Einundvierzig

Refugium war eine Spindel von einem Kilometer Länge, völlig schwarz und ohne jede Außenbeleuchtung; man sah es nur deshalb, weil es die Sterne im Hintergrund und den Silberstreif der Milchstraße verdeckte. Nur wenige andere Schiffe kamen an oder flogen ab, und sie waren ebenso schwarz und anonym wie das Habitat. Als wir uns näherten, klappten an einem Ende vier dreieckige Segmente nach außen, und wir schwebten hinein wie winziges Plankton in das hochspezialisierte Maul eines augenlosen Raubfisches.

Die Andockbucht war gerade groß genug für ein Schiff wie das unsere. Wir wurden von Greifern erfasst, dann fuhren die Harmonikabälge der Transfertunnel aus und verbanden uns mit den Luftschleusen, die um den Äquator der Hauptsphäre angebracht waren.

Tanner ist hier, dachte ich. Vielleicht lauerte er schon, um mich und jeden, der zwischen die Fronten unserer kleinen Fehde geriet, zu töten, sobald wir den Boden von Refugium betraten.

So leicht würde ich das nicht vergessen.

Refugium schickte bewaffnete Drohnen in das Schiff, glänzend schwarze, von Gewehrläufen und Sensoren starrende Sphäroide, die uns auf Waffen untersuchten. Natürlich hatten wir nichts mitgebracht; nicht einmal der Sicherheitsdienst von Yellowstone wäre so nachlässig gewesen. Hoffentlich war auch Tanner unbewaffnet — aber darauf konnte ich mich nicht verlassen.

Bei Tanner verließ man sich am besten auf gar nichts.

Die Roboter waren technisch auf einem sehr viel höheren Stand als alles, was mir seit meiner Reanimation begegnet war — Zebras Mobiliar vielleicht ausgenommen. Als Menschen, bei denen man keine Implantate vermutete, betrachtete man uns nicht als ernsthaftes Ansteckungsrisiko, hätte jedoch einer von uns ein seuchenempfängliches Implantat getragen, dann hätte man uns möglicherweise den Zutritt verwehrt. Nachdem die Roboter die Voruntersuchung abgeschlossen hatten, kamen die menschlichen Kontrolleure. Sie trugen wesentlich unauffälligere Waffen und wirkten so, als würden sie sich am liebsten dafür entschuldigen. Man begegnete uns mit ausgesuchter Höflichkeit, und mit der Zeit wurde mir auch klar, warum.

Niemand kommt ohne Einladung hierher.

Wir waren Gäste, und dementsprechend musste man uns behandeln.

»Ich habe natürlich vorher angerufen«, sagte Quirrenbach, während wir in der Luftschleuse auf die Bearbeitung unserer Anträge warteten. »Reivich weiß, dass wir kommen.«

»Sie haben ihn hoffentlich vor Tanner gewarnt.«

»Ich habe getan, was ich konnte«, sagte er.

»Was heißt das?«

»Dass Tanner auf jeden Fall hier ist. Reivich hat ihn sicher nicht abgewiesen.«

Ich schwitzte ohnehin schon Blut und Wasser, weil ich befürchtete, mein falscher Ausweis wäre nicht gut genug, um mir Einlass in Refugium zu verschaffen. Doch jetzt verwandelten sich die Schweißtropfen auf meiner Stirn in Eisklümpchen. »Was, in drei Teufels Namen, hat er sich denn dabei gedacht?«

»Reivich hat wohl das Gefühl, er und Tanner hätten noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen. Deshalb hat er ihn eingeladen.«

»Er muss wahnsinnig sein. Tanner bringt es fertig und tötet ihn nur so zum Spaß, obwohl er es eigentlich auf mich abgesehen hat. Vergessen Sie nicht, ich hielt es für meine oberste Pflicht, einen Auftrag zu erfüllen; mein Versprechen zu halten und Reivich aufzuspüren. Ob dieser Impuls von Tanner oder von Cahuella kam, kann ich nicht sagen. Aber ich würde nicht gern mein Leben dafür riskieren.«

»Etwas leiser bitte«, mahnte Quirrenbach. »Die Roboter haben sicher jeden Quadrat-Angström in diesem Raum mit Abhörgeräten zugepflastert. Und Sie sind schließlich nicht hier, um in aller Stille ein kleines Blutbad anzurichten.«

»Sondern nur als Tourist.« Ich schnitt eine Grimasse.

Wieder wurde die gepanzerte Außentür geöffnet. Rostpartikel lösten sich von den Angeln und schwebten im freien Fall durch den Raum.

Ein kleiner Beamter trat ein, diesmal ganz ohne Waffen und auch ohne den bulligen Panzer. Mit einem quälend falschen Lächeln strebte er auf mich zu wie eine Rakete mit Wärmesuchkopf. »Mister Haussmann? Ich belästige Sie nur sehr ungern, aber bei der Bearbeitung Ihres Einreiseantrags ergeben sich einige verwaltungstechnische Probleme.«

»Tatsächlich?« Ich bemühte mich, einigermaßen überrascht zu klingen. Dabei konnte ich mich kaum beklagen: Sky Haussmann hatte es mir immerhin ermöglicht, die Atmosphäre von Yellowstone zu verlassen, und mehr konnte man vernünftigerweise nicht von ihm erwarten.

»Es ist sicher nichts Gravierendes«, sagte der Beamte mit penetrant treuherzigem Blick. »Wir erleben oft, dass unsere Unterlagen von den Archiven im übrigen System abweichen; das ist nach den jüngsten Unannehmlichkeiten nicht weiter verwunderlich.«

Die jüngsten Unannehmlichkeiten. Der Mann redete von der Seuche!

»Mit einer etwas gründlicheren Untersuchung und einigen physiologischen Kontrollen lässt sich sicher alles aufklären.«

»Was meinen Sie mit physiologischen Kontrollen?«, fragte ich empört.

»Wir denken da an einen Netzhaut-Scan oder etwas dergleichen.« Der Beamte schnippte mit den Fingern. Sofort betrat ein weiterer Robot die Luftschleuse, eine taubengraue Kugel, die rücksichtsvollerweise keine grässlichen Waffen trug, aber dafür mit dem Emblem der Meistermischer gekennzeichnet war.

»Ich werde mich keinem Netzhaut-Scan unterziehen«, erklärte ich so sachlich, wie es mir möglich war. Man brauchte schließlich keine Maschine, um die ungewöhnliche Beschaffenheit meiner Augen festzustellen. Eigentlich brauchte mich nur ein Mensch im richtigen Licht kurz anzusehen, um zu erkennen, dass da etwas nicht stimmte.

Meine Weigerung traf den Beamten wie eine schallende Ohrfeige. Er erbleichte. »Wir können sicher zu einer gütlichen Einigung…«

»Nein«, sagte ich. »Das bezweifle ich sehr.«

»Dann werden wir leider…«

Quirrenbach schaltete sich ein. »Überlassen Sie das mir«, flüsterte er mir zu, dann wandte er sich an den Beamten und sagte laut: »Haben Sie Nachsicht mit meinem Kollegen; er wird in Gegenwart von Amtspersonen leicht nervös. Auch Ihnen dürfte klar sein, dass es sich hier nur um ein Missverständnis handeln kann. Würden Sie eine entsprechende Garantie von Argent Reivich akzeptieren?«

Der Mann schien verwirrt. »Natürlich… wenn er sich für den Herrn verbürgt… und das persönlich…«

Mir war nicht entgangen, dass er nicht gefragt hatte, wer Argent Reivich war.

Quirrenbach schnippte mit den Fingern. »Warten Sie hier; ich werde das mit ihm regeln. Es dürfte nicht mehr als eine halbe Stunde dauern.«

»Sie wollen Reivich bitten, mir die Einreise zu ermöglichen?«

»Ja« sagte Quirrenbach mit todernstem Gesicht. »Komisch, nicht wahr?«


Ich brauchte nicht lange zu warten.

Reivich erschien auf einem Bildschirm in der Sicherheitszone, wo die Beamten von Refugium all jene festhielten, über deren Einreise noch nicht entschieden war. Der Schock war nicht allzu groß, schließlich hatte ich Voronoff gegenüber gestanden, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. Dennoch war der echte Reivich in gewisser Weise einmalig; er hatte eine gewisse Aura, die Voronoff nicht hatte kopieren können. Ich konnte nicht einmal genau festmachen, was es war. Vermutlich nur der Unterschied zwischen einem Menschen, der — wenn auch mit noch so großem Eifer — ein Spiel spielte, und einem anderen, für den das Spiel tödlicher Ernst war.

»Welch erstaunliche Wendung«, bemerkte Reivich. Er sah blass, aber nicht ungesund aus. So weit man erkennen konnte, trug er eine hochgeschlossene weiße Jacke ohne Kragen. Die Wand hinter ihm war mit ineinander verschlungenen, algebraischen Zeichen geschmückt, die einen Teil der mathematischen Theorie der Transmigration symbolisierten. »Sie bitten mich, Sie einreisen zu lassen, und ich gebe Ihnen die Erlaubnis.«

»Sie haben auch Tanner einreisen lassen«, sagte ich. »Halten Sie das für klug?«

»Nein, aber es wird sicher interessant. Vorausgesetzt, Ihre Behauptung stimmt, er ist wirklich Tanner, und Sie sind der, für den Sie sich ausgeben.«

»Einer von uns könnte entschlossen sein, Sie zu töten. Vielleicht auch alle beide.«

»Sind Sie es?«

Eine bewundernswerte Frage; sie traf genau auf den Punkt. Aus Respekt vor ihm gab ich mir den Anschein, erst nachdenken zu müssen, bevor ich antwortete. »Nein, Argent. Das war einmal, aber damals wusste ich noch nicht, wer ich bin. Die Prioritäten ändern sich ziemlich drastisch, wenn man dahinterkommt, dass man nicht der ist, für den man sich hält.«

»Wenn Sie Cahuella sind, haben meine Männer ihre Frau getötet.« Seine Stimme klang so hoch und schwach wie die eines Kindes. »Ich hätte angenommen, Sie könnten es kaum erwarten, sich dafür zu rächen.«

»Tanner hat Cahuellas Frau getötet«, sagte ich. »Dass er sie eigentlich retten wollte, kann daran nicht wirklich etwas ändern.«

»Sind Sie unter dieser Voraussetzung Cahuella, oder sind Sie es nicht?«

»Vielleicht war ich es einmal. Jetzt existiert Cahuella nicht mehr.« Ich sah fest auf den Bildschirm. »Und wenn ich ehrlich bin, dann glaube ich nicht, dass irgendjemand ihm eine Träne nachweint.«

Reivich kräuselte verächtlich die Lippen. »Mit Cahuellas Waffen wurde meine Familie abgeschlachtet«, sagte er. »Mit den Waffen, die er verkaufte, wurden Menschen getötet, die ich liebte. Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, ihn dafür zu foltern.«

»Hätten Sie Gitta getötet, dann hätte ihn das mehr gequält als alle Messer und Elektroden.«

»Tatsächlich? Hat er sie wirklich so sehr geliebt?«

Ich durchforstete meine Erinnerungen, in der Hoffnung, ihm die Frage beantworten zu können. Doch letztlich konnte ich nur sagen: »Ich weiß es nicht. Der Mann war zu vielem fähig. Ich weiß nur, dass Tanner sie mindestens genauso sehr liebte wie Cahuella.«

»Aber Gitta musste sterben. Wie hat sich das auf Cahuella ausgewirkt?«

»Es hat ihn mit Hass erfüllt«, sagte ich und dachte an den weißen Raum, der immer noch in meinem Bewusstsein lauerte wie ein Albtraum, an den man sich nach dem Erwachen nur unvollkommen erinnert. »Und diesen Hass hat er an Tanner abreagiert.«

»Aber Tanner hat überlebt?«

»Ein Teil von ihm schon«, sagte ich. »Aber ein Teil, den wir nicht unbedingt als menschlich bezeichnen würden.«

Reivich schwieg eine volle Minute lang. Das schwierige Gespräch belastete ihn sichtlich. Endlich sagte er: »Gitta. Sie war wohl die einzig Unschuldige in der ganzen Geschichte? Die einzige, die ihr Schicksal nicht verdient hatte.«

Dem konnte ich nicht widersprechen.

Das Innere von Refugium lag in ständigem Dunkel wie eine Stadt bei Stromausfall. Doch anders als in Chasm City war die Dunkelheit hier gewollt, ein Zustand, den die ansässigen Gruppierungen durchgesetzt hatten. Eine heimische Ökologie gab es nicht. Das Innere des Habitats war luftleer bis auf winzige Gasspuren, und jeder Quadratzoll der Wände war mit hermetisch versiegelten, fensterlosen Kästen besetzt, die durch ein Gedärm von Transitröhren miteinander verbunden waren. Die schwach leuchtenden Röhren bildeten die einzige Lichtquelle, und das besagte nicht viel — wären meine Augen nicht biologisch aufgerüstet worden, ich hätte wahrscheinlich die Hand nicht vor den Augen gesehen.

Dennoch lag eine kaum zu bändigende Energie in der Luft; ein ständiges, unterschwelliges Grollen, das einem in alle Knochen kroch. Die Galerie, auf der wir uns befanden, war luftdicht mit Glas verkleidet, dennoch hatte ich das Gefühl, in der Ecke eines riesigen, düsteren Turbinenraums zu stehen, in dem alle Generatoren auf Hochtouren liefen.

Reivich hatte den Sicherheitsdienst von Refugium unter der Bedingung ermächtigt, mich einreisen zu lassen, dass unsere ganze Gruppe zu ihm gebracht würde. Ich hatte meine Bedenken — fühlte mich zu wenig Herr der Lage —, aber wir hatten nun wirklich keine andere Wahl, als uns Reivichs Wünschen zu fügen. Die Jagd endete hier — in seinem Revier. Und wie durch Zauberei war plötzlich nicht mehr Reivich das Wild.

Vielleicht war es Tanner.

Vielleicht aber auch ich.

Refugium war so klein, dass man im Innern ohne große Mühe zu Fuß von einem Ende zum anderen gehen konnte; ein Umstand, der durch die relativ schwache, durch langsame Rotation erzeugte künstliche Schwerkraft noch begünstigt wurde. Man führte uns in einen der Verbindungstunnel: eine drei Meter breite Röhre aus dickem Rauchglas, unterteilt mit gläsernen Irisblenden, die sich öffneten und schlossen, um uns passieren zu lassen und uns immer wieder daran zu erinnern, dass wir wie ein Bissen durch eine Speiseröhre geschoben wurden. Der Gang wand sich um die Hauptachse der Spindel herum. Die Schwerkraft verstärkte sich, je weiter wir uns von der Endkappe entfernten, kam aber nie auch nur in die Nähe von einem Ge. Zu beiden Seiten ragten Refugiums schwarze Kästen auf wie Felswände bei Nacht, nichts wies darauf hin, dass das Habitat bewohnt war. Tatsächlich bestand seine Klientel aus Menschen, die selbst unter ihresgleichen darauf pochten, dass ihre Privatsphäre gewahrt blieb.

»Hat Reivich schon ein Mapping von sich anfertigen lassen?«, fragte ich. Die Frage lag nahe, nur war sie mir bisher noch nicht in den Sinn gekommen. »Dazu ist er doch schließlich hier.«

»Noch nicht«, antwortete Quirrenbach. »Zuvor müssen alle möglichen physiologischen Tests durchgeführt werden, um das Verfahren zu optimieren — chemischer Aufbau der Zellmembran, Eigenschaften der Neurotransmitter, Struktur der Glialzellen, Blutvolumen im Gehirn und so weiter. Es gibt nämlich nur einen Versuch.«

»Reivich lässt sich auf einen destruktiven Voll-Scan ein?«

»Mehr oder weniger. Bei dem Verfahren bekommt man angeblich immer noch die beste Auflösung.«

»Wenn der Scan abgeschlossen ist, kann ihn jemand wie Tanner gar nicht mehr irritieren.«

»Es sei denn, Tanner folgt ihm.«

Ich lachte — doch dann begriff ich, dass Quirrenbach nicht scherzte.

»Was glaubst du, wo Tanner jetzt ist?«, fragte Zebra. Sie ging links von mir, ihre Absätze klapperten auf dem Boden, ihr künstlich verlängerter Körper spiegelte sich in den blanken Glaswänden wie eine blitzende Schere.

»Reivich hat ihn sicher irgendwo unter Aufsicht«, sagte ich. »Hoffentlich zusammen mit Amelia.«

»Kann man ihr wirklich trauen?«

»Sie ist vielleicht der einzige Mensch, der bisher noch keinen von uns verraten hat«, sagte ich. »Jedenfalls nicht mit Absicht. Aber eines steht für mich fest. Tanner schleppt sie nur so lange mit sich herum, wie sie ihm nützlich ist. Sobald sie ihren Wert verliert — und das könnte schon bald der Fall sein —, schwebt sie in größter Gefahr.«

»Sind Sie etwa hergekommen, um sie zu retten?«, fragte Chanterelle.

Ich wollte die Frage schon bejahen; wollte die letzten Reste meiner Selbstachtung zusammenkratzen und so tun, als wäre ich ein Mensch, der nicht nur zu Gemeinheiten fähig war. Womöglich wäre es nicht einmal ganz falsch gewesen — vielleicht war ich tatsächlich zum nicht geringen Teil ihretwegen hier, obwohl ich genau wusste, dass ich damit Tanner in die Hände spielte. Aber sie war nicht der wichtigste Grund, und ich hatte einfach keine Lust mehr, jemanden zu belügen, am wenigsten mich selbst.

»Ich bin hier, um zu beenden, was Cahuella begonnen hat«, sagte ich. »So einfach ist das.«


Zum anderen Ende von Refugium hin schlängelte sich der Rauchglastunnel wieder nach oben und bohrte sich schließlich in die schwarze Wand eines der großen, luftdichten Kästen. Am Ende dieses Tunnelabschnitts befand sich wieder eine Irisblende, die noch geschlossen war. Nur war sie diesmal glänzend schwarz, sodass man nicht sehen konnte, was dahinter war.

Ich ging darauf zu, legte die Wange an das harte Metall und lauschte.

Dann rief ich: »Reivich? Machen Sie auf! Wir sind hier!«

Die Blende öffnete sich langsamer als die anderen, die wir bereits passiert hatten.

Kühles fahlgrünes Licht strömte durch die Spalten und fiel auf uns. Die Tatsache, dass ich keine Waffe hatte — dass keiner von uns bewaffnet war —, traf mich plötzlich wie ein Schlag. In einer Sekunde konnte ich tot sein — wahrscheinlich ohne zu wissen, wie mir geschah. Ich hatte mich in die Höhle eines Mannes begeben, der alles von mir zu befürchten hatte, während es im ganzen Universum keinen einzigen Grund für ihn gab, mir zu vertrauen. Wer machte sich hier mehr zum Narren, Reivich oder ich? Ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nur, dass ich dieses Refugium so schnell wie irgend möglich wieder verlassen wollte.

Die Tür öffnete sich vollends. Ein Vorzimmer mit Bronzewänden und leuchtend grünen Deckenlampen wurde sichtbar. Goldene Reliefsymbole huschten über die Wände, Wiederholungen der mathematischen Sätze, die ich schon einmal gesehen hatte, als ich mit Reivich sprach; Beschwörungen, die ein Bewusstsein in Nullen und Einsen auflösen konnten; in reine Zahlen.

Kein Zweifel, er war hier.

Die Blende hinter uns schloss sich wieder, und vor uns öffnete sich eine zweite. Wir betraten einen sehr viel größeren Raum, der an das Innere einer Kathedrale erinnerte. Hier war alles in goldenes Licht getaucht, doch die andere Seite war so weit entfernt, dass sie sich im Schatten verlor. Die leichte Wölbung des Fußbodens wurde durch den Belag, im Zickzack verlegte Gold- und Silberplatten, zusätzlich betont.

Weihrauchduft hing in der Luft.

Weit weg vom Eingang saß mit dem Rücken zu uns in einem hochlehnigen, reich verzierten und vergoldeten Sessel ein Mann. Von weit oben fiel durch ein Buntglasfenster ein breiter Lichtstreifen genau auf ihn. In wenigen Metern Abstand warteten drei zierliche, zweibeinige Servomaten auf ihre Instruktionen. Der Kopf des Mannes lag fast im Schatten, doch als ich seine Form studierte, wusste ich, dass ich Reivich vor mir hatte.

Ich hatte schon einmal geglaubt, ihn zu sehen, damals in Chasm City, auf der anderen Seite des unsterblichen Fischs. Damals hatte ich blitzschnell reagiert, hatte meine Pistole aus der Tasche gezogen und war um das Becken herumgelaufen, um ihn zu stellen und zu töten. Wäre Voronoff nicht noch eine Sekunde schneller gewesen, ich hätte es sicher getan.

Jetzt hatte ich es nicht mehr so eilig, ihn ins Jenseits zu befördern.

Eine Stimme so rau wie Sandpapier ließ sich vernehmen. »Dreht mich bitte um, damit ich meine Gäste ansehen kann.« Ein gequältes Flüstern, stockend und immer wieder von keuchenden Atemzügen unterbrochen.

Einer der Servomaten trat mit maschinentypischer Lautlosigkeit vor und drehte den Sessel um.

Der Anblick traf uns völlig unerwartet.

Das war nicht möglich

Reivich sah aus wie ein Leichnam; ein Kadaver, der nur von Stromstößen animiert wurde wie eine Marionette. Er sah nicht aus wie ein lebender Mensch, er sah überhaupt nicht aus wie ein Wesen, das von Rechts wegen sprechen oder den Mund zu einem Lächeln verziehen durfte.

Er erinnerte mich an eine weniger gesunde Ausgabe von Marco Ferris. Wir konnten nur seinen Kopf und seine Fingerspitzen sehen. Der Rest war unter einer dicken Steppdecke verborgen, unter der sich viele Leitungen zu einem kompakten Lebenserhaltungsgerät schlängelten, das an einer Armlehne befestigt war, einer kleineren Ausgabe des Aggregats, mit dem ich Gittas Körper auf dem Rückweg zum Reptilienhaus ›am Leben‹ erhalten hatte. Der Kopf war fleischlos wie ein Totenschädel; wo er keine violetten Blutergüsse hatte, war die Haut schwarz verfärbt. Die Augäpfel hatte man entfernt; aus den dunklen Höhlen unter den Lidern führten dünne Kabel zu demselben Lebenserhaltungssystem. Nur ein paar Haarsträhnen zierten seinen Hinterkopf wie die wenigen Bäume, die bei einem Wirbelsturm immer stehen bleiben. Der Unterkiefer hing kraftlos herunter, und die Zunge lag wie eine schwarze Schnecke in seinem Mund.

Er hob die Hand. Es war, bis auf ein paar Leberflecken, die Hand eines sehr viel jüngeren Mannes.

»Ich habe Sie offenbar erschreckt«, sagte Reivich.

Jetzt begriff ich, dass die Stimme nicht aus seinem Mund kam, sondern aus dem Lebenserhaltungsgerät. Sie klang immer noch schwach. Vermutlich strengte ihn sogar das Subvokalisieren an.

»Sie haben es getan«, sagte Quirrenbach und trat näher an den Mann heran, der immer noch sein Auftraggeber war. »Sie haben sich scannen lassen.«

»Vielleicht habe ich vergangene Nacht auch nur schlecht — geschlafen«, sagte Reivich. Seine Stimme klang wie ein Windhauch. »Alles in allem halte ich Ihre Version für wahrscheinlicher.«

»Was ist geschehen?«, fragte ich. »Ist etwas schief gegangen?«

»Gar nichts ist schief gegangen.«

»Sie dürften nicht so aussehen«, sagte Quirrenbach. »Sie kommen mir vor, als stünden Sie an der Schwelle des Todes.«

»Vielleicht ist es so.«

»Ist der Scan missglückt?«, fragte Zebra.

»Nein, Taryn, wie ich höre, war der Scan ein voller Erfolg. Meine Neuralstruktur konnte vollständig erfasst werden.«

»Sie hatten es zu eilig«, sagte Quirrenbach. »So ist es doch, nicht wahr? Sie konnten die vielen medizinischen Tests nicht abwarten, und das ist dabei herausgekommen.«

Reivich nickte kaum merklich. »Menschen wie ich und Tanner — und wie Sie«, sagte er und sah mich an, »haben keine Nanomaschinen im Blut. Kaum jemand auf Sky’s Edge hat sie in seinen Zellen, mit Ausnahme einer Handvoll Menschen, die sich eine Behandlung durch die Ultras leisten konnten. Und auch wer das Geld dafür hatte, wählte oft eine andere Art der Langlebigkeitstherapie.«

»Wir hatten andere Probleme«, sagte ich.

»Natürlich. Deshalb verzichteten wir auf solche Luxusgüter. Nur hätte ich die Nanomaschinen leider gebraucht, um meine Zellen vor den Auswirkungen des Scans zu schützen.«

»Nach alter Art? Brutal und schnell?«, fragte ich.

»Die beste Methode, wenn man den Theoretikern glauben will. Alles andere ist nur ein Kompromiss. Es ist ganz einfach: wenn man seine Seele — und nicht nur ein verschwommenes Abbild davon — in die Maschine bringen will, dann muss man dafür sterben. Oder zumindest Verletzungen in Kauf nehmen, die normalerweise tödlich wären.«

»Und warum haben Sie sich nicht mit Nanomaschinen geschützt?«, fragte Quirrenbach.

»Die Zeit reichte nicht aus für eine richtige Behandlung. Medizinische Nanomaschinen müssen sorgfältig auf den Träger abgestimmt und langsam in den Körper eingeschleust werden. Sonst kommt es zu einem massiven toxischen Schock, und man stirbt, bevor einem die Maschinen helfen können.«

»Wenn Sie Sylvestes Anlage verwendet haben…«, begann ich vorsichtig. Man hatte mir von diesen Experimenten erzählt —, »dann dürften Sie jetzt nicht einmal mehr atmen.«

»Es war ein neueres Verfahren, eine Weiterentwicklung von Sylvestes ersten Experimenten. Aber Sie haben Recht — trotz aller technischen Fortschritte müsste ich eigentlich schon tot sein. Allerdings hat man mir so viele Breitband-Maschinen verabreicht, dass ich den Scan — zumindest für eine Weile — überleben kann.« Er deutete auf das Lebenserhaltungsgerät und die drei Servomaten. »Refugium stellt diese Maschinen zur Verfügung. Sie bemühen sich, die Zellschäden in Grenzen zu halten und ausgefeiltere Nanomaschinen-Varianten einzuschleusen, aber ich werde den Verdacht nicht los, dass sie es nur tun, um sich keine Vorwürfe machen zu müssen.«

»Sie glauben, Sie werden bald sterben?«, fragte ich.

»Ich spüre es in allen Knochen.«

Ich versuchte mir vorzustellen, was er erlebt haben musste; der qualvolle Moment der Neuralabbildung, als würde man vom hellsten Scheinwerfer erfasst, den man sich denken konnte; ein Licht, das unter die Haut ging, bis ins Mark drang, ihn für diesen einen durchbohrenden Moment zu einer Rauchglasskulptur seiner selbst machte.

Die schnellen Analysestrahlen, auf zelluläre Auflösung gebündelt, waren nur wenig schneller als die synaptischen Impulse durch sein Gehirn gerast, den Cortex-Botschaften kaum voraus, die das sich ausbreitende Chaos verkündeten. Als der Scan seinen Hirnstamm erreichte, hatte dieser Bereich noch keine Information über die Zerstörung der darüber liegenden Bewusstseinsschichten erhalten. Wegen dieses kleinen Vorsprungs konnte die Gesamtaufnahme des Gehirns bis auf eine leichte, durch die Grenzen der räumlich-zeitlichen Auflösungskapazität des Verfahrens bedingte Unscharfe völlig normal ausfallen. Der Scan war beendet, bevor Reivich erkannte, dass er begonnen hatte — und wenn danach der Schock sein Bewusstsein erreichte und ganze Neural-Routinen ins Koma stürzte, spielte es keine Rolle mehr.

Die Abbildung war erfolgt.

Selbst die Schäden hätten keine Rolle spielen dürfen; mit Nanomaschinen konnte jede Verletzung fast gleichzeitig mit ihrer Entstehung geheilt werden. Wie bei einem Gebäude, das unter Beschuss stand: die Explosionen brachten die Steine ins Wanken, aber im Innern behob ein Trupp von emsigen Maurern in rasendem Tempo jeden Schaden, bevor die nächste Granate einschlug…

Doch diesen Weg war Reivich nicht gegangen.

Reivich hatte den Tod gewählt; er hatte sich dafür entschieden, jede Zelle und das umliegende Hirngewebe den verheerenden Kräften auszusetzen, weil er wusste, dass ungeachtet aller Folgen für seinen Körper sein Wesen erhalten bliebe, eingefangen für die Ewigkeit und — endlich — in einer Form konserviert, die nicht durch eine Bagatelle wie Mord oder Krieg ausgelöscht werden konnte.

Ein Teil von ihm hatte es geschafft.

Aber nicht der Teil, den wir jetzt vor uns sahen.

»Wenn Sie sterben wollen«, sagte ich, »wenn Sie den Tod als unvermeidlich akzeptieren — und Sie müssen vor dem Scan gewusst haben, was auf Sie zukam —, warum sind Sie dann nicht gleich beim Scannen gestorben?«

»Das bin ich ja«, sagte Reivich. »Nach mindestens einem Dutzend medizinischer Kriterien, die in einem anderen System vor jedem Gericht Bestand hätten. Aber ich wusste auch, dass Refugiums Maschinen imstande waren, mich, wenn auch nur vorübergehend, ins Leben zurückzuholen.«

»Sie hätten auch warten können«, sagte Quirrenbach. »Binnen weniger Tage hätte man Nanomaschinen herstellen können, die genau auf ihre Bedürfnisse abgestimmt waren.«

Reivichs knochige Schultern bewegten sich unter der Decke: ein Achselzucken. »Aber die Nanomaschinen hätten nur funktioniert, wenn ich Abstriche bei der Genauigkeit des Scans hingenommen hätte. Das wäre nicht ich gewesen.«

»Tanners Ankunft hatte nicht zufällig etwas mit Ihrer Entscheidung zu tun?«, fragte ich.

Reivich fand meinen Einwurf offenbar komisch; sein Lächeln vertiefte sich ein wenig. Schon bald, dachte ich, würden wir alle sein echtes Lächeln zu sehen bekommen, das Grinsen des blanken Totenschädels. Viel Zeit blieb ihm sicher nicht mehr.

»Tanner hat mir die Entscheidung um einiges leichter gemacht«, sagte Reivich. »Mehr Einfluss auf meine Situation billige ich ihm nicht zu.«

»Wo ist er?«, fragte Chanterelle.

»Er ist hier«, sagte die Jammergestalt im Sessel. »Er ist schon seit mehr als einem Tag hier — in Refugium. Aber wir sind uns bisher noch nicht begegnet.«

»Sie sind sich nicht begegnet!« Ich schüttelte den Kopf. »Was, zum Teufel, hat er dann seit seiner Ankunft getrieben? Und was ist mit der Frau, die bei ihm ist?«

»Tanner hat meinen Einfluss unterschätzt«, erklärte Reivich. »Nicht nur hier in Refugium, sondern überall im Umkreis von Yellowstone. Bei Ihnen war es genauso, nicht wahr?«

»Sprechen wir nicht von mir. Sprechen wir von Tanner. Er ist ein viel interessanterer Fall.«

Reivichs Finger strichen über den Rand der Decke. Die andere Hand — vorausgesetzt, es gab sie überhaupt — blieb ganz darunter verborgen. Ich bemühte mich, diesen Anblick mit dem Bild des jungen Adeligen zur Deckung zu bringen, den ich die ganze Zeit verfolgt hatte, aber die beiden schienen nichts gemeinsam zu haben. Die Maschine hatte Reivich sogar seinen Sky’s Edge-Akzent geraubt.

»Tanner kam nach Refugium, um mich zu töten«, sagte er. »Aber in erster Linie wollte er Sie aus den Schatten locken.«

»Und Sie meinen, das wüsste ich nicht?«

»Um es anders auszudrücken, ich finde es erstaunlich, dass Sie dennoch gekommen sind.«

»Ich bin mit Tanner noch nicht fertig.«

»Und was heißt das?«

»Ich kann nicht zulassen, dass er Sie tötet, nicht einmal, wenn es gar nicht beabsichtigt wäre. Sie haben den Tod nicht verdient. Sie haben aus Rache gehandelt — sie haben sich töricht verhalten —, aber Sie waren niemals niederträchtig.«

Wieder sank der Kopf nach vorne, diesmal in stummer Anerkennung meiner letzten Worte. »Hätte Cahuella nicht versucht, meinen Trupp in einen Hinterhalt zu locken, dann wäre Gitta noch am Leben. Cahuella hätte noch Schlimmeres verdient.« Das Gesicht mit den leeren Augenhöhlen wandte sich mir zu, als würde Reivich durch irgendeinen Reflex gezwungen, denjenigen ›anzuschauen‹, mit dem er gerade sprach, obwohl ihm das Bild zweifellos durch eine im Sessel verborgene Kamera übermittelt wurde. »Aber Sie sind natürlich Cahuella, nicht wahr? Oder geben sie sich noch immer für jemand anderen aus?«

»Ich gebe mich nicht für jemand anderen aus. Aber ich bin auch nicht Cahuella. Nicht mehr. Cahuella starb an dem Tag, als er Tanners Erinnerungen stahl. Was übrig blieb, ist… eine andere Person. Eine Person, die bis dahin nicht existierte.«

Die Brauen über den leeren Augenhöhlen gingen in die Höhe. »Ein besserer Mensch?«

»Gitta hat mir einmal eine Frage gestellt. Wie lange müsste man leben; wie viel Gutes müsste man tun, um ein Verbrechen zu sühnen, das man in jüngeren Jahren begangen hatte? Damals fand ich die Frage sehr merkwürdig, aber heute begreife ich sie. Ich glaube, sie wusste Bescheid. Sie wusste genau, wer Cahuella war; was er getan hatte. Ich kann ihre Frage nicht beantworten, auch jetzt noch nicht. Aber ich denke, ich werde es herausfinden.«

Reivich war nicht beeindruckt. »Und das ist der Grund, weshalb Sie mit Tanner noch nicht fertig sind?«

»Nein«, sagte ich. »Es geht auch um die Frau, die ihn begleitet. Sie heißt Amelia und gehört dem Eisbettelorden an, auch wenn sie in einer anderen Identität unterwegs sein sollte. Ich glaube, Tanner wird sie töten, sobald er keine Verwendung mehr für sie hat.«

»Sie bringen sich selbst in Gefahr, um sie zu retten? Wie heldenhaft.«

»Das hat nichts mit Heldentum zu tun. Es ist nur… Menschlichkeit.« Das Wort klang mir völlig fremd in den Ohren, aber ich schämte mich nicht, es auszusprechen. »Glauben Sie nicht, dass dieser Ort davon etwas mehr vertragen könnte?«

»Sie würden ihn also töten — obwohl Sie seine Erinnerungen mit sich herumtragen? Kommt das einem Selbstmord nicht sehr nahe?«

»Um die moralischen Fragen kümmere ich mich, wenn ich das Blut aufgewischt habe.«

»Sie sehen die Lage mit bewundernswerter Klarheit«, sagte Reivich. »Das macht alles, was jetzt kommt, noch interessanter.«

Ich erstarrte. »Wovon sprechen Sie?«

»Ich sagte Ihnen doch, dass Tanner hier ist. Das war wörtlich gemeint. Er ist hier. Er genießt auf Anweisung von mir bis zu Ihrer Ankunft unsere Gastfreundschaft.«

Ein schwarzes Rechteck teilte die Schatten hinter Reivichs Rücken, und heraus trat ein Mann, der mir zum Verwechseln ähnlich sah.

Загрузка...