12

Par Ohmsford trieb durch eine Welt der Träume. Seine Seele war in seinem Körper und gleichzeitig außerhalb davon, er war zugleich Täter und Zuschauer. Er spürte die stete Bewegung, die manchmal so stürmisch war wie eine Reise auf offenem Meer, dann wieder so sanft wie der Sommerwind, der durch die Bäume streicht. Er sprach mit sich selbst, abwechselnd in der dunklen Stille seines Geistes und dann aus dem Inneren eines Spiegelbildes. Seine Stimme war ein körperloses Flüstern oder ein donnerndes Gebrüll. Farben erschienen vor seinen Augen, die im nächsten Moment in schwarzweiße Bilder übergingen. Geräusche kamen und gingen. Auf seiner Reise war er alles und nichts.

Die Träume waren seine Wirklichkeit.

Zu Anfang träumte er, daß er fiel, daß er in ein Loch so schwarz wie die Nacht hinunterstürzte. Er fühlte Schmerz und Angst; es gelang ihm nicht, sein Selbst zu finden. Manchmal hörte er Stimmen, die ihn riefen, warnten, beruhigten und in Angst und Schrecken versetzten. Er wurde von Krämpfen geschüttelt. Irgendwie wußte er, daß er, sollte er nicht aufhören zu fallen, für immer verloren sein würde.

Endlich nahm der Fall ein Ende. Er wurde langsamer und kam zum Stehen, und seine Krämpfe ließen nach. Er befand sich inmitten einer Wiese voll Blumen, die in allen Regenbogenfarben leuchteten. Vögel und Schmetterlinge flogen bei seinem Näherkommen auf, und die Düfte, die aus den Feldern aufstiegen, waren mild und gut. Nicht ein Laut war zu hören. Er versuchte selbst einen Laut hervorzubringen, doch er stellte fest, daß er ohne Stimme war. Auch sein Tastsinn war nicht mehr vorhanden. Er fühlte weder sich selbst noch die Welt um sich herum. Er empfand wohltuende und besänftigende Wärme, aber mehr auch nicht.

So trieb er dahin, und eine Stimme tief in seinem Inneren flüsterte ihm zu, daß er tot sei.

Die Stimme, dachte er, war Walker Bohs Stimme.

Dann verwandelte sich die Welt der süßen Düfte und Anblicke in eine Welt der Dunkelheit und der üblen Gerüche. Feuer trat aus der Erde und bespuckte einen zornigen, besudelten Himmel. Schattenwesen huschten und sprangen vorbei, rote Augen funkelten, während sie ihn geißelten, einen Augenblick in der Luft schwebend, im nächsten sich versteckend. Gewitterwolken zogen blitzend über ihm hinweg, geboren aus einem Wind, der ohnmächtig heulte. Er spürte, wie er geschlagen und gestoßen, gleich einem trockenen Blatt über die Erde gewirbelt wurde, und er hielt es für das Ende allen Seins. Als sein Tastsinn und seine Stimme wiederkehrten, spürte er noch einmal den Schmerz, der ihn laut schreien ließ.

»Par?«

Er hörte die Stimme, und dann war sie wieder verklungen – Colls Stimme. Aber diesmal sah er Coll in seinem Traum, ausgestreckt vor einer Felsengruppe, leblos und blutüberströmt, mit Augen, die ihn anklagend ansahen. »Du hast mich allein gelassen. Du hast mich verlassen.« Er schrie, und die Magie des Wunschlieds warf ihre Bilder überall hin. Aber die Bilder verwandelten sich in Ungeheuer, die sich umwandten, um ihn zu verschlingen. Er spürte ihre Zähne und ihre Klauen. Er spürte ihre Berührung…

Er erwachte.

Regen tropfte auf sein Gesicht, und er öffnete die Augen. Dunkelheit umgab ihn und das Gefühl, daß er nicht allein war, ein Gefühl von Bewegung um sich herum und der Geschmack von Blut. Er hörte Schreie, Stimmen, die gegen die Wut eines Sturms anzuschreien versuchten. Er stand auf, würgend, speiend. Hände drückten ihn wieder nieder, glitten über seinen Körper und sein Gesicht.

»… wieder wach, haltet ihn…«

»… zu stark, als besäße er die Kraft von zehn…«

»Walker! Schnell!«

Bäume brachen im Hintergrund, gigantische Gewächse erhoben sich in das beängstigende Schwarz, der Wind heulte aus allen Richtungen. Sie warfen Schatten an die Felswände, die ihnen den Weg versperrten. Par hörte sich schreien.

Die zuckenden Blitze und der rollende Donner erfüllten die Finsternis mit Klängen des Wahnsinns. Eine riesige rote Welle verschleierte seinen Blick.

Plötzlich erschien Allanon – Allanon! Er kam aus dem Nichts, in schwarze Gewänder gehüllt, eine Gestalt aus uralter Zeit. Er beugte sich zu Par nieder; seine Stimme war ein Flüstern, dem es irgendwie gelang, durch das Chaos zu dringen. »Schlaf, Par«, murmelte er beschwichtigend. Eine knochige Hand berührte Par, und das Chaos löste sich in nichts auf und wurde abgelöst von einem grenzenlosen Gefühl des Friedens.

Par trieb wieder weg, weit in sein Selbst hinein, doch jetzt kämpfte er, weil er spürte, daß er leben konnte, wenn er es nur wollte. Ein Teil von ihm erinnerte sich an das Vergangene – daran, daß die Werbestien ihn gefangengenommen hatten, daß ihre Berührung ihn vergiftet, das Gift ihn krank gemacht und die Krankheit ihn in einen schwarzen Abgrund gestürzt hatte. Walker war gekommen, um ihn zu holen, hatte ihn gefunden und vor den Bestien gerettet. Er sah Ondits riesige gelbe Augen, die ihn warnend anblinzelten, bevor sich seine Lider senkten. Er sah Coll und Morgan. Er sah Steff, sein zynisches Lächeln, und Teel, die still wie immer war.

Er sah das mädchenhafte Schattenwesen, das wieder um eine Umarmung bat und versuchte, in ihn einzudringen. Er spürte, wie er sich wehrte, sah, wie sie zurückgeworfen wurde, beobachtete, wie sie verschwand. Himmel! Sie hatte versucht, in ihn einzudringen, sich Zugang zu ihm zu verschaffen und er selbst zu werden! Das war es also, dachte er in einem Anflug von Verstehen – körperlose Schattenwesen ergriffen Besitz von den Körpern von Männern, Frauen oder Kindern.

Aber hatten Schattenwesen ein eigenes Leben?

Seine Gedanken kreisten um nicht zu beantwortende Fragen. Sein Geist schlief, und seine Reise durch das Land der Träume ging weiter. Er kletterte auf Berge, die von Kreaturen wie dem Nager bewohnt waren, überquerte Flüsse und Seen aus Nebeln und unsichtbaren Gefahren, durchwanderte Wälder, in die kein einziger Lichtstrahl drang, und geriet in Sümpfe, in denen sich Nebelschwaden in luftlosen, leeren Hexenkesseln bewegten.

»Helft mir«, bat er. Aber es war niemand da, der ihn hätte hören können.

Die Zeit schien stehenzubleiben. Die Reise nahm ein Ende, und die Träume lösten sich in nichts auf. Nach einer kurzen Pause kam das Erwachen. Er wußte, daß er geschlafen hatte, aber nicht, wie lange er geschlafen hatte. Er wußte lediglich, daß, nachdem die Träume geendet hatten, er in einen traumlosen Schlaf gefallen war. Wichtiger war jedoch das Wissen, daß er lebte.

Behutsam streckte er eine Hand aus, spürte die Weichheit von Bettwäsche und wußte, daß er ausgestreckt auf einem Bett lag, warm und geborgen.

Dann öffnete er die Augen. Er befand sich in einem kleinen, spärlich eingerichteten Raum, der von einer Lampe erhellt wurde, die auf einem Tischchen neben seinem Bett stand. Die Wände des Zimmers waren kahl, die Deckenbalken lagen frei. Ein Federbett umhüllte ihn, und Kissen stützten seinen Kopf. Wo die Vorhänge der Fenster nicht ganz geschlossen waren, konnte er sehen, daß es draußen Nacht war.

Morgan Leah döste in einem Stuhl, der noch im Lichtschein der Lampe stand; sein Kinn lag auf seiner Brust, seine Arme waren locker verschränkt.

»Morgan«, rief Par.

Der Hochländer schlug die Augen auf, und sein Falkengesicht nahm sofort einen wachen Ausdruck an. Er sprang vom Stuhl auf. »Par! Par, bist du wach? Großer Gott, wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht!« Er stürzte ans Bett, um seinen Freund zu umarmen, besann sich aber eines Besseren. »Wie fühlst du dich? Bist du in Ordnung?«

Par grinste schwach. »Das weiß ich noch nicht. Ich bin immer noch am Aufwachen. Was ist passiert?«

»Was alles nicht passiert ist, solltest du fragen!« erwiderte der andere aufgeregt. »Weißt du, daß du beinahe gestorben wärst?«

Par nickte. »Ich habe es vermutet. Was ist mit Coll?«

»Er schläft und wartet darauf, daß du aufwachst. Ich hab’ ihn vor einigen Stunden zu Bett gebracht, als er vom Stuhl gefallen ist. Du kennst ja Coll. Warte, ich hol’ ihn.« Er lächelte. »Warte, sag’ ich zu dir, als ob du irgendwohin gehen könntest. Sehr komisch.«

Par lagen hundert Dinge auf dem Herzen, die er aussprechen, Fragen, die er stellen wollte, aber der Hochländer war bereits zur Tür hinaus. Par blieb ruhig liegen. Das einzige, was zählte, war, daß es Coll gut ging.

Fast augenblicklich kehrte Morgan mit Coll zurück, und Coll zögerte im Gegensatz zu Morgan keine Sekunde lang, bevor er sich zu Par hinunterbeugte und ihn vor lauter Freude fast erdrückte. Par umarmte ihn ebenfalls, wenn auch schwach, und die drei lachten, als hätten sie soeben den besten Witz ihres Lebens gehört.

»Himmel, wir dachten, du wärst verloren!« rief Coll. Er trug einen Verband an seiner Stirn, und sein Gesicht schien blaß. »Du warst sehr krank, Par.«

Par lächelte und nickte. »Kann mir denn jemand sagen, was geschehen ist?« Seine Augen wanderten von einem zum anderen. »Wo sind wir hier überhaupt?«

»In Storlock«, verkündete Morgan. »Walker Boh hat dich hergebracht.«

»Walker?«

»Hab’ mir gedacht, daß du überrascht sein wirst, wenn du das erfährst – daß Walker Boh aus dem Wildewald herausgekommen ist.« Morgan seufzte. »Tja, das ist eine lange Geschichte, und so wie ich das sehe, fangen wir am besten von vorne an.«

Genau das tat er auch. Mit der Hilfe von Coll erzählte er die Geschichte, wobei die beiden einander in ihrem Eifer, auch ja nichts außer Acht zu lassen, fast ständig unterbrachen. Par hörte mit steigender Überraschung zu, während sich die Geschichte vor ihm entfaltete.

Coll, so schien es, verfing sich in einer Schlinge der Spinnengnome, als diese sie auf der Lichtung am Ostende des Kamintales überfallen hatten. Er war zwar nur betäubt, doch als er das Bewußtsein wiedererlangte, waren Par und die Angreifer fort. Da es in Strömen geregnet hatte, waren die Spuren am Boden schnell verschwunden, und Coll war sowieso zu schwach, um die Verfolgung aufzunehmen. Er stolperte also zurück zur Hütte, wo er die anderen vorfand, und erzählte ihnen, was sich ereignet hatte. Obwohl es jetzt bereits dunkel war und immer noch regnete, bestand Coll darauf, daß sie sich auf den Weg machten und nach seinem Bruder suchten. Morgan, Steff, Teel und er selbst tappten stundenlang im Dunkeln herum und fanden nichts. Steff drang darauf, die Suche zu unterbrechen, auszuruhen und am nächsten Morgen weiterzusuchen.

»Wir trennten uns«, erzählte Coll, »weil wir versuchen wollten, ein möglichst großes Gebiet im nördlichen Tal zu durchsuchen. Aus den Geschichten von Brin und Jair Ohmsford wußte ich, daß die Spinnengnome auf dem Tofferkamm leben und es deshalb einleuchtend schien, daß sie von dort gekommen waren. Das hoffte ich wenigstens, weil wir sonst keine Anhaltspunkte hatten. Wir beschlossen, daß wir, sollten wir dich nicht sofort finden, bis zum Tofferkamm weitergehen würden.« Er schüttelte den Kopf. »Wir waren ziemlich verzweifelt.«

»Das waren wir«, pflichtete ihm Morgan bei.

»Jedenfalls war ich auf dem Weg zum nordöstlichen Rand des Tales, als völlig unerwartet Walker und diese riesige Katze, die so groß ist wie ein Haus, auftauchten. Er wollte wissen, was uns zugestoßen sei. Ich war dermaßen überrascht, ihn zu sehen, daß es mir gar nicht in den Sinn kam, ihn zu fragen, was er dort machte oder warum er nach dem ganzen Versteckspiel nun doch beschlossen hatte, zum Vorschein zu kommen. Ich habe ihm also nur erzählt, was er wissen wollte.«

»Weißt du noch, was er dazu gesagt hat?« unterbrach ihn Morgan, während seine grauen Augen, in denen eine Spur von Bosheit blitzte, Pars Augen suchten.

»Er sagte: ›Warte hier! Diese Sache ist nichts für dich; ich werde ihn zurückbringen‹, als ob wir Kinder wären, die verbotene Spiele spielen.«

»Aber er hat sein Wort gehalten«, bemerkte Morgan.

Coll seufzte. »Nun, das stimmt«, gab er widerwillig zu.

Walker Boh war einen ganzen Tag und eine Nacht weg gewesen, doch als er zum Kamin zurückkehrte, wo Coll und seine Gefährten gewartet hatten, brachte er Par mitsich. Par war dem Tode nahe. Die einzige Überlebenschance, die ihm laut Walker blieb, gab es in Storlock, der Gemeinde der Gnomenheiler. Die Störs hatten Erfahrung in der Behandlung von Krankheiten der Seele und des Geistes und konnten das Gift der Werbestien bekämpfen.

Sie machten sich sofort auf den Weg, sechs an der Zahl. Sie waren vom Kamin und dem Wildewald nach Westen gewandert, folgten dem Mangoldstrom aufwärts bis zum Wolfsktaag, überquerten den Jadepaß und erreichten schließlich das Dorf der Störs. Obwohl sie fast ununterbrochen gewandert waren, hatten sie zwei Tage gebraucht. Wäre Walker nicht gewesen, der mit Hilfe seiner Zauberkraft verhindert hatte, daß sich das Gift weiter in Pars Körper ausbreitete, wäre Par gestorben. Zuweilen hatte Par um sich geschlagen und geschrien, hatte Fieberträume gehabt und Blut gespuckt – einmal sogar inmitten eines furchtbaren Sturms, in den sie auf dem Jadepaß geraten waren.

»Wir sind seit drei Tagen in Storlock, und heute bist du zum erstenmal aufgewacht«, endete Coll. »Du warst dem Tod nahe, Par.«

Par sagte nichts. Obwohl seine Erinnerungen verschwommen waren, spürte er nur allzu gut, wie nahe er seinem Ende gewesen war. »Wo ist Walker?« fragte er schließlich.

»Das wissen wir nicht«, erwiderte Morgan achselzuckend. »Seit wir angekommen sind, haben wir ihn nicht mehr gesehen. Er ist einfach verschwunden.«

»Zurück in den Wildewald, nehme ich an«, fügte Coll mit Bitterkeit in der Stimme hinzu.

»Aber, aber, Coll«, beschwichtigte ihn Morgan.

Coll hob die Hände. »Ich weiß, Morgan – ich sollte ihn nicht tadeln. Er war da, als wir ihn gebraucht haben. Er hat Par das Leben gerettet, und dafür bin ich dankbar.«

»Außerdem glaube ich, daß er immer noch in der Nähe ist«, sagte Morgan leise. Als die anderen beiden ihn fragend ansahen, zuckte er nur die Schultern.

Par erzählte ihnen, was sich nach seiner Gefangennahme durch die Spinnengnome zugetragen hatte. Er war davon überzeugt, daß die Spinnengnome nur dazu ausgeschickt worden waren, ihn zu finden, denn andernfalls hätten sie auch Coll gefangengenommen. Das Schattenwesen hatte sie geschickt, das kleine Mädchen. Trotzdem blieb die Frage, wie sie wissen konnte, wer er war oder wo er zu finden war.

Schweigen senkte sich über den Raum, als sie ihren Gedanken nachhingen. »Die Magie«, meinte Morgan schließlich. »Sie haben sich scheinbar alle für die Magie interessiert. Auch diese Kreatur muß sie gefühlt haben.«

»Bis zum Tofferkamm?« Voller Zweifel schüttelte Par den Kopf.

»Und warum haben sie es dann nicht auch auf Morgan abgesehen?« fragte Coll plötzlich. »Schließlich gebietet er über die Magie des Schwertes von Leah.«

»Nein, nein, an dieser Art von Zauberkraft sind sie nicht interessiert«, antwortete Morgan sogleich. »An der Art von Magie, die Par besitzt, sind sie interessiert, sie sind von ihr geradezu angezogen – von einer Zauberkraft, die dem Körper oder Geist entspringt.«

»Das Schattenwesen hat versucht, in mich einzudringen«, sagte Par schließlich. »Es wollte sich mit mir vereinen, ein Teil von mir werden. Es wiederholte immer wieder: ›Drück mich, drück mich.‹«

Sie unterhielten sich noch ein Weilchen, grübelten über das Wenige, das sie über die Schattenwesen wußten, und über deren Interesse an der Magie nach. Dann erhoben sich Coll und Morgan. »Es ist Zeit für Par, sich auszuruhen«, bestimmten sie. Er war immer noch krank, immer noch schwach, und er mußte wieder zu Kräften kommen.

Par erinnerte sich plötzlich an das Hadeshorn. Wie viel Zeit blieb ihnen bis zum neuen Mond?

Coll seufzte. »Vier Tage – falls du immer noch gehen willst.«

Im Hintergrund sagte Morgan: »Wir sind in der Nähe, wenn du uns brauchst. Wunderbar, daß es dir wieder gut geht, Par.« Er schlüpfte zur Tür hinaus.

»Ja, wunderbar«, pflichtete Coll bei und drückte die Hand seines Bruders.

Als sie das Zimmer verlassen hatten, lag Par noch eine Zeitlang mit offenen Augen da und überließ sich seinen Gedanken. Fragen drängten sich ihm auf, die auf Antworten warteten, die er nicht geben konnte. Er war gejagt und verfolgt worden, von Varfleet bis zum Regenbogensee, von Culhaven bis zum Kamin, von der Föderation und den Schattenwesen, von Dingen, die er entweder nur vom Hörensagen kannte oder von deren Existenz er überhaupt nichts gewußt hatte. Alles drehte sich um die Magie, und trotzdem hatte ihm die Magie im Grunde genommen nichts genützt. Er war ständig auf der Flucht vor dem einen oder auf der Suche nach dem anderen, ohne das eine oder andere wirklich zu verstehen. Er fühlte sich hilflos.

Er schlief bis tief in den nächsten Tag hinein. Als er erwachte, regnete es. Er konnte das Tageslicht durch den Spalt zwischen den Vorhängen sehen. In der Ferne hörte er ein Donnergrollen, das in langem, ungleichmäßigem Getöse zu ihm ins Zimmer drang.

Er stützte sich auf einen Ellbogen auf und gewahrte, daß in einem kleinen Ofen ein Feuer brannte, das den Raum mit wohliger Wärme erfüllte und ihm ein Gefühl der Sicherheit verlieh. Neben seinem Bett standen Tee und Kekse. Er setzte sich auf und zog Tee und Kekse zu sich heran.

Er trank gerade die dritte Tasse Tee, als sich die Tür lautlos öffnete und Walker Boh im Zimmer erschien. Sein Onkel hielt kurz inne, als er bemerkte, daß Par wach war, schloß dann leise die Tür und kam an sein Bett. Er war in waldgrüne Gewänder gehüllt. »Fühlst du dich besser?« fragte er leise.

Par nickte und stellte seine Tasse beiseite. »Ich glaube, ich muß mich bei dir bedanken. Du hast mich vor den Werbestien gerettet. Es war deine Idee, mich nach Storlock zu bringen. Coll und Morgan haben mir erzählt, daß du sogar Zauberkraft eingesetzt hast, damit ich die Reise überstünde.«

»Zauberkraft.« Leise wiederholte Walker das Wort. »Mein Erbe von Brin Ohmsford. Ich bin nicht mit dem Fluch ihrer gesamten Kraft belegt – nur mit einem Teil davon. Trotzdem verwandelt er sich hin und wieder in die Gabe, die er deiner Meinung nach ist. Dann bin ich in der Lage, auf ein anderes Lebewesen Einfluß zu nehmen, seine Lebenskraft zu spüren und sie manchmal sogar zu stärken – obwohl ich nicht weiß, ob man das Zauberkraft nennen kann.«

»Und das, was du zu meinem Schutz mit den Werbestien gemacht hast, war das nicht Zauberkraft?«

Die Augen seines Onkels wandten sich von ihm ab. »Das habe ich gelernt«, sagte er schließlich.

Par wartete einen Augenblick, doch als sein Onkel dem nichts hinzufügte, sagte er: »Auf jeden Fall bin ich dir sehr dankbar.«

Der andere schüttelte den Kopf. »Ich verdiene deinen Dank nicht. Es war meine Schuld, daß es überhaupt so weit gekommen ist.« Er setzte sich auf die Bettkante. »Wenn ich dich beschützt hätte, so wie es meine Aufgabe gewesen wäre, wäre es den Spinnengnomen niemals gelungen, in das Tal einzudringen. Sie konnten es deshalb tun, weil ich mich lieber von dir ferngehalten habe. Du hast alle möglichen Risiken auf dich genommen, um mich zu finden; ich hätte wenigstens dafür sorgen müssen, daß dir, nachdem du mich gefunden hattest, nichts zustößt. Ich habe versagt.«

»Ich gebe dir keine Schuld an dem, was geschehen ist«, sagte Par schnell.

»Aber ich gebe mir die Schuld.« Walker erhob sich, trat zum Fenster und starrte in den Regen hinaus. »Ich lebe allein, weil ich es so wollte. Aber zuweilen vergesse ich, daß es nicht das Gleiche ist, ob man allein ist oder sich vor den anderen versteckt. Auch der Abstand, den wir zwischen uns und den anderen errichten können, hat seine Grenzen – weil in unserer Welt das Absolute keinen Platz hat. Ich habe mich versteckt, als du nach mir gesucht hast. Deshalb warst du schutzlos.«

Par verstand nicht, was Walker damit sagen wollte, aber er zog es vor, ihn nicht zu unterbrechen.

Walker wandte sich vom Fenster ab. »Ich habe dich in der ganzen Zeit, seit du hier bist, erst einmal besucht, heute«, sagte er, während er sich dem Bett näherte. »Weißt du das?«

Par nickte und schwieg.

»Du sollst nicht glauben, daß ich dich mißachten wollte. Aber ich wußte, daß du in Sicherheit bist, daß es dir gut gehen würde, und ich brauchte Zeit zum Nachdenken. Nachdem die Störs mir berichtet haben, daß du aufgewacht bist, daß das Gift deinen Körper verlassen hat, habe ich beschlossen, dich zu besuchen.« Walkers Blick schweifte ab. Als er weitersprach, schien er seine Worte sorgfältig zu wählen. »Ich habe über die Träume nachgedacht. Ich habe damit gerechnet, daß du kommen würdest, als die Träume begannen. Ich habe über diese Möglichkeit nachgedacht und mir überlegt, was ich dir sagen könnte.« Er hielt inne. »Wir sind uns auf eine gewisse Weise ähnlich, Par. Wir sind beide Erben der Magie, doch dazu kommt, daß wir eine vorbestimmte Zukunft teilen, die uns sehr wohl das Recht auf Selbstbestimmung verwehren könnte.« Wieder zögerte er. »Ich will damit sagen, Par, daß wir die Kinder von Brin und Jair Ohmsford sind, die Erben der Magie des Elfenhauses von Shannara, die Bewahrer eines Geheimnisses. Allanon war es, der uns dieses Geheimnis anvertraut hat, er war es, der auf seinem Totenbett zu Brin gesagt hat, daß die Ohmsfords die Magie über Generationen hüten würden, bis sie wieder gebraucht werde.«

Par nickte langsam. »Du glaubst also, daß wir diejenigen sein könnten, für die das Geheimnis bestimmt war?«

»Ja, das glaube ich – und diese Möglichkeit jagt mir Angst ein, so wie mir noch nie etwas Angst eingejagt hat! Ich fürchte mich davor! Ich will mit den Druiden und ihren Geheimnissen nichts zu tun haben! Ich will auch nichts zu tun haben mit der Elfenmagie, mit ihren Forderungen und ihren Tücken! Ich möchte nur allein gelassen werden, ich möchte mein Leben auf eine Weise leben, die ich für nützlich und befriedigend halte – und sonst nichts!«

Par senkte vor dem Zorn, der aus den Worten des anderen sprach, die Augen. Dann lächelte er traurig. »Manchmal liegt es nicht an uns zu entscheiden, Walker.«

Walker Bohs Antwort fiel anders aus als erwartet. »Zu der Meinung bin ich auch gelangt.« Sein schmales Gesicht war hart. »Während ich darauf gewartet habe, daß du wieder aufwachst, bin ich zu dieser Meinung gelangt.« Er schüttelte den Kopf. »Weil ich mich im Wildewald versteckt habe, bist du fast ums Leben gekommen. Ich könnte mich wieder so verhalten. Und welchen Preis müßte ich dann bezahlen?«

Par schüttelte den Kopf. »Du kannst dich nicht für die Risiken, denen ich mich freiwillig ausgesetzt habe, verantwortlich machen, Walker. Kein Mensch kann diese Last der Verantwortung tragen.«

»Da bin ich anderer Meinung, Par. Er muß sie sogar tragen, wenn er über die notwendigen Kräfte verfügt. Begreifst du das nicht? Wenn ich über die Kräfte verfüge, bin ich verpflichtet, davon Gebrauch zu machen. Tja, ich bin gekommen, um dir etwas zu sagen, und ich habe es dir immer noch nicht gesagt. Es wird am besten sein, wenn ich es hinter mich bringe… Ich gehe mit dir«, sagte er schlicht.

Par erstarrte vor Überraschung. »Zum Hadeshorn?«

Walker Boh nickte. »Um Allanons Schatten zu treffen – falls es tatsächlich Allanons Schatten ist, der uns gerufen hat – und um zu hören, was er zu sagen hat.«

Seine knochige Hand legte sich kurz auf die von Par. »Ruh dich jetzt aus. Wir haben eine weite Reise vor uns. Laß mich für die Vorbereitungen sorgen. Ich werde den anderen Bescheid geben und dich abholen, wenn es Zeit ist, daß wir uns auf den Weg machen.«

Walker Boh stand zu seinem Wort. Zwei Tage später, kurz nach Sonnenaufgang, erschien er mit Pferden und Proviant. Par war in den vergangenen anderthalb Tagen auf den Beinen gewesen; er hatte sich ziemlich gut erholt. Er war angekleidet und wartete mit Steff und Teel auf der Veranda des Hauses, als sein Onkel, gefolgt von den Tragtieren, aus dem Schatten des Waldes trat.

»Hier kommt ein Fremder«, murmelte Steff. »Hab’ ihn in der ganzen Zeit höchstens fünf Minuten gesehen. Und jetzt ist er plötzlich wieder da, einfach so. Mehr Geist als Mensch.«

»Walker Boh ist wirklich«, antwortete Par, ohne den Zwerg anzuschauen. »Ein Mensch, der von seinen eigenen Geistern verfolgt wird.«

»Tapfere Geister, wie ich das sehe.«

»Du fürchtest dich noch immer vor ihm, nicht wahr?«

»Mich fürchten?« Steffs Lachen war rauh. »Hast du das gehört, Teel? Er will mich auf die Probe stellen!« Einen Augenblick wandte er sein narbiges Gesicht Par zu. »Nein, er flößt mir keine Angst mehr ein. Er bringt mich nur zum Nachdenken.«

Coll und Morgan erschienen, und die kleine Kolonne machte sich bereit zum Aufbruch. Störs eilten herbei, um sich von ihnen zu verabschieden, als die Gefährten ihre Pferde bestiegen.

Walker sprach mit einem oder zweien; seine Worte waren so leise, daß kein anderer sie verstehen konnte. Dann blickte er sich noch einmal nach ihnen um. »Ich erhoffe für uns viel Glück, meine Freunde«, sagte er und wandte sein Pferd nach Westen, zur Ebene hin.

Viel Glück, weiß Gott, das brauchen wir, dachte Par Ohmsford.

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