21

Die Geschichte der Druiden wurde für Walker Boh zur Herausforderung, die er zu meistern entschlossen war. Drei volle Tage nach Coglines Weggehen kümmerte sich Walker Boh nicht um das Buch. Er ließ es auf dem Eßtisch liegen, zusammen mit dem Öltuch und der Schnur. Er verschmähte es, ging seiner Arbeit nach, als wäre es nicht vorhanden, prüfte seine Kraft, der Versuchung zu widerstehen. Zuerst hatte er mit dem Gedanken gespielt, es sich unverzüglich vom Hals zu schaffen, hatte dann aber anders entschieden. Wenn er der Versuchung eine Zeitlang widerstehen konnte, wenn er in ihrer Gegenwart leben konnte, ohne seiner Neugier nachzugeben, dann konnte er sich ihrer mit einem reinen Gewissen entledigen. Cogline rechnete damit, daß er das Buch entweder sofort lesen oder sich seiner sofort entledigen werde. Er würde weder das eine noch das andere tun. Der alte Mann sollte keine Genugtuung darüber verspüren, daß er Walker Boh manipulieren konnte.

Der einzige, der dem Paket Aufmerksamkeit schenkte, war Ondit, der es von Zeit zu Zeit beschnupperte, es aber ansonsten links liegen ließ. Die drei Tage vergingen, und das Buch lag immer noch ungeöffnet auf dem Tisch.

Aber dann ereignete sich etwas Eigenartiges. Am vierten Tag fing Walker an, seine Überlegungen in Frage zu stellen. Hatte es wirklich so viel mehr Sinn, sich des Buches erst nach einer Woche oder gar einem Monat zu entledigen? Was bewies er damit außer eine Art Starrköpfigkeit? Welche Art von Spiel spielte er, und zu wessen Gunsten spielte er es?

Walker Boh brütete über der Angelegenheit, während das Tageslicht immer schwächer wurde und die Dunkelheit heraufzog. Er starrte das Buch am Ende des Raumes lange an, während das Holz im Herd langsam zu Asche verbrannte. »Ich bin überhaupt nicht stark«, flüsterte er. »Ich habe vielmehr Angst.« Schließlich stand er auf, durchquerte den Raum und blieb vor dem Tisch stehen. Einen Augenblick zögerte er. Dann streckte er die Hand aus und ergriff das Buch. Abschätzend hob er es hoch.

Es war besser, den Dämon, der einen verfolgte, zu kennen als weiterhin in der Ungewißheit zu leben.

Er ging zu seinem Lesestuhl, setzte sich und legte das Buch auf seinen Schoß. Ondit, der vor dem Feuer schlief, hob den Kopf und starrte Walker Boh an. Walker Boh starrte zurück. Die Katze blinzelte und legte sich wieder schlafen.

Walker Boh schlug das Buch auf. Er las langsam, arbeitete sich bedächtig durch seine dicken Pergamentseiten, weil er jetzt, da das Buch einmal geöffnet war, nichts, aber auch gar nichts auslassen wollte. Die mitternächtliche Stille wurde nur von gelegentlichen Lauten der schlafenden Moorkatze und dem Knacken des Feuers unterbrochen. Nur ein einziges Mal fragte er sich, wie Cogline wirklich in den Besitz des Buches gekommen war – ganz sicherlich hatte er es nicht aus Paranor –, und dann war der Gedanke schnell wieder verschwunden, denn die geschriebene Geschichte fing ihn ein und riß ihn mit, als wäre er ein Blatt im Wind.

Die Zeit, die aufgezeichnet war, war die Zeit Bremens, als er sich unter den letzten Druiden aufgehalten hatte, als der Dämonenlord und seine Horden fast alle Mitglie­ der des Rates vernichtet hatten. Er las Geschichten über die schwarze Magie, die die rebellischen Druiden in Schreckensgestalten verwandelt hatte. Das Buch enthielt Aufzeichnungen über die verschiedenen Zauber- und Beschwörungsformeln, die Bremen entdeckt hatte. Alle furchtbaren Geheimnisse der Magie und ihrer Macht wurden beschrieben, genauso jedoch die Vorsichtsmaßnahmen im Umgang damit, die so mancher, der der Magie Herr werden wollte, außer Acht gelassen hatte. Es handelte sich um die Zeit des Umbruchs und der schrecklichen Veränderungen in den Vier Ländern, und Bremen allein war sich darüber im klaren gewesen, was auf dem Spiel stand.

Walker Boh blätterte weiter. Cogline hatte ihm das Buch in der Absicht gegeben, daß er etwas ganz Bestimmtes lese. Was immer das war, er war noch nicht darauf gestoßen. Er hatte seinen Vorsatz vergessen, sich nicht in Coglines Falle zu begeben. Doch seine Neugier und sein Verstand besiegten seine Vorsicht. Das Buch enthielt Geheimnisse, die seit Hunderten von Jahren kein Mensch mehr zu Gesicht bekommen hatte, ein Wissen, das nur den Druiden zur Verfügung stand und das sie nur dann, wenn sie es für notwendig hielten, mit den Rassen teilten. Welche Macht! Wie lange schon war all das vor den Augen der Sterblichen verborgen gewesen? Nur Allanon hatte das Recht gehabt und davor Bremen und vor ihm Galaphile und die ersten Druiden. Und vor ihnen?

Er hielt inne, weil er bemerkte, daß der Stil des Geschriebenen sich verändert hatte. Die Schrift wurde kleiner, aber genauer. Zwischen den Wörtern bemerkte er seltsame Zeichen, Runen, die Gebärden darstellten.

Walker Boh fühlte sein Blut in den Adern gefrieren. Himmel, dachte er, es handelt sich um die Beschwörungsformel, durch deren Anwendung Paranor verschwunden war.

Sein Atem ging schwer, als er sich zwang, seine Augen von dem Buch abzuwenden. Sein blasses Gesicht straffte sich. Das war es also, was Cogline ihm mitteilen wollte – warum, wußte er nicht –, aber das war es ganz sicher. Jetzt, da er es gefunden hatte, fragte er sich, ob es nicht klüger wäre, das Buch sofort zu schließen. Doch er wußte, daß nur seine Furcht ihn zu dieser Frage verleitete.

Wieder begann er zu lesen. Der Zauber war da, die Magie, die Allanon vor dreihundert Jahren benutzt hatte, um Paranor aus der Welt der Sterblichen verschwinden zu lassen. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß er sie verstand. Er beendete die Lektüre der Beschreibung des Zaubers und blätterte um.

Die nächste Seite enthielt nur einen einzigen Absatz. Er lautete: »Einmal entschwunden, ist Paranor der Welt der Sterblichen für alle Zeiten verloren, eingeschlossen und unsichtbar innerhalb seiner Mauern. Eine einzige Magie hat die Macht, es zurückzubringen – der Elfenstein, der schwarz gefärbt ist, der vom Feenvolk der alten Welt mit Leben erfüllt wurde und der alle notwendigen Eigenschaften des Herzens, des Verstandes und des Körpers in sich vereinigt. Derjenige, der ein Anliegen und ein Recht hat, soll ihn seinem Ende entgegenführen.«

Das war alles. Walker Boh las es ein zweites Mal, langsam und in der Absicht, auf vielleicht Übersehenes zu stoßen. Es gab für ihn keinen Zweifel daran, daß es das war, worauf Cogline ihn stoßen wollte. Einen schwarzen Elfenstein. Eine Magie, die das verschwundene Paranor erretten konnte. Den Schlüssel zur Bewältigung der Auf­ gabe, die der Geist Allanons ihm aufgetragen hatte.

»Erwecke Paranor und die Druiden zu neuem Leben.« Er hörte die Worte noch einmal im Geist.

Natürlich gab es keine Druiden mehr. Aber vielleicht war es Allanons Absicht, daß Cogline ihre Stelle einnahm, sobald Paranor ins Leben zurückgerufen wurde. Dieser Gedanke entbehrte nicht einer gewissen Logik, obwohl der alte Mann darauf beharrte, daß seine Zeit vorbei sei. Aber Walker Boh war klug genug zu wissen, daß dort, wo Druiden und ihre Magie im Spiel waren, die Logik oftmals verschlungene Wege ging.

Er hatte zwei Drittel des Buches gelesen. Es dauerte eine weitere Stunde, bis er am Ende angelangt war, ohne auf etwas zu stoßen, das für ihn bestimmt war, und er blätterte deshalb zurück zu dem Absatz über den schwarzen Elfenstein. Im Osten nahte die Morgendämmerung, ein schwaches, goldenes Licht am dunklen Horizont. Walker Boh rieb sich die Augen und versuchte klar zu denken. Warum wurden der Zweck und die Merkmale der Magie nur in so kurzen Worten beschrieben? Wie sah sie aus, und wozu war sie fähig? Es handelte sich um einen einzigen Stein und nicht um drei – warum? Wie konnte es sein, daß noch nie jemand davon gehört hatte?

Die Fragen schwirrten durch seinen Kopf. Er las den Absatz wieder und wieder, las ihn so oft, bis er ihn auswendig konnte, und schloß das Buch. Ondit, der noch immer vor ihm auf dem Boden lag, reckte sich und gähnte, hob den Kopf und blinzelte.

Sprich mit mir, Katze, dachte Walker Boh. Es gibt Geheimnisse, die nur eine Katze kennt. Vielleicht kennst du auch dieses.

Aber Ondit stand nur auf, ging nach draußen und ver­ schwand in der Dämmerung.

Jetzt überfiel Walker der Schlaf, aus dem er erst am Mittag erwachte. Er stand auf, badete, legte saubere Kleider an und aß dann langsam etwas, während er das geschlossene Buch anstarrte. Später machte er einen langen Spaziergang. Er durchwanderte das Tal, bis er auf eine seiner Lieblingslichtungen stieß, wo ein kleiner Bach geräuschvoll dahinplätscherte und sich in einen kleinen See ergoß, in dem winzige rote und blaue Fische umherschwammen. Dort verweilte er eine Zeitlang und dachte nach, bevor er zur Hütte zurückkehrte. Er saß auf der Veranda und beobachtete die Sonne, die sich am rot- und lilagefärbten Himmel gen Westen wandte.

Ich hätte das Buch nie öffnen sollen, schalt er sich, denn das Geheimnis hatte sich als unwiderstehlich erwiesen. Ich hätte es wieder einpacken und in das tiefste Loch werfen sollen, das es gibt.

Aber dazu war es jetzt zu spät. Er hatte es gelesen und war auf ein Wissen gestoßen, das nicht so leicht zu vergessen war. Er hatte es für unmöglich gehalten, daß Paranor zu neuem Leben erweckt werden konnte. Jetzt wußte er, daß es eine Magie gab, die genau dazu in der Lage war. Wieder einmal beschlich ihn das Gefühl der Unvermeidlichkeit der Dinge, die die Druiden prophezeiten.

Er ertappte sich dabei, daß er an den schwarzen Elfenstein dachte, selbst wenn er versuchte, nicht daran zu denken. Der schwarze Elfenstein, die vergessene Magie, befand sich an irgendeinem Ort. Wo war er?

Dies und all die anderen Fragen bestürmten ihn im Lauf des Abends. Er nahm sein Abendessen zu sich, ging danach wieder spazieren, las in einigen der ihm teuren eigenen Bücher, schrieb kurze Zeit in seinem Tagebuch und dachte immer wieder über den Absatz über die Magie nach, die Paranor zu neuem Leben erwecken sollte.

Der Gedanke daran ließ ihn auch nicht los, als er sich zu Bett legte.

Er fiel in einen unruhigen Schlaf. Das Geheimnis des schwarzen Elfensteins übte einen Reiz auf ihn aus, dem er nicht entging. Als der Morgen anbrach, beschloß er, etwas zu unternehmen. Es waren fünf Tage vergangen, seit Damson Rhee und Par Coll, Morgan, Padishar Creel und die anderen beiden Geächteten aus den Zellen des Föderationsgefängnisses befreit hatten; seitdem war die kleine Gruppe nur auf der Flucht gewesen. Sie hatten erst gar nicht versucht, die Stadt zu verlassen, weil sie sicher waren, daß die Tore scharf bewacht wurden und das Risiko der Entdeckung zu groß war. Sie waren auch nicht in den Keller der Waffenschmiede zurückgekehrt, weil sie das Gefühl nicht loswurden, daß ihr geheimnisvoller Verräter damit zu tun haben könnte. Statt dessen waren sie von einem Zufluchtsort zum anderen geeilt, waren nie länger als eine Nacht an ein und demselben Ort geblieben, hatten überall Wachen aufgestellt und waren durch jedes Geräusch, das ihnen zu Ohren kam, und jeden Schatten, den sie sahen, aufgeschreckt worden.

Par erwachte und erhob sich von seinem Notbett, in dem er auf dem Dachboden eines Kornspeichers geschlafen hatte. Er sah zu Coll hinüber, der immer noch schlief. Die anderen waren bereits auf und vermutlich unten. Sachte näherte er sich dem winzigen, mit Läden verschlossenen Fenster, durch das das wenige Licht, das den Raum erhellte, hereindrang, und spähte hinaus. Die Straße war mit Ausnahme eines herumstreunenden Hundes, der an einem Abfalleimer schnupperte, und eines Bettlers, der auf der anderen Seite der Straße schlief, leer. Der Himmel war mit tiefhängenden grauen Wolken bedeckt, die noch vor Ende des Tages Regen verhießen.

Als er zurückging, um seine Stiefel anzuziehen, war Coll wach und sah ihn an. Das struppige Haar seines Bruders war zerzaust, und aus seinen vom Schlaf verquollenen Augen sprach Mißmut.

»Ein neuer Tag«, murmelte Coll und gähnte. »Welchen umwerfenden Lagerraum werden wir deiner Meinung nach heute abend aufsuchen?«

»Keinen, soweit es von mir abhängt.« Par ließ sich neben ihm auf den Boden nieder.

Coll zog die Augenbrauen in die Höhe. »Tatsächlich? Hast du mit Padishar gesprochen?«

»Das habe ich vor.«

»Ich nehme an, daß du einen anderen Vorschlag hast.« Coll richtete sich auf einen Ellbogen auf. »Ich sage das, weil ich nicht glaube, daß Padishar Creel dir auch nur den kleinen Finger reichen wird, wenn du keinen hast. Er ist, seit er festgestellt hat, daß er bei seinen Männern vielleicht doch nicht so beliebt ist, wie er gemeint hat, nicht in der allerbesten Stimmung.«

Par zweifelte daran, daß Padishar Creel sich zu dem Glauben verleiten ließ, bei seinen Männern beliebt zu sein, aber Coll schätzte die gegenwärtige Stimmung des Anführers der Geächteten sicher richtig ein. Der Verrat eines seiner eigenen Männer hatte ihn schweigsam gemacht. Er hatte sich während der vergangenen Tage ganz in sich selbst zurückgezogen, auch wenn er keinen Zwei­ fel daran ließ, daß er immer noch die Führung innehatte, wenn er sie durch das Netz der Föderationspatrouillen und Wachtposten führte, die überall in der Stadt zu sehen waren. Damson Rhee begleitete sie; ob freiwillig oder nicht, konnte Par nicht sagen. Doch selbst sie konnte die Mauer, die der Anführer der Geächteten um sich herum errichtet hatte, nicht durchbrechen.

Par schüttelte den Kopf. »Ich bin der Meinung, daß wir nicht den Rest unseres Lebens damit verbringen können, von einem Ort zum anderen zu wandern.« Selbst er war ziemlich verdrießlich. »Wenn wir einen Plan brauchen, ist es Padishars Aufgabe, einen Plan auszuhecken. Mit der jetzigen Vorgehensweise erreichen wir gar nichts.«

Coll setzte sich auf und begann sich anzuziehen. »Du willst es wahrscheinlich nicht hören, Par, aber es ist vielleicht an der Zeit, daß du deinen Entschluß, dich der Bewegung anzuschließen, überdenkst. Es ist immerhin möglich, daß wir ohne die Bewegung besser fahren.«

Par sagte nichts. Sie zogen sich an und gingen nach unten zu den anderen. Zum Frühstück, das sie hungrig hinunterschlangen, gab es kaltes Brot, Marmelade und Obst. Par konnte nicht verstehen, warum er Heißhunger verspürte, obwohl er sich körperlich so wenig betätigte. Während er aß, hörte er, wie Stasas und Drutt darüber sprachen, daß sie in den Wäldern ihres künftigen Zuhauses irgendwo unterhalb von Varfleet jagen würden. Morgan hielt Wache an der Tür, die ins Lagerhaus führte, und Coll gesellte sich zu ihm. Damson Rhee saß auf einer leeren Holzkiste und schnitzte irgend etwas. Par hatte sie in den vergangenen Tagen nur selten zu Gesicht bekommen; sie war, während der Rest der Gruppe sich versteckte, oft mit Padishar Creel unterwegs gewesen, um steckte, oft mit Padishar Creel unterwegs gewesen, um die Stadt auszukundschaften. Dieser war nirgends zu sehen.

Nach dem Frühstück begab sich Par nach oben, um seine Sachen zusammenzupacken, da er davon ausging, daß seine Auseinandersetzung mit Padishar Creel ungeachtet des Ergebnisses höchstwahrscheinlich einen Ortswechsel nach sich ziehen würde.

Damson Rhee folgte ihm nach oben. »Du bist voller Unruhe«, stellte sie fest, als sie allein waren. Sie setzte sich auf den Rand seines Lagers und schüttelte ihre rote Mähne. »Das Leben eines Geächteten ist nicht das, was du dir vorgestellt hast, stimmt’s?«

Er lächelte müde. »In Lagerhäusern und Kellern herumsitzen ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Worauf wartet Padishar denn?«

Sie zuckte die Schultern. »Worauf wir alle von Zeit zu Zeit warten – auf die Stimme, die in unserem Inneren schlummert und uns sagt, was wir als nächstes tun sollen. Vielleicht ist es Intuition, vielleicht auch gesunder Menschenverstand.« Sie lächelte ihn an. »Spricht sie jetzt zu dir?«

»Irgend etwas spricht ganz gewiß.« Er setzte sich neben sie. »Warum bist du immer noch bei uns, Damson? Vielleicht wegen Padishar?«

Sie lachte. »Kaum. Ich komme und gehe, wie es mir beliebt. Er weiß, daß ich ihn nicht verraten habe.«

»Warum bleibst du also?«

Sie sah ihn nachdenklich an. »Vielleicht bleibe ich deinetwegen«, sagte sie endlich. Sie lächelte. »Ich habe noch nie einen Menschen mit echter Magie getroffen. Nur solche, die sie vorgetäuscht haben wie ich.« Sie streckte ihre Hand nach oben und zauberte geschickt eine Münze hinter seinem Ohr hervor, die aus Kirschholz geschnitzt war. Sie überreichte ihm die Münze.

Er sah, daß auf der einen Seite ihr Bild eingeschnitzt war und auf der anderen Seite das seine. Er sah sie voller Staunen an. »Das ist sehr hübsch.«

»Danke.« Sie errötete leicht. »Du kannst sie zusammen mit der anderen als Glücksbringer behalten.«

Er steckte die Münze in seine Tasche. Lange Zeit saßen sie schweigend nebeneinander und tauschten unsichere Blicke aus. »Weißt du, es besteht kein großer Unterschied zwischen deiner Magie und meiner«, sagte er endlich. »Sie beruhen beide auf einer Illusion.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Par. Das stimmt nicht. Die eine ist angelernt, die andere dagegen angeboren. Meine ist angelernt und nichts weiter. Deine dagegen wächst unaufhörlich und ist deshalb grenzenlos. Verstehst du nicht? Meine Magie ist ein Handwerk, eine Möglichkeit, meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Deine Magie ist viel mehr; sie ist eine Gabe, um die herum du dein Leben aufbauen mußt.« Sie lächelte, doch in ihrem Lächeln lag ein Hauch von Traurigkeit. Sie stand auf. »Ich muß wieder an die Arbeit. Und du mußt fertigpacken.« Sie ging an ihm vorbei und verschwand auf der Leiter.

Die Morgenstunden schleppten sich dahin, und Padishar Creel war immer noch nicht zurückgekehrt. Par wartete immer ungeduldiger darauf, daß sich etwas ereignete. Coll und Morgan kamen von Zeit zu Zeit zu ihm, und er erzählte ihnen von seiner Absicht, sich dem Anführer der Geächteten entgegenzustellen. Keiner der beiden beurteilte seine Aussichten allzu optimistisch.

Der Himmel wirkte immer bedrohlicher, der Wind blies immer stärker, bis er in ein klagendes Heulen überging, das um die klapprigen Türen und Fensterläden des alten Gebäudes fegte, ohne daß es regnete. Um die Zeit totzuschlagen, spielten sie Karten und schwatzten.

Es war bereits Nachmittag, als Padishar Creel zurückkehrte. Er schlüpfte wortlos durch die vordere Tür herein, ging geradewegs zu Par und gab ihm ein Zeichen, ihm zu folgen. Er führte Par in ein kleines Büro im hinteren Teil des Gebäudes.

Als sie allein waren, schien er um Worte verlegen. »Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, was wir als nächstes tun sollten«, sagte er schließlich. »Oder, wenn du so willst, was wir nicht tun sollten. Jeder Fehler, den wir jetzt machen, könnte unser letzter sein.« Er zog Par zu einer Bank, die an die Wand geschoben worden war, und bat ihn, sich zu setzen. Er setzte sich ebenfalls. »Da ist immer noch die Sache mit dem Verräter«, sagte er leise. Seine Augen leuchteten hart, doch Par konnte den Grund nicht ausmachen. »Ich war mir zuerst sicher, daß es einer von uns sei. Aber es war weder ich noch Damson. Damson ist über jeden Zweifel erhaben. Es könnte dein Bruder sein, aber er ist es auch nicht gewesen, stimmt’s?«

Par schüttelte den Kopf.

»Oder der Hochländer.«

Wieder schüttelte Par den Kopf.

»Also bleiben Blue, Stasas und Drutt. Blue ist höchstwahrscheinlich tot; das heißt, wenn er der Verräter war, war er dumm genug, sich den Tod einzuhandeln. Aber das paßt nicht zu Blue. Und die anderen beiden sind schon lange bei mir. Es scheint mir unvorstellbar, daß einer von ihnen mich verraten könnte – ganz gleich, welcher Preis geboten wird. Ihr Haß auf die Föderation ist beinahe so groß wie meiner.«

Padishar Creels Kiefermuskeln spannten sich an. »Vielleicht ist es also doch keiner von uns. Aber wer sonst könnte von unserem Plan erfahren haben? Verstehst du, was ich meine? Dein Freund, der Hochländer, hat heute morgen etwas erwähnt, was er fast vergessen hatte. Als wir in die Stadt kamen, meinte er Hirehone zu sehen. Doch dann glaubte er sich zu irren; jetzt ist er nicht mehr so sicher. Wenn ich die Tatsache außer Acht lasse, daß Hirehone mich unzählige Male zuvor hätte verraten können und es nicht getan hat, frage ich mich, wie er es diesmal überhaupt hätte anstellen können. Niemand außer Damson und denen, die mit mir gekommen sind, kannte das Wo, Wann, Wie und Warum unseres Vorhabens. Und trotzdem haben die Föderationssoldaten auf uns gewartet. Sie wußten davon.«

Par hatte seine Absicht vergessen, Padishar zu sagen, daß er die ganze Sache gründlich satt hatte. »Wer war es also?« fragte er gespannt. »Wer könnte es gewesen sein?«

Padishar Creel lächelte gequält. »Die Frage setzt mir zu wie Bremsen einem schwitzenden Pferd. Ich weiß es noch nicht. Aber du kannst sicher sein, daß ich es früher oder später herausfinden werde. Im Augenblick spielt es keine Rolle. Wir haben Wichtigeres zu tun.« Er beugte sich vor. »Ich habe heute morgen einen Mann aufgesucht, den ich kenne, einen Mann, der über das, was in den obersten Kreisen der Föderation in Tyrsis geschieht, bestens informiert ist. Er ist ein Mann, dessen ich mir sicher bin, dem ich vertrauen kann. Selbst Damson weiß nichts von ihm. Er hat mir einige interessante Dinge be­ richtet. Es scheint, daß du und Damson mich gerade noch rechtzeitig gerettet habt. Felsen-Dall ist am nächsten Morgen eingetroffen, um sich persönlich um mein Verhör und meine Vernichtung zu kümmern.« In der Stimme des Anführers der Geächteten schwang Befriedigung mit. »Er war schwer enttäuscht, als er feststellte, daß ich schon früh gegangen war… Ich weiß, daß du ungeduldig darauf wartest, daß etwas geschieht, Par. Aber bei der Sache, die wir vorhaben, führt übereiltes Handeln lediglich zum frühen Tod, und deshalb ist Vorsicht jederzeit angebracht.« Er lächelte wieder. »Aber du und ich, mein Junge – wir sind ein Gespann, mit dem die Föderation bei ihren Spielchen nicht gerechnet hat. Das Schicksal hat dich zu mir geführt, und das Schicksal hält etwas ganz Bestimmtes für uns beide bereit, etwas, das die Föderation und ihre Sucher gründlich verwirren wird.« Seine Hand ballte sich vor Pars Gesicht zur Faust, und dieser schrak unwillkürlich zurück. »So viel Mühe ist darauf verwendet worden, die Spuren des alten Volksparks zu zerstören – die Sendic-Brücke wurde abgerissen und neu aufgebaut, der alte Park eingemauert, Wachen gehen durch die ganze Stadt. Warum? Weil sich irgend etwas dort unten befindet, das unter keinen Umständen entdeckt werden soll. Ich fühle es, mein Junge. Ich bin jetzt ebenso überzeugt davon wie vor fünf Nächten, als wir uns auf den Weg gemacht haben!«

»Das Schwert von Shannara?« flüsterte Par.

Jetzt war Padishar Creels Lächeln echt. »Ich würde zehn Jahre meines Lebens darauf verwetten! Aber es gibt auch jetzt nur einen Weg, um dahinterzukommen, stimmt’s?« Er legte seine Hände auf Pars Schultern. Das zerfurchte, knochige Gesicht glich einer Maske aus Ver­ schlagenheit und rücksichtsloser Entschlossenheit. Der Mann, der sie die letzten fünf Tage geführt hatte, war verschwunden; jetzt sprach wieder der alte Padishar Creel.

»Der Mann, mit dem ich gesprochen habe, hat mir erzählt, daß Felsen-Dall davon überzeugt ist, daß wir geflohen sind. Er glaubt, daß wir uns wieder im Parmakeil aufhalten und unsere Absichten hier aufgegeben haben. Er verweilt nur noch in der Stadt, weil er sich nicht entscheiden kann, was er als nächstes tun soll. Ich bin der Meinung, daß wir ihm dabei helfen sollten.«

Par riß die Augen auf. »Was sollen wir tun?«

»Das, womit er am wenigsten rechnet.« Padishar Creels Augen verengten sich. »Wir gehen zurück in die Schlucht.«

Pars Atem stockte.

»Wir gehen zurück in die Schlucht, noch bevor er die Möglichkeit hat herauszufinden, wo wir sind und was wir vorhaben, und wenn das Schwert von Shannara sich dort befindet, schnappen wir es ihnen unter der Nase weg.« Mit einem Ruck brachte Padishar Creel den erstaunten Par auf die Beine. »Noch heute nacht!«

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