war ohne Eile gewandert, um genügend Zeit zu haben, über das nachzudenken, was er tun wollte. Die Sonne hatte, als er sich auf den Weg gemacht hatte, von einem klaren Himmel auf ihn heruntergeschienen, aber als sich der Tag dem Ende zuneigte, waren von Westen her Wolken aufgezogen. Das Land, das er durchwanderte, war zerklüftet, Bergkämme und steile Abhänge durchbrachen die Gleichförmigkeit des Waldes. Abgestorbenes Holz versperrte ihm wiederholt den Weg, und der in Fetzen über den Bäumen hängende Nebel schien dort gefangen.

Walker Boh hielt an. Er starrte von einer Anhöhe in ein schmales Tal hinunter, in dem ein winziger See, der Finsterweiher, ruhte. Der kaum sichtbare See war durch Kiefern und dichten Nebel, der gleich einem undurchdringlichen Teppich über der Wasserfläche schwebte, verdeckt.

Walker Boh machte sich auf den Weg ins Tal. Der Nebel hüllte ihn während seines Abstiegs fast vollständig ein. Er verscheuchte die Empfindungen, die ihn überkamen – die erdrückende Enge, das eingebildete Flüstern, die beunruhigende Leere –, und konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Luft um ihn herum wurde schnell kalt, eine Feuchtigkeit legte sich auf seine Haut, die nach Verwesung roch. Er fühlte die Augen des Finsterweihers auf sich gerichtet.

Cogline hatte ihn früh vor dem Finsterweiher gewarnt. Der Finsterweiher war der Geist, der in dem See zu seinen Füßen hauste, älter als die Vier Länder. Sein Ursprung reichte angeblich zurück bis in die Zeit vor den Großen Kriegen. Er rühmte sich damit, daß er bereits im Zeitalter der Feen gelebt hatte. Wie alle anderen Geister hatte auch er die Fähigkeit, Geheimnisse vorauszusagen, die den Sterblichen verborgen blieben. Er war im Besitz von Magie. Trotzdem war er ein boshaftes Wesen, das aus Gründen, die keiner kannte, in seiner Welt für alle Ewigkeit gefangen war. Er konnte nicht sterben und haßte das körperlose, leere Dasein, dem er nicht entfliehen konnte. Er ließ seine Laune an den Menschen aus, die ihn aufsuchten, um mit ihm zu sprechen, foppte sie mit Rätseln, die sie zu lösen suchten, verspottete sie mit ihrer Sterblichkeit und konfrontierte sie mehr mit dem, was sie zu verbergen suchten, als mit dem, was sie preisgaben.

Brin Ohmsford war vor dreihundert Jahren zum Finsterweiher gekommen, um von dort aus zum Maelmord zu gelangen, wo sie dem Ildatch zu begegnen hoffte. Der Geist spielte so lange mit ihr, bis sie das Wunschlied einsetzte, um ihn zu überlisten und auf diese Weise zu zwingen, das, was sie wissen wollte, preiszugeben. Der Geist hatte diese Begebenheit nie vergessen; es war das einzige Mal, daß er auf einen Menschen hereingefallen war. Walker Boh hatte die Geschichte während seiner Kindheit mehr als einmal gehört. Aber erst als er sich am Kamin niedergelassen und dem Erbe der Ohmsfords abgeschworen hatte, hatte er entdeckt, daß der Finsterweiher auf ihn wartete. Auch wenn Brin Ohmsford längst gestorben war, war der Finsterweiher immer noch am Leben und mehr denn je entschlossen, irgend jemand für seine Erniedrigung bezahlen zu lassen.

Cogline hatte Walker Boh geraten, sich von dem Finsterweiher fernzuhalten. Dieser werde, sofern sich ihm Gelegenheit bot, für seine Vernichtung sorgen. Seine Eltern hatten den gleichen Rat erhalten, und sie hatten ihn befolgt. Aber Walker Boh hatte einen Punkt im Leben erreicht, an dem er sich nicht länger für das, was er war, entschuldigen wollte. Er war in den Wildewald gekommen, um seinem Erbe zu entfliehen; er hatte nicht die Absicht, während seines übrigen Lebens darüber zu rätseln, ob irgend etwas oder irgend jemand ihn zugrunde richten konnte. Er hielt es für besser, sich sofort mit dem Geist zu beschäftigen. Er machte sich also auf die Suche nach dem Finsterweiher. Da der Geist sich nie mehr als einem Menschen zeigte, war Cogline gezwungen, Walker Boh allein gehen zu lassen. Die Begegnung mit dem Finsterweiher dauerte fast sechs Stunden. Als sie aufeinandertrafen, überfiel ihn der Finsterweiher mit jeder nur vorstellbaren List, die ihm zur Verfügung stand, indem er ihm wahre und falsche Geheimnisse über seine Gegenwart und Zukunft auftischte, indem er ihn mit rhetorischen Ausführungen überhäufte, die ihn um seinen Verstand bringen sollten, indem er ihm Bilder seiner selbst und derer, die er liebte, vorgaukelte, die gehässig und zerstörerisch waren. Walker Boh widerstand alldem. Als der Geist erschöpft war, verfluchte er Walker Boh und verschwand im Nebel.

Walker Boh kehrte in dem Gefühl zum Kamin zurück, daß diese Angelegenheit erledigt sei. Er kümmerte sich nicht mehr um den Finsterweiher, und der Finsterweiher kümmerte sich nicht mehr um ihn.

Erst heute kehrte Walker Boh an diesen Ort zurück.

Er seufzte. Dieses Mal würde es schwieriger werden, denn er wollte etwas vom Finsterweiher. Er hätte versuchen können, ihn zu täuschen. Er konnte die Wahrheit über den Grund seines Besuchs verschweigen, daß er nämlich erfahren wollte, wo sich der geheimnisvolle schwarze Elfenstein befand. Er konnte über dies und jenes reden, aber es war unwahrscheinlich, daß er dadurch etwas bewirkte. Irgendwie erriet der Finsterweiher die Beweggründe seiner Besucher jedesmal.

Walker Boh setzte seinen Weg fort, während das Tageslicht schwächer wurde und die Dunkelheit ihn umfing. Er zog seinen Mantel fester um sich, während er sich seine Worte für den Finsterweiher zurechtlegte, die Gründe, die er vorbringen wollte, die Spiele, die er, wenn nötig, spielen würde. Er ging im stillen noch einmal die Ereignisse in seinem Leben durch, die sich der Geist wahrscheinlich zunutze machen würde – bei den meisten handelte es sich um solche aus seiner Jugend, als er von seiner inneren Zerrissenheit und Unsicherheit geplagt wurde.

»Dunkler Onkel«, so hatten sie ihn schon damals genannt, die Spielgefährten von Par und Coll, deren Eltern und andere Menschen aus dem Dorf Shady Vale. Als dunkel bezeichneten sie das Leben und das Wesen dieses blassen, in sich zurückgezogenen jungen Mannes, der manchmal Gedanken lesen konnte, der Dinge, die geschahen, vorhersagen und sie sogar heraufbeschwören konnte, der vieles, das den anderen verborgen blieb, wußte Par und Colls seltsamer Onkel, der ohne eigene Eltern aufwuchs, der keine eigene Familie hatte, der ohne eine Vergangenheit lebte, die er mit anderen hätte teilen wollen. Selbst der Name Ohmsford schien nicht zu ihm zu passen. Er war immer der »Dunkle Onkel«, mehr nach Wissen als nach Jahren älter als alle anderen. Es war kein Wissen, das er gelernt hatte; es war ein Wissen, mit dem er geboren wurde.

Vor ihm lichteten sich die Bäume so unvermittelt, daß er erschrak. Er stand am Rand des Sees, dessen felsige Ufer sich zu beiden Seiten in den Nebeln verloren, dessen Wasser nur leise plätscherte. Walker Boh richtete sich auf. Seine Sinne schärften sich, seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich, seine Gedanken wurden klar.

Während er wartete, glich er einer einsamen Statue.

Dann erhaschte er eine Bewegung im Nebel, aber sie ging von mehr als einer Stelle aus und war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Irgendwo weit weg, über dem Nebel, der den See einhüllte, jenseits der Bergkämme, die das schmale Tal umschlossen, flüsterte eine Stimme in einen leeren Himmel: »Dunkler Onkel.«

Walker hörte die Worte, täuschend nah und gleichzeitig nirgendwo, nicht aus seinem Kopf oder von einem anderen feststellbaren Ort, und trotzdem waren sie da. Er antwortete nicht. Er wartete einfach.

Dann begannen die vereinzelt auftretenden Bewegungen, die nur wenige Augenblicke vorher den Nebel durchbrochen hatten, sich an einem Punkt zu versammeln, formten eine farblose Gestalt, die auf dem Wasser stand und jetzt langsam näher kam. Ihre Umrisse wurden immer deutlicher; sie schien zu wachsen, bis sie größer war als jede menschliche Gestalt, und erhob sich, als wolle sie alles, was ihr im Weg stand, zertreten. Walker Boh rührte sich nicht. Die Gestalt verwandelte sich in einen Schatten, und der Schatten verwandelte sich in einen Menschen…

Walker Boh beobachtete regungslos, wie der Finsterweiher vor ihm stand, jetzt sein Gesicht aus dem Schatten hob und die Identität enthüllte, für die er sich entschieden hatte.

»Bist du gekommen, um meine Forderung anzunehmen, Walker Boh?« fragte er.

Walker Boh war überrascht. Das dunkle, sich drohend auftürmende Antlitz von Allanon starrte auf ihn herab. Zwischen den Mauern des Lagerhauses herrschte eine erwartungsvolle Stille, als sich sechs Paar Augen gespannt auf Padishar Creel richteten.

Er hatte eben angekündigt, daß sie noch einmal in die Schlucht zurückkehren würden. »Wir werden dieses Mal anders vorgehen«, erklärte er ihnen, während sein knochiges Gesicht vor Entschlossenheit strotzte, als könne er sie allein damit von seinem Vorhaben überzeugen. »Wir werden uns diesmal nicht mit Strickleitern durch den Park schleichen. Es gibt einen Eingang zum Park im Keller des Wachhauses. Und auf diese Weise kommen wir hinein. Wir gehen in das Wachhaus hinein, hinunter in die Schlucht und wieder heraus, noch bevor es einer merkt.«

Par riskierte einen Blick auf die anderen. Coll, Morgan, Damson Rhee, die Geächteten Stasas und Drutt – auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck von Unglauben und Hochachtung. Das, was der Anführer der Geächteten vorschlug, war schlichtweg ungeheuerlich, die Chance, damit durchzukommen, mehr als gering. Keiner versuchte ihn zu unterbrechen. Alle warteten gespannt auf die Einzelheiten des Plans.

»Die Wachen des Wachhauses werden zweimal täglich abgelöst – einmal bei Sonnenaufgang, einmal bei Sonnenuntergang. Zwei Schichten zu je sechs Mann. Jede Schicht wird einmal in der Woche ausgewechselt, aber an jeweils anderen Tagen. Heute ist einer dieser Tage. Die Tagwachen werden heute kurz nach Sonnenuntergang ausgewechselt. Ich weiß es; ich habe nichts unversucht gelassen, es herauszufinden. Heute wird ein paar Stunden vor der Ablösung der Wache zudem ein besonderes Reinigungskommando eintreffen, weil vor der Wachablösung am Abend eine Inspizierung der Quartiere stattfinden soll; der Kommandant des Wachhauses will, daß die Quartiere makellos aussehen. Die Tagwachen werden das Reinigungskommando ungehindert passieren lassen.« Er schwieg kurz. »Das besagte Reinigungskommando, das sind natürlich wir. Sind wir erst einmal drin, kümmern wir uns als erstes um die Nachtwache. Wenn wir nicht allzu viel Lärm machen, wird die Tagwache überhaupt nicht merken, was gespielt wird. Sie werden ihre Runden fortsetzen und damit sogar einen Teil unserer Arbeit erledigen, indem sie niemand hereinlassen. Von innen verriegeln wir für alle Fälle die Tür. Dann begeben wir uns über die Treppe des Wachhauses in den Keller und hinaus in die Schlucht. Draußen sollte es dann noch immer hell genug sein, damit wir das, was wir suchen, ziemlich rasch finden. Sobald wir es haben, gehen wir die Treppe wieder hinauf und verschwinden so, wie wir gekommen sind.«

Einen Augenblick sprach niemand. Dann sagte Drutt mit rauher Stimme: »Man wird uns erkennen, Padishar. Wir werden bestimmt einigen von den Soldaten über den Weg laufen, die uns von unserem letzten Besuch kennen.«

Padishar Creel schüttelte den Kopf. »Vor drei Tagen wurden die Wachen ausgetauscht. Die Wachen, die dort waren, als wir gefangengenommen worden sind, sind nicht mehr da.«

»Und was ist mit dem Kommandanten?«

»Er kommt erst Anfang der nächsten Woche zurück. Wir haben es nur mit dem wachhabenden Offizier zu tun.«

»Wir brauchen Föderationsuniformen.«

»Die haben wir. Ich habe sie gestern besorgt.«

Drutt und Stasas warfen sich vielsagende Blicke zu. »Du hast alles seit langem vorbereitet, stimmt’s?« fragte letzterer.

Der Anführer der Geächteten lachte leise. »Seit dem Augenblick, als wir die Zellen verlassen haben.«

Morgan, der neben Par auf einer Bank saß, stand auf. »Wenn irgend etwas schief geht und sie unser Vorhaben entdecken, werden sie überall sein. Und dann sitzen wir in der Falle, Padishar.«

Der große Mann schüttelte den Kopf. »Nein, werden wir nicht. Zusätzlich zu unseren Reinigungsgeräten nehmen wir Greifhaken und Seile mit. Wenn wir nicht auf dem gleichen Weg wieder hinauskommen, verlassen wir die Schlucht mit Hilfe dieser Geräte. Die Föderationssoldaten werden darauf warten, daß wir durch den Wachhauseingang verschwinden. Sie werden gar nicht auf die Idee kommen, daß wir die Schlucht auf einem anderen Weg verlassen könnten.«

Ein langes Schweigen trat ein.

»Nun, wie steht ihr dazu?« Padishar Creels Geduld neigte sich dem Ende zu. »Zeit ist unser kostbarstes Gut. Wir wissen, daß wir ein Risiko eingehen, aber das liegt in der Natur der Sache. Ich möchte eine Entscheidung. Wollt ihr es versuchen oder nicht? Wer sagt ja? Wer ist auf meiner Seite?«

Par spürte, wie die Stille unerträglich wurde. Coll und Morgan waren neben ihm zu Statuen erstarrt. Stasas und Drutt hatten die Augen auf den Fußboden gerichtet. Damson Rhee und Padishar Creel sahen einander an.

Par erkannte, daß niemand etwas sagen wollte, sondern alle auf ihn warteten. Zu seiner eigenen Überraschung, und ohne daß er darüber nachdenken mußte, sagte er: »Ich bin dabei.«

»Hast du den Verstand verloren?« flüsterte Coll in sein Ohr.

Stasas und Drutt zogen einen Augenblick Padishar Creels Aufmerksamkeit auf sich, als auch sie erklärten, mit von der Partie zu sein.

»Par, das war unsere Chance, aus der Sache rauszukommen!« murmelte Coll.

»Er tut es für mich, verstehst du das nicht? Ich bin es schließlich, der das Schwert von Shannara sucht. Ich kann nicht zulassen, daß Padishar das Risiko ganz allein trägt. Ich muß mit ihm gehen!«

Hilflos schüttelte Coll den Kopf. Morgan zwinkerte Par über Colls Schulter hinweg zu und hob seine Hand, um sein Einverständnis zu erklären. Coll tat dies ebenfalls.

Nur noch Damson Rhee war übrig. Padishar Creel hatte seinen Blick auf sie geheftet und wartete. Plötzlich kam Par der Gedanke, daß Padishar Creel überhaupt nicht hätte fragen müssen, ob sie mit ihm gehen wollten; er hätte es ihnen einfach befehlen können. Vielleicht wollte er sie mit der Frage auch nur auf die Probe stellen. Der Verräter war immer noch nicht gefunden.

»Ich werde im Park auf euch warten«, sagte Damson Rhee. Aller Augen waren jetzt auf sie gerichtet. Sie schien es nicht zu bemerken. »Ich müßte mich als Mann verkleiden, wenn ich euch begleiten wollte. Das wäre noch ein Risiko, das ihr eingehen müßtet – und wozu? Meine Anwesenheit würde euch nichts nützen. Wenn es Schwierigkeiten gibt, kann ich euch draußen sehr viel mehr nützen.«

Padishar Creels Lächeln war entwaffnend. »Deine Gründe sind wie immer stichhaltig, Damson. Du wirst im Park auf uns warten.«

Par schien es, als käme seine Zustimmung etwas zu schnell. Wasserfontänen schossen in die Höhe und ergossen sich auf die graue Oberfläche des Sees; die Tropfen, die auf Walker Bohs Haut fielen, fühlten sich wie Eis an.

»Erzähl mir, warum du gekommen bist, Dunkler Onkel«, flüsterte der Geist Allanons.

»Ich sage dir gar nichts«, erwiderte Walker Boh. »Du bist nicht Allanon. Du bist nur der Finsterweiher.«

Allanons Antlitz leuchtete und entschwand im Halbdunkel, verwandelte sich dann in das Walker Bohs. Der Finsterweiher stieß ein hohles Lachen aus. »Ich bin du, Walker Boh. Nicht mehr und nicht weniger. Erkennst du dich selbst?« Sein Gesicht machte blitzartige Verwandlungen durch – Walker Boh als Kind, als Knabe, als Jugendlicher, als Mann.

Die Bilder kamen und verschwanden so schnell, daß Walker Boh sie kaum wahrnahm. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. »Wirst du mit mir reden, Finsterweiher?« fragte er.

»Wirst du mit dir selber sprechen?« lautete die Antwort.

Walker atmete tief ein. »Das werde ich. Aber welchen Sinn soll das haben? Es gibt nichts, worüber ich mit mir selbst reden könnte. Ich kenne bereits alle meine Antworten.«

»Ha, ha, genau wie ich, Walker. Genau wie ich.«

Der Finsterweiher schrumpfte zusammen, bis er so groß war wie Walker Boh. Er verspottete diesen mit seinem eigenen Gesicht und gab ihm einen verkommenen Anschein, als wolle er ihm damit die Sinnlosigkeit seines Lebens vor Augen führen. »Ich weiß, warum du gekommen bist«, erklärte er. »Ich kenne die geheimsten deiner Gedanken, die du dir nicht einmal selbst eingestehen willst. Wir brauchen keine Spiele zu spielen, Walker Boh. Du bist mir darin sicherlich gewachsen, und ich verspüre kein Verlangen, mich noch einmal auf einen Kampf mit dir einzulassen. Du bist gekommen, weil du wissen willst, wo du den schwarzen Elfenstein finden kannst. Nun gut! Ich werde es dir sagen.«

Auf der Stelle wurde Walker Boh mißtrauisch. Der Finsterweiher machte niemals Zugeständnisse ohne Hintergedanken. Er nickte, ohne etwas zu erwidern.

»Du scheinst sehr traurig zu sein, Walker«, beschwichtigte ihn der Geist. »Kein Jubel über meine Ergebenheit, keine Begeisterung darüber, daß du das, was du haben willst, bekommst? Ist es denn so schwierig zuzugeben, daß du Stolz und Standhaftigkeit aufgegeben hast, daß du dich wieder einmal von Druiden hast einfangen lassen?«

Walker Boh versteifte sich unwillkürlich. »Du verstehst die Dinge falsch, Finsterweiher. Nichts ist entschieden.«

»Aber ja, Dunkler Onkel! Alles ist entschieden! Laß dich nicht täuschen. Du bist den Worten des Druiden verfallen. Das Vermächtnis, das er Brin Ohmsford hinterlassen hat, wird zu dem deinen, ob du es willst oder nicht.«

»Dann erzähl mir von dem schwarzen Elfenstein«, lockte Walker Boh.

»Alles zu seiner Zeit! Du mußt Geduld haben.«

Die Worte verhallten in der Stille; der Finsterweiher bewegte sich hinter dem ihn umgebenden Nebelschleier. Das Tageslicht war der Dunkelheit gewichen, der Mond und die Sterne wurden vom dichten Nebel des Tales verhüllt. Trotzdem war Walker Boh von Licht umgeben, einem trüben Glühen, das boshaft durch die Nacht zog.

»Du hast dir so viel Mühe gegeben, den Druiden zu entkommen«, sagte der Finsterweiher milde. »Welche Torheit!« Walker Bohs Gesicht löste sich auf, und an seiner Stelle erschien das Gesicht seines Vaters. Dieser sprach: »Erinnerst du dich, Walker? Wir sind die Bewahrer des Vermächtnisses von Allanon. Er hat es Brin Ohmsford auf dem Totenbett übergeben, damit es von einer Generation zur anderen weitergegeben wird, so lange, bis es gebraucht wird, irgendwann in ferner, ferner Zukunft…« Das Antlitz seines Vaters blickte ihn boshaft an. »Vielleicht jetzt?«

Bilder wurden über ihm lebendig, feingewoben wie ein Wandteppich. Er sah eines nach dem anderen, in leuchtenden Farben, erfüllt mit der Tiefe des wirklichen Lebens.

Bestürzt trat Walker Boh einen Schritt zurück. Er erkannte sich selbst. Zorn und Trotz sprachen aus seinem Gesicht; seine Füße standen auf Wolken, die auf den gekrümmten Gestalten Pars, Wrens und der anderen Mitglieder der kleinen Gruppe lagen, die sich am Hadeshorn zusammengefunden hatten, um mit dem Geist von Allanon zu sprechen. Donner rollte aus der Dunkelheit und verhallte im Himmel, der sich über ihm erstreckte, und Blitze fuhren zuckend auf ihn nieder. Walker Bohs Stimme glich einem Zischen; die Worte, wenngleich seine eigenen, schienen wie aus der Erinnerung gesprochen. »Ich würde mir lieber die Hand abhacken als die Druiden zu neuem Leben erwecken!« Als er jetzt seinen Arm hob, sah er, daß seine Hand tatsächlich fehlte.

Das Bild wurde undeutlich; ein anderes entstand. Er sah sich wieder, dieses Mal auf einem hohen Bergkamm, der für alle Ewigkeiten dazustehen schien. Die ganze Welt breitete sich vor ihm aus, die Nationen und die Rassen, die Geschöpfe zu Land und zu Wasser. Der Wind peitschte gegen seine schwarzen Gewänder. Er sah ein Mädchen neben sich. Sie war zugleich Frau und Kind, ein magisches Wesen, ein Geschöpf von überirdischer Schönheit. Sie überwältigte ihn durch die Stärke ihres Blickes aus den abgrundtiefen schwarzen Augen, von denen er sich nicht abwenden konnte. Ihr langes silbernes Haar umhüllte ihr Haupt mit einem Leuchten. Sie streckte die Hand nach ihm aus, suchte bei ihm Halt, um ihr Gleichgewicht auf dem tückischen Felsen nicht zu verlieren – und er stieß sie mit Gewalt von sich weg. Sie stürzte in die Finsternis hinunter; lautlos entschwand sie seinem Blick, das silberne Haar wurde zu einem leuchtenden Band und löste sich dann in nichts auf.

Er sah sich selbst ein drittes Mal, diesmal in einer Burg, die bar allen Lebens war. Der Tod verfolgte ihn unbarmherzig, kroch durch Wände und Gänge, kalte Finger suchten tastend nach Spuren seines Lebens. Er wollte davonlaufen, wußte, daß er es tun mußte, wenn er überleben wollte – doch er konnte es nicht. Unbeweglich stand er da, ließ zu, daß der Tod sich ihm näherte, seine Hand nach ihm ausstreckte, ihn berührte. Als sein Leben endete, erfüllte ihn Kälte, und er sah, daß eine schwarzgekleidete Gestalt hinter ihm stand, ihn festhielt, ihn daran hinderte zu fliehen. Die Gestalt hatte das Gesicht Allanons.

Die Vision verschwand, die Farben verblaßten. Der Finsterweiher ließ seinen verhüllten Arm langsam nach unten sinken, und der See zischte auf. Walker Boh wich vor der Wucht des Wasserstrahls, der auf ihn niederging, zurück.

»Was meinst du, Dunkler Onkel?« flüsterte der Finsterweiher, der wieder die Gestalt Walker Bohs angenommen hatte.

»Daß du immer noch Spielchen spielst«, sagte Walker Boh leise. »Daß du mir Lügen und Halbwahrheiten zeigst, um mich zu verhöhnen. Daß du mir nichts über den schwarzen Elfenstein gesagt hast.«

»Habe ich das nicht?« Der Finsterweiher leuchtete geheimnisvoll. »Glaubst du, es ist alles nur ein Spiel? Nur Lügen und Halbwahrheiten?« Sein Lachen war freudlos. »Denk, was du willst, Walker Boh. Aber ich sehe eine Zukunft, die du nicht siehst. Ich bin du, ich erzähle dir, wer und was du bist – so wie ich es mit allen mache, die mich aufsuchen.«

Walker Boh schüttelte den Kopf. »Nein, Finsterweiher, du kannst niemals ich sein. Du kannst niemals ein anderer sein als der, der du bist – ein Geist ohne ein Sein, ohne einen Körper, verbannt in dieses kleine Gewässer für alle Ewigkeit. Nichts, was du tust, kein Spiel, das du spielst, kann daran etwas ändern.«

Der Finsterweiher ließ einen Wasserstrahl zischend gen Himmel fahren, Zorn sprach aus seiner Stimme. »Dann geh, Dunkler Onkel!« Das Antlitz Walker Bohs verwandelte sich in einen Totenschädel. »Du glaubst, daß mein Schicksal nichts mit deinem zu tun hat? Hüte dich! Du trägst mehr von mir in dir, als du wahrscheinlich erfahren möchtest!« Gewänder breiteten sich aus und warfen düsteres Licht in den Nebel. »Hör mich an, Walker! Du verlangst Auskunft über den schwarzen Elfenstein? Dann hör mir zu! Eine Dunkelheit umgibt ihn, eine Finsternis, die kein Licht durchdringen kann, wo Augen einen Mann in Stein verwandeln und Stimmen ihn in den Wahnsinn treiben. Dahinter, wo nur die Toten liegen, befindet sich ein Behälter, der mit Runen verziert ist, den Zeichen der Vergänglichkeit. In diesem Behälter liegt der Stein.«

Der Totenkopf löste sich in nichts auf, und nur die Gewänder blieben zurück, hingen lose im Nebel. »Ich habe dir gegeben, wonach du verlangt hast, Dunkler Onkel«, flüsterte der Geist mit ekelerfüllter Stimme. »Ich habe es getan, weil das Geschenk dich zerstören wird. Stirb, damit dein verfluchtes Geschlecht mit dir als dem Letzten ein Ende findet! Wie ich mich danach sehne! Geh jetzt! Verlaß mich! Ich wünsche dir eine geschwinde Reise ins Verderben!«

Der Finsterweiher verschwand im Nebel. Dunkelheit umhüllte den See und seine Ufer, und Walker Boh war einen Augenblick blind. Er rührte sich nicht von der Stelle, sondern wartete darauf, wieder sehen zu können, während er die kalte Berührung des Nebels spürte, der über seine Haut streifte. Das Lachen des Finsterweihers hallte in seinem Geist nach.

Als sein Sehvermögen zurückkehrte und er die Umrisse der Bäume hinter sich wieder erkennen konnte, wandte er sich vom See ab, schlug den Mantel eng um sich und stapfte davon.

Загрузка...