Als Padishar Creels zusammengewürfelte Familie den Parkrand erreichte und im Begriff war, auf die Hauptstraße hinauszutreten, drehte sich Damson Rhee zum Anführer der Geächteten um und sagte: »Die Wachtposten, die an der Mauer patrouillieren, wechseln sich um Mitternacht vor dem Föderationstorhaus ab. Ich kann dafür sorgen, daß ein kleiner Zwischenfall sie so lange aufhält, bis ihr in der Schlucht verschwunden seid — falls ihr immer noch dazu entschlossen seid. Ihr müßt auf jeden Fall von Westen her hineingehen.« Dann hob sie den Arm, zog eine Silbermünze aus Pars Ohr und gab sie ihm. Die Münze trug ihr Abbild. »Sie soll dir Glück bringen, Par Ohmsford« sagte sie. »Du wirst es brauchen, wenn du weiterhin auf ihn hörst.« Sie warf Padishar Creel einen zornigen Blick zu, nahm die Kinder an der Hand und verschwand, ohne sich umzudrehen, in der Menge. Der Anführer der Geächteten und der Talbewohner blickten ihr nach.
»Wer ist sie, Padishar?« fragte Par.
Padishar Creel zuckte die Schultern. »Wer sie sein will. Es gibt so viele Geschichten über ihre Herkunft wie über meine. Komm jetzt. Es wird auch für uns Zeit zu gehen.«
Er führte Par wieder durch die Stadt und hielt sich dabei an die weniger bevölkerten Straßen und Gassen. Die länger werdenden Schatten kündigten die Nacht an, aber die Hitze des Tages schien noch in den Mauern der Stadt gefangen. Par blickte zum Himmel auf. Die Mondsichel zeigte sich im Norden, vereinzelte Sterne im Osten. Er versuchte an das zu denken, was er über das Verschwinden des Schwertes von Shannara gehört hatte, stellte jedoch fest, daß er statt dessen an Damson Rhee dachte.
Padishar Creel hatte ihn noch vor Anbruch der Dunkelheit in den Keller des Lagerhauses hinter der Waffenschmiede zurückgebracht, wo Coll und Morgan bereits ungeduldig auf ihre Rückkehr warteten. Der Anführer der Geächteten nahm alle Fragen vorweg, indem er fröhlich lächelte und erklärte, daß alles arrangiert sei. Um Mitternacht würden die Talbewohner, der Hochländer, Blue und er einen kurzen Beutezug in die Schlucht unternehmen, die dem ehemaligen Herrscherpalast vorgelagert war. Sie würden ihren Abstieg mit Hilfe einer Strickleiter bewerkstelligen. Stasas und Drutt würden zurückbleiben. Sie würden die Leiter hochziehen, sobald ihre Gefährten sicher unten angekommen waren, und sich so lange versteckt halten, bis sie gerufen wurden. Dann würden sie auf die gleiche Weise verschwinden, wie sie gekommen waren.
Er erwähnte mit keinem Wort, warum sie das alles tun sollten, und keiner seiner eigenen Männer machte sich die Mühe zu fragen. Sie ließen ihn einfach reden und wandten sich dann wieder der Beschäftigung zu, der sie vorher nachgegangen waren. Coll und Morgan allerdings konnten sich kaum beherrschen, und Par war gezwungen, sie zur Seite zu nehmen und ihnen jede Einzelheit seines Ausflugs zu erzählen.
Als Par seinen Bericht beendet hatte, schüttelte Morgan zweifelnd den Kopf. »Es ist schwer zu glauben, daß eine ganze Stadt vergessen hat, daß es mehr als einen Volkspark und eine Sendic-Brücke gab«, erklärte er leise.
»So schwer auch wieder nicht, wenn man bedenkt, daß die Föderation mehr als einhundert Jahre daraufhingearbeitet hat«, widersprach Coll. »Überleg doch, Morgan. Die Föderation hat die Vier Länder dreihundert Jahre lang umerzogen.«
»Coll hat recht«, sagte Par. »Unseren letzten wirklichen Geschichtskundigen haben wir mit Allanon verloren. Die Geschichten der Druiden waren die einzigen schriftlichen Werke, die die Vier Rassen hatten, und wir wissen nicht, was damit geschehen ist. Das einzige, was uns geblieben ist, sind die Geschichtenerzähler mit ihrer mündlichen Überlieferung, und die meisten sind nicht besonders zuverlässig.«
»Alles, was mit der alten Welt zusammenhängt, gilt als Lüge«, sagte Coll, dessen Augen jetzt kalt waren. »Wir wissen, daß es die Wahrheit ist, aber wir sind praktisch die einzigen. Die Föderation hat alles geändert, damit es ihren Zwecken dienlich ist. Nach einhundert Jahren ist es nicht weiter verwunderlich, daß sich niemand in Tyrsis daran erinnert, daß der Volkspark und die Sendic-Brücke nicht die sind, die sie einmal waren.«
Morgan runzelte die Stirn. »Aber irgend etwas kommt mir noch immer seltsam vor. Es stört mich, daß das Schwert von Shannara in dieser Schlucht liegt und es keiner gesehen hat. Es stört mich, daß niemand, der sich nach unten wagt, jemals wieder nach oben kommt.«
»Das beunruhigt mich ebenfalls«, pflichtete Coll ihm bei.
Par blickte flüchtig zu den Geächteten hinüber, die ihnen keine Beachtung schenkten. »Keiner von uns hat angenommen, daß die Suche nach dem Schwert ungefährlich sein würde«, murmelte er leicht gereizt. »Ihr könnt doch nicht erwartet haben, daß wir einfach hingehen und es uns nehmen. Natürlich hat es keiner gesehen. Es wäre nicht verschwunden, wenn man es gesehen hätte, oder? Und ihr könnt sicher sein, daß die Föderation dafür gesorgt hat, daß alle, die in die Schlucht hinuntersteigen, nicht wieder heraufkommen. Deshalb haben sie Wachen und Wachhäuser aufgestellt! Außerdem glaube ich, daß die Tatsache, daß die Föderation so viel Mühe darauf verwendet hat, die alte Brücke und den Park zu verstecken, darauf hindeutet, daß sich das Schwert dort unten befindet.«
Coll sah seinen Bruder an. »Das deutet auch darauf hin, daß es dort unten bleiben soll.«
Sie beendeten das Gespräch und zogen sich in verschiedene Ecken des Kellers zurück. Die Hitze des Tages ließ endlich nach. Die kleine Gruppe nahm ohne viel zu reden ihre Abendmahlzeit ein. Nur Padishar Creel wußte allerhand zu erzählen; er gab Geschichten und Witze zum Besten, als ob diese Nacht wie jede andere Nacht wäre. Par war viel zu aufgeregt, um zu essen oder zu reden, und dachte lieber darüber nach, ob Padishar Creel wirklich so unbefangen war, wie er sich gab. Nichts schien seiner Laune etwas anhaben zu können. Padishar Creel war entweder tapfer oder töricht, und es störte Par, daß er nicht wußte, welches von beidem er war.
Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, saßen sie beieinander, redeten mit gedämpften Stimmen und starrten die Wände an. Padishar Creel setzte sich irgendwann zu Par. »Du kannst es kaum noch erwarten, mein Junge, stimmt’s?« fragte er leise.
Par nickte.
»Tja, nun wird es nicht mehr lange dauern.« Der Geächtete tätschelte sein Knie. Seine harten Augen blickten Par eindringlich an. »Denk an das, was wir vorhaben. Ein kurzer Blick, und schon sind wir wieder draußen. Falls wir das Schwert finden, gut. Falls nicht, darf es keine Verzögerungen geben. Vorsicht ist oberstes Gebot.« Er machte sich wieder davon, und Par starrte ihm nach.
Die Minuten schienen sich ins Endlose zu dehnen. Par und Coll saßen schweigend nebeneinander. Par konnte in der Stille die Gedanken seines Bruders beinahe hören. Die Öllampen flackerten und rußten. Eine riesige Sumpffliege schwirrte an der Decke, bis Blue ihr den Garaus machte. Der Keller wurde auf einmal eng.
Endlich erhob sich Padishar Creel und verkündete, es sei Zeit. Ungeduldig erhoben sie sich ebenfalls. Waffen wurden umgeschnallt und Umhänge fest angezogen. Sie verließen den Keller und begaben sich in die Nacht hinaus.
Die Laternen der Gassen, durch die Padishar Creel sie führte, waren meist zerbrochen oder nicht angezündet worden, und so hatten sie lediglich das Licht des Mondes, das ihnen den Weg durch die Nacht wies. Betrunkene und Bettler, die ihrer ansichtig wurden, sahen kaum auf.
Als sie den Volkspark und die Sendic-Brücke erreichten, schickte Padishar Creel sie gruppenweise über die breite Hauptstraße in den Park hinein. Nur eine einzige Föderationspatrouille machte ihre Runde, ohne jedoch die kleinen Gruppen zu bemerken. Vor dem Wachhaus in der Mitte der Mauer war eine Wache postiert, aber der Lichtschein, der aus dem Gebäude herausdrang, machte es den Soldaten unmöglich, die Gestalten, die sich im Dunkeln verloren, zu erkennen. Padishar Creel führte sie durch den Park zu der Schlucht. Dort hieß er sie warten.
Par kauerte regungslos in der Dunkelheit und lauschte dem Dröhnen seines Herzschlags in seinen Ohren. Er fühlte sich unwohl und fragte sich, ob die Entscheidung hierherzukommen richtig gewesen war. Er warf einen Blick auf Padishar Creel, aber dieser war damit beschäftigt, die Strickleiter zu entwirren, mit deren Hilfe sie in die Schlucht hinabsteigen wollten…
Eine Patrouille aus vier Föderationssoldaten tauchte vor ihnen auf. Obwohl das Geräusch ihrer Stiefel ihr Kommen angekündigt hatte, war ihr Anblick furchteinflößend. Par und die anderen warfen sich in ihrem Versteck flach auf den Boden. Die Soldaten blieben stehen und redeten leise miteinander, bevor sie sich umdrehten und auf dem gleichen Weg, den sie gekommen waren, wieder zurückgingen.
Par atmete langsam aus. Er wagte einen kurzen Blick in die dunkle Schlucht. Sie schien von unergründlicher Tiefe zu sein.
Padishar Creel und die anderen Geächteten bereiteten alles für den Abstieg vor und machten die Strickleiter fest. Par, der es kaum noch erwarten konnte, seine Muskeln zu entspannen, erhob sich mit dem Gedanken, das Ganze möglichst schnell hinter sich zu bringen. Eigentlich hätte er zuversichtlich sein müssen. Er war es aber nicht. Sein Unbehagen wuchs stetig, und er wußte nicht, warum. Irgend etwas zerrte an seinen Nerven, warnte ihn, irgendein sechster Sinn, den er nicht benennen konnte.
Er glaubte etwas zu hören – nicht unter ihnen in der Schlucht, sondern hinter ihnen im Park. Seine scharfen Elfenaugen spähten in die Dunkelheit.
Dann vernahm er vereinzelte Schreie aus der Richtung des Wachhauses, und schon drangen Alarmrufe durch die Nacht.
»Jetzt!« drängte Padishar Creel, und sie verließen ihr Versteck, um zur Mauer zu laufen.
Die Strickleiter war bereits an der Mauer befestigt. Eilig wurde sie in die Finsternis hinuntergelassen. Blue bestieg die Leiter als erster. Er prüfte sie mit seinem Gewicht, um dann vor ihren Augen zu verschwinden.
»Denkt daran, auf mein Zeichen zu warten«, sagte Padishar Creel zu Stasas und Drutt eilig; seine Stimme war nur ein heiseres Flüstern.
Er drehte sich um, um Par das Zeichen für den Abstieg zu geben, als ein Schwärm von Föderationssoldaten aus der Dunkelheit hinter ihnen auftauchte. Alle erstarrten. Par spürte, wie sich sein Magen vor lauter Entsetzen verkrampfte. Er ertappte sich bei dem Gedanken daran, daß er sie hätte spüren müssen, und wußte im gleichen Augenblick, daß er sie tatsächlich gespürt hatte.
»Legt eure Waffen ab«, befahl eine Stimme.
Einen Augenblick fürchtete Par, daß Padishar Creel lieber kämpfen werde, als sich zu ergeben. Die Blicke des Anführers der Geächteten flogen nach links und rechts, seine aufrechte Gestalt war starr. Aber die Zahl ihrer Gegner war überwältigend. Ein kaum merkliches Lächeln umspielte seinen Mund, und er ließ sein Schwert und sein langes Messer wortlos zu Boden gleiten. Die anderen der kleinen Gruppe taten es ihm gleich, und die Föderationssoldaten bildeten einen Ring um sie. Ihre Waffen wurden eingesammelt und ihre Arme auf dem Rücken zusammengebunden.
»Einer ist noch unten in der Schlucht«, ließ einer der Soldaten ihren Anführer wissen, einen kleineren Mann mit kurzem Haar und dem Abzeichen eines Kommandanten auf seiner dunklen Uniform.
Der Kommandant warf ihm einen kurzen Blick zu. »Schneide die Strickleiter durch und laß ihn abstürzen.«
Die Strickleiter war in einer Sekunde durchschnitten. Geräuschlos fiel sie in die Tiefe. Par wartete auf einen Schrei, aber es kam keiner. Vielleicht hatte Blue seinen Abstieg bereits beendet. Er sah Coll an, der nur hilflos den Kopf schüttelte.
Der Föderationskommandant wandte sich an Padishar Creel. »Du sollst wissen, Padishar Creel«, sagte er mit leiser, gemäßigter Stimme, »daß du von einem deiner eigenen Leute verraten worden bist.«
Er wartete einen Augenblick auf eine Reaktion, aber es kam keine. Padishar Creels Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Nur seine Augen verrieten die Wut, die er irgendwie zurückzuhalten vermochte.
Dann wurde die Stille von einem schrecklichen Schrei zerrissen, der aus der Tiefe der Schlucht aufstieg.
Es ist Blue, dachte Par voll Entsetzen. Der Föderationskommandant warf einen flüchtigen Blick in die Schlucht und befahl, die Gefangenen abzuführen. Sie wurden im Gänsemarsch zum Wachhaus geführt. Par schleppte sich in der niederschmetternden Stille hinter den anderen her, Blues Schrei hallte in seinen Ohren nach. Was war mit dem Geächteten unten in der Schlucht geschehen? »Verraten«, hatte der Föderationskommandant gesagt. Aber durch wen?
Er stolperte über eine Baumwurzel, raffte sich wieder auf und stolperte weiter. Alle möglichen Gedanken schwirrten in seinem Kopf umher. Sie wurden sicher in das Föderationsgefängnis gebracht. Wenn sie erst einmal dort waren, war das große Abenteuer zu Ende. Dann gab es keine Suche mehr nach dem verlorenen Schwert von Shannara. Und auch an die Aufgabe, mit der Allanon ihn betraut hatte, würde er keinen Gedanken mehr verschwenden müssen. Keiner würde je wieder aus dem Föderationsgefängnis herauskommen.
Er mußte fliehen. Wenn er es nicht tat, würden alle eingesperrt und vergessen werden. Nur Damson Rhee wußte, wo sie waren, und der Gedanke schoß Par durch den Kopf, daß sie die beste Möglichkeit gehabt hatte, sie zu verraten.
Sein Atem ging langsamer. Seine Chancen zu entkommen würden nie wieder so gut sein wie jetzt. War er erst einmal im Gefängnis, würde eine Flucht sehr viel schwieriger sein. Vielleicht würde sich Padishar Creel bis dahin einen Plan überlegt haben, aber Par wollte dieses Risiko nicht eingehen.
Er betrachtete die Lichter des Wachhauses, die zwischen den Bäumen des Parks schimmerten. Er hatte nur noch wenige Minuten. Er mußte es allein versuchen. Er mußte Coll und Morgan zurücklassen. Er hatte keine andere Wahl.
Par atmete tief ein. Er wartete, bis sie an einem verwilderten Birkenwäldchen vorbeigingen, und stimmte dann das Wunschlied an. Er sang leise, ließ seine Stimme mit den Klängen der Nacht verschmelzen, verwandelte sie in ein Flüstern im Wind, in den Ruf eines Vogels, in das Zirpen einer Grille. Er ließ die Magie des Wunschliedes ausströmen, die die Wachen ablenkte, so daß sie ihre Augen von ihm abwandten und vergaßen, daß es ihn gab…
Und dann machte er einfach einen Schritt in das Bir kenwäldchen hinein und verschwand.
Die Gefangenen marschierten ohne ihn weiter. Niemand hatte zur Kenntnis genommen, daß er verschwunden war. Falls Coll oder Morgan oder die anderen irgend etwas bemerkt hatten, ließen sie sich nichts anmerken.
Die Föderationssoldaten und ihre Gefangenen setzten ihren Weg zum Wachhaus fort. Als sie verschwunden waren, bewegte sich Par lautlos in die Nacht hinein. Es gelang ihm fast sofort, sich der Fesseln an seinen Händen zu entledigen. Ungefähr hundert Meter von der Stelle, an der er entkommen war, fand er an der Mauer eine scharfe Kante, an der er sich hochreckte und die Fesseln in wenigen Minuten durchrieb. Bis jetzt hatte keiner der Soldaten Alarm gegeben; offensichtlich wurde er nicht vermißt. Vielleicht hatten sie sich nicht die Mühe gemacht, ihre Gefangenen zu zählen, dachte er. Schließlich war es dunkel gewesen, und die Gefangennahme war eine Sache von Sekunden gewesen.
Vorsichtig schlich er durch den Park zur Hauptstraße, wobei er alle paar Sekunden stehenblieb, um nach Geräuschen möglicher Verfolger zu lauschen. Der Schweiß, der seinen Körper bedeckte, ließ sein Hemd an seinem Rücken kleben. Seine gelungene Flucht ließ ihn jubeln, doch die Erkenntnis, daß er nicht wußte, wie er sie nutzen sollte, ließ ihn verzweifeln. Er konnte weder in Tyrsis noch außerhalb von Tyrsis auf Hilfe hoffen. Er wußte nicht, wen er in der Stadt hätte aufsuchen können; es gab niemanden, dem er in seiner Lage hätte vertrauen können. Und er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie er zum Parmakeil zurückfinden sollte.
Die Lichter der Hauptstraße schienen bereits durch die Bäume. Par stolperte bis zum Rand des Parks, um sich dann in schierer Verzweiflung gegen den Stamm eines alten Ahornbaums zu lehnen. Er mußte etwas unternehmen; er konnte nicht einfach ziellos umherwandern.
Er mußte Coll und Morgan finden. Er mußte einen Weg finden, um sie zu befreien. Gebrauche das Wunschlied, dachte er. Aber wie?
Eine Föderationspatrouille kam die Straße daher, er hörte das Trampeln ihrer Stiefel in der Stille. Er wich in den Schatten zurück und wartete, bis sie außer Sicht waren. Dann ging er zu einem Brunnen, der an der Straße stand. Er benetzte Hände und Gesicht eilig mit Wasser.
Er hielt inne und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Er war plötzlich furchtbar müde.
Der Arm, der ihn mit einem Ruck umdrehte, war stark. Er blickte ins Gesicht von Damson Rhee.
»Was ist geschehen?« fragte sie.
Völlig außer sich griff Par nach seinem langen Messer. Aber er besaß keine Waffen mehr, die Föderationssoldaten hatten sie ihm abgenommen. Um sich ihrem Griff zu entwinden, versuchte er das Mädchen zu schlagen, aber sie wich seinem Hieb durch einen Schritt zur Seite aus und stieß ihm ihre Faust in den Magen, worauf er zusammensackte.
»Was machst du denn, du Idiot?« flüsterte sie wütend.
Ohne eine Antwort abzuwarten, zerrte sie ihn in den schützenden Schatten des Parks und warf ihn zu Boden. »Wenn du dergleichen noch einmal versuchst, breche ich dir beide Arme!« herrschte sie ihn an.
Par setzte sich mühsam auf und hielt weiterhin Ausschau nach einer Fluchtmöglichkeit.
Aber Damson Rhee drückte ihn auf die Erde zurück und kauerte sich neben ihn. »Wo sind die anderen?«
Par schluckte seinen Zorn hinunter. »Die Föderation hat sie! Sie haben auf uns gewartet, Damson! Als ob du das nicht wüßtest!«
Der Zorn in ihren Augen wich einem Ausdruck der Überraschung. »Was meinst du mit: ›Als ob ich das nicht wüßte‹?«
»Sie haben auf uns gewartet. Wir sind nicht einmal über die Mauer gekommen. Wir sind verraten worden! Das hat uns der Föderationskommandant mitgeteilt. Er hat gesagt, daß es einer von uns war – ein Geächteter, Damson!« Par zitterte.
Damson Rhees Blick blieb auf ihn gerichtet. »Und du hast entschieden, daß ich es war, nicht wahr, Par Ohmsford?«
Par stützte sich auf die Ellbogen. »Wer käme denn sonst in Frage? Du warst die einzige, die über unser Vorhaben Bescheid wußte – und die einzige, die nicht gefangengenommen wurde. Kein anderer wußte Bescheid. Wenn du es nicht warst, wer hätte es sonst sein können?«
Sie starrten einander an. Der Klang von Stimmen drang immer deutlicher an ihre Ohren. Irgend jemand näherte sich ihnen.
Damson Rhee flüsterte: »Ich weiß es nicht. Aber ich war es nicht! Bleib jetzt ruhig liegen, bis sie an uns vorbei sind.« Sie zog ihn in das nahe Gestrüpp, um sich daraufhin selbst neben ihn zu legen.
Par spürte die Wärme und roch den süßen Duft ihres Körpers. Er schloß die Augen und wartete.
Zwei Föderationssoldaten traten aus dem Park, blieben einen Augenblick stehen, drehten sich dann um und waren verschwunden.
Damson Rhee flüsterte Par ins Ohr: »Wissen sie, daß du verschwunden bist?«
Par zögerte. »Ich bin mir nicht sicher«, flüsterte er zurück.
Sie schob ihre weiche Hand unter sein Kinn und drehte sein Gesicht dem ihren zu. »Ich hab’ euch nicht verraten. Vielleicht spricht alles dafür, aber ich hab’ es nicht getan. Wenn ich vorgehabt hätte, dich an die Föderation zu verraten, hätte ich dich einfach und schmerzlos den beiden Soldaten übergeben können.«
Ihre Augen glänzten im schwachen Licht des Mondes, das zwischen den Bäumen in ihr Versteck fiel.
Par sah Damson Rhee in die Augen und entdeckte darin kein Anzeichen einer Täuschung. Trotzdem zögerte er.
»Du mußt dich hier und jetzt entscheiden, ob du mir glaubst oder nicht«, sagte sie ruhig.
Er schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht.«
»Es muß aber einfach sein. Schau mich an, Par. Ich habe niemand verraten – weder dich noch Padishar noch die anderen, weder jetzt noch vorher! Warum sollte ich so etwas tun? Ich hasse die Föderation so sehr wie du!« Erzürnt hielt sie inne. »Ich habe dir gesagt, daß es ein gefährliches Unterfangen werden würde. Ich habe dich vor der Schlucht gewarnt, vor dem schwarzen Loch, das Männer mit Haut und Haar verschlingt. Padishar war derjenige, der darauf bestanden hat, es trotzdem zu versuchen.«
»Deswegen ist er noch lange nicht für das verantwortlich, was passiert ist.« Mit knappen Worten erzählte ihr Par von den Ereignissen um ihre Gefangennahme einschließlich des entsetzlichen Verschwindens des Geächteten Blue. Die Umstände seines eigenen Entkommens schilderte er absichtlich vage. Die Magie war seine Sache. Ihr Geheimnis gehörte nur ihm.
Aber Damson Rhee war nicht so leicht zu beschwichtigen. »Das heißt also, daß du genauso gut wie ich der Verräter sein könntest«, sagte sie. »Wie hättest du anders entkommen können?«
Par errötete, empört über die Beschuldigung, erzürnt über ihre Beharrlichkeit. »Warum sollte ich meinen Freunden so etwas antun?«
»Genau meine Worte«, erwiderte sie.
Wortlos sahen sie einander an, schätzten die Stärke des anderen ab. Par wußte, daß Damson Rhee recht hatte. Es gab genauso viel, das auf ihn als Verräter hindeutete wie auf sie. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, daß er wußte, daß er es nicht war, wohingegen er sich bei ihr nicht sicher sein konnte.
»Entscheide dich, Par«, drängte sie ihn leise. »Glaubst du mir, oder glaubst du mir nicht?«
Im spärlichen Licht war der Ausdruck auf ihrem Gesicht ausgeglichen und arglos. Par stellte fest, daß er sich auf eine Weise zu ihr hingezogen fühlte, die er nicht für möglich gehalten hätte. Irgend etwas Besonderes umgab dieses Mädchen, etwas, das ihn seine Bedenken und Zweifel beiseite schieben ließ. Ihre Augen hielten ihn fest, waren einnehmend und überzeugend. Er sah in ihnen nichts als die Wahrheit. »Gut, ich glaube dir«, sagte er schließlich.
»Dann erzähle mir, wie du entkommen konntest und die anderen nicht«, forderte sie. »Nein, versuch nicht, dich herauszureden. Ich muß einen Beweis für deine Unschuld haben, wenn wir einander und unseren Freunden helfen wollen.«
Pars Entschluß, das Geheimnis des Wunschliedes für sich zu behalten, begann zu wanken. Wieder hatte sie recht. Sie stellte lediglich die Frage, die er an ihrer Stelle ebenfalls gestellt hätte. »Ich habe Magie benutzt«, erklärte er.
Sie rückte näher, als ob sie die Wahrheit seiner Aussage dadurch besser beurteilen könnte. »Magie? Welche Art von Magie?«
Er zögerte immer noch.
»Taschenspielertricks? Zaubersprüche?« drängte sie. »Oder verfügst du über größeres Wissen?«
»Ja«, erwiderte er. »Ich kann mich, wenn ich will, unsichtbar machen.«
Es folgte ein langes Schweigen. Er sah die Neugier in ihren Augen.
»Du verfügst über echte Magie, nicht wahr?« sagte sie schließlich. »Nicht die vorgetäuschte Art, die ich vorführe, indem ich Münzen verschwinden und wieder auftauchen lasse und Feuer herbeizaubere. Du verfügst über die verbotene Magie. Deshalb ist Padishar so an dir interessiert.« Sie schwieg. »Wer bist du, Par Ohmsford?«
Par wog seine Antwort sorgfältig ab. »Ich bin halb Elfe und verfüge über die Magie meiner Vorfahren. Ich kann über ihre Magie gebieten, wenigstens über einen kleinen Teil davon.«
Sie sah ihn lange Zeit schweigend an. Endlich schien sie zu einem Entschluß gekommen zu sein. Sie kroch aus ihrem Versteck zwischen den Büschen hervor und zog ihn mit sich. Sie säuberten ihre Kleider, sogen die kühle Nachtluft tief in sich ein. Der Park war verlassen.
Sie trat dicht neben ihn. »Ich bin in Tyrsis als Kind eines Waffenschmieds und seiner Frau geboren. Ich hatte einen Bruder und eine Schwester, die beide älter waren als ich. Als ich acht war, kam der Föderation zu Ohren, daß mein Vater die Bewegung mit Waffen versorgte. Irgend jemand – ein Freund, ein Bekannter, ich weiß nicht genau, wer – hat ihn verraten. Eines Nachts kamen Sucher zu unserem Haus und brannten es bis auf die Grundmauern nieder. Meine Familie verbrannte darin. Ich bin nur deshalb verschont geblieben, weil ich meine Tante besucht habe. Nach einem Jahr starb auch sie, und ich war gezwungen, auf der Straße zu leben. Auf der Straße bin ich aufgewachsen. Eine Familie hatte ich nicht mehr. Auch keine Freunde. Ein Straßenzauberer nahm mich als seine Schülerin auf und hat mir das Handwerk beigebracht. Jetzt kennst du mein Leben.« Sie hielt inne. »Du hast ein Recht darauf zu wissen, warum ich nie jemand an die Föderation verraten würde.« Sie streckte ihre Hand aus und streichelte einen Augenblick seine Wange. Dann glitt ihre Hand auf seinen Arm hinunter und blieb dort liegen. »Par, wenn wir etwas unternehmen, müssen wir es heute nacht tun, oder es wird zu spät sein. Die Föderation weiß, mit wem sie es zu tun hat. Sie werden Felsen-Dall und seine Sucher kommen lassen, um Padishar zu verhören. Sobald Felsen-Dall auftaucht, ist eine Befreiungsaktion sinnlos.« Sie schwieg, um sicherzustellen, daß er die Bedeutung ihrer Worte begriffen hatte. »Wir müssen ihnen jetzt helfen.«
Der Gedanke an Coll, Morgan und Padishar Creel in den Händen von Felsen-Dall ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Was würde der oberste Sucher mit dem Anführer der Geächteten anstellen?
»Heute nacht«, fuhr Damson Rhee in einem Ton fort, der zugleich weich und bestimmt war, »heute nacht erwarten sie uns bestimmt nicht. Sie werden Padishar und die anderen in den Zellen im Wachhaus eingeschlossen haben. Sie haben sie sicher noch nicht fortgeschafft. Bei Tagesanbruch werden sie müde und schläfrig sein. Eine bessere Chance wird sich uns nicht bieten.«
Ungläubig starrte er sie an. »Uns beiden?«
»Wenn du dich mir anschließen willst.«
»Aber was können wir denn ausrichten?«
Im Mondlicht schimmerte ihr rotes Haar geheimnisvoll. »Erzähl mir von deiner Magie. Was kannst du damit machen, Par Ohmsford?«
Jetzt gab es keinen Grund mehr zu zögern. »Mich unsichtbar machen«, sagte er. »Mich in etwas verwandeln, das ich gar nicht bin. Andere glauben machen, daß sie Dinge sehen, die gar nicht existieren. Im Grunde genommen alles, was ich will, vorausgesetzt, es dauert nicht lange. Es handelt sich ganz einfach um Sinnestäuschungen, verstehst du?«
Sie wandte sich von ihm ab, schritt auf die nahen Bäume zu und blieb stehen. Par wartete, spürte, wie ein kühler Windhauch seine Haut streifte, lauschte auf die Stille, die über der Stadt lagerte. Er fühlte eine Angst in sich, die er nicht unterdrücken konnte – Angst bei dem Gedanken, seine Freunde befreien zu müssen, Angst bei dem Gedanken, dabei zu versagen. Aber den Versuch überhaupt nicht zu wagen war unvorstellbar.
Was konnten sie tun – dieses junge Mädchen und er?
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, kam sie zu ihm zurück; aus ihren Augen sprach Entschlossenheit, als sie seinen Arm berührte und flüsterte: »Ich glaube, ich weiß eine Möglichkeit, Par.«
Unwillkürlich mußte er lächeln. »Laß hören«, sagte er.