Argent Reivich.
Es musste eine Zeit gegeben haben, zu der mir der Name nichts bedeutete, aber das konnte ich mir kaum noch vorstellen. Zu lange schon bestimmte dieser Name — und nicht nur er allein, sondern die Tatsache, dass der Mann noch immer existierte — mein ganzes Universum. Dafür erinnerte ich mich noch gut daran, wann ich ihn zum ersten Mal gehört hatte. Es war an jenem Abend im Reptilienhaus gewesen, als ich Gitta beibrachte, mit einem Gewehr umzugehen. Daran dachte ich zurück, während ich Amelia zeigte, wie sie sich gegen Bruder Alexei zur Wehr setzen konnte.
Cahuellas Palast auf Sky’s Edge war ein langes H-förmiges Gebäude inmitten von üppig wuchernder Dschungelvegetation. Auf dem Dach erhob sich ein weiteres H-förmiges Stockwerk, in allen drei Dimensionen etwas kleiner gehalten, sodass es von einer breiten, mit einer Brüstung versehenen Terrasse eingerahmt wurde. Wollte man von dieser Terrasse aus den etwa hundert Meter breiten Rodungsstreifen um das Reptilienhaus sehen, dann musste man an die Brüstung treten und über den Rand schauen. Die dunkle Dschungelmauer ragte so hoch auf, als wollte sie im nächsten Moment wie eine grüne Flutwelle auf die Terrasse herabstürzen. Die Nacht entzog dem Dschungel alle Farbe, machte ihn unendlich in seiner Schwärze und erfüllte ihn mit den fremden Geräuschen tausend einheimischer Lebensformen. Auf Hunderte von Kilometern im Umkreis gab es keine andere menschliche Behausung mehr.
Die Nacht, in der ich mit Gitta trainierte, war ungewöhnlich klar, der Himmel war von den Baumwipfeln bis zum Zenith mit Sternen übersät. Sky’s Edge hatte keine großen Monde, und die wenigen beleuchteten Habitats, die den Planeten umkreisten, befanden sich unter dem Horizont, aber die Terrasse wurde von Dutzenden von Fackeln erhellt. Die Flammen loderten aus den Mäulern der goldenen Hamadryaden-Skulpturen, die auf steinernen Sockeln an der Wand aufgereiht waren. Die Jagd war Cahuellas große Leidenschaft, und sein sehnlichster Wunsch war, eine fast ausgewachsene Hamadryade zu fangen. Im Vorjahr hatte er nur ein einziges, unreifes Exemplar erwischt, das er jetzt im Keller unter dem Reptilienhaus gefangen hielt.
Bei jenem Jagdausflug hatte ich noch nicht lange für ihn gearbeitet, und seine Frau hatte ich überhaupt zum ersten Mal gesehen. Sie hatte ein paarmal eine von Cahuellas Jagdflinten in die Hand genommen, aber man merkte deutlich, dass sie zuvor noch nie eine Waffe angefasst hatte. Cahuella hatte mich gebeten, ihr ganz zwanglos etwas Schießunterricht zu geben, so lange wir noch zu Hause waren, und das hatte ich getan. Gitta hatte zwar Fortschritte gemacht, aber eine gute Schützin würde sie sicher niemals werden. Das spielte auch keine Rolle. Sie hatte kein Interesse an der Jagd. Obwohl sie den Ausflug mit stoischer Ruhe hatte über sich ergehen lassen, konnte sie Cahuellas primitive Begeisterung für das Töten von Tieren nicht teilen.
Bald musste sogar Cahuella einsehen, dass er nur seine Zeit vergeudete, wenn er aus Gitta eine Jägerin machen wollte. Dennoch legte er Wert darauf, dass sie lernte, mit einer Waffe umzugehen — diesmal mit einem kleineren Modell und zum Zweck der Selbstverteidigung.
»Wozu?«, fragte ich. »Sie bezahlen doch Leute wie mich dafür, dass Leute wie Gitta sich keine Sorgen um ihre Sicherheit zu machen brauchen.«
Als wir dieses Gespräch führten, standen wir allein in einer der leeren Zellen des Vivariums. »Weil ich Feinde habe, Tanner. Sie sind ein guter Mann, und Sie haben gute Leute unter sich — aber sie sind nicht unfehlbar. Ein Einzeltäter könnte unsere Verteidigungseinrichtungen immer noch unterlaufen.«
»Das schon«, gab ich zu. »Aber wenn er so gut ist, dann bringt er es auch fertig, Sie oder Gitta abzuknallen, bevor Sie überhaupt etwas davon merken.«
»Das heißt, er müsste so gut sein wie Sie, Tanner?«
Ich dachte an die Verteidigungseinrichtungen, die ich außer- und innerhalb des Reptilienhauses aufgebaut hatte. »Nein«, antwortete ich. »Er müsste verdammt viel besser sein als ich, Cahuella.«
»Und solche Leute gibt es da draußen?«
»Es gibt immer Leute, die besser sind als man selbst. Die Frage ist nur, ob jemand anderer bereit ist, sie für ihre Dienste zu bezahlen.«
Er stützte sich auf eines der leeren Terrarien. »Dann braucht sie das Training zur Selbstverteidigung umso mehr. Auch eine geringe Chance ist besser als keine Chance.«
Das hatte eine gewisse Logik. »Dann werde ich ihr einiges zeigen — wenn es unbedingt sein muss.«
»Warum so widerwillig?«
»Waffen sind gefährlich.«
Cahuella lächelte. Die Leuchtröhren in den leeren Terrarien spendeten ein mattgelbes Licht.
»Dazu sind sie schließlich da.«
Bald danach fingen wir an. Gitta war eine willige Schülerin, aber sie lernte längst nicht so schnell wie Amelia. Das war keine Frage der Intelligenz, sie hatte nur ein fundamentales motorisches Defizit, eine angeborene Schwäche bei der Koordination von Hand und Auge, die nie zutage getreten wäre, hätte Cahuella nicht auf diesem Unterricht bestanden. Das sollte nicht heißen, dass Gitta ein hoffnungsloser Fall gewesen wäre, aber sie plagte sich einen vollen Tag lang mit den einfachsten Grundbegriffen herum, die Amelia binnen einer Stunde beherrscht hätte. Früher als Militärausbilder hätte ich mich mit diesem sinnlosen Spielchen nicht herumgeärgert, sondern es irgendjemandem übertragen, ihr eine Aufgabe zu suchen, für die sie besser geeignet war — beim Nachrichtendienst vielleicht.
Aber Cahuella wollte nun einmal, dass Gitta mit einer Waffe umzugehen lernte.
Und ich gehorchte. Das fiel mir nicht weiter schwer. Es war Cahuellas Sache, wie er mich einsetzen wollte. Und es gab wahrhaftig unerfreulichere Aufträge als den, meine Zeit mit Gitta zu verbringen. Cahuellas Frau war wunderschön: ein auffallend nordisches Gesicht mit hohen Backenknochen, eine schlanke, geschmeidige Gestalt, durchtrainiert wie eine Tänzerin. Vor dem Schießunterricht hatte ich sie nie angefasst, es hatte ja kaum einen Anlass gegeben, mit ihr zu sprechen, obwohl ich oft genug von ihr geträumt hatte.
Nun klopfte mir jedes Mal, wenn ich mit sanftem Druck auf ihren Arm, ihre Schultern oder ihr Kreuz ihre Haltung korrigierte, das Herz bis zum Hals. Wenn ich etwas erklärte, bemühte ich mich, so leise und ruhig zu sprechen, wie es der Situation entsprach, doch in meinen Ohren klang es wie das Krächzen eines Stimmbrüchigen. Falls Gitta an meinem Benehmen etwas auffiel, so ließ sie es sich nicht anmerken. Sie konzentrierte sich voll auf die Lektion, die wir gerade durchgingen.
Ich hatte in diesem Bereich der Terrasse einen Hochfrequenzgenerator installiert, der einen Prozessor in Gittas Schutzbrille ansprach. Es handelte sich um ein Gerät für die militärische Standardausbildung aus dem riesigen Vorrat von Diebes- und Schwarzmarktwaffen, den Cahuella im Laufe der Jahre zusammengetragen hatte. Wenn Gitta die Schutzbrille trug, erzeugte es in ihrem Sichtfeld geisterhafte Gestalten, die auf der Terrasse herumzulaufen schienen. Nicht alle waren Feinde, aber Gitta hatte nur den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um zu entscheiden, wen sie zu erschießen hatte.
An sich war es ein Witz. Erstens hätte nur ein besonders hochkarätiger Killer überhaupt eine Chance, ins Reptilienhaus einzudringen, und zweitens würde jemand von diesem Kaliber niemals so viel kostbare Zeit vergeuden, dass Gitta ihre Entscheidung treffen konnte.
Es war die fünfte Lektion, und Gitta stellte sich gar nicht so ungeschickt an. Immerhin schoss sie in neunzig Prozent der Fälle auf die richtigen Ziele, und mit diesem Fehlerspielraum konnte ich vorerst leben. Es blieb nur zu hoffen, dass ich nie das eine von zehn Opfern sein würde, das ihr nicht nach dem Leben trachtete.
Aber ich vermisste immer noch eine gewisse Effizienz beim Abschuss. Wir verwendeten scharfe Projektilmunition, denn die Strahlenwaffen, die uns zur Verfügung standen, waren zu schwer und zu unhandlich für die Selbstverteidigung. Ich hätte es zur Sicherheit so einrichten können, dass die Waffe nur abgefeuert werden konnte, wenn Gitta oder ich nicht in der Schusslinie waren, von Cahuellas kostbaren Hamadryaden-Skulpturen ganz zu schweigen. Aber ich fand, wenn die Waffe immer wieder blockierte, würde das ganze Szenarium zu unrealistisch für meine Zwecke. So hatte ich stattdessen intelligente Munition geladen. Jede Kugel enthielt einen Prozessor, der von dem gleichen Trainingsfeld angesprochen wurde wie Gittas Schutzbrille. Dieser Prozessor lenkte mit winzigen Gasfontänen die Kugel ab, wenn ihre Bahn allzu gefährlich wurde. War der erforderliche Winkel zu spitz, dann zerstörte sich die Kugel selbst und verpuffte in einer heißen Dampfwolke — nicht völlig harmlos, aber sehr viel besser als wenn einem ein Kleinkalibergeschoss mitten ins Gesicht flog.
»Wie bin ich heute?«, fragte Gitta, als wir nachladen mussten.
»Die Zielerfassung wird besser. Aber Sie halten immer noch zu hoch — zielen Sie auf die Brust anstatt auf den Kopf.«
»Warum die Brust? Mein Mann sagt, Sie könnten einen Menschen mit einem einzigen Schuss in den Kopf töten, Tanner.«
»Ich habe auch mehr Übung.«
»Aber es stimmt doch — was man sich über Sie erzählt? Wenn Sie auf jemanden schießen mussten, konnten Sie…«
»… bestimmte Gehirnfunktionen ausschalten«, vollendete ich. »Sie dürfen nicht alles glauben, was die Leute so reden, Gitta. Wahrscheinlich könnte ich gezielt eine Hirnhälfte treffen, mehr allerdings…«
»Aber es lebt sich bestimmt nicht schlecht mit einem solchen Ruf?«
»Das mag sein. Auch wenn nichts dahinter ist.«
»Mein Mann würde solche Gerüchte hemmungslos ausschlachten.« Sie warf vorsichtshalber einen Blick nach hinten auf das oberste Stockwerk. »Sie dagegen spielen sie immer nur herunter. Aber dadurch werden sie für mich nur noch glaubwürdiger, Tanner.«
»Ich spiele sie herunter, weil ich nicht will, dass Sie mich überschätzen.«
Sie sah mich an. »Ich glaube nicht, dass die Gefahr sehr groß ist. Ich weiß schon, wie ich Sie einzuschätzen habe. Sie sind ein Mensch mit reinem Gewissen und arbeiten zufällig für jemanden, der bei Nacht nicht ganz so gut schläft.«
»Ich bin auch nicht gerade ein Unschuldslamm, glauben Sie mir.«
»Sie kennen Cahuella nicht.« Sie sah mir fest in die Augen; ich senkte den Blick und betrachtete angelegentlich die Waffe. Gittas Stimme wurde eine Oktave höher. »Aha, wenn man vom Teufel spricht.«
»Geht es schon wieder um mich?« Cahuella trat auf die Terrasse. In seiner Hand glänzte etwas: ein Glas Pisco Sour. »Nun, wer wollte euch das verübeln? Und? Wie geht es mit dem Training voran?«
»Ich denke, wir machen ganz ordentliche Fortschritte«, sagte ich.
»Glaub ihm kein Wort«, protestierte Gitta. »Ich bin eine Katastrophe, Tanner ist nur zu höflich, um es auszusprechen.«
»Was sich lohnt, ist nie ganz leicht zu erreichen«, konterte ich. Zu Cahuella sagte ich: »Gitta kann jetzt eine Waffe abfeuern und meistens zwischen Freund und Feind unterscheiden. Das ist keine Hexerei, aber sie hat schwer dafür gearbeitet und verdient Anerkennung. Wenn Sie allerdings mehr verlangen, könnten wir an gewisse Grenzen stoßen.«
»Weitermachen kann sie trotzdem. Sie hat schließlich einen guten Lehrmeister.« Er nickte zu der Pistole hin. Ich hatte eben einen neuen Clip eingelegt. »He, zeigen Sie ihr doch mal Ihren tollen Trick.«
»Welchen meinen Sie?«, fragte ich. Ich musste mich beherrschen. Normalerweise hütete sich Cahuella, meine mühsam erworbenen Fähigkeiten als Tricks zu bezeichnen.
Cahuella trank einen Schluck. »Sie wissen schon, welchen ich meine.«
»Schön, dann lassen Sie mich raten.«
Ich programmierte die Pistole so um, dass die Kugeln bei gefährlicher Flugbahn nicht mehr abgelenkt wurden. Wenn er einen Trick sehen wollte, würde ich ihm einen zeigen — auch wenn ihn das teuer zu stehen kam.
Normalerweise nahm ich die klassische Haltung ein, wenn ich mit einer Handfeuerwaffe schoss: die Beine leicht gespreizt, die Waffe in einer Hand, die zweite als Stütze darunter gelegt; beide Arme in Augenhöhe ausgestreckt und — bei Projektil-, nicht bei Energiewaffen — die Ellbogen durchgedrückt, um den Rückstoß abzufangen. Jetzt hielt ich die Pistole nur mit einer Hand auf Hüfthöhe wie ein Westernheld aus früherer Zeit seinen Trommelrevolver. Ich visierte auch nicht am Lauf entlang, sondern schaute von oben darauf. Aber ich hatte die Technik so gründlich geübt, dass ich dennoch genau wusste, wohin die Kugel ging.
Ich zog den Abzug durch und setzte einen Schuss in eine der Hamadryaden-Skulpturen.
Dann ging ich hin und sah mir den Schaden an.
Das Gold war unter der Wucht der Kugel wie Butter zerflossen, aber es hatte sich schön symmetrisch um das Einschussloch verteilt wie eine goldene Lotosblüte. Und ich hatte auch den Schuss schön symmetrisch in die Stirn der Hamadryade gesetzt — mit mathematischer Präzision genau zwischen die Augen, wenn das Vieh seine Augen nicht innerhalb des Mauls gehabt hätte.
»Ausgezeichnet«, sagte Cahuella. »Nehme ich jedenfalls an. Haben Sie eine Vorstellung, was die Schlange gekostet hat?«
»Nicht so viel, wie Sie mir bezahlen«, sagte ich und programmierte die Sicherheitsablenkung wieder ein, bevor ich es vergaß.
Er warf noch einen kurzen Blick auf die beschädigte Skulptur, dann lachte er leise und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich haben Sie Recht. Und ich schätze, Sie haben’s immer noch drauf, Tanner, stimmt’s?« Er sah seine Frau an und schnippte mit den Fingern. »Okay; der Unterricht ist beendet, Gitta. Ich habe etwas mit Tanner zu besprechen — deshalb bin ich herausgekommen.«
»Aber wir haben gerade erst angefangen.«
»Ein andermal wieder. Du musst schließlich nicht alles auf einmal lernen.«
Nein, dachte — hoffte — ich, das wird nie passieren, denn dann hätte ich keinen Grund mehr, in deiner Nähe zu sein. Ein gefährlicher Gedanke — ich hatte doch wohl nicht ernsthaft vor, hier im Reptilienhaus etwas mit ihr anzufangen, während Cahuella im Nebenzimmer saß? Außerdem völlig abwegig, denn bis zum heutigen Abend hatte Gitta durch nichts zu erkennen gegeben, dass sie meine Gefühle in irgendeiner Weise erwiderte. Heute hatte sie allerdings einige Bemerkungen fallen lassen, die mich stutzig machten. Vielleicht wurde es ihr hier draußen im Dschungel doch allmählich zu einsam.
Dieterling trat hinter Cahuella aus dem Haus und führte Gitta hinein, ein anderer Mann baute den Generator ab. Cahuella und ich gingen auf die Terrassenbrüstung zu. Es war eine feuchtwarme Nacht, kein Lüftchen regte sich. Bei Tag war es hier oft fast unerträglich schwül; das an der Küste gelegene Nueva Iquique, wo ich aufgewachsen war, hatte ein sehr viel milderes Klima. Cahuella hatte seine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt in einen schwarzen Kimono mit einem Muster aus verschlungenen Delphinen gehüllt und stand mit bloßen Füßen auf dem Fliesenboden. Er hatte ein breites Gesicht mit einem, wie mir schien, ständig gereizten Zug um den Mund. Das Gesicht eines Mannes, der keine Niederlage mit Anstand hinnehmen konnte. Das volle schwarze Haar klatschte er stets mit so viel Pomade glatt nach hinten, dass die Strähnen im Schein der Hamadryaden-Fackeln wie gehämmertes Gold glänzten. Er strich mit den Fingern über die angeschossene Skulptur, bückte sich und hob ein paar Goldsplitter vom Boden auf. Sie waren so hauchdünn wie das Blattgold, mit dem die Illuminatoren in früheren Zeiten religiöse Schriften verziert hatten. Er rieb sie traurig zwischen den Fingern und versuchte dann, sie wieder auf die Wunde zu drücken. Die Skulptur stellte eine Schlange dar, die sich in der letzten Phase der Mobilität vor der Verschmelzung befand und sich bereits um ihren Baum gewickelt hatte.
»Ich bedauere den Schaden«, sagte ich. »Aber Sie hatten eine Demonstration verlangt.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht weiter schlimm; ich habe noch Dutzende von den Dingern im Keller. Vielleicht lasse ich sie sogar hier stehen — als Wahrzeichen?«
»Zur Abschreckung?«
»Zu irgendetwas muss sie doch gut sein?«. Er senkte die Stimme. »Tanner, es ist etwas geschehen. Sie müssen mich heute Nacht begleiten.«
»Heute Nacht?« Es war schon spät, aber Cahuella hielt sich nicht an die normalen Tageszeiten. »Was haben Sie vor — einen nächtlichen Jagdausflug?«
»Ich hätte nicht übel Lust dazu, aber es geht um etwas ganz anderes. Wir erwarten Besucher und müssen sie abholen. Etwa zwanzig Kilometer von hier an der alten Dschungelstraße befindet sich eine Lichtung. Ich möchte, dass Sie mich hinfahren.«
Ich ließ mir das gründlich durch den Kopf gehen, dann fragte ich: »Um welche Art von Besuchern geht es denn eigentlich?«
Er strich fast zärtlich über den Kopf der beschädigten Hamadryade. »Keine von der üblichen Sorte.«
Eine halbe Stunde später verließen Cahuella und ich mit einem der Bodeneffekt-Fahrzeuge das Reptilienhaus. Für Cahuella hatte die Zeit gerade ausgereicht, um für den Ausflug in ein Khaki-Hemd und dazu passende Hosen sowie eine hellbraune Jagdjacke mit unzähligen Taschen zu schlüpfen. Ich manövrierte den Wagen an den baufälligen, von Pflanzen überwucherten Gebäuden im Umkreis des Reptilienhauses vorbei, bis ich die alte Piste fand, die gleich dahinter im Wald verschwand. Noch ein paar Monate, und die Fahrt wäre nicht mehr möglich gewesen — die Wunde, die man einst ins Herz des Dschungels geschlagen hatte, wuchs allmählich wieder zu. Danach würde man schon Flammenwerfer brauchen, um den Weg wieder frei zu machen.
Das Reptilienhaus und seine Umgebung waren einst Teil eines zoologischen Gartens gewesen, den man während einer der aussichtsreicheren Feuerpausen gebaut hatte. In diesem speziellen Fall hatte der Waffenstillstand nur zehn Jahre gehalten — aber die Menschen hatten sich wohl so große Hoffnungen auf einen dauerhaften Frieden gemacht, dass sie sich an ein so militärisch wertloses und zivilisatorisch verdienstvolles Projekt wie einen Tierpark gewagt hatten. Geplant war, terranische und einheimische Spezies in gleicher Umgebung auszustellen und so die Gemeinsamkeiten wie die Unterschiede zwischen der Erde und Sky’s Edge zu demonstrieren. Aber der Zoo war nie ganz fertig gestellt worden, und nun hatte Cahuella das Reptilienhaus, das einzige Bauwerk, das noch intakt war, zu seiner persönlichen Residenz gemacht. Dafür war es gut geeignet: weitab vom Schuss und gut zu verteidigen. Cahuella träumte davon, in den Vivarien im Keller mit selbst gefangenen Tieren eine private Sammlung aufzubauen. Kernstück sollte eine fast erwachsene oder präadulte Hamadryade werden, die er erst noch finden musste. Schon die Jungschlange brauchte sehr viel Platz; für ein ausgewachsenes Tier müsste man einen neuen Keller bauen — ganz zu schweigen von dem umfangreichen Fachwissen, das für die Haltung einer Art erforderlich war, bei der die biochemischen Unterschiede zwischen Jungtieren und Erwachsenen so groß waren wie hier. Mehrere Räume des Hauses waren bereits voll mit Häuten, Zähnen und Knochen von Tieren, die mein Arbeitgeber von seinen Jagdexpeditionen mit nach Hause gebracht hatte. Lebende Tiere interessierten ihn nicht. Wenn er ein lebendes Exemplar haben wollte, dann nur aus einem einzigen Grund: um künftigen Besuchern zu demonstrieren, wie viel mehr waidmännisches Können es erforderte, eine Hamadryade in freier Wildbahn nicht zu erlegen, sondern zu fangen.
Ich jagte den Wagen über die Piste. Äste und Ranken schlugen gegen die Karosserie. Das Heulen der Turbinen übertönte auf Meilen im Umkreis alle Stimmen des Waldes.
»Erzählen Sie mir von den Besuchern«, sagte ich. Mein Kehlkopfmikrofon übertrug jedes Wort in die Kopfhörer, die sich Cahuella aufgesetzt hatte.
»Die bekommen sie noch früh genug zu sehen.«
»War es deren Vorschlag, die Lichtung als Treffpunkt zu nehmen?«
»Nein — das war meine Idee.«
»Aber wissen die auch, welche Lichtung Sie meinten?«
»Das ist nicht nötig.« Er deutete mit dem Kopf nach oben. Ich riskierte einen Blick zum Blätterdach, und als für einen Moment der Himmel sichtbar wurde, entdeckte ich einen grellen dreieckigen Fleck, der über uns schwebte wie ein aus dem Firmament geschnittener Keil. »Sie folgen uns, seit wir das Haus verlassen haben.«
»Das ist kein einheimisches Flugzeug«, bemerkte ich.
»Das ist überhaupt kein Flugzeug, Tanner. Das ist ein Raumschiff.«
Nach einer Stunde Fahrt durch immer dichteren Urwald erreichten wir die Lichtung. Jemand musste hier vor einigen Jahren ein Loch in den Dschungel gebrannt haben — wahrscheinlich eine Rakete, die ihr Ziel weit verfehlt hatte. Vielleicht hätte sie sogar das Reptilienhaus treffen sollen; Cahuella hatte so viele Feinde, dass diese Möglichkeit nicht auszuschließen war. Zum Glück hatten die meisten keine Ahnung, wo er lebte. Inzwischen wuchs die Lichtung allmählich wieder zu, aber noch war der Boden eben genug für eine Landung.
Das deltaförmige Raumschiff hielt über uns an und sank lautlos wie eine Fledermaus tiefer. Jetzt sah ich, dass es an der Unterseite mit Tausenden von grell leuchtenden Hitzeelementen besetzt war. Es war fünfzig Meter breit; etwa halb so breit wie die Lichtung. Der erste Wärmeschwall traf mein Gesicht, dann setzte — kaum hörbar — ein tiefes Summen ein.
Ringsum verstummte der Dschungel.
Das Deltoid sank tiefer, aus den Spitzen sprießten drei nach unten offene Halbkugeln. Nun war es unterhalb der Baumwipfel. Die Hitze, die es abstrahlte, trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Ich hob die Hand, um meine Augen vor der gleißenden Helligkeit zu schützen.
Das Glühen schwächte sich ab zu einem dumpfen Ziegelrot, das Schiff sank die letzten Meter nur unter seinem eigenen Gewicht und setzte auf. Die Halbkugeln fingen den Stoß mit muskelartiger Elastizität ab. Dann war es eine Weile still, und endlich wurde aus der vorderen Wand wie eine Zunge eine Rampe ausgefahren, bis sie den Boden berührte. Aus der Luke am oberen Ende fiel ein greller bläulichweißer Lichtschein, in dem sich die Konturen der Dschungelvegetation scharf abzeichneten. Aus dem Augenwinkel sah ich Tiere in Deckung huschen.
Zwei übergroße, spindeldürre Gestalten erschienen in der erleuchteten Tür.
Cahuella stieg vor mir aus und ging auf die Rampe zu.
»Sie wollen an Bord?«
Er schaute zurück, eine Silhouette im Gegenlicht. »Sie haben es erfasst. Und Sie kommen mit.«
»Ich hatte noch nie mit den Ultras zu tun.«
»Dann ist das jetzt Ihre große Chance.«
Ich verließ den Wagen und folgte ihm. Ich hatte eine Pistole bei mir, aber es kam mir albern vor, sie in der Hand zu halten. Also steckte ich sie in den Gürtel und fasste sie nicht mehr an, bis wir wieder zurück waren. Die beiden Ultras warteten schweigend oben an der Rampe, einer lehnte in leicht gelangweilter Pose am Lukenrand. Auf halbem Wege zum Schiff kniete Cahuella nieder, schob das Gestrüpp beiseite und scharrte mit den Händen auf dem Boden herum. Ich glaubte zu sehen, wie er ein verbeultes Blech freilegte — aber bevor ich es genauer erkennen oder gar identifizieren konnte, drängte er bereits zum Weitergehen.
»Kommen Sie schon. Ultras sind nicht gerade für ihre Engelsgeduld bekannt.«
»Ich wusste nicht einmal, dass sich ein Ultra-Schiff im Orbit befindet«, sagte ich leise.
»Das wissen auch nur wenige.« Cahuella betrat die Rampe. »Sie halten sich im Moment noch ganz still, nur so können sie bestimmte Geschäfte durchführen, die nicht möglich wären, wenn jeder wüsste, dass sie hier sind.«
Die Ultras, ein Mann und eine Frau, waren so dünn wie zwei Gerippe. Ein Exoskelett aus lebenserhaltenden Systemen und Prothesen umgab ihren Körper. Die Gesichter waren bleich und hohlwangig, die Lippen schwarz geschminkt und die Augen mit Khol umrandet, wodurch ein Eindruck von puppenhafter Starre entstand. Das dunkle Haar war zu einem kunstvollen Schlangennest aus steifen Locken aufgetürmt. Die Arme des Mannes bestanden aus leuchtenden Maschinen und pulsierenden Zuleitungen, die in Rauchglas eingegossen waren, während die Frau ein ovales Loch im Unterleib zur Schau trug.
»Lassen Sie sich nicht aus der Fassung bringen«, flüsterte Cahuella. »Besucher zu schockieren, gehört zu ihren Geschäftsmethoden. Sie können wetten, dass der Captain die zwei ausgeflipptesten Exemplare geschickt hat, die er finden konnte, nur um uns zu verunsichern.«
»Und das ist ihm gelungen.«
»Vertrauen Sie mir; ich kenne die Ultras. Im Grunde sind sie die reinen Waschlappen.«
Wir schlenderten gemächlich die Rampe hinauf. Die Frau, die im Türrahmen lehnte, richtete sich auf, kräuselte die Lippen und sah uns ausdruckslos an. »Sie sind Cahuella?«, fragte sie.
»Ja, und das ist Tanner. Tanner begleitet mich. Das steht nicht zur Diskussion.«
Sie musterte mich von Kopf bis Fuß.
»Sie sind bewaffnet.«
»Ja«, sagte ich. Es erschütterte mich nicht allzu sehr, dass sie die Pistole unter meiner Jacke entdeckt hatte. »Wollen Sie behaupten, Sie wären es nicht?«
»Wir haben andere Mittel. Bitte treten Sie ein.«
»Die Pistole ist kein Problem?«
Die Frau grinste — zum ersten Mal zeigte sie so etwas wie ein Gefühl. »Nicht ernsthaft, nein.«
Sobald wir an Bord waren, wurde die Rampe eingezogen und die Luke geschlossen. Die Atmosphäre war so steril wie in einem Operationssaal, zarte Pastelltöne, spiegelblanke Maschinen. Zwei weitere Ultras — Pilot und Copilot — lümmelten bequem zurückgelehnt, halb versteckt unter Kontrollanzeigen und dünnen, biegsamen Steuersonden auf riesigen Beschleunigungsliegen. Beide waren nackt, ihre Haut war purpurrot, und sie hatten unglaublich bewegliche Finger. Auch sie hatten ihr Haar zu steifen Dreadlocks geflochten, nur waren es bei ihnen noch mehr als bei den beiden anderen.
Die Frau mit dem Loch im Bauch sagte: »Bring uns schön sachte nach oben, Pellegrino. Wir wollen nicht, dass unsere Gäste aus den Pantinen kippen.«
Ich sah Cahuella an und flüsterte: »Wir fliegen mit?«
Er nickte.
»Amüsieren Sie sich, Tanner. Ich tue es auch. Wenn die Gerüchte stimmen, kann ich den Planeten schon bald nicht mehr verlassen — und dann wollen selbst die Ultras nichts mehr mit mir zu tun haben.«
Man zeigte uns zwei freie Liegen. Das Schiff hob ab, kaum dass wir mit dem Anschnallen fertig waren. Ringsum waren transparente Felder in die Wände eingelassen, und so konnte ich beobachten, wie die Lichtung unter uns zurückblieb, bis sie wie ein einzelner Fußabdruck aussah, auf den ein Lichtstrahl fiel. Auf einer Seite war fast am Horizont ein leuchtender Punkt zu erkennen, das musste das Reptilienhaus sein. Der Rest des Dschungels war schwarz wie das nächtliche Meer.
»Warum haben Sie gerade diese Lichtung als Treffpunkt gewählt?«, fragte die Ultra-Frau.
»Wenn Sie auf einem Baum gelandet wären, hätte das ziemlich albern ausgesehen.«
»Das meine ich nicht. Wir hätten uns mit minimalem Aufwand einen eigenen Landeplatz schaffen können. Aber die Lichtung hat wohl eine besondere Bedeutung, nicht wahr?« Es klang, als sei die Antwort für die Frau nicht weiter von Interesse. »Wir haben sie beim Anflug gescannt. Darunter ist etwas vergraben; ein regelmäßig geformter Hohlraum. Eine Kammer, gefüllt mit Maschinen.«
»Wir haben alle unsere kleinen Geheimnisse«, sagte Cahuella.
Die Frau sah ihn lange an, dann ließ sie das Thema mit einer Handbewegung fallen.
Das Schiff machte einen jähen Satz nach oben, ich wurde vom Andruck gegen die Liege gepresst. Ich bemühte mich verbissen, mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen, aber ein Vergnügen war es nicht. Die Ultras zischten sich, ohne eine Miene zu verziehen, technische Daten zu: Windgeschwindigkeit, Steigwinkel. Die beiden, die uns in Empfang genommen hatten, waren mit ihren Liegen durch dicke silberne Nabelschnüre verbunden, die vermutlich ihre Atmung und ihren Kreislauf während des Steigflugs unterstützten. Wir tauchten aus der Atmosphäre auf und stiegen weiter. Inzwischen waren wir über der Tagseite. Sky’s Edge sah blaugrün und zerbrechlich aus; eine trügerische Idylle, vermutlich genau wie an dem Tag, als die Santiago erstmals in den Orbit ging. Von hier aus war vom Krieg zunächst nichts zu sehen, doch dann entdeckte ich dicht am Horizont die federleichten schwarzen Rauchfahnen brennender Ölfelder.
Eine solche Aussicht hatte ich noch nie erlebt. Ich war noch nie im Weltraum gewesen.
»Zielanflug zur Orvieto«, meldete der Pilot namens Pellegrino.
Das Mutterschiff kam rasch näher. Es war ein präzis geformter, vier Kilometer langer Kegel; so schwarz und massiv wie ein schlafender Vulkan. Ein Lichtschiff; so nannten die Ultras ihre Schiffe — elegante Nachtblitze, die nur um eine Winzigkeit unterhalb der Lichtgeschwindigkeit durch das All jagten. Ich war unwillkürlich beeindruckt. Die Technik, mit der dieses Schiff den Weltraum durchquerte, war fortschrittlicher als alles, was auf Sky’s Edge zu finden war, fortschrittlicher, als ich es mir überhaupt vorstellen konnte.
Den Ultras musste unser Planet vorkommen wie ein soziologisches Experiment: eine Zeitkapsel, die, wenn auch nur unvollkommen, seit drei- oder vierhundert Jahren überholte Technologien und Ideologien konservierte. Natürlich war das nicht allein unsere Schuld. Als die Flottille am Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts den Merkur-Orbit verlassen hatte, waren die Schiffe technisch voll auf der Höhe ihrer Zeit gewesen. Aber sie hatten einhundertfünfzig Jahre gebraucht, um durch das All zum Schwan-System zu schleichen — in dieser Zeit hatte sich die Technologie um Sol herum in rasanten Sprüngen weiter entwickelt, während die Flottille in Zeitlosigkeit erstarrte.
Als wir landeten, hatten andere Welten längst die lichtgeschwindigkeitsnahe Raumfahrt entdeckt und degradierten damit unser grandioses Unternehmen zu einer kläglichen puritanischen Geste, die nach fanatischer Selbstgeißelung roch.
Irgendwann kamen die schnellen Schiffe auch nach Sky’s Edge, ihre Datenspeicher waren voll mit technischen Neuerungen, die uns auf Wunsch mit einem Riesensatz in die Gegenwart hätten katapultieren können.
Doch da befanden wir uns schon im Krieg.
Wir wussten, was man erreichen konnte, aber wir hatten weder die Zeit noch die Mittel, um zu kopieren, was andere längst geschaffen hatten, und unser Planet war auch nicht finanzkräftig genug, um die Wunderwerke von der Stange zu kaufen, wenn Händler bei uns vorbei kamen. Neue Technologien wurden nur dann angeschafft, wenn sie unmittelbar militärisch einsetzbar waren, und selbst das trieb uns schon fast in den Bankrott. Stattdessen führten wir unseren Krieg über Jahrhunderte mit Fußsoldaten, Panzern, Düsenjets, chemischen Waffen und primitiven Atombomben; nur selten wagten wir uns mit vereinzelten Teilchenstrahlwaffen oder nanotechnisch gesteuerten Systemen in höhere Regionen vor.
Kein Wunder, dass uns die Ultras mit kaum verhohlener Verachtung begegneten. Sie betrachteten uns als primitive Wilde und — was am schwersten zu ertragen war — wir wussten, dass sie Recht hatten.
Wir dockten im Innern der Orvieto an.
Das Mutterschiff war eine sehr viel größere Ausgabe des Shuttles, ein Labyrinth von gewundenen, pastellfarbenen Gängen von penetranter Sterilität. Die Ultras sorgten für künstliche Schwerkraft, indem sie Teile ihres Schiffes innerhalb der Außenhülle rotieren ließen; die Schwerkraft war etwas höher als auf Sky’s Edge, aber das empfand man nur etwa so, als schleppte man ständig einen schweren Rucksack mit sich herum. Das Lichtschiff diente auch zur Personenbeförderung: im Frachtraum waren Tausende von Kälteschlaftanks untergebracht. Die ersten Passagiere kamen bereits an Bord: hellwache Aristokraten, die sich lauthals über die schlechte Behandlung beklagten. Den Ultras schien das egal zu sein. Die Aristokraten hatten sicher Unsummen für das Privileg bezahlt, von der Orvieto an ihr nächstes Ziel gebracht zu werden, wo immer das auch sein mochte, aber für die Ultras waren auch sie nur Wilde — lediglich etwas reinlicher und wohlhabender als der Durchschnitt.
Man brachte uns zum Captain.
Der saß auf einem riesigen, elektrisch gesteuerten Thron am Ende eines Teleskoparms mit vielen Gelenken, auf dem er sich in drei Dimensionen durch den gewaltigen Brückenraum bewegen konnte. Andere hochrangige Besatzungsmitglieder steuerten ihre ähnlich gebauten Sitzgelegenheiten misstrauisch von uns weg, sobald wir eintraten, und ließen sich vor Bildschirmen mit komplizierten Schaltplänen nieder, die in die Wand eingelassen waren. Cahuella und ich standen auf einem ausziehbaren Laufsteg mit niedrigem Geländer, der etwa bis in die Mitte der Brücke ragte.
»Mister… Cahuella«, sagte der Mann auf dem Thron an Stelle einer Begrüßung. »Willkommen an Bord meines Schiffes. Ich bin Captain Orcagna.«
Captain Orcagna beeindruckte mich kaum weniger als sein Schiff. Er war von Kopf bis Fuß in glänzend schwarzes Leder gekleidet, seine Beine steckten bis zu den Knien in spitzen schwarzen Stiefeln. Die Hände in den schwarzen Handschuhen hatte er dachförmig unter dem Kinn zusammengelegt. Sein Kopf erhob sich wie ein Ei aus dem Stehkragen seiner schwarzen Tunika. Anders als seine Crew hatte er nicht nur einen vollkommen kahlen Schädel, sondern auch keinerlei Gesichtsbehaarung. Das faltenlos glatte, nichtssagende Gesicht hätte einem Kind gehören können — oder einem Leichnam. Die Stimme war hoch, fast weibisch.
»Und Sie sind…?«, fragte er und nickte zu mir hin.
»Tanner Mirabel«, antwortete Cahuella, bevor ich zu Wort kam. »Mein persönlicher Sicherheitsexperte. Wo ich hingehe, da geht auch Tanner hin. Das steht…«
»…nicht zur Diskussion. Ja, das dachte ich mir.« Orcagna starrte zerstreut ins Leere, auf etwas, das nur für ihn sichtbar war. »Tanner Mirabel… richtig. Ehemaliger Soldat, wie ich sehe — bevor Cahuella Sie einstellte. Eine persönliche Frage: fehlt Ihnen jedes ethische Empfinden, Mirabel, oder haben sie nur nicht die leiseste Ahnung, für wen Sie eigentlich arbeiten?«
Wieder antwortete Cahuella für mich: »Ich habe ihn nicht eingestellt, damit er schlaflose Nächte verbringt, Orcagna.«
»Aber würde er es trotzdem tun, wenn er Bescheid wüsste?« Wieder sah Orcagna mich an, aber sein Gesicht verriet nicht viel. Wir hätten auch mit einer Marionette reden können, die von einer virtuellen Intelligenz aus dem Computernetz des Schiffes beseelt war. »Sagen Sie, Mirabel… ist Ihnen bekannt, dass Ihr Arbeitgeber in einigen Kreisen als Kriegsverbrecher gilt?«
»Alles Heuchler, die nur zu gerne Waffen von ihm kaufen, so lange er sie an niemand anderen verkauft.«
»Zwei gleich starke Gegner sind doch immer noch die beste Alternative«, sagte Cahuella. Einer seiner Lieblingsaussprüche.
»Aber Sie verkaufen nicht nur Waffen«, sagte Orcagna. Wieder schien er eine für uns unsichtbare Information aufzurufen. »Sie stehlen und morden auch, um sie zu bekommen. Sie sind erwiesenermaßen in mindestens dreißig Morde auf Sky’s Edge verwickelt, die alle mit dem Schwarzmarkt für Waffen in Zusammenhang stehen. In drei Fällen wurden auf Ihre Veranlassung hin Waffen, die nach den jeweiligen Friedensschlüssen aus dem Verkehr gezogen worden waren, erneut in Umlauf gebracht. Es lässt sich auch belegen, dass indirekt durch Sie in vier bis fünf Fällen lokal begrenzte Gebietsstreitigkeiten verlängert — ja, wieder angefacht — wurden, die kurz vor einer vertraglichen Beilegung standen. Ihre Aktionen kosteten Zehntausenden von Menschen das Leben.« An dieser Stelle setzte Cahuella zum Protest an, doch Orcagna ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ihre Triebfeder ist einzig und allein die Habgier; sie haben keine Moral, kein Gefühl für Recht und Unrecht. Reptilien sind Ihre große Leidenschaft… vielleicht, weil Sie in deren Wesen Ihr eigenes Ich gespiegelt sehen und weil Sie im Grunde Ihres Herzens grenzenlos eitel sind.« Orcagna strich sich das Kinn und gestattete sich ein schwaches Lächeln. »Kurzum, Sie sind mir sehr ähnlich… und deshalb können wir gute Geschäftspartner werden.« Wieder wanderte sein Blick zu mir. »Aber Sie, Mirabel — sagen Sie mir, warum arbeiten Sie für ihn? In Ihrem Lebenslauf finde ich nicht viel, was Sie mit Ihrem Arbeitgeber gemein hätten.«
»Er bezahlt mich.«
»Ist das alles?«
»Und er hat nie etwas von mir verlangt, wozu ich nicht bereit wäre. Ich bin zuständig für seine Sicherheit. Ich beschütze ihn und alle, die ihm nahe stehen. Ich fange die Kugeln ab, die für ihn bestimmt sind. Die Laserschüsse. Manchmal führe ich die Vorverhandlungen und treffe mich mit potenziellen neuen Lieferanten. Auch das ist nicht ungefährlich. Was mit den Waffen geschieht, nachdem sie den Besitzer gewechselt haben, ist nicht meine Sache.«
»Mhm.« Orcagna tippte sich mit der Spitze des kleinen Fingers an den Mundwinkel. »Vielleicht sollten Sie sich mehr dafür interessieren.«
Ich wandte mich an Cahuella. »Dient dieses Treffen einem bestimmten Zweck?«
»Dem gleichen wie immer«, fauchte Orcagna. »Geschäfte natürlich, Sie begriffsstutziger Mensch. Aus welchem anderen Grund sollte ich mir mein Schiff mit dem Dreck eures Planeten besudeln lassen?«
Es ging also doch nur um Handelsbeziehungen.
»Was haben Sie zu verkaufen?«, fragte ich.
»Das Übliche — Waffen. Das Einzige, was Ihr Herr und Meister jemals von uns will. In diesem System ist das so üblich. Meine Handelspartner haben Ihrem Planeten immer wieder die Langlebigkeitstherapien angeboten, die auf anderen Welten alltäglich sind, aber man hat noch jedes Mal den schmutzigen Mordinstrumenten den Vorzug gegeben…«
»Das liegt daran, dass Ihre Preise für die Langlebigkeitsverfahren die Hälfte der Halbinsel in den Ruin treiben würden«, sagte Cahuella. »Sie würden selbst in mein Vermögen ein ziemlich großes Loch reißen.«
»Der Tod reißt noch größere Löcher«, bemerkte Orcagna versonnen. »Aber das ist schließlich Ihre Sache. Nur noch eines: was immer Sie uns abnehmen, geben Sie bitte gut darauf acht! Es wäre sehr bedauerlich, wenn es noch einmal in falsche Hände fiele.«
Cahuella seufzte. »Was kann ich dafür, wenn meine Kunden von Terroristen beraubt werden?«
Der Zwischenfall, auf den er anspielte, lag schon einen Monat zurück. Doch wer über die verschlungenen Wege der Schwarzmarktgeschäfte auf Sky’s Edge informiert war, redete immer noch davon. Ich hatte mit einer legalen, als vertragstreu bekannten Militärgruppierung die Vorverhandlungen geführt. Das Geschäft war über eine Serie von verschiedenen Strohmännern abgewickelt worden, sodass der eigentliche Waffenlieferant — Cahuella — diskret im Dunkeln blieb. Ich hatte noch die Übergabe organisiert, sie fand auf einer ähnlichen Dschungellichtung statt wie der, wo uns die Ultras abgeholt hatten — und damit war mein Engagement beendet. Aber irgendjemand hatte eine der weniger legalen Gruppierungen über den Waffentransfer informiert, und die hatte die erste Gruppe nach der Übergabe auf dem Heimweg überfallen.
Cahuella hatte die zweite Gruppierung als Terroristen bezeichnet, aber damit setzte er die Kluft zwischen ihnen und ihren legalen Opfern zu breit an. In einem Krieg, in dem sich die Gefechtsregeln wöchentlich änderten und Kriminalität ständig neu definiert wurde, unterschied sich eine legale Gruppierung oft nur durch die Qualität ihres juristischen Beistands von einer weniger legalen. Bündnisse wechselten ständig, die Vergangenheit wurde am laufenden Band umgedeutet, um die eine oder andere Partei in ein revisionistisches Licht zu rücken. Cahuella wurde inzwischen tatsächlich von vielen Beobachtern als Kriegsverbrecher betrachtet. In hundert Jahren würde man ihn womöglich als Helden feiern… und mich als seinen getreuen Gefolgsmann.
Es hatten schon erstaunlichere Kehrtwendungen stattgefunden.
Um dem Ausgang dieses Terroristenangriffs etwas Positives abzugewinnen, musste man sich allerdings schon große Mühe geben. Nicht mehr als eine Woche nach dem Überfall war mit den geraubten Waffen eine Aristokratenfamilie in Nueva Santiago fast völlig ausgerottet worden.
»Ich weiß nicht mehr, wie die Familie hieß.«
»Reivich oder so ähnlich«, sagte Cahuella. »Aber hören Sie zu. Diese Terroristen waren Tiere, zugegeben. Wenn ich könnte, würde ich mit ihrer Haut die Wände tapezieren und ihre Knochen zu Möbeln verarbeiten. Aber das heißt nicht, dass mir das Mitgefühl für Reivichs Clan das Herz zerreißen würde. Die Leute waren reich genug, um auswandern zu können. Dieser Planet ist ein einziges Dreckloch. Wenn sie in Sicherheit leben wollen, wartet da draußen eine ganze Galaxis auf sie.«
»Wir haben einige Informationen, die für Sie interessant sein dürften«, sagte Orcagna. »Der jüngste Sohn — Argent Reivich — hat überlebt, und er hat geschworen, sich an Ihnen zu rächen.«
»Ein Racheschwur! Wo sind wir eigentlich? In einem Schmierentheater?« Cahuella streckte die Hand aus. »He, sehen Sie, wie ich zittere?«
»Die Sache ist völlig harmlos«, sagte ich. »Ich dachte, es lohnt sich nicht, Sie damit zu behelligen, sonst hätten Sie schon davon erfahren. Schließlich bezahlen Sie mich unter anderem auch dafür, dass Sie sich nicht um jeden Spinner kümmern müssen, der sauer auf uns ist.«
»Allerdings glauben wir nicht, dass der Mann ein Spinner ist, wie Sie sich auszudrücken belieben.« Orcagna betrachtete seine Finger in den schwarzen Handschuhen und zog einen nach dem anderen in die Länge, bis es leise knackte. »Nach unseren Informationen hat sich der Herr von derselben Miliz, die seine Familie ermordet hat, Waffen zurückgeholt. Schwere Teilchenstrahl-Artillerie — stark genug, um eine Festung zu stürmen. Wir haben Signaturen entdeckt, die darauf schließen lassen, dass die Systeme noch funktionsfähig sind.« Der Ultra hielt inne und fügte dann wie nebenbei hinzu: »Sie finden es vielleicht komisch, aber die Signaturen führen durch die Länge der Halbinsel nach Süden, genau auf das Reptilienhaus zu.«
»Geben Sie mir die Positionen«, sagte ich. »Dann gehe ich dem Jungen entgegen und frage ihn, was er will. Vielleicht will er nur über weitere Waffen verhandeln — vielleicht hat er Sie noch gar nicht als Lieferanten identifiziert.«
»Wie denn auch«, sagte Cahuella. »Ich handle ja schließlich mit Wein. Vergessen Sie es, Tanner. Glauben Sie, ich brauche jemanden von Ihrem Kaliber, um mit einer Laus wie Reivich fertig zu werden? Man schickt einem Amateur doch keinen Profi auf den Hals.« Und an Orcagna gewandt: »Er ist also nördlich von hier, sagen Sie? Wie weit, in welchem Gebiet?«
»Diese Informationen könnten wir Ihnen natürlich zur Verfügung stellen.«
»Verdammter Blutsauger.« Cahuellas Gesicht wurde ausdruckslos, doch dann deutete er lächelnd mit dem Finger auf den Ultra. »Sie sind mir sympathisch, ganz ehrlich. Auch wenn Sie ein Vampir sind. Nun nennen Sie schon Ihren Preis. Ich brauche nicht einmal seine exakte Position. Es genügt mir, wenn ich weiß, wo er sich im… äh… im Umkreis von ein paar Kilometern aufhält. Sonst macht es doch auch keinen Spaß, oder?«
»Was, zum Teufel, fällt Ihnen ein?« Die Frage war mir herausgerutscht, bevor ich mir auf die Zunge beißen konnte.
»Reivich mag ein grüner Junge sein, aber das heißt nicht, dass er nicht gefährlich wäre — besonders, wenn er Waffen hat, wie sie die Miliz gegen seine Familie eingesetzt hat.«
»Dann wird es eben ein sportlicher Wettkampf. Eine richtige Safari. Vielleicht fangen wir dabei auch eine Hamadryade.«
»Sie sind ein Sportfreund«, sagte Orcagna und nickte verständnisvoll.
Jetzt verstand ich. In anderer Gesellschaft hätte Cahuella sich nie so aufgeführt. Wären wir allein im Reptilienhaus gewesen, dann hätte er getan, was logisch war: er hätte mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er die Toilettenspülung betätigte, mir oder einem meiner Untergebenen den Auftrag erteilt, Reivich zu erledigen, denn er hätte es für unter seiner Würde gehalten, sich an so jemandem die Finger schmutzig zu machen. Aber vor den Ultras durfte er sich keine Blöße geben. Hier musste er den großen Jäger spielen.
Hinterher, als alles vorüber war — der Überfall auf Reivich gescheitert, Gitta tot und Cahuella mit ihr, Dieterling und ich verletzt — da zeigte sich eines überdeutlich.
Es war meine Schuld.
Meine Unfähigkeit war es, die Gitta das Leben gekostet hatte. Und Cahuella mit ihr. Die beiden Todesfälle hingen aufs Grausigste zusammen. Und Reivich hatte als strahlender Sieger dagestanden, unverletzt, an den Händen das Blut der Frau, deren Mann er Rache geschworen hatte. Er war wohl davon ausgegangen, dass auch Cahuella überleben würde — seine Wunden hatten sicher nicht so bedrohlich ausgesehen wie die meinen. Hätte Cahuella überlebt, dann hätte ihn Reivich so lange wie möglich und so grausam wie möglich gequält; eine viel größere Genugtuung, als ihn einfach zu töten. Wäre es nach Reivich gegangen, dann hätte Cahuella für den Rest seines Lebens um Gitta trauern müssen. Der Schmerz wäre unsagbar groß gewesen. Ich glaube, sie war das einzige Wesen im ganzen Universum, das er hatte lieben können.
Stattdessen hatte Reivich sie mir geraubt.
Ich erinnerte mich, wie Cahuella über Reivichs Racheschwur gelacht hatte. Der edle Ritter war von jeher in Gefahr, zur lächerlichen Figur zu werden. Aber ich hatte genau das Gleiche getan: ich hatte gelobt, für den Rest meines Lebens nicht zu ruhen, bis Reivich tot und Gitta gerächt wäre. Hätte mir damals jemand gesagt, ich müsste erst selbst sterben, bevor ich Reivich töten könnte, ich hätte mich wohl auch damit stillschweigend abgefunden.
In Nueva Valparaiso war er mir durch die Finger geschlüpft. Er hatte mich gezwungen, eine gewichtige Entscheidung zu treffen — wollte ich aufgeben, oder wollte ich Reivich auch über die Grenzen des Systems hinaus verfolgen?
Im Rückblick betrachtet war mir die Wahl gar nicht so schwer gefallen.
»So weit ich mich erinnere, hatte Mister Reivich keine größeren Probleme«, sagte Amelia. »Er hatte eine temporäre Amnesie, aber sie war nicht so ausgeprägt wie bei Ihnen — sie dauerte nur ein paar Stunden, dann hatte er die Teile wieder zusammengesetzt. Duscha wollte, dass er noch blieb, damit sie sich um seine Implantate kümmern konnte, aber er hatte es mit der Abreise ziemlich eilig.«
»Tatsächlich?«, fragte ich und legte möglichst viel Überraschung in meine Stimme.
»Ja. Gott allein weiß, womit wir ihn gekränkt haben.«
»Es lag sicher nicht an Ihnen.« Ich hätte gern gewusst, was mit seinen Implantaten wohl nicht in Ordnung gewesen sein könnte, beschloss aber, die Frage zunächst zurückzustellen. »Dann kann man wahrscheinlich davon ausgehen, dass er bereits auf Yellowstone eingetroffen ist oder bald eintreffen wird. Ich möchte ihm keinen allzu großen Vorsprung lassen. Es geht doch nicht an, dass er sich ganz allein amüsiert, nicht wahr?«
Sie sah mich prüfend an. »Sie waren mit ihm befreundet, Tanner?«
»Sozusagen.«
»Eine Reisebekanntschaft vielleicht?«
»Das wäre wohl die richtige Bezeichnung.«
»Ich verstehe.« Ihr Gesicht blieb unverändert freundlich, aber ich konnte mir vorstellen, was hinter ihrer Stirn vorging: Reivich hatte kein Wort von einer Reisebekanntschaft erwähnt, wenn also überhaupt so etwas wie Freundschaft bestanden haben sollte, dann musste sie ziemlich einseitig gewesen sein.
»Eigentlich hatte ich gehofft, er würde auf mich warten.«
»Wahrscheinlich wollte er die Station nicht mit jemandem belasten, der keine Pflege brauchte. Oder es waren doch noch Gedächtnislücken vorhanden. Natürlich können wir versuchen, ihn zu erreichen. Das wird nicht einfach sein, aber wir sind bemüht, die Personen, die wir reanimieren, möglichst weiter im Auge zu behalten — falls es nachträglich zu Komplikationen kommt.«
Und, dachte ich, weil sich der eine oder andere — nicht zuletzt mit dem Hintergedanken, über den Eisbettelorden Einfluss auf Neuankömmlinge zu gewinnen — für die auf Idlewild genossene Gastfreundschaft erkenntlich zeigt, wenn er erst behaglich und sicher auf Yellowstone sitzt.
Laut sagte ich nur: »Nein danke, sehr freundlich, aber das ist wirklich nicht nötig. Es ist sicher besser, wenn ich ihm persönlich nachreise.«
Sie sah mich nachdenklich an. »Dann brauchen Sie sicher seine Adresse auf der Oberfläche.«
Ich nickte. »Ich kann natürlich verstehen, dass die Vertraulichkeit möglichst gewahrt bleiben sollte, aber…«
»Er wird in Chasm City sein«, sagte Amelia. Schon der Name klang wie ein Frevel; als wäre Chasm City die wüsteste Lasterhöhle, die man sich vorstellen konnte. »Das ist unsere größte und zugleich älteste Ansiedlung auf dem Planeten.«
»Richtig. Von Chasm City hatte ich schon gehört. Ginge es vielleicht noch etwas genauer?« Ich vermied geflissentlich jeden Sarkasmus. »Das Viertel würde schon vieles erleichtern.«
»Sehr viel kann ich Ihnen wirklich nicht helfen — er hat uns nicht direkt gesagt, wohin er wollte. Aber vielleicht sollten Sie im Baldachin anfangen.«
»Im Baldachin?«
»Ich war nie dort. Aber es heißt, er wäre nicht zu verfehlen.«
Am Tag darauf verließ ich auf eigene Verantwortung das Hospiz.
Mir war durchaus klar, dass ich noch nicht vollkommen genesen war, aber wenn ich noch länger wartete, würden sich meine Chancen, Reivichs Fährte wiederaufzunehmen, auf Null reduzieren. Zwar gab es immer noch blinde Stellen in meinem Gedächtnis, aber ich konnte mit dem zurechtkommen, was vorhanden war; für die anstehende Aufgabe war es genug.
Als ich in die Hütte zurück ging, um meine Sachen — die Dokumente, die Kleider, die mir die Eisbettler gegeben hatten, und die Teile der Diamantpistole — zusammenzupacken, fiel mein Blick abermals auf die Wandnische, die mich gleich nach dem Aufwachen so erschreckt hatte. Seither hatte ich in der Hütte zwar Schlaf gefunden, aber keine Erquickung, denn die Bilder und Gedanken, die meine Träume bevölkerten, drehten sich immer wieder um Sky Haussmann. Das bestätigte mir jeden Morgen das Blut auf den Laken. Wenn ich allerdings erwachte, jagte mir die Nische immer noch kalte Schauer über den Rücken, ohne dass ich eine vernünftige Erklärung dafür gefunden hätte. Ich dachte an Duscha und was sie mir über das Indoktrinationsvirus erzählt hatte. Vielleicht waren grundlose Phobien ja eine Nebenwirkung der Infektion — vielleicht hatten sich die Strukturen, die das Virus erzeugte, mit den falschen Hirnzentren verbunden. Andererseits hielt ich es auch für möglich, dass die beiden Phänomene gar nichts miteinander zu tun hatten.
Später holte Amelia mich ab, und wir wanderten auf einem langen, vielfach gewundenen und stetig ansteigenden Pfad zum ›Himmel‹, einer der beiden Spitzen des kegelförmigen Habitats. Die geringfügige Steigung war mühelos zu bewältigen, dennoch stellte ich freudig erleichtert fest, wie sich mein Gewicht verringerte und jeder Schritt mich etwas höher, etwas weiter trug.
Nachdem wir zehn bis fünfzehn Minuten läng geschwiegen hatten, fragte ich: »Stimmt es eigentlich, was Sie einmal angedeutet hatten, Amelia? Dass Sie früher eine von uns waren?«
»Ein Raumschiffpassagier, meinen Sie? Das ist richtig, aber ich war noch ein Kind, als es passierte — ich konnte kaum sprechen. Das Schiff, auf dem wir uns befanden, war unterwegs beschädigt worden, und dabei waren die meisten Aufzeichnungen über die Schläfer verloren gegangen. Außerdem hatte es in mehr als einem System Passagiere aufgenommen, sodass sich im Nachhinein nicht mehr mit Sicherheit feststellen ließ, woher ich gekommen war.«
»Das heißt, Sie wissen nicht, auf welcher Welt Sie geboren wurden?«
»Ach, ich habe so meine Vermutungen — aber inzwischen interessiert mich das gar nicht mehr allzu sehr.«
Der Pfad war steiler geworden, und plötzlich sprang Amelia in langen Sätzen den Hang hinauf. »Das ist jetzt meine Welt, Tanner. Sie mag verflixt klein sein, aber ich finde sie nicht übel. Wer kann schon von sich behaupten, er hätte alles gesehen, was seine Welt zu bieten hat?«
»Das muss doch auf die Dauer langweilig sein.«
»Keineswegs. Veränderungen gibt es immer.« Sie zeigte auf die andere Seite des Habitats. »Der Wasserfall dort drüben war nicht von Anfang an da. Ach ja, und dort unten, wo wir jetzt den See angelegt haben, stand früher ein kleines Dorf. So geht das immer weiter. Die Wege müssen ständig verlegt werden, um der Erosion Einhalt zu gebieten — mir ist, als müsste ich mich jedes Jahr neu zurechtfinden. Es gibt auch Jahreszeiten hier, und in manchen Jahren fallen die Ernten nicht so gut aus. Dafür gibt es in anderen Jahren, so Gott will, eine Schwemme. Man findet immer etwas Neues zu entdecken. Natürlich kommen auch immer wieder neue Leute zu uns — und einige bleiben hier und treten in den Orden ein.« Sie senkte die Stimme. »Zum Glück sind sie nicht alle so wie Bruder Alexei.«
»Einen faulen Apfel gibt es in jeder Kiste.«
»Ich weiß. Eigentlich dürfte ich das gar nicht sagen — aber seit Sie mir beigebracht haben, mich zur Wehr zu setzen, wünsche ich mir fast, dass Alexei es noch einmal probiert.«
Ich konnte mir vorstellen, wie ihr zumute gewesen sein musste. »Ich glaube zwar nicht, dass er sich das traut, aber wenn, dann möchte ich nicht in seinen Schuhen stecken.«
»Keine Sorge, ich werde ihn mit Samthandschuhen anfassen.«
Wir waren beide verlegen geworden. Schweigend stiegen wir den letzten Abhang hinauf. Das Ende des Kegels lag vor uns. Ich war nur noch etwa ein Zehntel so schwer wie in der Hütte, aber noch konnte ich gehen — ich hatte nur das Gefühl, als weiche bei jedem Schritt der Boden zurück. Vor mir, diskret verdeckt von einigen Bäumen, die bei der niedrigen Schwerkraft aufs Geratewohl nach allen Himmelsrichtungen wuchsen, sah ich eine gepanzerte Tür.
»Sie wollen wirklich unbedingt fort, nicht wahr?«, fragte Amelia.
»Je eher ich nach Chasm City komme, desto besser.«
»Es wird nicht alles so sein, wie Sie erwarten, Tanner. Ich wünschte, Sie würden noch ein wenig länger bleiben, damit wir Sie wieder auf Touren bringen…« Sie verstummte. Offenbar hatte sie eingesehen, dass ich nicht zu überzeugen war.
»Machen Sie sich meinethalben keine Sorgen; ich suche mir meine Vergangenheit schon wieder zusammen.« Ich lächelte sie an, doch innerlich hasste ich mich dafür, dass ich sie so schamlos belogen hatte. Aber es gab keine andere Möglichkeit. »Sie waren sehr freundlich zu mir, Amelia, ich danke Ihnen.«
»Es war mir ein Vergnügen, Tanner.«
»Wissen Sie…«Ich sah mich um, ob jemand uns beobachtete, aber wir waren allein. »Ich möchte Ihnen gern ein Geschenk machen.« Ich griff in meine Hosentasche und zog die aufziehbare Pistole heraus, die ich inzwischen vollends zusammengesetzt hatte. »Sie fragen besser nicht, warum ich sie bei mir hatte, Amelia. Jedenfalls glaube ich nicht, dass sie mir noch viel nützen kann.«
»Das darf ich wirklich nicht annehmen, Tanner.«
Ich drückte ihr die Waffe in die Hand. »Dann müssen Sie sie eben beschlagnahmen.«
»Das wäre wohl angebracht. Funktioniert sie?«
Ich nickte. Weitere Erklärungen waren überflüssig. »Sie könnte Ihnen sehr nützlich sein, falls Sie jemals wirklich in Schwierigkeiten kommen sollten.«
Sie steckte die Waffe ein. »Ich habe sie nur beschlagnahmt.«
»Ich verstehe.«
Sie reichte mir die Hand. »Gott sei mit Ihnen, Tanner. Hoffentlich finden Sie Ihren Freund.«
Ich wandte mich ab, bevor sie mein Gesicht sehen konnte.