Zwei oder drei Straßen weiter sah ich, glatt und schwarz wie ein Stück Kohle, die Gondel herunterkommen. Die fünf Teleskoparme auf dem Dach wurden eingezogen. Die Seitentür ging auf, und vier Menschen drängten sich heraus. Verglichen mit den Waffen, die sie in den Armen hielten, war meine kleine Pistole nur ein schlechter Scherz. Zebra hatte mir gesagt, dass in dieser Nacht eine Jagdgesellschaft unterwegs sein würde, aber das war nicht ungewöhnlich; Jagden waren eher die Regel als die Ausnahme. Aber sie hatte mir — nach viel gutem Zureden — auch den vorgesehenen Schauplatz für das Blutbad verraten. Davon hing eine Menge ab, denn wenn der Abschuss nicht gelang, wären die zahlenden Zuschauer, die zu jedem dieser Ereignisse kamen, um ihr nächtliches Vergnügen gebracht.
»Ich sage dir, wo es ist«, hatte sie erklärt. »Aber nur unter der Bedingung, dass du mir versprichst, dich fern zu halten. Ist das klar? Ich habe dich einmal gerettet, Tanner Mirabel, aber dann hast du mein Vertrauen missbraucht. Das war ein schwerer Schlag für mich. Meine Bereitschaft, dir ein zweites Mal zu helfen, wird dadurch nicht unbedingt größer.«
»Du weißt genau, was ich mit der Information anfangen werde, Zebra.«
»Ich denke schon. Wenigstens hast du mich nicht belogen, das muss ich dir lassen. Du bist tatsächlich ein Mann von Ehre, nicht wahr?«
»Ich bin nicht ganz das, wofür du mich hältst, Zebra.« Das glaubte ich ihr schuldig zu sein, falls sie mich selbst noch nicht so weit durchschaut haben sollte.
Sie hatte mir erklärt, welches Viertel für die Jagd geräumt worden war. Das Zielobjekt, so sagte sie, sei bereits gefunden und mit einem Implantat versehen worden — manchmal würden in einer einzigen Nacht gleich mehrere Menschen entführt. Dann versetzte man die Opfer in Tiefschlaf und bewahrte sie bis zum nächsten Termin auf.
»Ist schon einmal jemand entkommen, Zebra?«
»Du, Tanner.«
»Nein, ich meine, wirklich entkommen, ohne Hilfe durch die Saboteure. Gibt es das?«
»Manchmal«, sagte sie. »Manchmal — vielleicht sogar öfter, als man glaubt. Nicht, weil die Gejagten die Jäger überlisten könnten, sondern weil die Organisatoren es gelegentlich zulassen. Sonst würde es doch langweilig, meinst du nicht?«
»Langweilig?«
»Pas Element des Glücksspiels würde fehlen. Der Baldachin wäre immer der Gewinner.«
»Und das darf natürlich nicht sein«, sagte ich.
Ich beobachtete, wie die Jäger durch den Regen schlichen, die Gewehre im Anschlag, die maskierten Gesichter von einer Seite zur anderen schwenkend, jeden Winkel absuchend. Die Zielperson musste erst vor wenigen Minuten heimlich in dieser Region abgesetzt worden sein. Vielleicht war sie nicht einmal ganz wach gewesen, sondern kam — wie der nackte Mann in dem Raum mit den weißen Wänden — erst zu sich und begriff allmählich, dass sie ihr Gefängnis mit einem namenlosen Ungeheuer teilte.
Es handelte sich um zwei Männer und zwei Frauen, und als sie näher kamen, sah ich, dass ihre Masken nicht nur praktischen Zwecken dienten, sondern auch Theaterdekoration waren. Die beiden Frauen traten als Katzen auf; die länglichen, spitz zulaufenden Augenschlitze waren vollgepackt mit Speziallinsen. Die Handschuhe waren mit Krallen versehen, und wenn sich die schwarzen Umhänge mit dem hohen Kragen teilten, konnte ich darunter Tigerstreifen und Leopardenflecke erkennen. Ich begriff nicht gleich, dass es sich dabei nicht um Kostüme handelte, sondern um ein synthetisch gezüchtetes Fell, und dass die krallenbewehrten Handschuhe keine Handschuhe waren, sondern nackte Hände. Als eine von den Frauen über einen grausamen Scherz ihrer Freunde lächelte, blitzten edelsteinbesetzte Reißzähne auf. Die Transformationen der Männer waren weniger spektakulär, sie hatten sich doch tatsächlich darauf beschränkt, sich als Tiere zu verkleiden. Einer der Männer hatte sich einen Bärenschädel über den Kopf gestülpt, sein Gesicht schaute durch das Maul heraus. Sein Begleiter hatte zwei hässliche, facettierte Insektenaugen angelegt, in denen sich in allen Regenbogenfarben schillernd die Lichter des Baldachins spiegelten.
Ich wartete, bis die Gruppe nur noch zwanzig Meter von meinem Versteck entfernt war, dann trat ich in Aktion und lief geduckt wie eine Krabbe vor ihnen vorbei. Ich baute darauf, dass mich keiner so schnell ins Visier bekäme, und der Erfolg gab mir Recht, obwohl sie besser waren, als ich gedacht hatte. Die Schüsse ließen hinter mir das Wasser aufspritzen, ohne mich zu treffen, bevor ich auf der anderen Straßenseite in Deckung ging.
»Das ist der Falsche!«, rief einer der Jäger, wahrscheinlich eine von den Frauen. »Er hat hier eigentlich gar nichts verloren!«
»Wer immer es sein mag, er kriegt eins übergebrannt. Wir schwärmen aus und holen uns den kleinen Dreckskerl.«
»Ich sage dir doch, es ist der Falsche! Er müsste drei Straßen weiter südlich sein — und selbst wenn er es wäre, warum sollte er seine Deckung verlassen?«
»Einfach deshalb, weil wir ihn im nächsten Moment aufgestöbert hätten!«
»Er war zu schnell. Die Mulcher sind gewöhnlich viel langsamer.«
»Du wolltest doch immer eine Herausforderung. Also, worüber beklagst du dich?«
Ich wagte es, den Kopf aus meiner schützenden Nische zu strecken, um mich umzusehen. Ausgerechnet in diesem Moment zuckte ein Blitz auf und tauchte die Gruppe in grelles — Licht.
»Ich habe ihn gesehen!«, rief die zweite Frau, dann hörte ich das Jaulen eines Strahlengewehrs, dicht gefolgt vom Rülpsen mehrerer Projektilwaffen.
»Habt ihr das gesehen? Seine Augen?«, sagte die eine Frau. »Man sah sie richtig leuchten!«
»Jetzt siehst du allmählich Gespenster, Chanterelle.« Das war einer der Männer, vielleicht der mit dem Bärenschädel. Es war sehr nahe. Ich sah die vier so deutlich vor mir, als wäre mir das Bild auf die Netzhaut gebrannt, und spulte den Film im Geiste vorwärts und ließ sie, wie Schauspieler, die einer Regieanweisung folgten, genau dahin wandern, wo ich sie vermutete. Dann verließ ich meine Deckung und gab — drei schrille Piepstöne — drei Schüsse aus meiner Pistole ab. Was ich sah, passte so genau zu dem Bild in meinem Kopf, dass ich mein Ziel kaum zu korrigieren brauchte. Ich hatte so tief gehalten, dass drei von den vieren mit Oberschenkeltreffern zu Boden gingen. Beim letzten Mal schoss ich bewusst vorbei und zog mich danach mit einem Sprung hinter die Wand zurück.
Mit einem durchschossenen Oberschenkel bleibt niemand auf den Beinen. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich glaubte tatsächlich zu hören, wie die drei Körper in die Pfützen klatschten. Sicher konnte ich nicht sein, denn mit einem durchschossenen Oberschenkel bleibt auch kaum jemand stumm. Meine Verwundung in der Nacht zuvor war vergleichsweise schmerzlos gewesen, ein Präzisionstreffer aus einer Strahlenwaffe, einer Duellpistole mit sehr geringer Streuung. Dennoch gab es angenehmere Erfahrungen.
Ich rechnete damit, die drei auf dem Boden mehr oder weniger außer Gefecht gesetzt zu haben. Selbst wenn ihnen die Waffen nicht aus der Hand gefallen und davon geschlittert sein sollten, konnten sie wohl kaum noch gezielte Schüsse abgeben. Vielleicht würden sie ein paar Mal blind in meine Richtung ballern, aber sie hatten — wie die Frau, die mich ins Bein getroffen hatte — Waffen, die keine Ungenauigkeit verziehen. Die vierte Jägerin hatte ich in meine Pläne einbezogen, nur deshalb lag sie jetzt nicht in einer warmen Regenpfütze und schrie sich die Seele aus dem Leib.
Ich trat aus der Deckung und zeigte demonstrativ meine Waffe — was bei dem winzigen Ding gar nicht so einfach war. Allmählich wünschte ich mir zur moralischen Unterstützung Zebras Riesenprügel von einem Gewehr zurück.
»Ha… halt!«, stammelte die Frau, die noch aufrecht stand. »Halt, oder ich schieße.«
Miss Leopardenfell mit der gefleckten Katzenmaske war zwölf bis fünfzehn Meter von mir entfernt und zielte immer noch ungefähr in meine Richtung. Ihr Gang hatte allerdings viel von seiner katzenhaften Geschmeidigkeit eingebüßt.
»Legen Sie das Spielzeug lieber freiwillig weg«, sagte ich. »Sonst muss ich Sie dazu zwingen.«
Hätte sie sich genauer überlegt, wie ich ihre wimmernden Freunde getroffen hatte, dann wäre sie vielleicht zu der Erkenntnis gelangt, dass ich ein überdurchschnittlich guter Schütze war und meine Drohung wahr machen könnte. Aber Denken war wohl nicht ihre Stärke. Stattdessen hob sie den Gewehrlauf um eine Winzigkeit an, und ich sah, wie sich die Muskeln ihres Unterarms spannten, um den Rückstoß abzufangen.
Also schoss ich zuerst. Die Eiskugeln prallten klirrend von ihrer Waffe ab und schlugen sie ihr aus der Hand. Sie jaulte auf wie ein Hündchen und sah hastig nach, ob sie auch noch alle Finger hätte.
Ich war gekränkt. Wofür hielt sie mich eigentlich? Ich war doch kein Amateur!
»Gut«, sagte ich. »Sie haben Ihre Waffe fallen lassen. Das war sehr klug und erspart mir, Ihnen eine Kugel durch den Armnerv zu jagen. Und jetzt lassen Sie Ihre gottserbärmlichen Freunde, wo sie sind, und gehen Sie zu Ihrem Fahrzeug zurück.«
»Sie sind verletzt, Sie Bastard.«
»Man kann es auch positiv sehen. Sie könnten tot sein.« Und wenn sie nicht in näherer Zukunft Hilfe bekamen, würden sie tatsächlich sterben. Das Wasser in ihrer Umgebung nahm, so weit man das in diesem schwachen Licht erkennen konnte, bereits eine bedrohlich kirschrote Färbung an. »Tun Sie, was ich Ihnen sage«, warnte ich. »Gehen Sie auf die Gondel zu, dann sehen wir weiter. Sobald wir in der Luft sind, können Sie Hilfe herbeirufen. Wenn die drei natürlich sehr viel Glück haben, kommt uns jemand aus dem Mulch zuvor.«
»Sie sind ein Stück Dreck«, sagte sie. »Wer Sie auch sein mögen.«
Meine Pistole abwechselnd auf die Frau und ihre wimmernden Freunde richtend, watete ich zwischen den Angeschossenen hindurch und sah sie mir flüchtig an. »Hoffentlich hat keiner von ihnen Implantate«, sagte ich. »Nach allem, was ich höre, sind die Mulcher begeisterte Sammler, und ich würde mich nicht darauf verlassen, dass sie sich die Mühe machen, vorher schriftlich um Genehmigung zu ersuchen.«
»Sie sind ein Stück Dreck.«
»Warum finden sie es eigentlich so empörend, dass ich den Mut hatte, mich zu wehren?«
»Sie sind nicht das Zielobjekt«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber das Zielobjekt sind Sie jedenfalls nicht.«
»Und wer sind Sie, nebenbei bemerkt?« Ich rief mir den einzigen Namen ins Gedächtnis, der bei den Jägern gefallen war. »Chanterelle? Heißen Sie so? Das klingt sehr aristokratisch. Ihre Familie gehörte sicher zu den Spitzen der Demarchie, bevor die Belle Epoque das Zeitliche segnete.«
»Bilden Sie sich ja nicht ein, Sie hätten auch nur die leiseste Ahnung von mir und meinem Leben.«
»Nichts läge mir ferner.« Ich bückte mich, hob eines von den Gewehren auf und vergewisserte mich mit einem Blick auf die Anzeigenkartuschen, dass es noch funktionierte. Ich war nervös, obwohl ich die Lage im Wesentlichen unter Kontrolle hatte. Doch irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, hinter dem Haupttrupp hätte noch jemand aus der Gruppe gelauert, der mich genau in diesem Moment durch das Zielfernrohr einer starken und ausnehmend unsportlichen Präzisionswaffe anvisierte. Aber ich bemühte mich, mir davon nichts anmerken zu lassen. »Ich fürchte, man hat Sie reingelegt, Chanterelle. Hier. Werfen Sie einen Blick auf meine Schläfe. Sehen Sie das? Die Wunde stammt von einem Implantat. Aber es hat nie richtig funktioniert.« Das war ein Risiko, aber ich setzte einfach voraus, dass Waverly vor seinem Tod auch das echte Opfer noch präpariert hatte oder kurzfristig durch einen ähnlich griesgrämigen Ersatzmann vertreten worden war. »Sie sind einem Schwindler aufgesessen. Der Mann hat für die Saboteure gearbeitet. Er wollte Sie in eine Falle locken. Deshalb wurde das Implantat so manipuliert, dass es sich nicht mehr exakt anpeilen ließ.« Ich grinste frech, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob so etwas überhaupt möglich war. »Sie dachten, ich wäre mehrere Straßen von hier entfernt, also rechneten Sie nicht mit einem Überfall. Sie rechneten auch nicht damit, dass ich bewaffnet sein könnte, aber — he — an manchen Tagen gewinnt eben nicht der Jäger, sondern der Bär.« Mein Blick fiel auf ihren Freund mit dem Bärenschädel. »Nein, Verzeihung — das ist nicht richtig. Heute habe ich den Bären erlegt, nicht wahr?«
Der Mann wälzte sich im Wasser hin und her. Beide Hände waren um den Oberschenkel gekrallt. Als er zum Sprechen ansetzen wollte, brachte ich ihn mit einem Tritt zum Schweigen.
Chanterelle hatte die schwarze Gondel fast erreicht. Eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen meines Plans war gewesen, dass das Gefährt leer war, doch erst jetzt konnte ich halbwegs sicher sein, dass ich richtig getippt hatte und niemand sich im Fahrgastraum versteckte.
»Steigen Sie ein«, sagte ich. »Und machen Sie keine dummen Scherze; ich bin nicht als besonders humorvoller Mensch bekannt.«
Das Innere der Gondel war ungewöhnlich prächtig: vier braune, weich gepolsterte Sitze, eine blitzende Steuerkonsole und ein wohlbestückter Barschrank, der neben einem Regal mit blanken Waffen und Trophäen in eine Wand eingelassen war. Ich hielt die Pistole auf Chanterelles Nacken gerichtet und befahl ihr zu starten.
»Sie haben sicher ein bestimmtes Ziel im Auge«, sagte sie.
»Gewiss, aber zunächst möchte ich nur, dass Sie aufsteigen und auf einer bestimmten Höhe bleiben. Wenn Sie wollen, können Sie mir die Stadt von oben zeigen. Die Nacht ist wunderbar dafür geeignet.«
»Sie haben Recht«, sagte Chanterelle. »Humor ist wirklich nicht Ihre starke Seite. Sie sind etwa so komisch wie die Schmelzseuche.« Nachdem sie dieses Bonmot abgelassen hatte, gab sie zähneknirschend einen Kurs ein, und die Gondel zog ihre Schaukelnummer ab. Chanterelle drehte sich langsam zu mir um. »Wer sind Sie wirklich, und was wollen Sie von mir?«
»Ich sagte es doch bereits — ich wurde zugezogen, weil Ihrem kleinen Spiel etwas mehr Chancengleichheit dringend Not tut.«
Sie fasste rasch mit der Hand an meine Schläfe — ein Zeichen von Tapferkeit oder von bodenloser Dummheit, denn schließlich hielt ich eine Pistole auf ihren Kopf gerichtet und tat so, als könnte ich es kaum erwarten, sie auch zu gebrauchen.
Dann strich sie über die Stelle, wo Dominika das Implantat entfernt hatte.
»Es ist weg«, sagte sie. »Falls es jemals da gewesen sein sollte.«
»Dann hat Waverly auch mich belogen.« Ich beobachtete sie scharf, aber sie zeigte keine ungewöhnliche Reaktion, dass ich den Namen des Mannes verwendete, schien sie nicht zu überraschen. »Er hat mir das Ding erst gar nicht eingesetzt.«
»Wem sind wir dann gefolgt?«
»Woher soll ich das wissen? Sie spüren ihre Beute doch nicht mittels der Implantate auf? Oder ist das eine neue Finesse, die mir noch nicht bekannt war?« Während ich sprach, machte die Gondel abrupt einen der schwindelerregenden Sätze, die immer dann auftraten, wenn zwei Kabel zu weit auseinander lagen.
Chanterelle zuckte nicht mit der Wimper.
»Könnte ich jetzt Hilfe für meine Freunde herbeirufen?«
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, sagte ich.
Bei dem Anruf war Chanterelle so nervös wie noch nie, seit wir uns begegnet waren. Sie erzählte etwas von einem Dokumentarfilm, den sie hätte drehen wollen. Im Mulch hätte ihr und ihren Freunden eine Bande rauflustiger halbstarker Schweine aufgelauert. Es klang so überzeugend, dass selbst ich ihr fast geglaubt hätte.
»Sie haben von mir nichts zu befürchten«, sagte ich, ohne erkennen zu können, ob sie mir glaubte. »Ich möchte nur ein paar Informationen von Ihnen — Informationen ganz allgemeiner Art, die Sie mir gefahrlos geben können — und dann möchte ich, dass Sie mich irgendwo im Baldachin absetzen.«
»Ich traue Ihnen nicht.«
»Natürlich nicht. An Ihrer Stelle würde ich das auch nicht tun. Und ich verlange es auch von Ihnen nicht. Ich habe nicht vor, Sie in eine Lage bringen, in der Sie mir in irgendeiner Weise vertrauen müssten. Ich richte nur eine Waffe auf ihren Kopf und gebe Ihnen Befehle.« Ich befeuchtete mit der Zunge meine trockenen Lippen. »Entweder tun Sie, was ich Ihnen sage, oder ich dekoriere das Innere dieser Gondel mit Ihrem Schädelinhalt. Die Entscheidung kann doch wohl so schwierig nicht sein?«
»Was wollen Sie wissen?«
»Erzählen Sie mir etwas über das Große Spiel, Chanterelle. Ich kenne Waverlys Seite, und was er dazu sagte, klang sehr vernünftig, aber ich möchte das ganze Bild bekommen. Dabei können Sie mir doch sicher behilflich sein?«
Und Chanterelle redete wie ein Wasserfall. Zum Teil schrieb ich das der natürlichen Hilfsbereitschaft zu, die jeden Menschen überfällt, dem man eine Pistole an den Kopf hält. Viel wichtiger war aber wohl, dass sie ihre eigene Stimme so gerne hörte. Und das konnte ich ihr nicht einmal verdenken. Es war eine sehr hübsche Stimme, und sie kam aus einem reizenden Köpfchen.
Sie gehörte zur Familie Sammartini, und das war, wie ich erfuhr, vor der Seuche einer der einflussreichsten Clans in Yellowstones Machtgefüge gewesen. Der Name reichte zurück bis in die Amerikano-Ära. Familien, die ihren Stammbaum so weit zurückverfolgen konnten, waren hoch angesehen; sie waren die Königlichen Hoheiten in der dünnen Luft der Belle Epoche-Gesellschaft.
Die Sammartinis standen in enger Verbindung zu den Sylvestes, dem berühmtesten Clan von allen. Sybilline erzählte mir auch von Calvin, dem Mann, der die vergessene und verrufene Technik des Neuralscans wiederbelebt hatte, mit der sich lebende Persönlichkeiten — leider um den Preis ihres Lebens — zu unsterblichen Computersimulationen ihrer selbst verarbeiten lassen konnten.
Dass der Körper beim Scannen zerstört wurde, hatte die Transmigranten natürlich nicht weiter gekümmert. Als allerdings auch die Simulationen zusammenbrachen, war man nicht mehr so erfreut. Die erste Welle bestand aus neunundsiebzig Transmigranten — achtzig, wenn man Calvin selbst mit einrechnete —, und als die Schmelzseuche die Logik-Substrate angriff, auf denen sie basierten, lief die Mehrzahl der Simulationen längst nicht mehr. Zum Gedenken an die Toten hatte man im Zentrum der Stadt das riesige, düstere Denkmal für die Achtzig errichtet, wo diejenigen Verwandten, die noch im Physischen verhaftet waren, die Schreine der teuren Verschiedenen schmücken konnten. Das Denkmal war auch nach der Seuche noch da.
Chanterelle Sammartinis Familie war unter denen, an die im Denkmal erinnert wurde. »Aber wir hatten Glück«, sagte sie fast im Plauderton. »Die Sammartini-Scans waren unter den fünf Prozent, die nicht versagten, und weil meine Großmutter und mein Großvater bereits Kinder gehabt hatten, bestand die Linie auch physisch weiter.«
Ich hatte Mühe, die Zusammenhänge zu begreifen. Ihre Familie hatte sich gespalten — ein Ast pflanzte sich über Simulationen fort, der andere in der Aktualität, wie wir es lachend nannten. Für Chanterelle Sammartini war das so normal, als hätten ihre Verwandten im Ausland oder in einem anderen Teil des Systems gelebt. »Da das Verfahren nicht geächtet wurde«, sagte sie, »übernahm unsere Familie die Förderung der entsprechenden Forschungen und machte da weiter, wo Calvin aufgehört hatte. Die Verbindung zum Haus Sylveste war immer eng gewesen, wir hatten Zugriff auf die meisten von Calvins Erkenntnissen, und so kam es sehr schnell zu bahnbrechenden Erfolgen. Neuen Scanning-Verfahren, die nicht tödlich waren.« Ihre Stimme veränderte sich, nun quengelte sie wie ein Kind. »Warum wollen Sie das eigentlich wissen? Wenn Sie kein Mulcher sind, müssen Sie zum Baldachin gehören, und dann ist Ihnen alles, was ich Ihnen erzähle, doch längst bekannt.«
»Warum glauben Sie, dass ich kein Mulcher bin?«
»Sie sind schlau oder zumindest nicht rettungslos verblödet. Das ist übrigens kein Kompliment. Nur eine Feststellung.«
Die Vorstellung, ich könnte von außerhalb des Systems kommen, war für Chanterelle offenbar so abwegig, dass sie ihr gar nicht in den Sinn kam.
»Tun Sie mir doch einfach den Gefallen. Haben Sie sich scannen lassen, Chanterelle?«
Jetzt sah sie mich an, als zweifelte sie tatsächlich an meinem Verstand. »Selbstverständlich.«
»Interaktive Scans — wie sagen Sie dazu?«
»Alpha-Simulationen.«
»Das heißt, irgendwo in dieser Stadt läuft in diesem Moment eine Simulation von Ihnen herum?«
»Im Orbit, Schwachkopf. Die Technologie, die solche Scans erleichterte, musste streng abgeschirmt werden, sonst hätte sie die Seuche nie überstanden.«
»Natürlich, wie dumm von mir.«
»Ich fliege sechs bis sieben Mal pro Jahr hinauf, um sie auffrischen zu lassen. Jeder Besuch in Refugium ist wie ein kleiner Urlaub. Refugium ist ein Habitat hoch über dem Rostgürtel, wo man vor Seuchensporen völlig sicher ist. Dort lasse ich mich scannen, und anschließend assimiliert die Simulation von mir, die bereits läuft, meine Erfahrungen aus den letzten zwei bis drei Monaten. Ich betrachte sie inzwischen nicht mehr als Kopie, sondern eher als ältere und klügere Schwester, die alles weiß, was mir jemals widerfahren ist — so als hätte sie mir mein Leben lang über die Schulter geblickt.«
»Es ist sicher sehr beruhigend«, sagte ich, »zu wissen, dass man nicht wirklich tot ist, selbst wenn man sterben sollte, sondern nur eine Existenzform durch eine andere eintauscht. Dabei stirbt doch ohnehin niemand von Ihnen wirklich, nicht wahr?«
»Vor der Seuche mag das noch gegolten haben. Jetzt nicht mehr.«
Ich erinnerte mich an das, was Zebra mir erzählt hatte. »Wie steht es dann mit Ihnen? Sie sind offensichtlich keine Hermetikerin. Gehören Sie zu den Unsterblichen, die mit den Genen für extreme Langlebigkeit geboren wurden?«
»Ich habe nicht die schlechtesten Gene geerbt, wenn Sie das meinen.«
»Aber auch nicht die besten«, sagte ich. »Das heißt, Sie waren noch darauf angewiesen, dass die kleinen Fehler der Natur von Maschinchen in Ihrem Blut und Ihren Zellen behoben wurden, sehe ich das richtig?«
»Dazu braucht man keine großen geistigen Sprünge zu machen.«
»Und diese Maschinen? Was ist nach der Seuche mit ihnen passiert?« Ich schaute nach unten. Wir schwebten gerade über eine Hochbahnlinie hinweg. Eine der vierseitig symmetrischen Dampflokomotiven zog eine Kette von Waggons durch die Nacht in irgendein entlegenes Stadtviertel. »Hatten Sie ihnen den Befehl zur Selbstzerstörung gegeben, bevor die Seuchensporen sie erreichen konnten? Das mussten doch die meisten Ihrer Schicksalsgenossen tun, wenn ich nicht irre.«
»Was geht Sie das an?«
»Ich frage mich nur, ob Sie auf Traumfeuer sind?«
Chanterelle antwortete nicht direkt. »Ich wurde 2339 geboren und bin einhundertachtundsiebzig Standardjahre alt. Ich habe Wunder erlebt, die Ihre Vorstellungskraft übersteigen, und Szenen des Grauens, bei denen Sie erstarren würden. Ich habe Gott gespielt, habe die Grenzen dieses Spiels ausgelotet und bin darüber hinaus gewachsen wie ein Kind über ein allzu simples Spielzeug. Ich habe tausend Mal mit angesehen, wie diese Stadt sich veränderte, wie sie mit jeder Veränderung schöner — strahlender — wurde und wie sie sich schließlich in ein schmutziges, schwarzes, giftiges Tier verwandelte. Und wenn sie, sei es in hundert, sei es in tausend Jahren, zurück kriecht ins Licht, werde ich immer noch da sein. Glauben sie, ich würde die Unsterblichkeit so ohne weiteres aufgeben oder mich in eine alberne Metallkiste sperren lassen wie ein verschrecktes Kind?« Hinter der Katzenmaske flammten ihre Augen mit den senkrechten Pupillenschlitzen leidenschaftlich auf. »Mein Gott, nein. Seit ich von diesem Feuer getrunken habe, lässt sich mein Durst nicht mehr stillen. Können Sie begreifen, wie aufregend es ist, durch den Mulch zu gehen wie durch eine fremde Welt, ohne Schutz, obwohl ich weiß, dass ich die Maschinen noch in mir trage? Es ist ein primitives Vergnügen, ein Prickeln, als ginge man durch Feuer oder schwämme mit den Haien.«
»Und deshalb spielen Sie auch das Große Spiel! Weil es ebenfalls ein primitives Vergnügen ist?«
»Was glauben Sie?«
»Ich glaube, Sie haben sich mehr gelangweilt, als Ihnen heute bewusst ist. Deshalb spielen Sie, nicht wahr? So habe ich Waverly verstanden. Als die Seuche zuschlug, hatten Sie und Ihre Freunde alle legalen Erlebnismöglichkeiten ausgeschöpft, die Ihre Gesellschaft Ihnen zu bieten hatte, Sie hatten alle Erfahrungen gemacht, die sich inszenieren oder simulieren ließen, hatten kein Spiel, kein Abenteuer, keine intellektuelle Herausforderung ausgelassen.« Ich sah sie provozierend an, um sie zum Widerspruch zu reizen. »Aber es war nie genug, nicht wahr? Ihre eigene Sterblichkeit stellten sie nie auf die Probe. Sie setzten sich nie damit auseinander. Natürlich hätten Sie das System verlassen können — draußen warteten jede Menge Gefahren, Aufregungen und eventuell auch Ruhm auf Sie — aber dazu hätten Sie auf das soziale Netz verzichten müssen, das sie trug; auf ihre Freunde, auf die Kultur, in der Sie aufgewachsen waren.«
»Das ist noch nicht alles«, sagte Chanterelle, die offenbar bereitwillig Informationen preisgab, wenn sie glaubte, ich würde sie und ihresgleichen falsch beurteilen. »Einige von uns haben das System tatsächlich verlassen. Aber die wussten, was sie aufgaben. Sie konnten nie wieder gescannt werden. Ihre Simulationen wurden nicht mehr aktualisiert und entfernten sich mit der Zeit so weit vom lebenden Original, dass die beiden nicht mehr miteinander kompatibel waren.«
Ich nickte. »Also brauchte man etwas, das näher an der Heimat war. Etwas wie das Große Spiel. Etwas, woran man seine Kräfte erproben, wo man die Grenzen austesten, sich ein wenig in Gefahr begeben konnte, ohne dass die Situation außer Kontrolle geriet.«
»Und das war gut so. Als die Seuche kam und wir tun konnten, was wir wollten, da lernten wir allmählich wieder, was es hieß, zu leben.«
»Leider mussten Sie dafür töten.«
Kein Wimpernzucken. »Es war keiner darunter, der es nicht verdient hätte.«
Sie glaubte sogar daran.
Wir setzten den Flug über die Stadt fort, und ich stellte weitere Fragen, um herauszufinden, wie viel Chanterelle über das Traumfeuer wusste. Ich hatte Zebra feierlich versprochen, ihr zu helfen, den Tod ihrer Schwester zu rächen, und dazu musste ich so viel wie möglich über die Substanz und ihren Lieferanten, den geheimnisvollen Gideon, in Erfahrung bringen. Chanterelle war ganz eindeutig auf Traumfeuer, aber ich merkte rasch, dass sie nicht mehr über die Droge wusste als all die anderen Leute, mit denen ich gesprochen hatte.
»Ich möchte mir über ein paar Fakten klar werden«, sagte ich. »Wurde das Traumfeuer vor der Seuche schon irgendwo erwähnt?«
»Nein«, sagte Chanterelle. »Ich meine, manchmal kann man sich nur schwer erinnern, wie es vorher war, aber ich bin sicher, dass das Traumfeuer erst in den letzten sieben Jahren aufgetaucht ist.«
»Könnte es dann nicht, was immer es auch sein mag, in irgendeinem Zusammenhang mit der Seuche stehen?«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Hören Sie, was immer dieses Traumfeuer auch sein mag, es schützt Sie vor der Seuche und ermöglicht es Ihnen, mit all den Maschinchen, die in Ihrem Körper schwimmen, durch den Mulch zu gehen. Das legt für mich die Vermutung nahe, dass zwischen den beiden eine enge Beziehung bestehen könnte; das Feuer erkennt die Seuche und vermag sie zu neutralisieren, ohne dem Träger zu schaden. Das kann kein Zufall sein.«
Chanterelle zuckte die Achseln. »Dann muss es wohl jemand synthetisch hergestellt haben.«
»Wodurch es zu einer Nanomaschine anderer Art würde, nicht wahr?« Ich schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, aber dass jemand etwas hergestellt haben sollte, das gerade hier und jetzt so nützlich ist, kann ich mir einfach nicht vorstellen.«
»Sie ahnen doch gar nicht, welche Mittel Gideon zur Verfügung stehen.«
»Nein, das ist richtig. Aber Sie können mir erzählen, was Sie über ihn wissen, und dann sehen wir weiter.«
»Warum interessieren Sie sich eigentlich so brennend für ihn?«
»Es geht um ein Versprechen, dass ich jemandem gegeben habe.«
»Aber ich muss Sie enttäuschen. Ich weiß nichts über Gideon, und ich kenne auch niemanden, der Ihnen etwas sagen könnte. Sie müssten wahrscheinlich mit jemandem sprechen, der näher an der Nachschublinie steht.«
»Sie wissen nicht einmal, von wo aus er operiert, wo sich seine Produktionslabors befinden?«
»Nur, dass sie irgendwo in der Stadt sind.«
»Sind Sie da ganz sicher? Als ich das erste Mal mit Traumfeuer in Berührung kam, war ich…« Ich verstummte. Ich wollte ihr nicht zu viel über meine Reanimation im Hospiz Idlewild erzählen. »Nicht auf Yellowstone.«
»Ich weiß es nicht genau, aber ich habe gehört, dass es nicht im Baldachin hergestellt wird.«
»Damit bliebe der Mulch!«
»Vermutlich.« Sie blinzelte. Ihre senkrechten Pupillen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Das zu erklären«, sagte ich, »würde nun wirklich zu lange dauern. Aber in Grundzügen haben Sie es sicher ohnehin erraten.«
Sie nickte zur Steuerkonsole hin. »Wir können nicht ewig im Kreis herum fahren.«
»Dann bringen Sie uns in den Baldachin. An einen öffentlichen Ort, der nicht zu weit vom Escher-Turm entfernt ist.«
»Was?«
Ich zeigte Chanterelle die Adresse, die Dominika mir gegeben hatte, und hoffte, meine Unkenntnis — ich wusste nicht einmal, ob es sich um ein Haus oder ein ganzes Viertel handelte — dabei nicht allzu offen zu zeigen.
»Ich weiß nicht genau, wo das ist.«
»Mein Finger fängt allmählich an zu jucken. Durchforsten Sie Ihr Gedächtnis, Chanterelle. Und wenn das nichts bringt, muss es in diesem Ding irgendwo auch eine Karte geben. Warum rufen Sie sie nicht auf?«
Sie gehorchte nur widerwillig. Ich hatte nicht gewusst, dass eine Karte des Baldachins eingespeichert war, aber ich dachte mir, dass in den Tiefen des Gondel-Prozessors etwas Derartiges existieren müsste.
»Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte sie. Auf der Steuerkonsole leuchtete eine Karte auf, die aussah wie die Vergrößerung der Synapsenverbindungen in einem Teil des menschlichen Gehirns. Beschriftet war sie mit canasischen Zeichen, die einem vor den Augen flimmerten. »Aber ich kenne die Gegend nicht allzu gut. Die Seuche hat dort seltsame Formen hervorgebracht. Das Viertel ist anders — anders als der Rest des Baldachins, und einigen von uns ist es nicht geheuer.«
»Das verlangt auch niemand. Sie brauchen mich nur hinzubringen.«
Es war eine halbstündige Fahrt durch die Maschen. Der Weg führte in einem langen, geschwungenen Bogen um den Abgrund herum, der nur durch seine Leere zu erkennen war, ein kreisrunder, schwarzer Einschluss im ausufernden Lichtermeer des Baldachins. Ringsum leuchteten die nicht überkuppelten Gebäude an der Peripherie wie phosphoreszierende Köder, die das Maul eines räuberischen Wasserungeheuers umschwammen. Im Innern des Schlundes sah man bis in einen Kilometer Tiefe da und dort terrassenförmige Konstruktionen. Mit ihren gewaltigen Zapfleitungen griff die Stadt noch weiter hinab und holte sich Luft, Energie und Feuchtigkeit, aber die Rohre waren kaum zu erkennen, denn selbst bei Nacht stieg ständig eine Wolke von schwarzen Abgasen aus dem Rachen des Abgrunds.
»Da ist er«, sagte Chanterelle endlich. »Der Escher-Turm.«
»Jetzt wird mir manches klar«, nickte ich.
»Nämlich?«
»Warum Sie die Gegend nicht leiden können.«
Hier hatte das waldähnliche Gewirr des Baldachins auf eine Breite von mehreren Quadratkilometern und eine Höhe von mehreren hundert Metern einen völlig anderen Charakter entwickelt: diese Anhäufung bizarrer Kristallformen ließ eher an Vergrößerungen aus einem Geologie-Lehrbuch oder an die Mikrofotografie eines phantastisch veränderten Virus denken. Brennende Lampen im Innern von höhlenartigen Räumen, Tunnels und Gemeinschaftssäle im Innern der Kristalle ließen das Ganze in kräftigen Rosa-, Grün- und Blau-Tönen erstrahlen. Dicke Platten, gräulich-goldene wie Muskovit, erhoben sich stufenförmig über die oberste Baldachin-Schicht. Zarte türkisfarbene Turmalinkrusten schraubten sich wie zierliche Türmchen nach oben; daneben strebten hellrosa Quarzstäbe so groß wie Paläste himmelwärts. Die Kristalle verschlangen und vermischten sich, ihre komplexen Geometrien waren auf eine Art und Weise ineinander gefaltet, die kein Verstand erdacht haben konnte. Es tat fast weh, den Escher-Turm zu betrachten.
»Das ist Wahnsinn«, sagte ich.
»Er ist fast überall hohl«, bemerkte Chanterelle. »Sonst könnte er sich da oben nicht halten. Die abgebrochenen Teile wurden schon vor Jahren vom Mulch verschlungen.« Ich schaute nach unten und sah, was sie meinte: unter der drohend aufragenden Kristallmasse bedeckten klobige, auffallend geometrische Mulch-Konzentrationen wie ein Flechtenteppich die Trümmer der zerstörten Stadt.
»Gibt es irgendeinen öffentlichen Platz in der Nähe, wo wir landen können?«
»Ich bin schon dabei«, sagte Chanterelle. »Obwohl ich nicht weiß, wozu das gut sein soll. Sie können mir kaum Ihre Pistole an den Kopf drücken, während wir durch einen Markt gehen.«
»Vielleicht halten uns die Leute für ein lebendes Kunstwerk und lassen uns in Frieden.«
»Soll das Ihr ganzer Plan sein?« Das klang fast enttäuscht.
»Eigentlich nicht. Etwas weiter hatte ich schon gedacht. Zum Beispiel hat dieser Mantel sehr geräumige Taschen. In einer davon kann ich ohne weiteres die Pistole verstecken und sie auf sie richten, ohne dass es so aussieht, als würde mich Ihr Anblick in unangemessene Begeisterung versetzen.«
»Sie meinen das tatsächlich ernst? Sie wollen mit mir durch den Markt gehen und dabei von hinten mit einer Waffe auf mich zielen?«
»Es sähe ziemlich albern aus, wenn ich von vorne zielen wollte. Dann müsste einer von uns rückwärts gehen, und das wäre nicht sinnvoll. Womöglich würden wir noch mit einem von Ihren Freunden zusammenstoßen.«