Jetzt erinnerte sich Morgan Leah an die Geschichten. Es schien, als hätte es schon immer Geschichten über die Kriecher gegeben, Legenden, die vom Großvater an den Vater, vom Vater an den Sohn, von einer Generation an die nächste weitergegeben wurden. Sie wurden im Hochland und in den meisten Gebieten des Südlandes, die er besucht hatte, erzählt. Männer erzählten am nächtlichen Feuer bei einem Glas Bier Geschichten über die Kriecher, die Morgan und andere Knaben, die es sich am Rande des Kreises bequem gemacht hatten, vor Aufregung zittern ließen. Doch niemand maß diesen Geschichten große Bedeutung bei; schließlich wurden sie im gleichen Atemzug erzählt wie die wilden Phantasien von Schädelträgern und Mordgeistern und anderen Monstern, die aus einer so gut wie vergessenen Zeit stammten. Trotzdem wollte sie keiner so mir nichts dir nichts abtun. Denn die Zwerge im Ostland waren bereit, ihre Hand dafür ins Feuer zu legen.
Steff war einer dieser Zwerge. Er hatte die Geschichten an Morgan weitergegeben – lange, nachdem Morgan sie zum erstenmal vernommen hatte –, und in seinen Augen handelte es sich dabei nicht um Legenden, sondern um wahre Geschichten. Er bestand darauf, daß sie sich wirklich zugetragen hatten. Sie waren Wirklichkeit.
Es war die Föderation, so erzählte er Morgan, die die Kriecher erschaffen hatte. Vor hundert Jahren, als der Krieg gegen die Zwerge in der tiefen Wildnis des Anar getobt hatte, als der Dschungel und die steilen Felswände den Armeen des Südlandes einen Strich durch die Rech- nung gemacht hatten, hatte die Föderation die Kriecher ins Leben gerufen. Die Zwerge waren zu der Zeit jedoch bereits zum Angriff übergegangen; sie hatten eine beträchtliche Widerstandstruppe aufgestellt, die entschlossen war, einer Gefangennahme zu entgehen und die Eindringlinge so lange zu bekämpfen, bis sie aus ihrer Heimat vertrieben waren. Aus ihrer Festung inmitten des Labyrinths von Schluchten und Hohlwegen des Ravenhorns waren die Zwerge in der Lage, die schwerfälligen Föderationstruppen fast nach Belieben anzugreifen. Während die Anstrengungen der Föderation erlahmten, schleppten sich die Monate dahin, und just zu dieser Zeit tauchten die Kriecher zum erstenmal auf.
Niemand wußte mit Sicherheit zu sagen, woher sie kamen. Manche behaupteten, es handle sich um Maschinen, die von den Ingenieuren der Föderation konstruiert worden seien, um eine Art Roboter, deren einzige Aufgabe darin bestand, die Befestigungen der Zwerge einzunehmen. Doch es gab andere, die meinten, daß keine Maschine das tun konnte, wozu die Kriecher in der Lage waren, sondern daß solche Monster Schläue und Instinkt besäßen. Ungeachtet ihres Ursprungs nahmen die Kriecher in der Wildnis des Anar Gestalt an und begannen zu jagen. Niemand und nichts konnte sie aufhalten. Schonungslos verfolgten sie die Zwerge, die sie, nachdem sie sie aufgespürt hatten, allesamt vernichteten. Kaum einen Monat später war der Krieg zu Ende, die Zwergenarmeen vernichtet, das Rückgrat der Widerstandsbewegung gebrochen.
Nach diesen Ereignissen verschwanden die Kriecher ebenso geheimnisvoll, wie sie aufgetaucht waren; es schien, als hätte die Erde sie verschlungen. Nur die Ge- schichten überdauerten, wurden jedoch mit jeder Wiedergabe grausiger und gleichzeitig ungenauer und büßten mit der Zeit ihren Wahrheitsgehalt ein, bis schließlich nur noch die Zwerge glaubten, daß sich all dies wirklich zugetragen hatte.
Morgan Leah starrte nach unten, während die Geschichten seiner Kindheit in ihm lebendig wurden, und riß sich dann von dem Anblick des Alptraums zu seinen Füßen los, um Steff einen verzweifelten Blick zuzuwerfen.
Der Zwerg starrte ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht an. »Ein Kriecher, Morgan. Ein Kriecher – nach all den Jahren. Weißt du, was das bedeutet?«
Morgan blieb keine Zeit, darüber nachzusinnen. Padishar Creel, der den Zwerg gehört hatte, stand plötzlich neben ihnen. Er ergriff Steffs Schultern mit beiden Händen und drehte ihn zu sich herum. »Los, erzähl! Was weißt du über dieses Monster?«
»Es ist ein Kriecher«, wiederholte Steff mit unnatürlicher Stimme, so, als wäre damit, daß er den Namen des Ungeheuers aussprach, schon alles gesagt.
»Ja, ja, schön und gut!« fuhr ihn Padishar Creel an. »Es ist mir egal, was es ist! Ich will wissen, wie man es aufhalten kann!«
Steff schüttelte langsam den Kopf, als wolle er seiner Sinne Herr werden. »Man kann es nicht aufhalten. Bis jetzt ist es noch keinem gelungen.«
Ein Murmeln ging durch die Reihen der Männer, die ihnen am nächsten standen und die Worte des Zwergs gehört hatten; böse Vorahnungen beschlichen die Verteidiger. Morgan war sprachlos; noch nie hatte Steff so verzagt geklungen. Er warf einen kurzen Blick zu Teel hinüber. Sie hatte Steff von Padishar Creel weggezogen, während ihre Augen unter ihrer Maske wie harte, funkelnde Steinchen wirkten.
Padishar Creel wandte sich seinen Männern zu. »Bleibt, wo ihr seid!« brüllte er denjenigen zornig zu, die angefangen hatten zu flüstern und sich zurückzuziehen. Das Flüstern und die Bewegung hörten augenblicklich auf. »Dem ersten, der meine Befehle mißachtet, ziehe ich das Fell über die Ohren!« Er warf Steff einen vernichtenden Blick zu. »Keine Möglichkeit, sagst du? Vielleicht für dich nicht – obwohl ich anderes vermutet und dich für einen besseren Mann gehalten hätte, Steff.« Er sprach leise. »Keine Möglichkeit? Es gibt immer eine Möglichkeit!«
Unter ihnen erklang ein kratzendes Geräusch, und alle drängten zu den Brustwehren. Der Kriecher hatte den Fuß der Felswand erreicht und machte sich auf den Weg nach oben, indem er sich in Spalten und Ritzen festhielt, in denen menschliche Hände und Füße niemals Halt gefunden hätten. Die Muskeln seines wurmartigen Körpers regten sich. Die Trommeln der Föderation, die im gleichmäßigen Rhythmus geschlagen wurden, kündigten das Herannahen des Monsters an.
Padishar Creel sprang waghalsig auf die Brustwehr hinauf. »Chandos! Ein Dutzend Bogenschützen hierher – sofort!«
Die Bogenschützen erschienen sogleich und bedachten den Kriecher, so schnell sie nur konnten, mit einem Pfeilhagel. Das Monster kroch weiter. Die Pfeile prallten an seiner Rüstung ab oder verschwanden wirkungslos in seinem dicken Fell. Selbst seine Augen, diese gräßlichen schwarzen Kugeln, die sich im Rhythmus seiner Körper- bewegungen langsam hin- und herbewegten, schienen undurchdringlich.
Padishar Creel zog die Bogenschützen zurück. Ein Freudengeheul entrang sich den Kehlen der Föderationssoldaten. Der Anführer der Geächteten rief nach Speerwerfern, doch selbst die schweren hölzernen Schäfte mit ihren eisernen Spitzen konnten das herannahende Monster nicht aufhalten. Sie prallten an ihm ab oder zerbrachen an den Felsen in Stücke, und der Kriecher kam immer näher.
Riesige Steinblöcke wurden herbeigeschafft und über den Abhang gestoßen. Einige krachten auf den Kriecher. Sie streiften ihn oder trafen ihn mit voller Wucht, und das Ergebnis war das gleiche. Das Monster kroch weiter. Wieder erhob sich ein Gemurmel, diesmal vor Angst. Zornig rief Padishar Creel den Männern zu, sich zu beruhigen. Er verlangte nach Buschwerk, das herbeigeschafft, angezündet und dann auf den Kriecher geworfen wurde – auch dies blieb ohne Wirkung. Rasend vor Wut, ließ er ein Faß mit siedendem Öl herbeibringen, dessen ausströmendes Öl angezündet wurde. Wie ein Raubtier fraß sich das Feuer am Felsen entlang und hüllte den herannahenden Kriecher in eine Wolke aus schwarzem Rauch. Aus den Reihen der Föderation erhoben sich Schreie, und die Trommeln verstummten. Die in der morgendlichen Luft aufsteigende Hitze war so erstickend, daß die Verteidiger gezwungen waren zurückzuweichen. Mit Steff und Teel an seiner Seite zog sich auch Morgan zurück. Steff schien auf seltsame Weise verwirrt.
Morgan half ihm zurücktreten. »Bist du krank?« fragte er flüsternd. »Steff, was ist los?«
Aber es schien nicht so, als wüßte der andere darauf eine Antwort. Er schüttelte einfach den Kopf. Dann brachte er mit Mühe die Worte heraus: »Feuer wird es nicht aufhalten. Das hat man schon versucht, Morgan. Feuer nützt gar nichts.«
Er hatte recht. Als die Hitze soweit nachließ, daß die Verteidiger zu ihren Brustwehren zurückkehren konnten, war der Kriecher immer noch da und kroch langsam weiter nach oben. Er hatte fast schon die Hälfte der Felswand erklommen. Er war jetzt so versengt und schwarz wie der Fels, an dem er hing, sonst jedoch unverändert. Das Trommeln der Föderationssoldaten unter ihnen hob wieder an.
Entsetzen erfüllte die Geächteten. Es war klar, daß jetzt keiner mehr daran glaubte, daß der Kriecher noch aufzuhalten war. Was sollten sie tun, wenn er vor ihnen stand? Konnten ihn, den Speere und Pfeile nicht verletzten, Schwerter aufhalten? Die zu Tode geängstigten Geächteten konnten sich den Ausgang des Kampfes ziemlich gut vorstellen.
Nur Axhind und seine Bergtrolle schienen von den Ereignissen um sie herum unberührt. Sie standen am äußersten Rand der Verteidigungslinien der Geächteten, wo sie mit kampfbereiten Waffen einen Vorsprung schützten, der von der Höhe über die Felswände hing. Sie schienen nicht nervös. Sie beobachteten Padishar Creel mit einem Ausdruck auf ihren Gesichtern, der besagte, daß sie gespannt auf seine nächsten Schritte warteten.
Padishar Creel hatte etwas entdeckt, das allen anderen entgangen war, und es ließ ihn erneut Hoffnung schöpfen. »Chandos!« schrie er, während er seine Männer zurück auf ihre Posten drängte, als er an den Brustwehren entlangschritt. Sein kräftiger, schwarzbärtiger Stellvertreter erschien. »Bringt mir das ganze Öl, das wir haben, Kochöl, Reinigungsöl, alles! Spar dir deine Fragen für später auf! Los, mach schon!«
Chandos machte den Mund zu und eilte davon. Padishar Creel schritt auf Morgan und die Zwerge zu. »Macht einen Aufzug fertig!« rief er seinen Männern zu. Dann hielt er unerwartet inne. »Steff, wie verhalten sich diese Kriecher auf schlüpfrigem Untergrund? Wie halten sie sich fest?«
Steff sah ihn verständnislos an. »Das weiß ich nicht.«
»Aber sie müssen sich doch festhalten, wenn sie klettern, oder nicht?« beharrte der andere. »Was passiert, wenn sie sich nicht festhalten können?« Er wandte sich ab, ohne auf eine Antwort zu warten. Der Morgen war drückend heiß, und der Schweiß rann ihm in Strömen über den Körper. Er streifte seinen Umhang ab und warf ihn gereizt zur Seite. Er schnappte sich von einem der anderen Geächteten einen Kreuzgürtel, schnallte ihn um, ergriff eine kurze Axt, schob sie durch eine der Gürtelschnallen und machte sich auf den Weg zu den Aufzügen. Morgan, der allmählich begriff, was der Geächtete vorhatte, folgte ihm. Chandos eilte herbei, gefolgt von einem Haufen von Männern, die Fässer von verschiedenen Größen herbeischleppten.
»Einladen!« lautete Padishars Befehl. Während sie einluden, legte er die Hände auf die breiten Schultern seines Stellvertreters. »Ich begebe mich mit dem Aufzug hinunter zu dem Klettermonster und schütte ihm das Öl über den Kopf.«
»Padishar!« Chandos war entsetzt.
»Hör mir zu! Der Kriecher kann nicht zu uns heraufkommen, wenn er nicht klettern kann, und er kann nicht klettern, wenn er sich nicht festhalten kann. Das Öl wird alles so rutschig machen, daß dieses Monster nicht mehr weiterkommt. Möglicherweise stürzt es sogar hinunter.« Er lächelte grimmig. »Wäre das nicht ein wunderschönes Ende der Geschichte?«
Mit einem entsetzten Ausdruck in den Augen schüttelte Chandos den Kopf. Die Trolle hatten sich zu ihnen gesellt und hörten zu. »Glaubst du, daß die Föderation dich nach unten kommen läßt? Ihre Bogenschützen werden dich in Stücke schießen.«
»Nicht, wenn ihr sie davon abhaltet.« Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Außerdem, alter Freund, bleibt uns doch gar keine andere Wahl, oder?« Er sprang in den Aufzug und kauerte sich dicht an das Geländer, um eine möglichst kleine Zielscheibe abzugeben. »Gebt nur acht, daß ihr mich nicht fallen laßt«, schrie er und ergriff die Axt.
Der Aufzug wurde über die Klippe gebracht. Chandos, der ihn schnell hinunterließ, sorgte dafür, daß der Aufzug über der Stelle schwebte, wo der Kriecher sich seinen Weg nach oben bahnte; er war bereits ziemlich weit oben, ein großer schwarzer Fleck, der sich über den Felsen schob. Ein wildes Geheul erhob sich auf der Seite der Föderationsarmee, als die Soldaten begriffen, was geschah, und ganze Reihen von Bogenschützen drängten nach vorne. Die Geächteten warteten. Da sie von ihrer Befestigung aus ungehindert zurückschießen konnten, gelang es ihnen, den Angriff in wenigen Minuten abzuwehren. Sogleich drängten weitere Reihen von Bogenschützen nach vorne, die einen Pfeilregen auf den Felsen und den sinkenden Aufzug niedergehen ließen. Die Geächteten erwiderten den Angriff der Föderation. Wieder konnten sie ihn abwehren.
Mittlerweile waren die Wurfmaschinen herbeigeschafft worden, und riesige Steinblöcke rollten haarscharf an dem Aufzug vorbei, während die Scharfschützen der Föderation sich einschossen. Ein Schwall von Steinen prasselte auf den Aufzug und warf ihn gegen die Felswand. Holz splitterte und krachte. Darunter hob der Kriecher den Kopf, um nach oben zu schauen.
Morgan Leah stand am Rand des Abgrunds und beobachtete die Szene voller Entsetzen; Steff und Teel standen neben ihm. Der Aufzug mit Padishar Creel schaukelte, als würde er von einem starken Wind erfaßt.
»Haltet ihn fest!« schrie Chandos den Männern an den Seilen zu.
Aber es war unmöglich. Das Seil rutschte, und während sie sich bemühten, es wieder hochzuziehen, wurden sie an den Rand des Abgrunds gezerrt, wo sie verzweifelt versuchten, sich selbst festzuhalten. Die Pfeile der Föderation überzogen die Anhöhe, und zwei der Männer an den Seilen fielen zu Boden. Keiner nahm ihren Platz ein, da in der Verwirrung des Angriffs keiner wußte, was er tun sollte. Chandos sah mit weit aufgerissenen Augen über seine Schulter zurück. Das Seil glitt immer weiter nach unten.
Morgan schoß nach vorne. Doch Axhind war schneller. Mit einer Geschwindigkeit, die seine Größe Lügen strafte, sprang der Älteste der Bergtrolle zwischen den Herumstehenden hindurch und ergriff das Seil mit seinen riesigen Händen. Die anderen ließen das Seil verwirrt los. Ganz allein hielt der riesige Troll den Aufzug und Padishar Creel. Dann erschien ein weiterer Troll und dann noch zwei. Nachdem sie sicheren Halt gefunden hatten, zogen sie das Seil hoch, während Chandos am Rande des Abgrunds seine Befehle hinausschrie.
Morgan wagte noch einmal einen Blick über den Rand. Am Fuße der Felswand starben die Soldaten der Föderation haufenweise. Ihre Reihen boten jetzt ein Bild der Verwirrung. Wurfmaschinen schleuderten Geschosse nach oben, und Pfeile flogen von überall her durch die Luft. Der Aufzug baumelte noch immer am Seil, wie ein winziger Köder, der scheinbar nur Handbreiten über dem schwarzen Ungeheuer schwebte, das sich stetig näher an sie heranarbeitete.
Dann plötzlich, fast unerwartet, befand sich Padishar Creel in Sichtweite; er schlug jetzt mit seiner kurzen Axt auf das erste Ölfaß ein, dessen Inhalt sich über die Felswand auf den Kriecher ergoß. Der Kopf und der Oberkörper der Bestie wurden durchtränkt von der glänzenden Flüssigkeit, und der Kriecher hörte auf, sich zu bewegen. Der Inhalt des zweiten Fasses folgte dem ersten, dann der des dritten. Der Kriecher und die Felswand waren über und über mit Öl bedeckt. Pfeile aus den Köchern der Föderationssoldaten umschwirrten Padishar Creel, der jetzt eine wunderbare Zielscheibe abgab. Dann traf ihn ein Pfeil, gleich darauf ein zweiter, und er sank zu Boden.
»Zieht ihn herauf!« schrie Chandos.
Die Trolle zerrten sogleich an dem Seil, während die Geächteten, die sich in der Nähe befanden, vor Zorn aufheulten und einen Pfeilhagel auf die Reihen der Föderationsbogenschützen niedergehen ließen.
Aber Padishar war bereits wieder auf den Beinen; er zerschlug die letzten beiden Ölfässer und goß das Öl die Felswand hinunter auf den Kriecher. Das Monster hing jetzt dort, ohne sich zu bewegen, und ließ das Öl über sich fließen.
Ein Geschoß aus der Wurfmaschine traf den Aufzug und zertrümmerte ihn. Die Geächteten schrien laut auf, als der Aufzug in die Tiefe stürzte. Aber Padishar Creel stürzte nicht; er bekam das Seil zu fassen und baumelte hin und her, während die Pfeile und Steine ihn umschwirrten. Seine Brust und seine Arme waren mit Blut bedeckt, und die Muskeln seines Körpers krampften sich unter der Anstrengung, die es ihn kostete, sich festzuhalten, zusammen.
Das Seil wurde rasch hochgezogen und mit ihm Padishar Creel, dessen Männer die Hände ausstreckten, um ihn in Sicherheit zu bringen. Einen Augenblick war die Schlacht vergessen. Chandos schrie seinen Männern vergeblich zu, sich wieder auf ihre Posten zu begeben; die Geächteten beachteten ihn nicht, als sie sich um ihren am Boden liegenden Anführer drängten. Dann war Padishar Creel auf den Beinen. Blut strömte über seinen ganzen Körper, ein Pfeil steckte tief in seiner rechten Schulter, ein anderer hatte sich in das weiche Fleisch seiner linken Seite gebohrt; sein Gesicht war blaß und vor Schmerz verzerrt. Er streckte die Hand aus und brach den Pfeil in seiner Seite entzwei, um dann mit einer Grimasse den Schaft herauszuziehen. »Zurück zu den Brustwehren!« brüllte er. »Sofort!«
Die Geächteten stoben auseinander. Padishar Creel drängte sich an Chandos vorbei, wankte zu den Brustwehren und spähte auf den Kriecher hinunter.
Der Kriecher hing immer noch in der Felswand, ohne sich zu bewegen, als sei er an den Felsen geklebt. Die Attacke der Bogenschützen und Wurfmaschinen der Föderation auf die Verteidigungslinien der Geächteten ging weiter, doch sie schienen nur noch halbherzig bei der Sache, denn auch sie verharrten in der Erwartung dessen, was als nächstes geschehen würde.
»Stürz endlich hinunter, zum Teufel nochmal!« schrie Padishar Creel außer sich vor Zorn.
Der Kriecher bewegte sich, verlagerte unmerklich sein Gewicht und schob sich nach rechts in dem Versuch, der glänzenden Öllache zu entkommen. Klauen kratzten und scharrten. Aber das Öl hatte seinen Zweck erfüllt. Der Griff des Monsters begann sich zu lockern, zunächst nur langsam, dann immer schneller. Ein Schrei des Entsetzens erhob sich aus den Reihen der Föderation, ein Freudenschrei aus den Reihen der Geächteten. Der Kriecher rutschte jetzt immer schneller nach unten und glitt auf einer Ölspur aus. Jetzt verlor er den Halt und stürzte in die Tiefe. Als er auf der Erde landete, stieg eine riesige Staubwolke gen Himmel, und die ganze Felswand wurde von dem Aufprall erschüttert.
»Das ist schon besser!« seufzte Padishar Creel und ließ sich neben der Brustwehr in die Hocke nieder, während er erschöpft die Augen schloß.
»Du hast ihm den Garaus gemacht!« verkündete Chandos.
Aber Padishar schüttelte den Kopf. »Damit ist noch gar nichts erreicht. Das war der Schrecken des heutigen Tages. Der morgige wird sicherlich einen anderen bringen. Und woher nehmen wir dann das Öl, da wir heute den letzten Tropfen vergossen haben?« Die dunklen Augen öffneten sich. »Schneidet diesen anderen Pfeil heraus, damit ich ein wenig schlafen kann.« An diesem Tag griff die Föderation nicht mehr an. Sie zog ihre Armee bis an den Waldrand zurück, um dort die Toten zu begraben und die Verwundeten zu versorgen. Nur die Wurfmaschinen wurden an Ort und Stelle belassen.
Bedauerlicherweise war der Kriecher nicht tot. Nach einiger Zeit schien er sich zu erholen und kroch schwerfällig in die schützenden Wälder des Parmakeil. Es war unmöglich zu erkennen, wie schwer er verletzt war, aber keiner wollte darauf wetten, daß sie ihn nie wieder zu Gesicht bekommen würden.
Padishar Creel, dessen Wunden gesäubert und verbunden worden waren, hatte man zu Bett gebracht. Aufgrund des Blutverlustes war er schwach, doch seine Verletzungen ließen ihn nicht untätig sein. Selbst während Chandos für seine Pflege sorgte, gab Padishar Creel Befehle zur künftigen Verteidigung des Zeigefingers. Er wollte eine besondere Waffe bauen lassen. Morgan hörte, wie Chandos mit einer ausgewählten Gruppe von Männern, die er herbeigerufen hatte, darüber sprach und sie in die größte der Höhlen schickte, um mit dem Bau zu beginnen. Sie nahmen ihre Arbeit unverzüglich auf, doch als Morgan fragte, was für eine Art Waffe gebaut werden sollte, wollte sich Chandos nicht darüber auslassen.
»Du wirst sie sehen, wenn sie fertig ist, Hochländer«, antwortete er barsch.
Unschlüssig, was er anfangen sollte, schlenderte Morgan zu der Stelle, wo Teel Steff hingebracht hatte, und fand seinen Freund fiebrig und in Decken eingehüllt vor. Teel beobachtete ihn argwöhnisch, als er Steffs Stirn fühlte, wie ein Wachhund, der keinem traut. Morgan konnte es ihr nicht verargen. Er sprach kurz mit Steff, aber der Zwerg war kaum bei Bewußtsein. Es schien besser, ihn schlafen zu lassen. Der Hochländer stand auf, warf einen letzten Blick auf Teel und wandte sich ab.
Den Rest des Tages verbrachte er damit, zwischen den Befestigungen und den Höhlen hin und her zu wandern und abwechselnd die Föderationsarmee und die geheime Waffe sowie Padishar Creel und Steff im Auge zu behalten. Er vollbrachte keine großen Taten, und die Stunden des späten Vormittags und dann des Nachmittags vergingen nur langsam. Er dachte an Par und Coll. Wie sollte er die beiden jemals wieder finden, jetzt, wo sie sich aus den Augen verloren hatten? Ganz sicherlich würden sie keinen Versuch wagen, zum Parmakeil vorzudringen, nicht jetzt, während die Föderationsarmee sie belagerte. Damson Rhee würde es nie zulassen.
Oder doch? Plötzlich fiel Morgan ein, daß sie es doch versuchen könnte. Es mußte einen zweiten Weg nach draußen geben. Oder nach drinnen.
Er beschloß nachzuforschen. Padishar Creel war mittlerweile wieder wach, und Morgan traf ihn auf der Bettkante sitzend an, während er zusammen mit Chandos eine Reihe von Rohskizzen betrachtete. Ein anderer Mann hätte sicherlich noch geschlafen und so versucht, wieder zu Kräften zu kommen; Padishar Creel dagegen sah aus, als wolle er sich sofort wieder in den Kampf stürzen. Die Männer blickten auf, als er auf sie zutrat, und Padishar Creel verstaute die Skizzen, so daß Morgan sie nicht sehen konnte. Er zögerte.
»Hochländer«, begrüßte ihn der andere, »setz dich zu mir.«
Überrascht ging Morgan auf ihn zu und setzte sich auf eine Kiste, die mit Metallbeschlägen gefüllt war. Chandos nickte, erhob sich dann wortlos und ging hinaus.
»Wie geht es deinem Freund, dem Zwerg?« fragte Padishar Creel ein bißchen zu beiläufig. »Geht es ihm schon besser?«
Morgan betrachtete den anderen. »Nein. Irgend etwas stimmt nicht mit ihm, aber ich weiß nicht, was es ist.« Er hielt inne. »Du traust niemand, stimmt’s? Nicht einmal mir.«
»Dir schon gar nicht.« Padishar Creel setzte sein entwaffnendes Lächeln auf, um es dann blitzschnell wieder verschwinden zu lassen. »Ich kann es mir nicht leisten, noch irgend jemand zu vertrauen. Zu viel ist passiert, als daß ich das noch könnte.« Er verlagerte sein Gewicht und verzog das Gesicht vor Schmerz. »Also erzähl. Was führt dich zu mir? Hast du etwas entdeckt, was ich deiner Meinung nach wissen sollte?«
Die Wahrheit war, daß Morgan aufgrund der aufregenden Ereignisse dieses Morgens die Aufgabe, mit der Padishar Creel ihn betraut hatte, nämlich herauszufinden, wer der Verräter war, vollkommen vergessen hatte. Er behielt dies jedoch für sich und schüttelte einfach den Kopf. »Ich habe eine Frage«, sagte er. »Zu Par und Coll Ohmsford. Glaubst du, daß Damson Rhee immer noch versuchen könnte, sie hierher zu bringen? Gibt es noch einen anderen Zugang zum Zeigefinger, den sie benutzen könnte?«
Der Blick, den Padishar Creel ihm zuwarf, war gleichzeitig unergründlich und vielsagend. Ein langes Schweigen trat ein, und Morgan spürte, wie ihm plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken lief, als er erkannte, wie seine Frage auf den anderen wirken mußte.
Er atmete tief ein. »Ich will nicht wissen, wo er ist, nur ob…«
»Ich verstehe deine Frage und weiß, warum du sie stellst«, sagte Padishar Creel und schnitt damit seinen Protest ab. Um die Augen und den Mund seines harten Gesichts bildeten sich plötzlich Falten. Er sagte zunächst nichts, sondern betrachtete den Hochländer eingehend. »Es gibt tatsächlich einen anderen Zugang«, sagte er schließlich. »Ich bin sicher, daß du von selbst darauf gekommen bist. Du verstehst genug von Taktik, um zu wissen, daß es immer mehr als einen Weg zu und von einem Zufluchtsort geben muß.«
Morgan nickte.
»Ja, Hochländer, dann kann ich nur hinzufügen, daß Damson die Talbewohner niemals der Gefahr aussetzen würde, sie hierher zu bringen, während der Zeigefinger belagert wird. Sie würde sie in Sicherheit bringen – in Tyrsis oder anderswo, ganz wie es die Lage erfordert.« Er redete nicht weiter; seine Augen verrieten verborgene Gedanken. Dann sagte er: »Keiner außer Damson, Chandos und mir kennt den anderen Zugang – jetzt, wo Hirehone tot ist. Wir sollten es dabei belassen, bis die Identität des Verräters enthüllt ist, meinst du nicht auch? Ich möchte nicht, daß die Föderation zum Hintereingang hereinspaziert, während wir den Vordereingang verteidigen.«
Morgan war diese Möglichkeit bis dahin gar nicht in den Sinn gekommen. Der Gedanke daran ließ ihn frösteln. »Ist der Hintereingang sicher?« fragte er zögernd.
Padishar Creel schürzte die Lippen. »Sehr sogar. Und jetzt geh und laß dir dein Abendessen schmecken, Hochländer. Und vergiß nicht, die Augen aufzuhalten.« Er wandte sich wieder seinen Skizzen zu.
Morgan zögerte kurz, überlegte, ob er noch etwas sagen sollte, drehte sich dann jedoch um und ging. In dieser Nacht, als die Sterne am Himmel aufzogen, saß Morgan allein am äußersten Ende der Anhöhe, dort, wo ein Espenwäldchen um eine kleine grasbedeckte Lichtung herumstand, und sah auf das Tal des Parmakeils hinaus, wo sich die halbe Mondsichel langsam in den dunkel werdenden Himmel schob. Mit Ausnahme der gedämpften Geräusche, die aus den Höhlen drangen, in denen die Männer an Padishar Creels geheimer Waffe arbeiteten, herrschte Ruhe im Lager. Die Wurfmaschinen und Bogen standen still; sowohl die Männer der Föderationsarmee als auch der Bewegung hatten sich entweder schlafen gelegt oder hingen ihren persönlichen Gedanken nach. Padishar Creel hatte eine Unterredung mit den Trollen und Chandos vereinbart, zu der Morgan nicht eingeladen worden war. Steff ruhte sich aus; seine Temperatur war anscheinend nicht gestiegen, doch es mangelte ihm an Kraft, und sein Allgemeinzustand ließ immer noch zu wünschen übrig. Es gab nichts zu tun, nichts, außer Schlafen oder Denken, und Morgan Leah hatte sich für das Letztere entschieden.
So weit er zurückdenken konnte, war er immer klug gewesen. Seine Klugheit war eine Gabe, die bereits seine Vorfahren besessen hatten, solche Männer wie Menion und Rone Leah, aber auch eine Fähigkeit, die Morgan in mühsamer Arbeit vervollkommnet hatte. Die Föderation hatte ihm ein Ziel seiner Fähigkeit geliefert. Er hatte fast seine gesamte Jugend damit zugebracht, die Befehlshaber der Föderation, die seine Heimat beherrschten, übers Ohr zu hauen, sie bei jeder Gelegenheit zu provozieren, damit sie sich nie sicher fühlen konnten. Er machte seine Sache sehr gut und konnte fast jeden übertölpeln, wenn er nur ausreichend Zeit und Gelegenheit dazu hatte.
Er lächelte wehmütig. Das hatte er immer geglaubt. Jetzt war es Zeit, genau das unter Beweis zu stellen. Es war an der Zeit herauszufinden, wie die Föderation so oft über ihre Pläne Bescheid wissen konnte, wie man sie hatte verraten können – die Geächteten, die Talbewohner, die kleine Gruppe aus Culhaven.
Er ließ sich zum grasbewachsenen Fuß eines knorrigen Baumstamms hinabgleiten, zog die Knie fast bis zur Brust an und überlegte, welche Informationen ihm zur Verfügung standen.
Sicher war, daß der Verräter ein fleißiger Mensch war. Irgend jemand hatte der Föderation einen Wink gegeben, als Padishar Creel sie nach Tyrsis geführt hatte, um das Schwert von Shannara zu bergen. Irgend jemand hatte in Erfahrung gebracht, was sie vorhatten, und dann den Kommandanten der Föderation noch vor ihrer Ankunft darüber informiert. »Es war einer von euch«, hatte der Kommandant Padishar Creel erklärt. Dann hatte jemand den Standort des Zeigefingers an die Armee verraten, die ihn jetzt belagerte – wieder war es jemand gewesen, der wußte, wo sich der Zeigefinger befand und wie man dorthin gelangte.
Er runzelte die Stirn. Der Verräter war eigentlich schon vorher tätig gewesen. Wenn man davon ausging – und genau das wollte er jetzt tun –, daß irgend jemand den Nager ausgeschickt hatte, um ihnen ins Wolfsktaaggebirge zu folgen, und wenn man weiterhin davon ausging, daß irgend jemand die Schattenwesen am Tofferkamm informiert hatte, die dann die Spinnengnome auf Par hetzten, dann konnte man den Verrat bis nach Culhaven zurückverfolgen.
Hieß das, daß irgend jemand ihnen bereits seit Culhaven auf der Spur war?
Er verwarf diese Möglichkeit jedoch unverzüglich. Niemand hätte solch ein Kunststück fertiggebracht.
Aber damit war das Rätsel noch nicht gelöst. Es blieben Hirehone, den er in Tyrsis gesehen hatte, und sein darauffolgender gewaltsamer Tod im Parmakeil. Und die Morde an den Aufzugswachen, obwohl die Aufzüge oben waren. In welcher Beziehung standen diese Vorkommnisse zu dem Ganzen?
Er ließ sich alles durch den Kopf gehen, um irgend etwas zu entdecken, das ihm bisher entgangen war. Die Nachtvögel hoben in der Dunkelheit des Parmakeils ihren Gesang an, und der warme, duftende Wind wehte leise über sein Gesicht. Die Minuten gingen schweigend vorbei. Die einzelnen Teile wollten nicht zusammenpassen. Irgend etwas fehlte ihm.
Er rieb sich kräftig die Hände. Er würde es auf andere Weise versuchen. Er würde die Teile, die nicht zusammenpaßten, aussortieren und auf diese Weise sehen, was übrigblieb. Langsam sog er die Luft ein und entspannte sich.
Niemand hätte ihnen folgen können – zumindest nicht die ganze Zeit. Das hieß also, daß es jemand aus ihrer Mitte sein mußte. Einer von ihnen. Aber wenn dieser Jemand sowohl die Verantwortung trug für den Nager und die Schattenwesen wie auch für alles, was seit ihrer Ankunft im Lager der Geächteten geschehen war, mußte es sich dann nicht um ein Mitglied der ursprünglichen Gruppe handeln? Par, Coll, Steff, Teel oder ihn selbst? In der gleichen Sekunde wanderten seine Gedanken zurück zu Teel, denn über sie wußte er weniger als über jeden anderen. Er konnte und wollte nicht glauben, daß es einer der Talbewohner oder Steff war. Aber warum sollte Teel eher in Frage kommen? Hatte sie nicht mindestens ebenso viel durchgemacht wie Steff?
Außerdem stellte sich die Frage, was Hirehone mit all dem zu tun gehabt hatte. Warum hatte man die Wachen am Aufzug getötet?
Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Sie waren getötet worden, damit jemand entweder ins Lager hinein- oder aus dem Lager hinauskommen konnte, ohne entdeckt zu werden. Das ergab einen Sinn. Aber die Aufzüge waren oben. Sie mußten getötet worden sein, nachdem jemand ins Lager geschmuggelt worden war – getötet, um die Identität dieses Jemands geheimzuhalten.
Er erwog jede einzelne Möglichkeit. Alles deutete auf Hirehone hin. Hirehone war der Schlüssel. Was war, wenn es Hirehone war, den er in Tyrsis gesehen hatte? Was war, wenn Hirehone sie tatsächlich an die Föderation verraten hatte? Aber Hirehone war danach nicht mehr zum Zeigefinger zurückgekehrt. Wie hätte er demnach die Wachen töten können? Und warum hätte man ihn, wenn er es doch getan hatte, töten sollen? Und wer sollte es getan haben? War es möglich, daß es mehr als einen Verräter gab – Hirehone und noch jemand?
Plötzlich begriff er.
Die plötzliche Erkenntnis ließ ihn zusammenfahren. Wer war denn hier der echte Feind? Nicht die Föderation. Der echte Feind waren die Schattenwesen. Hatte nicht Allanons Schatten davon gesprochen? Waren es nicht die Schattenwesen, vor denen sie gewarnt worden waren? Und die Schattenwesen konnten jede Gestalt und jede Stimme annehmen. Einige zumindest konnten es – die gefährlichsten. Das hatte Cogline gesagt.
Morgan spürte, wie sein Puls zu rasen und sein Gesicht vor Aufregung zu glühen begann. Sie hatten es hier nicht mit einem menschlichen Wesen zu tun. Sie hatten es mit einem Schattenwesen zu tun! Die Teile des Verwirrspiels fingen plötzlich an, sich zusammenzufügen. Ein Schattenwesen konnte in ihrer Mitte weilen, ohne daß sie es erkannten. Ein Schattenwesen wäre in der Lage gewesen, den Nager herbeizurufen, sich mit einem anderen Schattenwesen am Tofferkamm in Verbindung zu setzen, noch vor Padishar Creel und seinen Gefährten nach Tyrsis zu gelangen, ihre Pläne auszuspionieren und noch vor ihrer Rückkehr zurückzukehren. Ein Schattenwesen konnte auch ohne Schwierigkeiten in ihrer Nähe verweilen. Und es hätte in Gestalt von Hirehone auftreten können. Nein, nicht bloß in der Gestalt – es konnte Hirehone sein! Und es hätte ihn töten können, als er seine Schuldigkeit getan hatte. Es hatte der Föderationsarmee den Standort des Zeigefingers preisgegeben – hatte sie sogar mit einer Karte versorgt, anhand derer sie den Weg fand!
Das Rätsel war gelöst. Er wußte, wer es war. Steff oder Teel. Es mußte einer von beiden sein. Sie waren die einzigen außer ihm, die seit Anfang der Reise, von Culhaven bis zum Zeigefinger, bis Tyrsis und zurück, immer dabei gewesen waren. Teel war die ganze Zeit, in der sich Padishar Creels Gruppe in Tyrsis aufhielt, bewußtlos gewesen. Dadurch hatten beide Zwerge, oder genauer gesagt, das Schattenwesen, das sich in einem der Körper befand, Gelegenheit gehabt, sich davonzuschleichen und unbemerkt wieder zurückzukehren. Sie waren sowieso die meiste Zeit allein gewesen – also nur zu zweit.
Die volle Bedeutung seines Verdachts lastete schwer auf ihm. Einen Augenblick glaubte er, verrückt zu sein, glaubte, seine Schlüsse gänzlich verwerfen und noch einmal von vorne anfangen zu müssen. Aber er brachte es nicht fertig. Er wußte, daß er richtig vermutete.
Der Wind fuhr über ihn hinweg, und trotz der abendlichen Wärme zog er seinen Umhang fester um sich. Regungslos saß er im schützenden Schatten und überprüfte sorgfältig die Schlußfolgerungen, zu denen er gelangt war, die Gedankengänge, denen er gefolgt war, und die Vermutungen, die sich langsam, aber sicher immer mehr bewahrheiteten.
Steff oder Teel.
Sein Instinkt sagte ihm, daß es Teel war.