16

Als sie ihre Fassung wiedererlangt hatten, bemerkten sie, daß Cogline verschwunden war. Zuerst hielten sie dies für unmöglich, glaubten sich getäuscht zu haben und machten sich erwartungsvoll auf die Suche nach ihm. Aber das Tal bot nur wenige Plätze, wo er sich hätte verstecken können, und er wurde nirgendwo gefunden.

»Vielleicht hat Allanons Geist ihn hinweggefegt«, erklärte Morgan in dem Versuch, die anderen aufzuheitern.

Niemand lachte. Niemand verzog auch nur die Mundwinkel zu einem Lächeln. Sie waren durch die Ereignisse der Nacht bereits genügend beunruhigt, und das seltsame Verschwinden des alten Mannes diente nur dazu, sie noch mehr zu verwirren. Das unangekündigte Kommen und Gehen der Schatten toter Druiden war eine Sache; etwas anderes war es, wenn es sich um einen Menschen aus Fleisch und Blut handelte. Außerdem war Cogline ihre letzte Verbindung zu der Bedeutung ihrer Träume gewesen und der Grund ihrer Reise an diesen Ort. Mit Coglines Verschwinden wurde ihnen nur allzu schmerzlich bewußt, daß sie jetzt ganz auf sich selbst gestellt waren.

Einen Augenblick standen sie unsicher beieinander. Dann murmelte Walker Boh irgend etwas von Zeitverschwendung. Er machte sich auf den Weg, den sie gekommen waren, und alle anderen liefen ihm nach. Die Sonne war aufgegangen und stand jetzt golden am wolkenlosen blauen Himmel; die Wärme des Tages erfüllte bereits die öden Gipfel der Drachenzähne. Par blickte über die Schulter, als sie den Rand des Tales erreichten. Der Hadeshorn-See starrte ihn düster und teilnahmslos an.

Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Alle dachten an das, was der Druide gesagt hatte, und keiner von ihnen war in der Lage, darüber zu sprechen. Par war es ganz gewiß nicht. Er war durch das, was er vernommen hatte, so verwirrt, daß es ihm schwerfiel zu glauben, daß er es wirklich gehört hatte. Zusammen mit Coll folgte er den anderen, starrte auf ihre Rücken, als sie sich einer nach dem anderen durch die Felsspalten wanden und dem Pfad folgten, der zum Fuß der Berge und ihrem Lager führte. Irgendwann fragte ihn Coll, ob er in Ordnung sei, und er nickte wortlos, während er sich im stillen fragte, ob er das jemals wieder sein werde.

»Finde das Schwert von Shannara«, hatte der Geist ihm aufgetragen. Bei allen guten Geistern, wie sollte er das bloß anstellen?

Die Unmöglichkeit der Aufgabe war entmutigend. Er hatte keine Vorstellung davon, wo er beginnen sollte. Soweit er wußte, hatte seit der Besetzung von Tyrsis durch die Föderation – das war vor hundert Jahren gewesen – keiner das Schwert auch nur gesehen. Und zudem war es gut möglich, daß es bereits davor verlorengegangen war. Ganz sicherlich hatte es seit dieser Zeit niemand mehr zu Gesicht bekommen. Wie die meisten Dinge, die mit den Druiden und der Magie zusammenhingen, war das Schwert Teil einer Legende, die nahezu vergessen war. Es gab keine Druiden mehr, nicht in der Welt der Sterblichen. Wie oft hatte er das schon zu hören bekommen?

Sein Mund verhärtete sich. Was genau sollte er tun? Was sollten die anderen tun?

Plötzlich spürte er, wie ihm heiß wurde. Über seine ei­ gene Zauberkraft war kein Wort verloren worden, genauso wenig wie über die Anwendung des Wunschliedes. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit gehabt, Fragen zu stellen. Er wußte auch jetzt nicht einen Deut mehr über die Zauberkraft als vorher.

Par war zornig und enttäuscht. Finde das Schwert von Shannara, ja natürlich! Und was dann? Was sollte er dann machen? Die Schattenwesen zu einer Art Nahkampf herausfordern? Das Land nach ihnen absuchen und sie einzeln vernichten?

Er sah, wie Steff, der vorausging, mit Teel sprach, dann mit Morgan, wobei er heftig den Kopf schüttelte. Er sah den Rücken von Walker Boh. Er sah, wie Wren mit großen Schritten auf ihren Onkel zuging. Jeder von ihnen war genau so zornig wie er selbst; ihre Blicke sprachen Bände. Sie fühlten sich durch das, was sie gehört hatten, betrogen. Sie hatten etwas Handfesteres erwartet, etwas, das ihnen eine Antwort auf ihre Fragen liefern würde.

Alles, bloß nicht diese unmöglichen Aufgaben, die ihnen aufgetragen worden waren!

Und doch hatte Allanon behauptet, die Aufgaben könnten ausgeführt werden, und die drei damit Betreuten verfügten über die Fähigkeiten, den Mut und das Recht, sie auszuführen.

Par seufzte. Sollte er das tatsächlich glauben?

Er trat aus den Felsen auf den mit Steinen bedeckten Pfad hinaus, der nach unten zum Lager führte. Welches Wissen, auf das er sich verlassen konnte, besaß er? Die Träume waren tatsächlich eine Aufforderung Allanons gewesen – wenigstens das war jetzt sicher. Der Druide war zu ihnen gekommen, wie er in der Vergangenheit zu den Ohmsfords gekommen war, und hatte um ihre Hilfe gebeten gegen die schwarze Magie, die die Vier Länder bedrohte. Der einzige Unterschied lag natürlich darin, daß er diesmal gezwungen gewesen war, als Geist zu erscheinen. Cogline war sein Bote aus Fleisch und Blut gewesen, der sicherstellen sollte, daß seiner Aufforderung Folge geleistet wurde. Cogline besaß Allanons Vertrauen.

Die Schattenwesen waren wirklich, dachte Par weiter. Sie waren gefährlich, sie waren böse, sie waren eine Bedrohung für die Rassen und die Vier Länder. Sie waren Magie.

Wieder hielt er inne. Falls die Schattenwesen wirklich Magie waren, würde höchstwahrscheinlich auch Magie gebraucht, um sie zu vernichten. Die Aussagen Allanons und Coglines über Ursprung und Wachstum der Schattenwesen schienen zumindest möglich, die Behauptung, daß das Gleichgewicht der Dinge gestört war, wahrscheinlich. Egal, ob die Schattenwesen daran schuld waren, man mußte zugeben, daß vieles in den Vier Ländern nicht in Ordnung war. Die Föderation hatte die Schuld daran der Magie der Elfen und Druiden zugeschrieben, einer Magie, die, wie die alten Geschichten besagten, gut war. Aber Par war überzeugt davon, daß die Wahrheit irgendwo dazwischen lag. Magie an sich war niemals gut oder schlecht; sie war ganz einfach Macht. Das war die Lektion des Wunschliedes. Alles andere hing davon ab, wie die Magie benutzt wurde.

Par runzelte die Stirn. Wenn dem so war, was würde passieren, falls die Schattenwesen die Magie in einer Weise einsetzten, die keiner von ihnen bemerkte?

Vor ihnen lag im Sonnenlicht das Lager, das sie genauso vorfanden, wie sie es in der Nacht verlassen hatten. Die Pferde, die an ihren Pflöcken festgebunden waren, wieherten, als sie ihrer gewahr wurden. Par bemerkte, daß auch Coglines Pferd noch da war. Offensichtlich war der alte Mann nicht zurückgekehrt.

Er ertappte sich bei dem Gedanken daran, wie Cogline ihnen früher begegnet war; er war immer unerwartet aufgetaucht, bei jedem von ihnen, Walker Boh, Wren und ihm selbst, um ihnen mitzuteilen, was er zu sagen hatte, bevor er dann genau so plötzlich wieder verschwand. Jedesmal war es so gewesen. Er hatte jeden davon in Kenntnis gesetzt, was zu tun war, und sie dann allein entscheiden lassen. Vielleicht, dachte Par, war es genau das, was er auch jetzt tat – sie allein lassen, damit sie für sich selbst entscheiden konnten.

Sie erreichten das Lager. Irgend jemand sprach von essen oder schlafen, aber alle entschieden sich dagegen. Sie waren weder hungrig noch müde. Alle wollten jetzt über die Ereignisse der Nacht sprechen.

»Nun«, sagte Walker Boh, »da sich kein anderer findet, es auszusprechen, werde ich es tun. Diese ganze Angelegenheit ist der reine Wahnsinn. Paranor gibt es nicht mehr. Die Druiden gibt es nicht mehr. Seit mehr als hundert Jahren gibt es in den Vier Ländern auch keine Elfen mehr. Das Schwert von Shannara ist mindestens ebenso lang nicht mehr gesehen worden. Keiner von uns hat auch nur die leiseste Ahnung davon, wo wir diese Dinge finden sollen, falls das überhaupt möglich ist. Ich vermute, daß es nicht möglich ist. Ich glaube, daß die Druiden mit den Ohmsfords wieder einmal ihr Spiel treiben. Und mir gefällt das ganz und gar nicht!«

Sein Gesicht war gerötet. Par erinnerte sich daran, wie zornig er im Tal gewesen war, ja fast außer sich. Das war nicht der Walker Boh, den er in Erinnerung hatte.

»Ich bin nicht sicher, daß wir das, was sich dort oben ereignet hat, einfach als Spiel abtun können«, setzte Par an, bevor Walker Boh ihm das Wort abschnitt.

»Nein, natürlich nicht, Par – du hältst all das für eine Möglichkeit, deine Neugier zu befriedigen! Ich habe dich schon einmal darauf hingewiesen, daß die Magie nicht die Gabe ist, die du in ihr sehen willst, sondern ein Fluch. Warum beharrst du weiterhin darauf, sie als etwas anderes anzusehen?«

»Nehmen wir an, der Geist hat die Wahrheit gesprochen.« Colls Stimme klang ruhig und sicher und lenkte Walker Bohs Aufmerksamkeit von Par ab.

»Die Wahrheit kommt auf keinen Fall von diesen verkleideten Gaunern. Wann kam denn die Wahrheit schon einmal von ihnen? Sie erzählen uns ein bißchen von diesem und ein bißchen von jenem, aber niemals alles. Sie benutzen uns. Sie haben uns schon immer benutzt.«

»Dabei waren sie jedoch nicht unklug oder haben das, was getan werden mußte, außer Acht gelassen – so berichten es die Geschichten.« Coll gab nicht so leicht auf. »Versteh mich nicht falsch, Walker, ich will damit nicht sagen, daß wir unbedingt das tun sollten, was der Geist vorgeschlagen hat. Ich will nur sagen, daß es unvernünftig wäre, eine Sache aus einem einzigen Grund aufzugeben.«

»Das bißchen von diesem und jenem, von dem du sprichst – das hat sich doch alles als wahr erwiesen«, erwiderte Par. »Was du meinst, ist, daß Allanon zu Anfang nie die ganze Wahrheit gesagt hat. Er hat immer etwas verschwiegen.«

Walker Boh sah sie kopfschüttelnd an, als wären sie kleine Kinder. »Eine halbe Wahrheit kann so verheerend sein wie eine Lüge«, sagte er ruhig. »So viel solltest du wissen.«

»Onkel«, sagte Par, selbst erstaunt über den Tadel in seiner Stimme, »ich habe mich noch gar nicht entschieden.«

Walker Boh sah ihn lange an, mit einem Gesicht, in dem sich alle möglichen Gefühle spiegelten. »Wirklich nicht?« fragte er leise. Dann drehte er sich um und suchte seine Decken und sonstigen Habseligkeiten zusammen. »Ich habe meinen Entschluß gefaßt. Ich werde nichts tun, um Paranor und die Druiden in die Vier Länder zurückzubringen. Ich kann mir nicht vorstellen, was mir mehr zuwider wäre. Die Magie und die Hexerei dieser alten Männer zurückbringen, ihr Spiel mit dem Leben der Menschen, als wären sie nichts.« Er stand auf und sah ihnen in die Augen; sein blasses Gesicht war so hart wie Stein. »Ich würde mir lieber die Hand abhacken, als die Druiden zum Leben zu erwecken!«

Mit Bestürzung sahen die anderen einander an, als er sich abwandte, um seine Sachen vollends zusammenzupacken.

»Wirst du dich also in deinem Tal verstecken?« konterte Par, der jetzt ebenfalls zornig war.

Walker Boh sah ihn nicht an.

»Was passiert, wenn der Geist die Wahrheit gesprochen hat, Walker? Was passiert, wenn alles, was er vorhergesagt hat, eintrifft und die Macht der Schattenwesen eines Tages bis zum Kamin reicht? Was wirst du dann tun?«

»Was ich tun muß.«

»Mit deiner eigenen Magie?« stieß Par hervor. »Mit einer Magie, die du von Cogline gelernt hast?«

Sein Onkel blickte schnell auf. »Woher weißt du das?«

Trotzig schüttelte Par den Kopf. »Wo liegt denn schon der Unterschied zwischen deiner Magie und der der Druiden, Walker? Handelt es sich nicht um ein und dasselbe?«

Das Lächeln des anderen war hart und unfreundlich. »Manchmal, Par, bist du ein Narr«, erwiderte er und beschloß damit das Gespräch. Als er einen Augenblick später aufstand, war er ruhig. »Ich bin hierher gekommen, weil ich darum gebeten wurde, und habe gehört, was ich hören sollte. Damit bin ich meiner Pflicht nachgekommen. Ihr anderen müßt für euch selbst entscheiden, was ihr tun wollt. Was mich betrifft, habe ich damit nichts mehr zu tun.« Er schritt ohne zu zögern zwischen ihnen hindurch und wandte sich zu den Pferden. Er befestigte sein Bündel, stieg auf und ritt davon. Nicht einmal drehte er sich um.

Das war eine schnelle Entscheidung, dachte Par, eine Entscheidung, auf die Walker Boh geradezu versessen schien. Zu gern hätte er den Grund dafür gekannt. Als sein Onkel verschwunden war, sah er Wren an. »Wie steht’s mit dir?«

Die Fahrende schüttelte langsam den Kopf. »Ich muß mich nicht mit den Vorurteilen und der Befangenheit Walkers herumschlagen, aber seine Zweifel kann ich gut verstehen.« Sie ging auf einen Steinhaufen zu, auf dem sie sich niederließ.

Par folgte ihr. »Glaubst du, daß der Geist die Wahrheit gesprochen hat?«

Wren zuckte die Schultern. »Ich frage mich immer noch, ob der Geist wirklich der war, der er zu sein vorgab, Par. Ich fühlte, daß er es war, spürte es in meinem Herzen, und doch… Außer den Geschichten weiß ich nichts von Allanon, und auch die Geschichten kenne ich nicht genau. Du kennst sie besser. Was glaubst du?«

Par zögerte nicht. »Es war Allanon.« »Und du glaubst, daß er die Wahrheit gesagt hat?« Die anderen kamen schweigend näher. »Ich glaube, daß vieles dafür spricht, daß er es getan hat, ja.« Par teilte ihr seine Überlegungen während des Marsches zurück ins Tal mit. Er fühlte sich nicht mehr unsicher; seine Gründe waren jetzt gewichtig. »Ich habe noch nicht alles so bis ins Einzelne durchdacht, wie ich gern möchte«, endete er. »Aber welchen Grund hätte der Geist, uns hierherzubringen und uns das zu erzählen, was er erzählt hat, wenn der Grund nicht der wäre, die Wahrheit ans Licht zu bringen? Warum sollte er uns Lügen auftischen? Walker scheint davon überzeugt, daß wir getäuscht werden, obwohl ich nichts dergleichen entdecken kann und auch nicht wüßte, welchem Zweck es dienen sollte. – Außerdem«, fügte er hinzu, »hat Walker Angst – vor den Druiden, vor der Magie, wovor auch immer. Er verheimlicht uns etwas. Ich spüre es. Er spielt das Spiel, dessen er Allanon beschuldigt.«

Wren nickte. »Aber er versteht die Druiden.« Den verwirrten Ausdruck in Pars Gesicht quittierte sie mit einem traurigen Lächeln. »Sie verheimlichen das, was sie nicht preisgeben wollen. So sind sie eben. Auch hier gibt es Dinge, die verheimlicht werden. Was wir hier gehört haben, ist unvollständig. Es bleibt die Tatsache, daß wir in keiner Weise anders behandelt werden als unsere Vorfahren.«

Ihren Worten folgte ein langes Schweigen. »Vielleicht sollten wir heute ins Tal zurückkehren – vielleicht zeigt sich der Geist noch einmal«, schlug Morgan vor, wobei seine Stimme voller Zweifel war.

»Vielleicht sollten wir Cogline die Möglichkeit geben zurückzukommen«, fügte Coll hinzu.

Par schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß wir sie in Bälde wieder zu Gesicht bekommen. Ich bin sicher, daß wir unsere Entscheidungen ohne ihre Hilfe treffen müssen.«

»Der Meinung bin ich auch.« Wren erhob sich. »Ich soll die Elfen finden und sie in die Welt der Menschen zurückbringen. Eine wohl überlegte Formulierung, die ich aber trotzdem nicht verstehe. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo sich die Elfen aufhalten, nicht einmal, wo ich nach ihnen suchen könnte. Ich lebe schon seit fast zehn Jahren im Westland, Garth noch länger, und wir beide waren bereits überall, wo man nur hingehen kann. Ich kann euch versichern, daß sich nirgends Elfen aufhalten. Wo könnte ich noch suchen?« Sie trat näher zu Par und sah ihn an. »Ich gehe nach Hause. Hier kann ich nichts mehr tun. Sollten die Träume wiederkehren und mir einen Hinweis darauf geben, wo ich mit der Suche beginnen soll, werde ich vielleicht einen Versuch wagen. Aber im Augenblick…«

Sie zuckte die Schultern. »Also dann. Auf Wiedersehen, Par.« Sie umarmte und küßte ihn, um dann auch Coll, ja selbst Morgan zu umarmen und zu küssen. Den Zwergen nickte sie zu, bevor sie ihre Sachen zusammenpackte.

»Ich wünschte, du würdest ein bißchen länger bleiben, Wren«, rief Par.

»Warum kommst du nicht mit?« antwortete sie. »Im Westland wärst du wahrscheinlich besser aufgehoben.«

Par sah Coll an, der die Stirn runzelte. Morgan blickte beiseite. Par seufzte und schüttelte widerstrebend den Kopf. »Nein, ich muß mich zuerst entscheiden. Erst dann weiß ich, wo ich hingehen werde.«

Sie schien zu verstehen und nickte. Dann kam sie auf ihn zu. »Möglicherweise würde ich anders darüber denken, wenn ich wie du und Walker über die Magie verfügte, die mich schützt. Aber ich verfüge nicht darüber. Ich habe weder das Wunschlied noch Coglines Lehren, auf die ich mich verlassen könnte. Ich besitze lediglich einen Beutel mit gefärbten Steinen.« Sie küßte Par ein zweites Mal. »Falls du mich brauchst, findest du mich in Tirfing. Sei vorsichtig, Par.«

Sie ritt vor Garth aus dem Lager hinaus. Die anderen sahen ihnen nach. Minuten später waren sie nur noch kleine Fleckchen am westlichen Horizont.

Par wandte sich nach Osten, in die Richtung, in die Walker Boh geritten war. Es schien ihm, als wäre ihm ein Teil seines Selbsts abhanden gekommen. Coll bestand darauf, daß sie etwas aßen, alle, denn ihre letzte Mahlzeit hatten sie vor mehr als zwölf Stunden eingenommen, und es hatte wenig Sinn, mit nüchternem Magen eine Entscheidung zu treffen. Par war dankbar für die Ruhepause. Er aß die Suppe, die Steff gekocht hatte, danach Brot und Obst, trank mehrere Becher Bier und ging hinunter zur Quelle, um sich zu waschen. Als er zurückkam, befolgte er den Rat seines Bruders, sich einige Zeit auszuruhen, und schlief, nachdem er sich hingelegt hatte, unverzüglich ein.

Es war Mittag, als er erwachte; sein Körper schmerzte. Er hatte allerhand geträumt, das er lieber nicht geträumt hätte – von Felsen-Dall und seinen Suchern, die ihn durch leere, ausgebrannte Häuser verfolgt hatten, von Zwergen, die ihn im Angesicht der Besetzung ihres Landes hungernd und hilflos ansahen, von Schattenwesen, die hinter jeder dunklen Ecke, an der er auf seiner Flucht vorbeikam, lauerten, von Allanons Schatten, der ihm bei jeder neuen Gefahr warnende Worte zurief, aber gleichzeitig über ihn lachte. Er wusch sich noch einmal, trank unter einer Pappel noch ein Bier und aß einen zweiten Teller Suppe.

Coll leistete ihm beim Essen Gesellschaft. »Fühlst du dich besser? Du hast gar nicht gut ausgesehen, als du aufgestanden bist.«

Par schob den Teller beiseite. »Mir ging’s auch nicht gut. Aber jetzt fühle ich mich wieder in Ordnung.« Er lächelte.

Coll ließ sich am Baumstamm zu Boden gleiten, machte es sich bequem und starrte aus dem Schatten in die mittägliche Hitze. »Ich habe nachgedacht«, sagte er, wobei sein eckiges Gesicht einen nachdenklichen Ausdruck annahm. Er schien nur widerwillig weiterzureden. »Ich habe darüber nachgedacht, was ich tun würde, solltest du dich auf die Suche nach dem Schwert begeben.«

Augenblicklich drehte Par sich zu ihm um. »Coll, ich hab’ noch gar nicht…«

»Nein, Par. Laß mich ausreden. Wenn ich als dein Bruder eines gelernt habe, dann ist es das, daß man, wenn es um Entscheidungen geht, versuchen muß, dir zuvorzukommen. Andernfalls triffst du sie zuerst, und wenn du sie erst einmal getroffen hast, sind sie sozusagen in Stein gemeißelt.« Er sah ihn von der Seite an. »Du erinnerst dich vielleicht, daß wir darüber schon einmal gesprochen haben. Und ich wiederhole mich ständig, indem ich dir sage, daß ich dich besser kenne, als du dich selber kennst. Erinnerst du dich daran, wie du vor ein paar Jahren im Rappahalladran beinahe ertrunken wärst, als wir im Dulnwald auf Jagd nach dem silbernen Fuchs waren? Es hieß, daß es im ganzen Südland keinen einzigen silbernen Fuchs mehr gebe; aber als der alte Trapper behauptete, einen gesehen zu haben, war es schon um dich geschehen. Der Rappahalladran führte Hochwasser, es war Spätfrühling, und Vater verbot uns, den Fluß zu überqueren. In der Sekunde, in der du ihm das Versprechen gegeben hast, ihm zu gehorchen, wußte ich, daß du es brechen würdest.«

Par runzelte die Stirn. »Nun, ich würde sagen…«

Coll unterbrach ihn. »Die Sache ist die, daß ich in der Regel sehr wohl weiß, wann du dich zu etwas entschlossen hast. Und ich glaube, daß Walker recht hatte. Ich glaube, daß du dich bereits dafür entschieden hast, nach dem Schwert von Shannara zu suchen. Das hast du doch, oder nicht?«

Par starrte ihn mit großen Augen an.

»Deine Augen verraten mir, daß du es suchen willst, Par«, fuhr Coll ruhig fort. »Ob es existiert oder nicht, du wirst es suchen. Ich kenne dich. Du suchst es, weil du immer noch glaubst, daß du dadurch etwas über deine eigene Magie erfährst, weil du mit seiner Hilfe etwas Gutes und Edles tun willst. Sag jetzt nichts – hör mir zu.« Er hob die Hände, um Pars Widerspruch abzuwehren. »Ich halte das keineswegs für falsch. Ich verstehe es. Aber ich weiß nicht, ob du es zugeben kannst oder willst. Und du mußt es zugeben können, weil du sonst mit dir und dem, was du vorhast, nie Frieden schließen kannst. Ich weiß, daß ich keine Magie besitze, aber trotzdem verstehe ich die Probleme irgendwie besser als du.« Wehmütig hielt er inne. »Du bist jemand, der immer die Herausforderungen sucht, auf die andere gern verzichten. Das ist ein Teil der Erklärung für das, was hier passiert. Du erlebst, daß Walker und Wren sich zurückziehen, und sofort entschließt du dich, genau das Gegenteil zu tun. So bist du nun mal. Du könntest es jetzt nicht mehr lassen, selbst wenn du wolltest.« Nachdenklich wiegte er den Kopf. »Ob du es nun glaubst oder nicht, aber deswegen habe ich dich immer bewundert.« Dann seufzte er. »Ich weiß, es gibt noch andere Dinge, die in Betracht gezogen werden müssen. Unsere Eltern beispielsweise, die daheim im Tal immer noch unter Hausarrest stehen, und die Tatsache, daß wir keine Heimat mehr haben, keinen Ort, wohin wir zurückgehen könnten. Wenn wir der Suche nicht nachgehen, dieser Aufgabe, die Allanons Geist uns gestellt hat, wohin gehen wir dann? Was können wir sonst tun, um die Dinge nachhaltig zu verändern, wenn nicht nach dem Schwert von Shannara zu suchen? Das ist die eine Seite. Und dann…«

Par unterbrach ihn. »Du hast ›wir‹ gesagt.«

Coll hielt inne. »Was?«

Par beobachtete ihn kritisch. »Du hast ›wir‹ gesagt. Mehrere Male. Du sagtest: ›Was ist, wenn wir dieser Suche nicht nachgehen, wohin gehen wir dann?‹«

Coll nickte. »Ja, das habe ich. Ich fange an, über dich zu sprechen, und gleichzeitig spreche ich über mich. Wir sind uns so nah, daß ich manchmal das Gefühl habe, wir seien eins – und doch sind wir das nicht. Wir sind sehr verschieden, könnten gar nicht verschiedener sein. Du hast die Magie und die Möglichkeit, mehr darüber zu erfahren, und ich nicht. Du hast die Aufgabe und ich nicht. Was soll ich also tun, wenn du gehst, Par?«

Par schwieg.

»Nun, falls du gehst, hast du eine gefährliche Reise vor dir, und du wirst jemanden brauchen, der dir den Rücken freihält. Und genau das sollten Brüder füreinander tun.« Coll räusperte sich. »Wenn es nach mir ginge, das heißt, wenn ich du wäre, dann würde ich gehen.« Er lehnte sich an den Pappelstamm zurück und wartete.

Par atmete tief ein. »Um ehrlich zu sein, Coll, das ist das allerletzte, womit ich bei dir gerechnet hätte. Du würdest also gehen, wenn du ich wärst?« Er sah seinen Bruder wortlos an. »Ich weiß nicht, ob ich dir glauben soll.«

Sie sahen einander immer noch an, als Morgan sich zu ihnen gesellte und ihnen gegenüber Platz nahm. Auch Steff und Teel kamen herüber. Alle drei warfen einander Blicke zu. »Was ist los?« fragte Morgan schließlich.

Par sah ihn kurz an, ohne ihn wahrzunehmen. Er sah statt dessen das Land, das sich hinter ihm erstreckte, die Hügel mit ihren vereinzelten Wäldchen, die sich an die öden Berge der Drachenzähne anschlossen und in der hitzeflimmernden Luft verblaßten. Unter dem Baum war es still, und Par dachte an die Vergangenheit, erinnerte sich an die Zeiten, die er und Coll zusammen verbracht hatten. Die Erinnerungen bedeuteten eine Vertrautheit, die ihn tröstete.

»Nun?« beharrte Morgan.

Par blinzelte. »Coll sagt mir, daß er der Meinung ist, daß ich das tun sollte, was der Geist mir aufgetragen hat. Er ist der Meinung, daß ich das Schwert von Shannara suchen und finden muß.« Er hielt inne. »Was meinst du, Morgan?«

Morgan zögerte keinen Augenblick. »Ich meine, daß ich dich begleiten werde. Ich bin es leid, meine Zeit noch länger damit zu verbringen, daß ich die Dummköpfe, die versuchen, Leah zu regieren, an der Nase herumführe. Es gibt Sinnvolleres zu tun für einen Mann wie mich.« Er sprang auf die Beine. »Außerdem besitze ich eine Klinge, die darauf wartet, im Kampf gegen die schwarze Magie erprobt zu werden.« Er griff nach seinem Schwert. »Und wie alle hier bezeugen können, gibt es dafür keine bessere Gelegenheit, als Par Ohmsford Gesellschaft zu leisten!«

Par schüttelte den Kopf. »Morgan, du solltest nicht scherzen…«

»Scherzen! Das ist es ja gerade! Seit Monaten tue ich nichts anderes als scherzen. Und was habe ich bewirkt?« Morgans Gesichtszüge verhärteten sich. »Mit dir habe ich die Chance, etwas wirklich Sinnvolles zu tun, etwas, das sehr viel wichtiger ist, als den Feinden von Leah kleine Unannehmlichkeiten und Demütigungen zu bereiten.« Seine Augen wandten sich unvermittelt ab. »Steff, wie steht’s mit dir? Was hast du vor? Und du, Teel?«

Steff lächelte. »Nun, Teel und ich sind in diesem Punkt so ziemlich einer Meinung. Wir haben unsere Entscheidung bereits getroffen. Wir sind ja mit euch gekommen, weil wir gehofft haben, etwas zu finden, Magie oder sonst etwas, das unserem Volk helfen könnte, sich von der Föderation zu befreien. Wir haben dieses Etwas noch nicht gefunden, aber es ist möglich, daß wir ihm näher kommen. Was der Geist über die Schattenwesen gesagt hat, die schwarze Magie verbreiten und dazu in Männern, Frauen und Kindern leben, könnte sehr wohl eine Erklärung des Wahnsinns sein, der die Länder zerstört. Es könnte sogar der Grund dessen sein, warum die Föderation so bestrebt ist, das Rückgrat der Zwerge zu brechen! Ihr habt es mit eigenen Augen gesehen. Die schwarze Magie ist am Werk. Wir Zwerge spüren es eher als die anderen, weil das Ostland schon immer ein ideales Versteck der schwarzen Magie war. Der einzige Unterschied besteht jetzt darin, daß sie nicht mehr im Verborgenen wirkt, sondern vor aller Augen wie ein tollwütiges Tier, das uns alle bedroht. Deshalb hat der Geist vielleicht recht gehabt, als er gesagt hat, daß das Schwert von Shannara dieses Tier unschädlich machen wird.«

»Da hast du’s!« rief Morgan triumphierend. »Könntest du dir bessere Begleiter vorstellen, Par?«

Par schüttelte den Kopf. »Nein, Morgan, aber…«

»Dann sag, daß du es tun wirst! Vergiß Walker und Wren und ihre Ausreden! Denk daran, was wir alles erreichen werden!«

Steff beugte sich vor und stieß Morgan an. »Dräng ihn nicht so, Hochländer!«

Par blickte sie der Reihe nach an, Steff mit dem versteinerten Gesicht, die geheimnisvolle Teel, Morgan Leah, dessen Gesicht vor Eifer glühte, und schließlich Coll. Er erinnerte sich plötzlich daran, daß sein Bruder nicht dazu gekommen war, seine Entscheidung kundzutun. Er hatte lediglich gesagt, daß er an Pars Stelle gehen würde. »Coll…«, begann Par.

Aber Coll schien seine Gedanken zu lesen. »Wenn du gehst, gehe ich auch.«

Sie sahen einander lange an.

Par atmete tief ein. »Dann, glaube ich, ist die Angelegenheit entschieden«, sagte er. »Womit fangen wir an?«

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