11

Als Par Ohmsford wieder das Bewußtsein erlangte, befand er sich inmitten eines Alptraums. An Händen und Füßen gefesselt hing er an einer Stange. Irgend jemand trug ihn durch den in Nebel gehüllten Wald; eine tiefe Schlucht war zu seiner Linken, die zerklüfteten Zacken eines Bergkammes hoben sich zu seiner Rechten vom Himmel ab. Gestrüpp schlug gegen seinen Rücken und Kopf, während er hilflos an der Stange baumelte; die Luft war dick, schwül und still.

Er war umgeben von Spinnengnomen, die auf ihren gekrümmten Beinen lautlos durch die Dämmerung huschten.

Par schloß die Augen, um dem Anblick zu entgehen, und öffnete sie dann wieder. Der Himmel war dunkel und bedeckt, aber vereinzelt schien das Licht der Sterne zwischen den Wolken hindurch, und über dem Bergkamm machte sich schwach die erste Helligkeit bemerkbar. Er erkannte, daß die Nacht fast vorüber war und der Morgen anbrach.

Er erinnerte sich jetzt an die Ereignisse des vergangenen Tages, wie die Spinnengnome ihn gejagt und gefangengenommen hatten. Was war mit Coll geschehen? Er reckte den Hals, um zu sehen, ob sein Bruder gleichfalls mitgeschleppt wurde, konnte jedoch keine Spur von ihm entdecken. In ohnmächtigem Zorn biß er die Zähne zusammen. Er mußte eine Möglichkeit finden, sich zu befreien und nach seinem Bruder zu suchen. Einen Augenblick zog er an den Fesseln, die ihn festhielten, doch sie gaben keinen Millimeter nach. Er mußte warten. Er fragte sich, wohin er gebracht wurde – ja, warum er überhaupt gefangengenommen worden war. Was hatten die Spinnengnome mit ihm vor?

Er versuchte zu bestimmen, wo er sich befand. Das Licht war zu seiner Linken, der Anfang eines neuen Tages, Os-ten. Die Spinnengnome waren also auf dem Weg nach Norden. Das schien logisch. Die Spinnengnome hatten zu Brin Ohmsfords Zeiten auf dem Tofferkamm gelebt. Er versuchte, sich das, was er über die Spinnengnome aus den Geschichten der alten Zeit wußte, ins Gedächtnis zu rufen, aber es gelang ihm nicht, sich zu konzentrieren. Brin war ihnen begegnet, als sie, Rone Leah, Cogline, Kimber Boh und die Moorkatze Whisper nach dem vermißten Schwert von Leah gesucht hatten. Doch es gab da noch etwas anderes, etwas über eine Einöde und die schrecklichen Kreaturen, die dort lebten…

Dann fiel es ihm plötzlich ein. Werbestien. Das Wort nistete sich in seinem Kopf ein wie ein Fluch.

Die Spinnengnome bogen in eine enge Schlucht ein. Die Helligkeit im Osten verschwand, und Schatten und Nebel umhüllten sie. In der Ferne flackerte Feuerschein.

Par holte tief Luft. Er wußte, daß sie fast am Ziel sein mußten.

Einen Augenblick später traten sie aus der Schlucht heraus. Überall brannten Feuer, und Hunderte von Spinnengnomen kamen in Sicht. Par wurde ziemlich unsanft fallen gelassen, seine Fesseln durchgeschnitten. Kurze Zeit lag er auf dem Rücken und rieb sich die Gelenke an Händen und Füßen, wobei er feststellte, daß an den Stellen, wo die Fesseln ihm ins Fleisch geschnitten hatten, Blut heraussickerte. Dann zerrte man ihn auf die Beine und schleppte ihn zu einer Höhle im Berghang. Die Spinnengnome schwatzten miteinander in ihrer eigenen Sprache, führten pausenlose Gespräche, die er nicht verstand. Er leistete keinen Widerstand; er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Sie trieben ihn an einem kleinen Feuer vorbei, das nahe dem Höhleneingang brannte, und brachten ihn hinein. Die Höhle war nicht mehr als zwanzig Meter lang und an der höchsten Stelle zweieinhalb Meter hoch. An ihrer hinteren Wand waren zwei Eisenringe eingelassen, an denen ihn die Spinnengnome festbanden. Mit Ausnahme von zweien, die als Wachen beim Feuer am Eingang der Höhle zurückgelassen wurden, gingen alle fort.

Par versuchte sich zu sammeln, lauschte der Stille und wartete darauf, was als nächstes passieren würde. Als nichts geschah, ließ er seinen Blick prüfend durch die Höhle gleiten. Man hatte ihn mit weitgespreizten Armen an der Wand zurückgelassen; er war gezwungen, an der Wand zu stehen, denn die Eisenringe waren so hoch angebracht, daß er nicht sitzen konnte. Er prüfte seine Fesseln. Sie waren aus Leder und so eng, daß sie seinen Handgelenken nicht die kleinste Freiheit gestatteten.

Einen Augenblick packte ihn reine Verzweiflung. Aber die anderen würden bestimmt nach ihm suchen – Morgan, Steff, Teel. Wahrscheinlich hatten sie Coll bereits gefunden. Sie würden den Spuren der Spinnengnome folgen und kommen, um ihn zu holen. Sie würden ihn finden und befreien.

Er schüttelte den Kopf. Er machte sich selbst etwas vor, das wußte er. Es war fast dunkel gewesen, als die Gnome ihn verschleppt hatten, und der Regen hatte das Seine dazu beigetragen, die Spuren zu verwischen. Das Beste, das er sich erhoffen konnte, war, daß sie Coll gefunden und er ihnen von den Geschehnissen berichtet hatte.

Die Zeit verrann, aus den Sekunden wurden Minuten und aus den Minuten Stunden. Die Dunkelheit vor der Höhle erhellte sich geringfügig, und mit den schwachen Strahlen des Tageslichts drang Wärme herein. Hätten nicht die zwei am Höhleneingang gehockt, hätte Par glauben können, alle seien verschwunden. Der Tag ging dahin. Ein einziges Mal erhob sich einer der Wächter und brachte ihm einen Becher mit Wasser. Er trank es so gierig aus den Händen, die es ihm darboten, daß er das meiste verschüttete und sein Hemd durchnäßte. Langsam nagte auch der Hunger an ihm, aber niemand brachte ihm zu essen.

Par wartete voller Zuversicht und vergaß dabei zum erstenmal die Schmerzen in seinem Körper, den Hunger und die Angst. Irgend etwas würde geschehen. Er spürte es genau.

Das, was geschah, hätte er beim besten Willen nicht erwartet. Er versuchte wieder, seine Fesseln abzustreifen; sein Schweiß begann langsam, sie zu lockern, als eine Gestalt aus der Dunkelheit auftauchte. Sie ging um das am Eingang brennende Feuer herum, trat ins Licht und blieb stehen.

Es war ein Kind.

Par blinzelte.

Das Kind war ein Mädchen, ungefähr zwölf Jahre alt, ziemlich groß und mager, mit dunklem, strähnigem Haar und tiefliegenden Augen. Sie gehörte nicht der Gnomenrasse, sondern der Menschenrasse an; es war eine Südländerin in einem zerlumpten Kleid, abgetragenen Stiefeln und mit einem kleinen silbernen Medaillon um den Hals. Neugierig sah sie ihn an, taxierte ihn wie einen herumstreunenden Hund und trat auf ihn zu. Sie hob eine Hand, um ihm das Haar aus dem Gesicht zu streichen. »Elfe«, sagte sie leise.

Par starrte sie an. Was hatte dieses Kind unter den Spinnengnomen verloren? »Binde mich los«, bettelte er.

Sie schaute ihn an, ohne ein Wort zu sagen.

»Binde mich los!« wiederholte Par. Er spürte, wie ihm Zweifel kamen. Irgend etwas stimmte hier nicht.

»Ich drücke dich«, sagte das Mädchen plötzlich. Sie kam auf ihn zu, schlang ihre Arme um ihn, und schon hing sie an ihm, fest wie ein Blutegel. Sie klammerte sich an ihn, vergrub sich in seinen Körper, flüsterte immer wieder Worte, die er nicht verstand.

Was war los mit diesem Kind? fragte er sich bestürzt. Er spürte, wie sich der Druck ihrer Hände verstärkte, wie sie forderte, forderte. Der Schock überwältigte ihn. Sie war ganz nah, sie verkroch sich in ihn, vergrub sich in ihn, sie drang in ihn ein, sie verschmolz mit ihm, sie wurde ein Teil von ihm.

Verdammt! Was war hier los?

Der Ekel, der in ihm aufstieg, kam so unerwartet, daß er erschauerte. Er schrie, schüttelte sich vor Entsetzen, schlug verzweifelt um sich, bis es ihm schließlich gelang, sie wegzuschleudern. Sie fiel zu Boden, und ihr kindliches Gesicht verwandelte sich in eine abscheuliche Fratze.

»Gib mir die Magie!« krächzte sie mit einer Stimme, diekeine Ähnlichkeit mehr mit der eines Kindes hatte.

Jetzt war ihm alles klar. »Nein, nein«, flüsterte er und nahm alle seine Kraft zusammen, als sie sich wieder vom Boden erhob.

Dieses Kind war ein Schattenwesen!

»Gib sie mir!« wiederholte sie mit fordernder Stimme. »Laß mich in dich eindringen und sie kosten!«

Sie näherte sich ihm, eine spindeldürre Gestalt, und streckte ihre Hände nach ihm aus.

Er schlug wie wild um sich.

Sie lächelte boshaft und trat zurück. »Du gehörst mir«, sagte sie leise. »Die Gnome haben dich mir überlassen. Ich werde deine Magie bekommen. Überlaß dich mir. Spür doch nur, wie ich mich anfühle!«

Sie näherte sich ihm wie eine Katze der Maus, vermied dabei seine Stöße und krallte sich mit einem schaurigen Heulen an ihm fest. Er zwang sich, nach unten zu sehen, und bemerkte die Gestalt im Körper des Kindes, die versuchte, in den seinen einzudringen. Das Schattenwesen suchte. Er warf den Kopf zurück, biß die Zähne aufeinander, machte seinen Körper so hart wie Stahl und kämpfte dagegen an. Das Schattenwesen versuchte, ihn in Besitz zu nehmen. Es versuchte sich mit ihm zu vereinen!

Er stieß einen Schrei aus, ein Gebrüll aus Zorn und Qual, das die Magie des Wunschlieds freisetzte. Er verband keine Bilder damit, denn er wußte, daß selbst sein furchterregendstes Bild nichts gegen diese Bestien ausrichten konnte. Das Bild ergab sich ohne sein Zutun, befreite sich aus einem dunklen Winkel seines Wesens, um eine Gestalt anzunehmen, die er nicht erkannte. Es war etwas Dunkles, Unerkenntliches, das ihn umspann wie die Fäden einer Spinne. Das Schattenwesen zischte und wich zurück, spuckte und schlug seine Krallen in die Luft. Es fiel noch einmal zu Boden, der Körper des Kindes wurde von einer unsichtbaren Kraft gekrümmt und geschüttelt.

Er wußte nicht, was er getan hatte oder wie er es getan hatte, aber das Schattenwesen im Körper des Kindes war verschwunden. Das Kind erhob sich langsam und richtete sich auf, ein Kind im wahrsten Sinne des Wortes, zerbrechlich und verloren. Aus dunklen Augen schaute sie ihn an und sagte schwach: »Drück mich.«

Dann rief sie in die Dunkelheit hinaus, und Spinnengnome kamen zum Vorschein, zu mehreren Dutzend sich vor dem Kind verbeugend, während sie in die Höhle traten. Sie sprach zu ihnen in ihrer eigenen Sprache, und Par erinnerte sich daran, wie abergläubisch diese Kreaturen waren und Götter und alle möglichen Geister anbeteten. Und jetzt waren sie im Bann dieses Mädchens. Er wollte schreien.

Die Spinnengnome kamen auf ihn zu, lockerten seine Fesseln, die ihn festhielten, packten ihn an Armen und Beinen und schleppten ihn weg. Das Kind stellte sich ihnen in den Weg. »Drück mich!«

Er schüttelte den Kopf und versuchte gleichzeitig, den Dutzenden von Händen, die ihn festhielten, zu entkommen. Sie zerrten ihn nach draußen, dorthin, wo der Rauch der Feuer und der Nebel der Täler sich wie Träume im Schlaf vermischten und sich im Kreis drehten. Am Rand des Abhangs brachte man ihn zum Stehen, und sein Blick fiel hinunter in eine unendliche Leere.

Das Kind mit der leisen und heimtückischen Stimme war immer an ihrer Seite. »Das Altmoor«, flüsterte sie. »Hier leben die Werbestien. Kennst du Werbestien, Elfenjunge?« Er erstarrte. »Sie sollen dich haben, wenn du mich nicht drücken willst. Sie sollen sich an dir laben trotz deiner Zauberkraft.«

Es gelang ihm, sich loszureißen, seine Bewacher wegzuschleudern. Er bot die gesamte Kraft des Wunschlieds auf und warf den Spinnengnomen, die ihn umringten, die Bilder entgegen, in dem verzweifelten Versuch, sich einen Weg durch ihre Mitte zu bahnen. Er stürzte den Abhang hinunter, fiel in den unendlichen Abgrund, in den Strudel von Dunst und Nebel. Hinter ihm verschwanden das Schattenwesen, die Spinnengnome, die Feuer, die Höhle. Er stürzte hinunter, Hals über Kopf, durch Gestrüpp und Gras, über Spalten und zwischen Felsbrocken hindurch. Wie durch ein Wunder verfehlte er die Felsen, die ihn hätten töten oder für immer zum Krüppel machen können, und fiel schließlich in eine unheilvolle Finsternis.

Als er wieder zu sich kam, wußte er nicht, wie lange er bewußtlos gewesen war. Er erwachte auf einem Bett von feuchten Sumpfgräsern. Die Gräser, das wurde ihm klar, mußten seinen Fall gedämpft und ihm somit das Leben gerettet haben. Unfähig, sich zu bewegen, und jeder Kraft beraubt, lauschte er dem Schlagen seines Herzens in seiner Brust. Als er sich etwas erholt hatte, stellte er sich vorsichtig auf die Beine und untersuchte seinen Körper. Er war übersät mit Schnitt- und Schürfwunden, aber anscheinend hatte er keine Brüche davongetragen. Er horchte in die Stille. Weit oben hörte er die Stimmen der Spinnengnome.

Er wußte, daß sie herabkommen würden, um ihn zu holen. Er mußte von hier weg.

Er schaute sich um. Nebel und Schatten jagten durch eine halbdunkle Welt; der Einbruch der Nacht stand kurz bevor. Kleine, fast unsichtbare Dinge hüpften und sprangendurch das hohe Gras. Überall um ihn herum blubberten Schlamm und Schlick. Verkrüppelte Bäume, die zu bizarren Formen erstarrt waren, bestimmten die Landschaft. Geräusche drangen aus allen Richtungen an sein Ohr.

Um ruhiger zu werden, atmete Par tief ein. Er wußte ungefähr, wo er sich befand. Er war auf dem Tofferkamm gewesen. Sein Sturz hatte ihn vom Kamm in das Altmoor fallen lassen. In seinem Bemühen, seinem Schicksal zu entrinnen, hatte er es nur beschleunigt. Er hatte sich unfreiwillig genau dorthin begeben, womit das Schattenwesen ihm gedroht hatte – in das Gebiet der Werbestien.

Er nahm all seinen Mut zusammen und machte sich auf den Weg. Er befand sich am Rande des Moors, beruhigte er sich selbst, noch nicht mitten drin, noch nicht völlig verloren. Er konnte entkommen. Aber er mußte schnell handeln.

Fast spürte er, wie die Werbestien ihn beobachteten.

Die Geschichten über die Werbestien stiegen jetzt vor seinem geistigen Auge auf. Sie besaßen die alte Magie, Monster, die verirrte Kreaturen, die sich ins Moor gewagt oder dorthin geschickt worden waren, überfielen, sich ihrer körperlichen und geistigen Kraft bemächtigten und ihr Leben aussaugten. Die Spinnengnome stellten ihre Hauptnahrung dar; sie hielten die Werbestien für Geister, die Beschwichtigung verlangten, und demgemäß opferten sie sich. Par erschauerte bei dem Gedanken daran, denn genau dieses Schicksal hatte das Schattenwesen ihm zugedacht.

Müdigkeit zwang ihn, sein Tempo zu verlangsamen, und ließ ihn unsicher werden. Mehrere Male stolperte er, und einmal trat er sogar in einen Sumpf, doch es gelang ihm, sich schnell wieder herauszuziehen. Sein Blick war verschwommen, und Schweiß rann ihm den Rücken hinunter. Die aus dem Moor aufsteigende Hitze war erdrückend. Er warf einen Blick zum Himmel und bemerkte mit Schrecken, daß die Dunkelheit sich schnell herabsenkte. Bald würde es stockdunkel sein.

Dann würde er überhaupt nichts mehr sehen können.

Ein riesiger Schlammpfuhl versperrte ihm den Weg und damit den Zugang zu dem Bergkamm. Er bewegte sich schnell am Rande des Sumpfs entlang und horchte gleichzeitig auf Geräusche von Verfolgern. Er hörte keine. Die Finsternis wurde immer schwärzer. Er erreichte das Ende des Pfuhls, marschierte weiter und weiter, um Sümpfe herum, und spähte durch die Dunkelheit.

Er konnte den Tofferkamm nicht ausmachen.

Die Angst, die ihn zu überwältigen drohte, veranlaßte ihn, schneller zu gehen. Er erkannte, daß er sich verirrt hatte – weigerte sich aber, diese Tatsache zu akzeptieren. Er suchte weiter, unfähig, sich einzugestehen, daß er sich in der Richtung getäuscht hatte. Der Kamm war doch eben noch da gewesen. Wie hatte er sich nur so verlaufen können?

Endlich blieb er stehen, unfähig, die Suche fortzusetzen. Es war sinnlos, weiterzugehen, denn er hatte keine Ahnung, wohin er ging. Er würde nichts weiter tun, als endlos umherzuwandern, bis ihn entweder der Sumpf oder die Werbestien verschlangen. Es war klüger, auszuharren und zu kämpfen.

Es war eine seltsame Entscheidung, die mehr von der Müdigkeit als von der Vernunft bestimmt wurde. Denn welche Hoffnung blieb ihm, wenn er dem Moor nicht entkam, und wie konnte er dem Moor entkommen, wenn er an Ort und Stelle stehen blieb? Aber er war müde, und der Gedanke an ein blindes Weitergehen behagte ihm nicht. Und er mußte immer wieder an dieses Kind denken, das Schattenwesen – daran, wie es vor ihm zurückgewichen war, entsetzt über etwas in seiner Zauberkraft, von dessen Existenz er bis dahin selbst nichts gewußt hatte. Auch jetzt wußte er nicht zu sagen, was es war, aber falls es ihm gelingen sollte, es wieder einzusetzen, würden sich seine Chancen gegenüber den Werbestien und sonstigen Dingen, die das Moor für ihn bereithielt, entscheidend verbessern.

Einen Augenblick sah er sich um, bevor er sich einem kleinen Hügel zuwandte, der auf zwei Seiten von Sümpfen, auf der dritten von aufragenden Felsen umgeben und deshalb nur von einer Seite begehbar war. Er erklomm die Anhöhe, auf der er sich niederließ und von der aus er in den Nebel und die Nacht hinausstarrte. Hier wollte er bleiben, bis der neue Tag anbrach.

Die Minuten vergingen. Die Nacht brach herein, der Ne-bel verdichtete sich.

Er sah das Schattenwesen erst, als es fast schon auf ihm war. Wieder war es das Mädchen. Sie trat scheinbar aus dem Nichts heraus, nur wenige Meter vor ihm, und er erschrak über die Unerwartetheit ihres Auftauchens. »Komm mir nicht näher!« warnte er, während er schnell hochsprang. »Wenn du versuchst, mich anzurühren…«

Das Schattenwesen verwandelte sich in einen schimmernden Nebel und verschwand.

Par atmete tief ein. Es war doch kein Schattenwesen, dachte er, sondern eine Werbestie und auch nicht so stark, da es ihm gelungen war, sie mit nichts als einer Drohung zu verjagen.

Irgendwo in der Ferne, weit weg von ihm, hörte er einen einzigen Schrei, einen kurzen Schrei des Entsetzens. Sofort war alles wieder ruhig.

Er starrte wachsam in den Nebel hinaus. Er dachte an die Umstände, die ihn hierher gebracht hatten – an seine Flucht vor der Föderation, an seine Träume, an seine Begegnung mit dem alten Mann und an seine Suche nach Walker Boh. Ein Gefühl der Enttäuschung beschlich ihn, Enttäuschung darüber, daß er nicht mehr erreicht hatte. Er grübelte über sein Gespräch mit Walker nach. Walker war der Meinung, die Magie des Wunschliedes sei keine Gabe. Par schüttelte den Kopf. Vielleicht hatte Walker ja recht. Vielleicht hatte er, Par, sich die ganze Zeit selbst etwas vorgemacht.

Aber irgend etwas an dieser Magie hatte das Schattenwesen in Angst und Schrecken versetzt. Irgend etwas.

Aber nur das Kind, nicht die anderen, denen er begegnet war.

Was war anders gewesen?

Er fühlte wieder eine Bewegung am Rande des Nebels, und eine Gestalt löste sich aus ihm und kam auf ihn zu. Es war das zweite Schattenwesen, die große, watschelnde Kreatur, der sie am Rande des Anar begegnet waren. Grunzend und mit einer riesigen Keule in der Hand bewegte sie sich auf ihn zu. Einen Augenblick lang vergaß er, wem er gegenüberstand. Er geriet in Panik, weil er sich daran erinnerte, daß das Wunschlied gegen dieses Schattenwesen nichts hatte ausrichten können, daß er hilflos gewesen war. Er machte einen Schritt zurück, bevor er sich wieder fing, seine Verwirrung abschüttelte und seine Gedanken zusammennahm. Ganz instinktiv setzte er das Wunschlied ein, wobei seine Magie das genaue Abbild der ihm gegenüberstehenden Kreatur erschuf, ein Bild, in das er sich selbst einhüllte. Ein Schattenwesen stand dem anderen Schattenwesen gegenüber. Dann begann die Werbestie zu flimmern und sich im Nebel aufzulösen.

Par verhielt sich regungslos, und das Bild, das ihn umgab, löste sich in nichts auf. Er nahm wieder Platz. Wie lange würde er so weitermachen können?

Er fragte sich, ob Coll in Ordnung war, und dachte daran, wie sehr er seinen Bruder brauchte.

Coll.

Er überließ sich seinen Gedanken, die zu anderen Dingen abschweiften. Seine Magie mußte einen Zweck haben, sagte er sich ernst. Es war keineswegs so, wie Walker behauptet hatte. Er besaß die Magie des Wunschliedes aus einem ganz bestimmten Grund; sie war mit Sicherheit eine Gabe. Die Antwort darauf würde er am Hadeshorn finden. Er würde sie erfahren, wenn er mit Allanon sprach. Er mußte sich einfach aus diesem Moor befreien und…

Mehrere schattenhafte Gestalten lösten sich aus dem Ne-bel vor ihm. Die Werbestien hatten beschlossen, nicht länger zu warten. Er sprang auf und stellte sich ihnen entgegen. Sie schoben sich langsam näher, zuerst eine, dann noch eine, alle ohne erkennbare Formen, denn sie verwandelten sich so geschwind wie Nebel.

Dann sah er Coll, der aus der Dunkelheit hinter den Schatten herausgezerrt und von körperlosen Händen festgehalten wurde, sein Gesicht aschfahl und blutverschmiert. Par spürte eine Eiseskälte in sich aufsteigen.

»Hilf mir«, hörte er seinen Bruder rufen, obwohl er seine Stimme nur im Geist vernahm. »Hilf mir, Par.«

Mit der Magie des Wunschlieds stieß Par einen Schrei aus, doch in der feuchten Luft des Altmoors zerbrach er in tausend einzelne Laute. Par zitterte am ganzen Leib. Himmel! Das war tatsächlich Coll! Sein Bruder kämpfte, versuchte mit aller Kraft, sich zu befreien, während er immer wieder schrie: »Par, Par!«

Ohne lange zu überlegen, kam er seinem Bruder zu Hilfe. Mit einem von ihnen unerwarteten Zorn griff er die Werbestien an. Er schrie, und die Magie des Wunschliedes prallte auf die Kreaturen und schlug sie zurück. Er erreichte Coll, packte ihn und entriß ihn ihren Klauen. Hände griffen nach ihm, berührten ihn. Er spürte den Schmerz, eiskalt und brennendheiß zur gleichen Zeit. Coll hielt Par fest, und der Schmerz wurde stärker. Gift strömte in ihn ein, bitter und herb. Beinahe verließ ihn seine Kraft, aber es gelang ihm, sich auf den Beinen zu halten, seinen Bruder von den Schatten wegzureißen und ihn auf die Anhöhe zu zerren.

Zu ihren Füßen sammelten sich die Schatten, die sie aufmerksam beobachteten. Par brüllte auf sie hinab, wohl wissend, daß er vergiftet war; er spürte, wie das Gift sich in seinem Körper ausbreitete. Coll stand neben ihm.

Die Werbestien kamen immer näher.

Auf den Felsen zu seiner Rechten gewahrte er eine erneute Bewegung, und irgend etwas Riesiges tauchte vor ihm auf. Als Par auszuweichen versuchte, fiel er auf die Knie. Große, glänzende gelbe Augen leuchteten in der Nacht, und ein riesiger schwarzer Schatten trat an seine Seite. »Ondit!« flüsterte er.

Die Moorkatze schlich vorsichtig an ihm vorbei und auf Coll zu. Sie stieß ein langes, gefährliches Knurren aus.

»Coll!« Par rief nach seinem Bruder und machte einen Schritt nach vorne, aber die Moorkatze versperrte ihm schnell den Weg und stieß ihn zurück.

Die Schatten kamen immer näher, nahmen Gestalt an, verwandelten sich in schwerfällige Kreaturen, Körper mit Schuppen und Haaren, Gesichter mit dämonischen Augen und Mäulern, die vor Hunger weit aufgerissen waren. Ondit fauchte und schlug nach ihnen. Dann entblößte er seine Zähne und riß Coll in Stücke.

Coll – das, was Par für Coll gehalten hatte – verwandelte sich in ein Etwas von unbeschreiblichem Entsetzen, blutüberströmt und zerfetzt, bevor es glühte und verschwand. Par schrie vor Qual und Zorn auf. Irregeführt! Ungeachtet seines Schmerzes und der plötzlichen Übelkeit sang er das Wunschlied zur Vernichtung der Werbestien, Dolche und Pfeile des Zorns, Bilder von Dingen, die dazu bestimmt waren, sie in tausend Stücke zu reißen. Die Werbestien flimmerten, die Zauberkraft traf sie, ohne ihnen Schaden zuzufügen.

Wieder sammelten sie sich und gingen zum Angriff über.

Ondit bemächtigte sich der nächsten Werbestie, die nur einige Dutzend Schritte entfernt war, und schleuderte sie mit einem Hieb seiner großen Pfote von sich. Eine weitere Bestie machte sich an den Kater heran, doch auch diese packte er und warf sie in hohem Bogen von sich. Jetzt traten andere aus dem Nebel hervor, hinter denen, die bereits herankrochen. Zu viele, dachte Par außer sich vor Angst. Er hatte nicht mehr die Kraft zu stehen, denn das Gift der Werbestien durchströmte ihn jetzt immer schneller und drohte ihn in den bekannten schwarzen Abgrund zu stürzen, der sich vor ihm zu öffnen begann.

Dann spürte er eine Hand auf seiner Schulter, ermutigend und stützend, und er hörte, wie eine schneidende Stimme rief: »Ondit!«

Die Moorkatze zog sich zurück, ohne auch nur einen Blick in die Richtung zu werfen, aus der die Stimme ertönte, sondern nur deren Klang gehorchend.

Par hob den Kopf.

Walker Boh stand neben ihm, eingehüllt in schwarze Gewänder und Nebel, mit einem Ausdruck in seinem schmalen, markanten Gesicht, der Par erschauern ließ; seine Haut war so weiß wie Kalk. »Bleib ruhig, Par«, sagte er.

Er ging auf die Werbestien zu. Es waren ihrer jetzt mehr als ein Dutzend. »Geht!« lautete sein einfacher Befehl, während er in die Nacht hineinzeigte.

Die Werbestien bewegten sich nicht von der Stelle.

Walker tat noch einen Schritt auf sie zu, und jetzt war seine Stimme so eisig, daß sie scheinbar die Luft erzittern ließ. »Geht!«

Eine der Bestien streckte die Hand nach ihm aus, ein riesiges Etwas schnappte nach ihm. Walker Boh bewarf die Bestie mit Staub. Flammen schlugen zum Himmel auf, aus einer Explosion, die die Erde erschütterte, worauf die Werbestien spurlos verschwanden.

Walker drehte sich um und kehrte auf die Anhöhe zurück, wo er sich neben Par hinkniete. »Das ist alles meine Schuld«, sagte er leise.

Par bemühte sich zu sprechen, spürte jedoch, wie ihn seine Kräfte verließen. Er war dabei, das Bewußtsein zu verlieren. Zum drittenmal stürzte er in den finsteren Abgrund.

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