9

Der Marsch zum Jadepaß dauerte länger, als Steff vermutet hatte, und es war fast Mitternacht, als sie ihn erreichten. Sie schliefen in einer schmalen Schlucht, die uralte Fichten schützend umgaben. Sie waren so erschöpft, daß sie weder an Essen noch an Feuer dachten, sondern sich einfach in ihre Decken wickelten und einschliefen. In dieser Nacht träumte Par von dem Nager. Unbarmherzig verfolgte ihn dieser, ein kaum auszumachender Schatten, der nichtsdestotrotz so wirklich war wie er selbst. Der Schatten kam, um ihn zu holen, und er rannte, um ihm zu entkommen. Schließlich drängte ihn die Bestie in eine Felsnische. Er fuhr aus dem Schlaf auf.

Um ihn herum war es dunkel, obwohl der Himmel im Osten bereits hell zu werden begann; seine Gefährten schliefen noch. Sein Gesicht und sein Körper waren schweißgebadet, sein Atem ging schnell und röchelnd. Er legte sich wieder hin, konnte jedoch nicht mehr einschlafen.

Am Morgen machten sie sich auf den Weg nach Osten in den mittleren Anar und wanderten durch einen Irrgarten von bewaldeten Hügeln und Schluchten. Sie sprachen nur wenig. Der Tag war verhangen, und der Wald um sie herum schien auf irgendeine Weise noch geheimnisvoller. Gegen Mittag erreichten sie die Wasserfälle des Mangoldstroms und folgten bis zur Dämmerung dem Fluß.

Der nächste Tag brachte Regen und Nebel. Ihre Reise wurde beschwerlich. Sie kamen an der Rooker-Handelsstation vorbei, die zu Zeiten Jair Ohmsfords eine winzige Handelsniederlassung für Jäger und Händler gewesen war, in der jedoch später ein blühender Pelzhandel betrieben wurde, bis der Krieg zwischen den Zwergen und der Föderation diesen zerschlagen und schließlich allen Handelsgeschäften im Ostland nördlich von Culhaven ein Ende gesetzt hatte. Jetzt stand sie leer, ohne Fenster und Türen; das Dach war morsch.

Während des Mittagessens, das sie unter dem Schutzdach einer riesigen alten Weide am Fluß einnahmen, sprach Steff beunruhigt von dem Nager und betonte noch einmal, daß noch nie ein Nager westlich des Rabenhorns gesichtet worden sei. Woher war also dieser Nager gekommen? Was hatte ihn hierher verschlagen? Aus welchem Grund hatte er sie verfolgt?

Die kleine Kolonne setzte ihren Weg in der Dunkelheit fort und folgte dem Mangoldstrom, der sich seinen Weg nach unten in den Dunkelstreif bahnte. Die Reise wurde immer beschwerlicher; der Waldboden war mit dichtem Unterholz, abgestorbenen Asten und Baumstämmen bedeckt, so daß der Pfad kaum noch auszumachen war. Als sie gegen Mittag dem Fluß den Rücken kehrten, verwandelte sich die Landschaft in ein Gewirr aus Wasserläufen und Schluchten. Sie schleppten sich mühsam durch den Schlamm und die Büsche; Steff, der den Weg bahnte, schnaufte schwer. Wenn er marschierte, glich der Zwerg einer rastlosen Maschine. Nur Teel konnte mit ihm mithalten, obwohl sie kleiner als Steff war. Es waren die Brüder und der Hochländer, die irgendwann ermüdeten, deren Muskeln sich verkrampften und deren Atem immer schwerer ging. Sie begrüßten jede kleine Pause, die der Zwerg ihnen gewährte, und jedesmal, wenn sie wieder aufbrachen, konnten sie seiner Aufforderung nur mit größter Mühe nachkommen.

Erst am Spätnachmittag hörte der ständige Regen auf, und plötzlich teilten sich die Wolken, um vereinzelte Sonnenstrahlen durchzulassen. Sie erklommen einen Bergkamm und erblickten unter sich ein flaches, bewaldetes Tal, das von einer seltsamen Felsformation beherrscht wurde. Sie erhob sich aus den Bäumen wie ein riesiger Wächter.

Steff bedeutete den anderen stehenzubleiben und zeigte nach unten. »Da«, sagte er leise. »Falls wir Walker Boh wirklich aufspüren, dann dort unten.«

Par vergaß darüber seine Erschöpfung und starrte ungläubig Steff an. »Ich kenne diesen Ort!« rief er aus. »Es ist der Kamin! Ich kenne ihn aus den Geschichten! Hier ist Cogline zu Hause!«

»War«, berichtigte Coll ihn müde.

»War, ist, was macht das schon für einen Unterschied?« Par war ganz aufgeregt, als er sprach. »Die Frage ist, was macht Walker Boh hier? Andererseits hat es auch wieder Sinn, daß er sich hier aufhält, da dies einmal die Heimstatt der Bohs war; aber es war natürlich auch Coglines Heim. Falls Walker Boh sich tatsächlich hier aufhält, warum hat uns der alte Mann nichts davon gesagt? Es sei denn, der alte Mann ist nicht Cogline, oder er hat aus irgendeinem Grund nicht gewußt, daß Walker hier ist, oder Walker…« Plötzlich ganz verwirrt, hielt er inne. »Bist du sicher, daß das der Ort ist, wo mein Onkel angeblich lebt?« wollte er von Steff wissen.

Der Zwerg hatte ihn die ganze Zeit über angestarrt, als sähe er einen dreiköpfigen Hund. Jetzt zuckte er die Schultern. »Ich weiß nur sehr wenig und lege mich auf noch viel weniger fest. Ich habe lediglich gehört, daß dies der Ort ist, an dem sich der Mann aufhalten soll. Sobald du also deine große Rede beendet hast, sollten wir einfach hinuntergehen und nachschauen.«

Par verstummte, und sie begannen ihren Abstieg. Als sie die Talsohle erreichten, stellten sie überrascht fest, daß der Waldboden weder mit Gebüsch noch mit abgestorbenem Holz bedeckt war. Die Bäume gaben den Blick auf Lichtungen frei, die von Bächen durchkreuzt und mit winzigen weißen, blauen und tiefvioletten Blumen übersät waren. Stille umgab sie. Par vergaß darüber die Gefahren und die Mühsale der Reise und richtete seine Gedanken statt dessen auf den Mann, dem er bis hierher gefolgt war. Er war verwirrt, aber er kannte wenigstens den Grund seiner Verwirrung. Als Brin Ohmsford vor dreihundert Jahren in den Dunkelstreif gekommen war, war der Kamin die Heimstatt Coglines und des Kindes Kimber Boh gewesen, das er als seine Enkelin ausgab. Der alte Mann und das kleine Mädchen hatten Brin zum Maelmord geleitet, wo sie dem Ildatch begegnete. Danach waren sie Freunde geblieben, und diese Freundschaft hatte zehn Generationen überdauert. Walker Bohs Vater war ein Ohmsford und seine Mutter eine Boh. Er konnte seine Ahnen auf seines Vaters Seite bis zu Brin zurückverfolgen und auf Seiten seiner Mutter bis zu Kimber. Es war deshalb nur verständlich, daß er hierher zurückkommen würde – es war dagegen unverständlich, daß der alte Mann, der Mann, der sich als Cogline ausgab, der vor dreihundert Jahren gelebt hatte, nichts davon wissen sollte.

Par zog die Stirn in Falten. Was hatte der alte Mann über Walker Boh gesagt, als sie mit ihm gesprochen hatten? Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. Nur, daß er wußte, daß Walker am Leben war, antwortete er sich. Nur das und sonst nichts.

Aber gab es da noch etwas, das der alte Mann ihnen verschwiegen hatte? Par war sich dessen sicher. Und er wollte dahinterkommen, was es war.

Die wenigen Strahlen des späten Sonnenscheins zogen sich wieder zurück, und die Dämmerung umhüllte das Tal mit dunklen grauen Schatten. Der wolkenlose Himmel war übersät mit unzähligen Sternen, und der abnehmende Mond tauchte den Wald in ein milchiges Licht. Die kleine Kolonne bewegte sich vorsichtig weiter, immer in Richtung der kaminartigen Felsformation. Sie überquerten Dutzende von kleinen Bächen und gingen durch einen Irrgarten von Lichtungen. Es war still im Wald, aber sie empfanden die Stille nicht als bedrohlich. Coll versetzte Par einen kleinen Stoß, als er ein graues Eichhörnchen bemerkte, das auf seinen Hinterbeinen saß und ernst auf sie herabsah. Die Nacht war erfüllt von Geräuschen.

»Irgendwie fühle ich mich hier beschützt, du nicht auch?« fragte Par seinen Bruder, und Coll nickte.

Fast eine Stunde lang marschierten sie weiter, ohne jemand zu begegnen. Sie befanden sich ungefähr in der Mitte des Tales, als ein Lichtstrahl zwischen den Bäumen auf sie fiel. Steff verlangsamte seinen Schritt, bedeutete ihnen, auf der Hut zu sein, und ging dann wieder voraus. Das Licht kam immer näher. Eine Lampe! dachte Par. Er drängte sich zu Steff vor. »Es ist eine Hütte«, flüsterte er dem Zwerg zu.

Sie traten auf eine breite, grasgrüne Lichtung hinaus. Es befand sich tatsächlich eine Hütte dort, genau in der Mitte der Lichtung, eine gut erhaltene Hütte aus Stein und Holz mit Veranden auf der Vorder- und Rückseite, gepflasterten Wegen und einem Garten mit blühenden Büschen. Fichten und Pinien umgaben das Häuschen wie kleine Wachtürme. Der aus seinen Fenstern flutende Lampenschein tauchte den Rasen in helles Licht.

Die Vordertür stand offen.

Par wollte sofort darauf zugehen, doch Steff hielt ihn mit einem kräftigen Griff davon ab. »Ein bißchen Vorsicht könnte nichts schaden«, belehrte er ihn. Er flüsterte Teel etwas zu, wandte sich dann von ihnen ab, um allein zur Hütte zu gehen, und huschte über die Lichtung, sorgsam darauf bedacht, die Schatten der Bäume auszunutzen und gleichzeitig die Tür im Auge zu behalten. Die anderen sahen ihm nach. Als er die Veranda erreichte, kauerte er sich zunächst lange Zeit davor nieder, bevor er mit schnellen Schritten die Stufen hinauf- und ins Haus hineinsprang. Nach einem Augenblick des Schweigens erschien er in der Tür und winkte sie herbei.

Als sie ihn erreichten, sagte er: »Es ist niemand zu Hause. Aber es scheint, als hätte man uns erwartet.«

Den Sinn seiner Worte begriffen sie, als sie hineintraten. Zwei Kamine befanden sich an den einander gegenüberliegenden Wänden des Hauptraums; vor dem einen waren Stühle und Bänke zu einer Art Sitzgruppe zusammengestellt worden, der andere diente als Kochstelle. In beiden brannte ein loderndes Feuer. Auf der Kochstelle köchelte ein Eintopf, und das heiße Brot war zum Abkühlen auf ein Brett gelegt worden. Ein langer Tisch war sorgfältig für fünf Personen gedeckt. Par ging darauf zu, um alles in Augenschein zu nehmen. Alle fünf Becher enthielten kühles Bier.

Die Gefährten sahen einander an, bevor sie ihre Blicke durch den Raum schweifen ließen. Das Holz der Wände und Balken schien poliert und gewachst. Silberbesteck, Gläser, Holzschnitzereien und Wandbehänge glänzten und schimmerten im Schein der Öllampen und Kaminfeuer. Frische Blumen standen sowohl auf dem langen Tisch wie auch in der Sitzecke. Durch einen Gang gelangte man zu den Schlafräumen. Die Hütte war hell, heiter und leer.

»Gehört sie Walker?« fragte Morgan. Irgendwie paßte all das nicht in das Bild, das er sich von dem Mann gemacht hatte.

Par schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich sehe nichts, was ich wiedererkennen würde.«

Morgan schlüpfte leise in den hinteren Gang, blieb kurz verschwunden und kehrte dann wieder zurück. »Nichts«, erklärte er enttäuscht.

Coll gesellte sich zu Par, sog den Duft, der aus demTopf strömte, ein und zuckte die Schultern. »Tja, es sieht so aus,als sei unser Kommen doch keine so große Überraschung. Ich weiß nicht, wie’s mit euch ist, aber der Eintopf riecht verdammt gut. Und da sich jemand die Mühe gemacht hat zu kochen – Walker Boh oder sonst jemand –, glaube ich, daß wir uns wenigstens hinsetzen und essen sollten.«

Par und Morgan ließen sich nicht lange bitten, und selbst Teel schien nicht abgeneigt. Auch Steff stimmte zu. Nichtsdestotrotz bestand er darauf, sich zuerst zu vergewissern, daß das Essen nicht vergiftet war. Als er schließlich verkündete, daß es genießbar sei, setzten sie sich und machten sich hungrig darüber her.

Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, räumten sie den Tisch ab, wuschen das Geschirr und stellten es vorsichtig in einen dafür bestimmten Schrank zurück. Danach durchsuchten sie die Hütte ein zweites Mal. Sie fanden nichts.

Sie saßen noch bis nach Mitternacht am Feuer und warteten. Niemand kam. Im hinteren Teil der Hütte befanden sich zwei Schlafzimmer mit je zwei Betten, die mit frischen Leintüchern und Decken bezogen waren. Sie schliefen abwechselnd, und immer einer hielt für die anderen Wache. Ihr Schlaf blieb unbehelligt. Die Morgendämmerung beendete ihren Schlaf, der sie erfrischt hatte. Noch immer kam niemand.

Im Laufe des Tages durchsuchten sie das ganze Tal von einem Ende zum anderen, von der Hütte bis zu dem seltsamen, kaminförmigen Felsen. Das Sonnenlicht und eine leichte Brise sowie der Duft der Pflanzen erfüllten den warmen, hellen Tag. Sie wanderten langsam an den Bächen entlang, folgten den Pfaden, durchstreiften die wenigen Senken. Sie entdeckten vereinzelte Spuren, die alle von Tieren stammten. Vögel flogen über sie hinweg, jähe Farbblitze leuchteten zwischen den Bäumen auf, winzige Waldbewohner beobachteten sie aus scharfen Augen, und Insekten schwirrten und surrten. Irgendwann, als Par und Coll die Westseite des Felsenturms absuchten, stellte sich ihnen ein Dachs in den Weg und weigerte sich, sie vorbeizulassen. Sonst sahen sie nichts.

An diesem Abend mußten sie ihre Mahlzeit selbst zubereiten, aber im Kühlraum fanden sie frisches Fleisch und Käse, im Garten Gemüse, und Brot vom Vortag war auch noch vorhanden.

Die Brüder zierten sich nicht lange, und überzeugt davon, daß man genau das von ihnen erwartete, drängten sie die anderen, es ihnen ungeachtet der Befürchtungen von Steff gleichzutun. Der Tag ging in eine warme und angenehme Nacht über, und sie fingen an, sich in ihrer neuen Umgebung wohlzufühlen. Steff saß mit Teel vor dem Kaminfeuer und rauchte seine lange Pfeife, während Par mit Coll in der Küche das Geschirr abwusch und Morgan sich auf den Vorderstufen auf Wache begeben hatte.

»Irgend jemand hat sich sehr viel Mühe gegeben, diese Hütte so herzurichten«, bemerkte Par, als sie ihre Arbeit erledigt hatten. »Es scheint mir ziemlich unvernünftig, daß die Besitzer sie einfach verlassen haben.«

»Vor allem, nachdem sie sich die Zeit genommen haben, uns einen Eintopf zu kochen«, fügte Coll hinzu. Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Glaubst du, daß sie Walker gehört?«

»Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich wüßte es.«

Es war bereits weit nach Mitternacht, als er gähnend auf die vordere Veranda hinaustrat und nach der wachehaltenden Teel Ausschau hielt, um sie abzulösen. Zuerst konnte er die Zwergin nirgends entdecken, und erst als er vollkommen wach war, tauchte sie einige Dutzend Meter entfernt hinter einer Fichte auf. Sie huschte lautlos auf ihn zu, um dann wortlos in der Hütte zu verschwinden. Par blickte ihr neugierig nach, setzte sich auf die Stufen, stützte das Kinn in die Hände und starrte in die Dunkelheit hinaus.

Er hatte fast eine Stunde lang so dagesessen, als das Geräusch an sein Ohr drang.

Es war ein seltsames Geräusch, eine Art Summen wie von einem Schwärm von Bienen, gleichzeitig aber tiefer und rauher. Er hörte es, und dann war es auch schon wieder verklungen. Zuerst dachte er, es sei nur Einbildung gewesen. Doch dann hörte er es wieder, nur einen Augenblick, bevor es wieder verklang.

Er stand auf und schaute sich zögernd um, bevor er langsam zum Weg hinüberging. Ein sternklarer Himmel erhellte die Nacht. Der Wald um ihn herum schien leer. Er fühlte sich wieder sicher und schlenderte langsam um das Haus herum nach hinten. Unter einer alten Weide fand er zwei alte Bänke. Er ging darauf zu und lauschte noch einmal in die Dunkelheit, hörte aber nichts. Er nahm auf einer der Bänke Platz. Eine Zeitlang saß er nur da, starrte durch die hängenden Zweige der Weide, gab sich in der Dunkelheit seinen Tagträumen hin und lauschte der Stille der Nacht. Er mußte an seine Eltern denken und fragte sich, ob es ihnen gut ging, ob sie sich seinetwegen Sorgen machten. Shady Vale war nur noch eine verschwommene Erinnerung.

Einen Augenblick schloß er die Augen, um die aufkommende Müdigkeit abzuschütteln. Als er die Augen wieder öffnete, stand die Moorkatze vor ihm.

Der Schreck, der ihm in die Glieder fuhr, machte ihn unfähig, sich zu bewegen. Die Augen der Katze leuchteten goldfarben in der Nacht. Sie war das größte Tier, das Par jemals gesehen hatte, größer noch als der Nager. Sie war von Kopf bis Fuß pechschwarz, mit Ausnahme der Augen, die ihn unverwandt und ohne zu blinzeln anstarrten.

Dann begann die Katze zu schnurren, und er erkannte, daß es dasselbe Geräusch war, das er zuvor gehört hatte. Die Katze drehte sich um, entfernte sich einige Schritte und blickte sich dann abwartend um. Da Par sie weiterhin nur anstarrte, kam sie unverzüglich zurück, um sich dann von neuem zu entfernen, innezuhalten und zu warten.

Par wurde klar, daß sie darauf wartete, daß er ihr folgte. Geistesabwesend erhob er sich, machte ein paar Schritte in ihre Richtung, und die Katze ging weiter voran, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden war. Par hatte keine Mühe, der Katze zu folgen. Der Schreck ließ langsam nach und verwandelte sich in Neugier. Jemand hatte die Katze zu ihm geschickt, und er glaubte zu wissen, wer dieser Jemand war.

Schließlich erreichten sie eine Lichtung, in deren Mitte sich mehrere Bäche in einen weiten, mondbeschienenen Teich ergossen. Die alten Bäume waren riesig, und ihreZweige und Äste warfen ein kunstvolles Schattenmuster auf ihre Umgebung. Auf leisen Sohlen näherte sich die Katze dem Teich, trank daraus, setzte sich dann hin und sah Par an. Dieser blieb stehen.

»Hallo, Par«, begrüßte ihn jemand.

Par suchte kurz die Lichtung ab, bevor er den Sprecher, der auf einem knorrigen Baumstumpf saß und kaum von den Schatten um ihn herum zu unterscheiden war, ausmachen konnte. Der Mann erhob sich und trat ins Licht.

»Hallo, Walker«, rief Par.

Sein Onkel sah noch so aus, wie er ihn in Erinnerung hatte, aber andererseits auch vollkommen anders. Er war immer noch groß und schlank, seine Haut von einem erschreckenden Weiß, das einen Gegensatz zu seinem schulterlangen schwarzen Haar und seinem gestutzten Bart bildete. Seine Augen hatten sich ebenfalls nicht verändert; sie blickten immer noch durch einen hindurch. Schwieriger war es, das zu beschreiben, was sich verändert hatte. Es hatte größtenteils damit zu tun, wie Walker Boh sich gab, wenn er sprach, obwohl er bisher kaum gesprochen hatte. Es schien, als sei er von einer unsichtbaren Wand umgeben, durch die nichts hindurchdringen konnte.

Walker Boh kam auf ihn zu und nahm Pars Hände in die seinen. Er trug Hosen, eine Tunika, einen kurzen Mantel und weiche Stiefel, alles von der Farbe der Erde und der Bäume. »Fühlst du dich in der Hütte wohl?« fragte er.

»Onkel, was machst du hier draußen? Warum warst du nicht da, als wir angekommen sind? Du wußtest doch ganz offensichtlich, daß wir kommen.«

Der Onkel ließ Pars Hände los und trat zurück. »Komm, setz dich zu mir, Par«, bat er und zog sich, ohne die Ant-wort seines Neffen abzuwarten, wieder in den Schatten zurück. Par folgte ihm, und beide ließen sich auf dem Baumstumpf nieder, auf dem Walker zu Anfang gesessen hatte.

Walker betrachtete Par ausgiebig. »Ich werde nur mit dir sprechen«, sagte er leise. »Und nur dieses eine Mal.«

Par wartete. »Es hat in meinem Leben viele Veränderungen gegeben«, fuhr sein Onkel nach einer Weile fort. »Ich nehme an, daß deine Erinnerungen an mich aus deinen Kindertagen nur sehr spärlich sind, und das meiste davon hat sowieso nicht mehr viel mit dem, der ich jetzt bin, zu tun. Ich habe das Leben im Vale aufgegeben und damit jeden Anspruch darauf, ein Südländer zu sein, und bin dann hierher gekommen, um noch einmal von vorne anzufangen. Ich habe den Wahnsinn der Menschen hinter mir gelassen, deren Leben durch ihre primitiven Instinkte bestimmt wird. Ich habe den Menschen aller Rassen den Rücken gekehrt, ihrer Habgier und ihren Vorurteilen, ihren Kriegen, ihrer Politik und ihrer abscheulichen Vorstellung von Verbesserung. Ich bin hierher gekommen, Par, damit ich allein leben konnte. Ich war natürlich schon immer allein; ich bin dazu geboren, allein zu sein. Der Unterschied besteht jetzt darin, daß ich nicht deswegen allein bin, weil die anderen es so wollen, sondern deshalb, weil ich es so will. Ich habe die Freiheit, das zu sein, was ich bin – ohne daß ich mich deshalb unwohl fühlen müßte.« Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Die Zeit, in der wir leben, und das, was wir sind, machen es uns schwer. Verstehst du mich, Par? Auch du verfügst über Magie – in deinem Fall eine sehr konkrete Magie. Durch sie wirst du keine Freunde gewinnen, im Gegenteil. Man gestattet uns heutzutage nicht, Ohmsfords zu sein, weil Ohmsfords die Zauberkraft ihrer Vorfahren besitzen, und weder die Magie noch die Elfen werden heutzutage geschätzt oder verstanden. Ich bin es leid geworden, ich habe keine Lust mehr, ein Außenseiter zu sein und ständig mit Argwohn und Mißtrauen behandelt zu werden. Ich bin es leid, als etwas Fremdartiges angesehen zu werden. Dir wird es genauso ergehen, wenn es dir nicht schon so ergangen ist. Es liegt einfach im Wesen der Dinge.«

»Ich lasse mich davon nicht beirren«, antwortete Par. »Die Magie ist eine Gabe.«

»Ja wirklich? Ist sie das jetzt? Eine Gabe ist nicht etwas, das man verstecken muß wie eine ansteckende Krankheit. Sie ist nicht etwas, dessen man sich schämen, wovor man sich in Acht nehmen oder Angst haben sollte. Sie ist nicht etwas, das einen töten könnte.«

Er sprach mit solcher Bitterkeit, daß Par ein Schauer über den Rücken lief. Schuldbewußt schüttelte der Onkel den Kopf. »Ich weiß manchmal nicht, was ich sage, wenn ich über die Vergangenheit spreche. Es tut mir leid. Ich wollte andere Dinge mit dir besprechen. Aber nur mit dir, Par. Ich überlasse die Hütte deinen Gefährten für die Zeit ihres Aufenthaltes. Aber ich werde sie dort nicht aufsuchen. Mein Interesse gilt nur dir.«

»Aber was ist mit Coll?« fragte Par verwirrt. »Warum willst du nur mit mir sprechen und nicht auch mit ihm?«

Sein Onkel lächelte spöttisch. »Denk nach, Par. Ich habe ihm nie so nahe gestanden wie dir.«

Par starrte ihn schweigend an. Er mußte zugeben, daß sein Onkel recht hatte. Es war die Magie, durch die er Walker nähergekommen war, und Coll hatte daran nie teilgehabt. Die Zeit, die er mit seinem Onkel verbracht und die ihn dem Mann nähergebracht hatte, war immer eine Zeit ohne Coll gewesen.

»Außerdem«, fuhr der andere leise fort, »geht das, was ich mit dir besprechen will, nur uns an.«

Plötzlich verstand Par. »Die Träume.« Sein Onkel nickte.

»Das heißt also, daß auch du sie geträumt hast – die schwarze Gestalt, die Allanon zu sein scheint und vor dem Hadeshorn steht und uns warnt und ruft?« Par war sprachlos. »Und was ist mit dem alten Mann? War er auch bei dir?« Wieder nickte sein Onkel. »Dann kennst du ihn, nicht wahr? Ist es wirklich Cogline?«

Walker Bohs Gesicht war jetzt ausdruckslos. »Ja, Par, es ist Cogline.«

Par rieb sich aufgeregt die Hände. »Ich kann es nicht glauben! Wie alt ist er? Hunderte von Jahren, nehme ich an – genauso alt, wie er zu sein behauptet. Lebt er immer noch hier bei dir?«

»Er besucht mich manchmal. Die Katze gehörte ihm, bevor er sie mir schenkte. Du erinnerst dich doch daran, daß es immer eine Moorkatze gab. Die davor hieß Whisper. Das war zu Zeiten von Brin Ohmsford. Die jetzige heißt Ondit. Der alte Mann hat ihr diesen Namen gegeben. Er meinte, es sei ein guter Name für eine Katze – besonders für eine Katze, die mir gehört.«

Er sprach nicht weiter, und etwas, das Par nicht deuten konnte, zeigte sich in seinem Gesicht, um sofort wieder zu verschwinden. Par warf einen Blick auf die Stelle, wo er die Katze zuletzt gesehen hatte, doch sie war verschwunden.

»Gerüchte kommen und gehen auf die gleiche Weise wie Moorkatzen«, sagte Walker Boh, als hätte er seine Gedanken gelesen.

Par nickte abwesend und gab seinen Blick zurück. »Was wirst du tun, Onkel?«

»Wegen der Träume?« Die Augen des Onkels nahmen einen leblosen Ausdruck an. »Nichts.«

Par zögerte. »Aber der alte Mann muß dir…«

»Hör mir zu«, unterbrach ihn der andere. »Ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich weiß, worum ich in meinen Träumen gebeten worden bin, und ich weiß, wer sie geschickt hat. Der alte Mann war bei mir, und wir haben uns unterhalten. Es ist noch keine Woche her, daß er hier war. All das zählt nicht. Ich bin schon längst kein Ohmsford mehr; ich bin ein Boh. Wenn ich mich meiner Vergangenheit entledigen könnte, würde ich keinen Augenblick zögern. Ich will damit nichts zu tun haben. Ich bin in das Ostland gekommen, um in diesem Tal zu leben, um so zu leben, wie meine Vorfahren einst gelebt haben, um wenigstens einmal dort zu sein, wo alles frisch und sauber ist und nicht durch die Gegenwart anderer gestört wird. Ich habe gelernt, mir mein Leben einzurichten. Du kennst jetzt das Tal; die Familie meiner Mutter hat es so hinterlassen, und ich will es so erhalten. Ab und zu besuche ich sogar die Menschen draußen. Der Dunkelstreif ist mein Himmel und der Kamin mein Heim.« Er lehnte sich vor. »Ich besitze die Magie, Par – sie ist anders als deine, aber sie ist trotzdem wirklich. Manchmal weiß ich, was die anderen denken, selbst wenn sie weit weg sind. Ich kann mich mit dem Leben auf eine Art verständigen, wie es die anderen nicht können. Manchmal kann ich mich unsichtbar machen, genau wie die Moorkatze. Ich kann sogar Kraft heraufbeschwören!« Er schnippte unerwartet mit den Fingern, und einen Augenblick waren seine Finger in blaues Feuer getaucht. Er blies es aus. »Mir fehlt die Magie des Wunschlieds, aber offensichtlich hat sich ein Teil davon in mir niedergelassen. Ein Teil meines Wissens ist angeboren, einen Teil habe ich mir selbst beigebracht, und den Rest haben mich andere gelehrt. Aber ich habe alles, was ich brauche, und das reicht mir. Die Welt muß ohne mich zurechtkommen. Sie hat es bis jetzt auch getan.«

Par suchte nach einer Antwort. »Aber wenn die Träume recht haben, Onkel?« fragte er endlich.

Walker Boh lachte höhnisch. »Par! Die Träume haben niemals recht! Hast du nichts gelernt aus deinen eigenen Geschichten? Gleichgültig, ob sie wahr werden wie jetzt oder wie damals, als Allanon noch lebte, eines bleibt doch immer gleich – die Ohmsfords erfahren entweder gar nichts oder aber nur das, was die Druiden für notwendig erachten!«

»Du glaubst, daß wir benutzt werden?«

»Ich glaube, daß ich ein Narr wäre, wenn ich anders denken würde! Ich glaube nicht alles, was man mir erzählt.« Die Augen des anderen schienen so kalt wie Stein. »Die Magie, die du für eine Gabe hältst, ist niemals etwas anderes gewesen als ein nützliches Werkzeug der Druiden. Ich habe nicht die Absicht, mich für die neuen Aufgaben, die sie erfunden haben, gebrauchen zu lassen. Wenn die Welt gerettet werden muß, so wie die Träume es anordnen, laß Allanon und den alten Mann hinausziehen und sie retten!«

Par holte tief Luft. »Was wirst du tun, wenn die Dinge aus den Träumen wahr werden? Was wird dann aus deinem Heim? Was wird geschehen, wenn das Böse, das die Träume prophezeit haben, sich auf den Weg zu dir macht?«

Sein Onkel sagte nichts, aber der starre Blick wich nicht aus seinem Gesicht.

»Ich habe eine andere Einstellung zu den Dingen«, sagte Par leise. »Ich war schon immer der Meinung, daß die Magie eine Gabe ist und daß sie mir aus einem ganz bestimmten Grund gegeben wurde. Lange Zeit schien es so, als wäre sie dazu da, die Geschichten zu erzählen, damit sie nicht ganz in Vergessenheit geraten. Ich habe meine Meinung jedoch geändert. Ich glaube, daß die Magie für größere Dinge bestimmt ist.« Er setzte sich aufrecht hin, weil er sich in Gegenwart des anderen plötzlich klein fühlte. »Coll und ich können nicht ins Vale zurück, weil die Föderation von der Magie Wind bekommen hat und hinter uns her ist. Der alte Mann, Cogline, sagt, daß es noch andere Dinge gibt, die uns verfolgen – vielleicht sogar Schattenwesen. Bist du den Schattenwesen begegnet? Ich ja. Das Komische daran ist, daß ich glaube, daß die Dinge, die uns verfolgen, ebenfalls Angst haben. Es ist die Magie, vor der sie sich fürchten.« Er machte eine Pause. »Ich habe keine Ahnung, warum das so ist, aber ich bin entschlossen, es herauszufinden.«

Ein Anflug von Überraschung zeigte sich in Walker Bohs Augen.

Par nickte. »Ja, Onkel, ich habe mich entschlossen, der Aufforderung der Träume zu folgen. Ich glaube, daß Allanon sie geschickt hat, und ich glaube, daß man sie beachten muß. Ich werde zum Hadeshorn gehen. Ich glaube, daß mir die Entscheidung jetzt erst klar geworden ist; das Gespräch mit dir hat mir zu dieser Entscheidung verholfen. Coll weiß noch nichts davon. Ich habe keine Ahnung, was er tun wird. Vielleicht kommt es soweit, daß ich allein gehe. Aber gehen werde ich, schon deshalb, weil ich glaube, daß Allanon mir sagen kann, welchem Zweck die Magie dienen soll.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht so sein wie du, Onkel. Ich kann nicht als Außenseiter leben. Ich will irgendwann wieder nach Shady Vale zurückkehren. Ich will mich nicht irgendwo anders niederlassen und noch einmal von vorne anfangen. Auf meinem Weg hierher habe ich Culhaven gesehen. Die Zwerge, die uns hierher begleitet haben, sind von dort. Die ganzen Vorurteile und die ganze Habgier, die Politik und die Kriege, der ganze Wahnsinn, von dem du sprichst, all das kann man dort erleben. Aber ich will im Gegensatz zu dir nicht davor weglaufen; ich möchte einen Weg finden, um dem allem ein Ende zu machen! Wie kann ich das erreichen, wenn ich einfach so tue, als gäbe es all das nicht?« Seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Weißt du, ich frage mich, was wäre, wenn Allanon etwas wüßte, das den Lauf der Dinge ändern könnte. Was wäre, wenn er mir zeigen könnte, wie der ganze Wahnsinn beendet werden kann?«

Walker Boh erhob sich.

»Wirst du noch einmal darüber nachdenken?« fragte Par.

Walker sah ihn schweigend an, ging dann zum Teich in der Mitte der Lichtung, blieb stehen und schaute hinein. Als er mit den Fingern schnippte, tauchte wie aus dem Nichts Ondit auf und näherte sich ihm. Er drehte sich um und schaute zurück. »Viel Glück, Par«, war alles, was er sagte. Dann verschwand er, begleitet von seiner Katze, in der Nacht.

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