Dreißig

Fast hätte die Expedition zum Gespensterschiff die Santiago nie verlassen. Sky und seine beiden Partner Norquinco und Gomez waren bis zum Frachtraum gekommen, als Constanza aus den Schatten trat.

Verglichen mit ihm sah sie inzwischen ziemlich alt aus, dachte Sky, als wäre sie vorzeitig gealtert. Man konnte sich kaum vorstellen, dass sie einmal fast gleichaltrig gewesen waren; zwei Kinder, die gemeinsam ein düsteres, verwinkeltes Wunderland erkundeten. Jetzt wurde durch die harten Schatten auf ihrem Gesicht jedes Fältchen und jede Runzel aufs Unvorteilhafteste betont.

»Darf ich fragen, wo ihr hin wollt?«, sagte Constanza und stellte sich vor das Shuttle, das die drei mit viel Mühe startklar gemacht hatten. »So viel ich weiß, ist nicht geplant, dass irgendjemand die Santiago verlässt.«

»Du warst in diesem Fall eben nicht auf dem Verteiler«, sagte Sky.

»Ich gehöre immer noch zur Sicherheitswache, du hochnäsiges Bürschchen. Wieso stehe ich dann nicht auf dem Verteiler?«

Sky forderte die anderen mit strengem Blick auf, ihn reden zu lassen. »Dann will ich ganz offen sein. Die Angelegenheit wurde nicht auf dem üblichen Dienstweg entschieden. Ich kann dir nicht mehr sagen, als dass es sich um eine heikle diplomatische Mission handelt.«

»Und wo ist dann Ramirez?«

»Es ist auch eine sehr riskante Mission; möglicherweise eine Falle. Wenn ich gefangen genommen werde, verliert Ramirez seinen Stellvertreter, aber auf der Santiago geht das Leben mehr oder weniger weiter wie bisher. Handelt es sich aber um einen aufrichtigen Versuch, die Beziehungen zu verbessern, dann kann uns das andere Schiff nicht vorwerfen, wir hätten keinen höheren Offizier geschickt.«

»Aber der Captain weiß doch sicher Bescheid?«

»Natürlich. Er hat ja die Genehmigung dazu gegeben.«

»Das lässt sich schnell nachprüfen.« Sie schob ihre Manschette zurück und schickte sich an, den Captain anzurufen.

Bevor Sky zur Tat schritt, wog er zwei gleichermaßen riskante Strategien gegeneinander ab. Ramirez glaubte tatsächlich, eine diplomatische Aktion sei im Gange; unter diesem Vorwand konnte Sky die Santiago jederzeit für ein paar Tage verlassen, ohne dass allzu viele Fragen gestellt wurden. Die Vorarbeiten für diesen Schwindel liefen schon seit Jahren. Sky hatte Funksprüche von der Palästina gefälscht und die echten Funksprüche entsprechend bearbeitet. Aber Ramirez war nicht auf den Kopf gefallen und könnte Verdacht schöpfen, wenn Constanza sich allzu eingehend nach dieser Mission erkundigte.

Also stürzte er sich auf sie und warf sie auf den harten, blanken Boden des Frachtraums. Sie schlug mit dem Kopf auf und blieb reglos liegen.

»Hast du sie umgebracht?«, fragte Norquinco.

»Ich weiß es nicht«, sagte Sky und kniete neben ihr nieder.


Constanza lebte noch.

Sie zogen die Bewusstlose durch den Frachtraum und legten sie so neben einem Haufen zu Bruch gegangener Frachtpaletten ab, dass es aussah, als hätte sie auf eigene Faust den Raum erkundet, dann sei der Palettenstapel umgekippt und ihr auf den Kopf gefallen.

»Sie wird sich an die Auseinandersetzung nicht erinnern«, sagte Sky. »Und wenn sie vor unserer Rückkehr nicht von selbst zu sich kommt, werde ich sie persönlich holen.«

»Trotzdem wird sie misstrauisch bleiben«, gab Gomez zu bedenken.

»Das ist nicht weiter schlimm. Ich habe Spuren gelegt, die den Anschein erwecken, als hätten Ramirez und Constanza die Expedition gemeinsam genehmigt — ja sogar angeordnet.« Er sah Norquinco an, der eigentlich den größten Teil der Arbeit gemacht hatte, aber der verzog keine Miene.

Sie starteten, bevor Constanza zu sich kam. Normalerweise hätte Sky gleich nach dem Ablegen die Triebwerke hochgefahren, aber das wäre zu sehr aufgefallen. So gab er dem Shuttle, so lange es noch hinter der Santiago verborgen war, nur einen kleinen Schubstoß mit — gerade so viel, dass es mit hundert Metern pro Sekunde hinter die Flottille zurückfiel — und schaltete dann die Triebwerke ab. Mit gedämpfter Kabinenbeleuchtung und unter Wahrung strikter Funkstille entfernten sie sich vom Mutterschiff.

Das Schiff glitt vorbei wie eine graue Felswand. Sky hatte zwar dafür gesorgt, dass auf der Santiago niemand seine Abwesenheit bemerkte — bei dem krankhaften Misstrauen, das die Atmosphäre an Bord bestimmte, würde ohnehin kaum jemand unbequeme Fragen stellen —, doch vor der übrigen Flottille ließ sich der Start eines Kleinschiffs nie ganz geheim halten.

Sky wusste allerdings aus Erfahrung, dass die Radaranlagen eher nach Raketen zwischen den Schiffen suchen würden als nach einem Objekt, das langsam zurückfiel. Und seit unter den Schiffen ein Wettstreit um die Verringerung der Masse entbrannt war, stieß man andauernd entbehrliche Ausrüstungsteile ins All. Schrott warf man gewöhnlich nach vorne ab, damit die Flottille beim Abbremsen nicht damit kollidierte, aber das war unwesentlich.

»Wir driften vierundzwanzig Stunden lang ohne Antrieb dahin«, sagte Sky. »Dann sind wir neuntausend Kilometer hinter dem letzten Schiff der Flottille und können für das letzte kurze Stück bis zur Caleuche Triebwerke und Radar einschalten. Selbst wenn die anderen die Triebwerksflamme bemerken sollten, sind wir immer noch früher dort als jedes Shuttle, das sie uns hinterher schicken können.«

»Und wenn sie das tatsächlich tun?«, fragte Gomez. »Dann bleibt uns womöglich nur eine Gnadenfrist von ein paar Stunden. Bestenfalls ein Tag.«

»Wir müssen die Zeit eben gut nützen. Ein paar Stunden reichen aus, um an Bord zu gehen und festzustellen, was dem Schiff zugestoßen ist. Ein paar Stunden mehr, und wir können auch nach Vorräten suchen, die noch zu verwenden sind — medizinische Geräte, Ersatzteile für Kälteschlafkojen, was immer ihr wollt. Das Shuttle kann so viel aufnehmen, dass sich die Mühe lohnt. Finden wir mehr, als wir unterbringen können, dann halten wir das Schiff so lange besetzt, bis die Santiago eine größere Shuttle-Flotte schicken kann.«

»Du redest, als würden wir wegen der Caleuche einen Krieg anfangen.«

»Vielleicht wäre sie es wert, Gomez«, sagte Sky Haussmann.

»Vielleicht wurde sie schon vor Jahren von einem der anderen Schiffe geplündert. Das hast du doch sicher bedacht?«

»Gewiss. Und auch das wäre in meinen Augen ein hinreichender Grund für einen Krieg.«

Norquinco, der seit dem Start kaum ein Wort gesprochen hatte, betrachtete eine verwirrend komplexe Schemazeichnung von einem der Flottillenschiffe. Solche Zeichnungen konnte er stundenlang mit glasigen Augen anstarren, ohne Müdigkeit oder Hunger zu spüren, bis er irgendein Problem zu seiner Zufriedenheit gelöst hatte. Sky beneidete ihn um diese absolute Konzentration, obwohl er selbst davor zurückscheute, sich jemals so völlig in eine Aufgabe zu verrennen. Norquinco hatte für ihn einen sehr spezifischen Wert: er war ein Instrument, das bei exakt definierten Problemen mit vorhersehbaren Ergebnissen eingesetzt werden konnte. Der Mann brauchte nur eine ausgefallene und möglichst komplizierte Aufgabe, dann war er in seinem Element. Die Entwicklung eines plausiblen Modells der internen Datennetze der Caleuche könnte genau das Richtige für ihn sein. Zwar würde es immer nur auf intelligente Vermutungen hinauslaufen, aber es gab niemanden, den Sky solche Vermutungen lieber — hätte anstellen lassen.

Er rekapitulierte das Wenige, was über das Gespensterschiff bekannt war. Fest stand, dass die Caleuche einst offiziell als Teil der Flottille zusammen mit den anderen Schiffen gebaut und vom Merkur-Orbit aus gestartet worden sein musste. Beides hatte man sicher nicht geheim halten können, auch wenn sie damals wahrscheinlich einen prosaischeren Namen getragen hatte als den des legendären Gespensterschiffes. Anschließend hatte sie wohl wie die anderen fünf Schiffe auf Reisegeschwindigkeit beschleunigt und war für eine Weile — vielleicht viele Jahre — mit ihnen geflogen.

Doch dann war in den ersten Jahrzehnten der Reise zum Schwan etwas geschehen. Das Heimatsystem wurde von politischen und sozialen Unruhen erschüttert, und die Flottille sah sich zunehmend isoliert. Die Entfernung wuchs von Lichtmonaten auf Lichtjahre, und mit der Zeit wurde es schwierig, mit den Daheimgebliebenen effektiv zu kommunizieren. Zwar trafen weiterhin technische Verbesserungsvorschläge ein, und die Flottille schickte weiterhin ihre Berichte nach Hause, aber die Abstände zwischen den Botschaften wurden immer länger und die Botschaften selbst immer oberflächlicher. Wenn eine Nachricht von zu Hause ankam, erhielt man oft gleichzeitig eine weitere, die genau das Gegenteil besagte; ein Hinweis auf Reibereien zwischen Gruppierungen mit unterschiedlichen Zielen, wobei die sichere Ankunft der Flottille auf Journey’s End nicht bei allen im Mittelpunkt des Interesses stand. Hin und wieder fing man einen Nachrichtenüberblick auf, und die Schiffe der Flottille mussten zu ihrer Bestürzung sogar erfahren, dass es zu Hause Parteien gab, die ihre Existenz rundheraus leugneten. Im Allgemeinen wurden solche Versuche der Geschichtsklitterung nicht ernst genommen, aber es war doch erschreckend zu hören, dass sie überhaupt hatten Fuß fassen können.

Zu lange her und zu weit weg, dachte Sky. Die Worte gingen ihm wie ein Mantra im Kopf herum. So vieles ließ sich letztlich darauf reduzieren.

Infolgedessen sahen sich die Schiffe der Flottille zunehmend weniger verpflichtet, anderen Gruppen gegenüber Rechenschaft abzulegen. Und so war es nicht allzu schwer, mit vereinten Kräften die Wahrheit über das Schicksal der Caleuche zu vertuschen.

Skys Großvater — oder vielmehr Titus Haussmanns Vater — hatte noch genau gewusst, was geschehen war. Er hatte einen Teil der Information an Titus weitergegeben, aber vielleicht nicht alles, möglicherweise hatte Titus’ Vater zum Zeitpunkt seines Todes auch selbst nicht so genau gewusst, was sich wirklich abgespielt hatte. Inzwischen konnten sie nur noch spekulieren. Für Sky gab es zwei plausible Szenarien: Im ersten war es zwischen den Schiffen zu Auseinandersetzungen gekommen, die zu einem Angriff auf die Caleuche eskalierten. Vielleicht war man sogar so weit gegangen, die für die Landschaftsveränderung bestimmten Atomwaffen einzusetzen: Titus hatte zwar erwähnt, das Radarecho des Gespensterschiffes entspreche dem Profil eines Flottillenschiffes, aber das schloss verheerende Schäden nicht aus. Hinterher hatten sich die anderen Schiffe für ihr Verhalten dann so geschämt, dass sie beschlossen, das Ereignis aus den historischen Archiven zu löschen. Eine Generation musste mit der Schande leben, aber schon der nächsten konnte man sie ersparen.

Die zweite — und für Sky überzeugendere — Idee war weniger dramatisch, aber womöglich noch beschämender. Angenommen, der Caleuche wäre ein Unglück zugestoßen — eine Seuche vielleicht — und die anderen Schiffe hätten sich geweigert, ihr zu helfen? Die Geschichte kannte noch schlimmere Beispiele, und wer hätte es den nicht Betroffenen verdenken können, wenn sie die Ansteckung fürchteten?

Beschämend vielleicht. Aber durchaus verständlich.

In diesem Fall müssten auch sie sehr vorsichtig sein. Sky nahm sich vor, jede gegebene Situation für potenziell gefährlich zu halten. Andererseits war der Preis so verlockend, dass er die Risiken akzeptieren konnte. Er dachte an die Antimaterie, die sicher immer noch im Sicherheitsbehälter der Caleuche schlummerte und auf den Tag wartete, an dem sie zum Abbremsen eingesetzt werden sollte. Dieser Tag mochte noch kommen, aber anders, als die Erbauer sich das gedacht hatten.

Und die anderen Schiffe.

Wenige Stunden später hatten sie sich von der Flottille weit genug entfernt. Einmal richtete sich ein Radarstrahl von der Brasilia auf sie wie die Hand eines Blinden, der einen ihm fremden Gegenstand betastete. Es war ein spannungsgeladener Moment, und Sky fürchtete schon, er hätte sich dramatisch verschätzt. Doch dann wanderte der Strahl weiter und kehrte nie zurück. Wenn sich die Brasilia überhaupt etwas gedacht hatte, dann hatte sie wohl angenommen, das Radarecho stamme von einem davontreibenden Stück Schrott; einer nicht mehr zu reparierenden und daher nutzlosen Maschine, die man ins Nichts geworfen hatte.

Danach waren sie allein.

Es wäre sehr verlockend gewesen, die Triebwerke hochzufahren, aber Sky behielt die Nerven und ließ das Shuttle wie geplant vierundzwanzig Stunden lang antriebslos dahindriften. Von der Santiago kam kein Funkspruch, daraus schloss er, dass ihre Abwesenheit noch kein Aufsehen erregt hatte. Hätten ihm Norquinco und Gomez nicht Gesellschaft geleistet, er wäre jetzt so allein — so fern von allen Menschen — gewesen wie noch nie zuvor in seinem Leben. Den kleinen Jungen, der sich so vor der Dunkelheit gefürchtet hatte, als er in seinem Kinderzimmer eingesperrt war, hätte diese Isolation in Todesängste versetzt. Er hätte sich niemals freiwillig so weit von zu Hause entfernt.

Aber jetzt gab es dafür einen triftigen Grund.

Sky wartete, bis auch die letzte Sekunde verstrichen war, dann schaltete er die Triebwerke wieder an. Ihr Feuer leuchtete rein und klar in sattem Violett vor den Sternen. Er vermied es, den Raketenstrahl direkt auf die Flottille zu richten, aber ganz verbergen konnte er ihn nicht. Das war jedoch nicht weiter schlimm; sie hatten jetzt genügend Vorsprung, was immer die anderen Schiffe unternahmen, Sky würde die Caleuche als Erster erreichen. Das wäre, dachte er, ein kleiner Vorgeschmack auf den großen Sieg, falls es ihm gelänge, die Santiago vor den anderen nach Journey’s End zu bringen. Er durfte nie vergessen, dass alles, was er jetzt tat, nur ein Teil dieses größeren Planes war.

Natürlich gab es einen Unterschied. Journey’s End war ohne Zweifel vorhanden; er wusste mit Sicherheit, dass die Welt existierte. Was dagegen die Existenz der Caleuche anging, so musste er sich immer noch auf Titus’ Wort verlassen.

Sky schaltete die Fernantenne des Phasenradars ein und streckte — ganz ähnlich wie zuvor die Brasilia — einen suchenden Finger ins Dunkel.

Wenn sie dort draußen war, würde er sie finden.


»Kannst du ihn nicht einfach in Frieden lassen?«, fragte Zebra.

»Nein. Selbst wenn ich ihm verzeihen wollte — was nicht der Fall ist —, müsste ich trotzdem wissen, warum er mich provoziert hat; was er damit zu erreichen hoffte.«

Wir waren in Zebras Wohnung. Es war später Vormittag; über der Stadt hing nur eine dünne Wolkendecke, die Sonne stand hoch, und die Gebäude wirkten eher traurig als dämonisch; selbst die groteskeren Formen strahlten eine gewisse Würde aus wie Patienten, die gelernt hatten, mit extremen Missbildungen zu leben.

Doch das alles konnte mich nicht beruhigen; ich war mehr denn je davon überzeugt, unter einer schweren Erinnerungsstörung zu leiden. Die Haussmann-Episoden hatten nicht aufgehört, aber meine Hand blutete lange nicht mehr so stark wie zu Beginn des Infektionszyklus. Es war fast, als hätte das Indoktrinationsvirus die Freisetzung von Erinnerungen katalysiert, die bereits vorher da gewesen waren und in krassem Widerspruch zur offiziellen Darstellung der Ereignisse auf der Santiago standen. Das Virus mochte kurz davor stehen, seine Kraft zu verlieren, aber dafür drängten andere Haussmann-Erinnerungen stärker denn je ans Licht, und ich identifizierte mich immer mehr mit Sky. Anfangs hatte ich mir sein Leben nur angesehen wie ein Theaterstück; jetzt spielte ich sozusagen seine Rolle: ich hörte, was er dachte, und spürte den ätzenden Geschmack seines Hasses auf der Zunge.

Auch das war noch nicht alles. Der Traum vom Nachmittag zuvor, von dem verletzten Mann in der weißen Grube hatte mich mehr aufgewühlt, als ich mir gleich danach so ohne weiteres erklären konnte, aber seither hatte ich Zeit gehabt, darüber nachzudenken, und nun glaubte ich zu verstehen.

Der Verletzte konnte nur ich selbst gewesen sein.

Aber ich hatte mich aus Cahuellas Perspektive gesehen, der im Reptilienhaus stand und in die Hamadryadengrube hinabschaute. Das hätte ich noch meiner Erschöpfung zuschreiben können, wenn es das einzige Mal gewesen wäre, dass ich die Welt mit seinen Augen sah. Doch in den letzten Tagen hatten mich immer wieder flüchtige Erinnerungen an Gitta heimgesucht, kurze Träume von intimen Szenen, die in Wirklichkeit nie stattgefunden hatten. Dann glaubte ich, jede Rundung ihres Körpers, jede Pore ihrer Haut zu kennen; mit der Hand über ihren Rücken, ihr weiches Gesäß zu streichen, ihren Geschmack auf der Zunge zu spüren. Und noch etwas verfolgte mich, was mit Gitta zu tun hatte — etwas, das ich nicht zu fassen vermochte oder vor dem ich zurückschreckte, weil es zu schmerzhaft war.

Ich wusste nur, dass es irgendwie mit der Art ihres Todes zusammenhing.

»Hör zu«, sagte Zebra und schenkte mir Kaffee nach. »Könnte es nicht einfach sein, dass Reivich einen Todeswunsch hat?«

Ich zwang mich, ins Hier und Jetzt zurückzukehren. »Den hätte ich ihm auch auf Sky’s Edge erfüllen können.«

»Nun, dann eben einen ganz speziellen Todeswunsch. Einen, der nur hier befriedigt werden kann.«

Sie sah großartig aus, die verblassenden Streifen brachten die natürliche Form ihres Gesichtes deutlicher zum Vorschein, so als hätte man eine grell bemalte Statue gesäubert. Dennoch waren wir uns nicht wirklich nahe gekommen, seit Pransky uns wieder zusammengeführt hatte. Wir saßen einander beim Frühstück gegenüber, aber wir hatten nicht miteinander geschlafen, und das lag nicht nur daran, dass ich todmüde gewesen war. Zebra hatte mich nicht dazu ermuntert, und sie verriet weder mit ihrer Kleidung, noch mit ihrem Benehmen, dass wir jemals anders als kühl und sachlich miteinander verkehrt hatten. Es war, als hätte sie mit ihrem Äußeren auch ihre gesamte Persönlichkeit verändert. Mein Bedauern darüber hielt sich allerdings in Grenzen, nicht nur, weil ich immer noch müde und nicht fähig war, mich auf etwas zu konzentrieren, das so einfach und abseits aller Verschwörungstheorien war wie körperliche Intimität, sondern weil ich spürte, dass sie mir bei unserer ersten Begegnung etwas vorgespielt hatte.

Und ich konnte mich nicht einmal so richtig verraten und verkauft fühlen. Schließlich war ich ihr gegenüber auch nicht unbedingt ehrlich gewesen.

»Übrigens«, sagte ich, während ich mir noch einmal ihr Gesicht betrachtete und darüber staunte, wie leicht es sich hatte verändern lassen, »gibt es noch eine weitere Möglichkeit.«

»Und die wäre?«

»Dass der Mann, den ich gesehen habe, gar nicht Reivich war.« Ich stellte die leere Kaffeetasse ab und stand auf.

»Wo willst du hin?«

»Ich muss hier raus.«


Wir riefen eine Gondel und fuhren zum Escher-Turm.

Die Gondel setzte zur Landung an, die Teleskopbeine berührten das regennasse Sims. Jetzt herrschte mehr Betrieb als bei meinem letzten Besuch — immerhin war es heller Tag — und die Menschen, die umherschlenderten, wirkten anatomisch und von ihrer Kleidung her weniger auffällig, als handelte es sich um einen anderen Querschnitt der Baldachin-Gesellschaft, die gesetzteren Bürger, die nichts mit den Vergnügungssüchtigen und ihren nächtlichen Exzessen zu tun haben wollten.

Extrem fand ich sie nach den Begriffen, mit denen ich hier angekommen war, freilich noch immer. Zwar sah ich niemanden, der in seinen Proportionen allzu drastisch von der menschlichen Grundnorm abgewichen wäre, doch inner-, halb dieser Grenzen waren alle nur denkbaren Spielarten vertreten. Und von ganz offensichtlichen Fällen von exotischer Haut- und Körperhaarpigmentierung einmal abgesehen, konnte man nicht immer unterscheiden, was erblich und was das Werk der Meistermischer oder ihrer zwielichtigeren Kollegen war.

»Ich hoffe, dieser Ausflug dient irgendeinem Zweck«, sagte Zebra, als wir ausstiegen. »dir sind nämlich zwei Verfolger auf den Fersen, falls du das vergessen haben solltest. Du meinst zwar, sie könnten für Reivich arbeiten, aber du solltest bedenken, dass auch Waverly Freunde hatte.«

»Kämen Waverlys Freunde von anderen Welten?«

»Das ist eher unwahrscheinlich. Es sei denn, sie gäben sich nur als Fremdweltler aus wie dieser Quirrenbach.« Sie schloss die Tür der Gondel hinter sich, und das Gefährt startete sofort, um einen anderen Passagier abzuholen. »Vielleicht ist er zurückgekommen und hat Verstärkung mitgebracht. Wenn du ihn bei Dominika abgeschüttelt hattest, wäre es für ihn doch nur logisch, die Fährte dort wieder aufzunehmen. Findest du nicht?«

»Vollkommen logisch«, sagte ich. Hoffentlich klang es nicht allzu bissig.

Wir traten zu einem der Teleskope am Rand des Landefeldes. Um das Sims lief ein brusthohes Geländer, aber die Teleskope waren alle auf kleine Sockel montiert, sodass man etwas höher stand und der Blick in die Tiefe noch schwindelerregender war. Ich zog das Fernrohr zu mir heran und schwenkte es über die Stadt. Eine Weile drehte ich an der Schärfeneinstellung herum, bis ich mich damit abfand, dass ich bei dieser dunstigen Atmosphäre nie ein scharfes Bild bekommen würde. Dank der perspektivischen Verkürzung wirkte der Baldachin aus dieser Sicht noch vielgestaltiger und organischer, wie ein Querschnitt durch ein Gewebe mit vielen Adern. Und irgendwo in diesem Gewirr trieb Reivich als winziges Pünktchen durch das Gefäßsystem der Stadt.

»Siehst du etwas?«, fragte Zebra.

»Noch nicht.«

»Du klingst nervös, Tanner.«

»Wärst du das in meiner Lage nicht auch?« Ich drehte das Teleskop ruckartig weiter. »Man hat mich auf diese Welt geschickt, damit ich jemanden töte, der es wahrscheinlich nicht verdient, und meine einzige Rechtfertigung ist das Festhalten an einem absurden Ehrencodex, der hier nicht respektiert und erst recht nicht verstanden wird. Der Mann, den ich töten soll, führt mich möglicherweise an der Nase herum. Ich kann nicht ausschließen, dass zwei andere Personen mir nach dem Leben trachten. Mein Gedächtnis gibt mir Rätsel auf. Und obendrein hat mich jemand, dem ich mein Vertrauen schenkte, von Anfang an belogen.«

»Ich kann dir nicht folgen«, sagte Zebra, aber ihr Tonfall verriet, dass sie mir durchaus folgen konnte, auch wenn sie mich vielleicht nicht verstand.

»Du bist nicht die, für die du dich ausgibst, Zebra.«

Ein Windstoß riss ihr die Antwort beinahe von den Lippen. »Was?«

»Du arbeitest für Reivich, nicht wahr?«

Sie schüttelte verärgert den Kopf, dann lachte sie, als sei die Anschuldigung grotesk, aber sie übertrieb. Ich war kein sehr fähiger Lügner, aber das galt auch für sie. Wir hätten zusammen eine Selbsthilfegruppe aufbauen können.

»Du bist verrückt, Tanner. Ich hatte von Anfang an den Verdacht, dass du nicht ganz normal bist, aber jetzt ist mir klar: du hast die Grenze weit überschritten.«

»Du hast vom ersten Augenblick an für ihn gearbeitet«, sagte ich. »Schon in der Nacht, in der du mich gerettet hast. Die Sabotagegeschichte war nur Tarnung — nicht schlecht, zugegeben, aber eben doch Tarnung.«

Ich stieg vom Sockel. Plötzlich fühlte ich mich so schwach, als könnte mich die nächste starke Bö über das Geländer stoßen und in den Mulch stürzen. »Vielleicht wurde ich wirklich von Jägern entführt, die ein Opfer für das Große Spiel suchten. Aber du hattest schon vorher ein Auge auf mich geworfen. Ich hatte gedacht, ich hätte Reivichs Beschatter — Quirrenbach — abgeschüttelt, doch es gab offenbar noch jemanden, der mehr Abstand hielt und deshalb nicht so sehr auffiel. Du hattest mich verloren, bis Waverly mir das Jagd-Implantat einsetzte. Danach konntest du mich weiter verfolgen. Wie klingt das bisher?«

»Vollkommen verrückt, Tanner.« Aber sie konnte mich nicht überzeugen.

»Möchtest du wissen, wie ich dir auf die Schliche gekommen bin? Abgesehen von all den vielen Kleinigkeiten, die einfach nicht zusammenpassten?«

»Ich bin gespannt.«

»Du hättest Quirrenbach nicht erwähnen dürfen. Ich habe seinen Namen nie genannt. Das hatte ich bewusst vermieden, weil ich hoffte, du würdest dich verplappern. Und heute ist wohl mein Glückstag.«

»Du bist ein Bastard.« Es klang wie ein Kosename. »Jemand, der uns aus einiger Entfernung beobachtete, hätte uns für ein Liebespärchen halten können. Ein hinterhältiger Bastard, Tanner.«

Ich lächelte. »Du hättest dich immer noch herausreden können. Du hättest nur zu sagen brauchen, Dominika hätte den Namen erwähnt, als du fragtest, mit wem ich bei ihr gewesen sei. Damit hatte ich eigentlich gerechnet, und ich weiß nicht genau, wie ich reagiert hätte. Aber das ist jetzt müßig, nicht wahr? Jetzt wissen wir Bescheid.«

»Nur interessehalber — was waren das für Kleinigkeiten?«

»Berufsehre?«

»Könnte man sagen.«

»Du hast es mir viel zu leicht gemacht, Zebra. Deine Gondel war nicht abgeschaltet, ich brauchte nur einzusteigen. Deine Waffe lag so offen da, dass ich sie nicht übersehen konnte, und daneben lag genügend Geld, um mir weiterzuhelfen. Du wolltest mich ködern, nicht wahr? Du wolltest, dass ich dich bestehle, um Gewissheit zu haben. Danach wusstest du, wer ich war, und dass ich Reivich töten wollte.«

Sie zuckte die Achseln. »Ist das alles?«

»Nicht ganz.« Ich zog Vadims Mantel fester um mich. »Es ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass wir gleich bei unserer ersten Begegnung miteinander geschlafen haben, obwohl du mich kaum kanntest. Zu deiner Beruhigung — es war schön.«

»Du solltest mir nicht schmeicheln. Und dir selbst übrigens auch nicht.«

»Dagegen warst du beim zweiten Mal zwar erleichtert, aber nicht unbedingt überglücklich, mich wiederzusehen. Und ich habe keinerlei sexuelles Verlangen gespürt. Wenigstens nicht von dir. Es hat eine Weile gedauert, bis ich dahinter kam, aber jetzt glaube ich zu begreifen. Beim ersten Mal hast du die Intimität gesucht, weil du hofftest, ich würde mir irgendeine verräterische Bemerkung entschlüpfen lassen. Nur deshalb hast du mich in dein Bett geholt.«

»Du bist ein freier Mensch, Tanner. Niemand konnte dich zwingen, darauf einzugehen, oder willst du behaupten, dass dein Schwanz dein ganzes Denken blockiert? Ich hatte auch nicht den Eindruck, als würdest du es bereuen.«

»Davon kann auch nicht die Rede sein. Beim zweiten Mal wäre ich zu müde gewesen, um auf etwaige Annäherungsversuche deinerseits einzugehen — aber das war wohl auch nicht vorgesehen. Inzwischen wusstest du ja alles, was du wissen wolltest. Und das erste Mal hatte rein berufliche Gründe. Du hast nur mit mir geschlafen, um an Informationen zu kommen.«

»Leider ohne Erfolg.«

»Aber das spielte kaum eine Rolle. Als ich mit deinem Gewehr und deiner Gondel abgehauen war, wusstest du doch Bescheid.«

»Was für eine rührende Geschichte.«

»Nicht für mich.« Ich schaute über das Geländer. »Aus meiner Sicht könnte die Geschichte für dich mit einem Sturz in die Tiefe enden, Zebra. Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, um Reivich zu töten. Vielleicht hätte ich auch wenig Skrupel, jeden zu töten, der mir dabei in die Quere kommt. Hast du daran schon einmal gedacht?«

»Du hast eine Pistole in der Tasche. Wenn es dir hilft, dann schieß doch.«

Ich griff in die Tasche, um mich zu vergewissern, dass die Waffe noch da war, und nahm die Hand nicht wieder heraus. »Ich bräuchte nur abzudrücken.«

Sie zuckte nicht mit der Wimper, das musste ich ihr lassen. »Ohne die Hand aus der Tasche zu ziehen?«

»Du kannst es gern darauf ankommen lassen.« Es war, als probten wir einen Sketch genau nach Drehbuch und hätten keine andere Wahl, als dem Text bis zum bitteren Ende zu folgen, wie immer das auch aussehen mochte.

»Glaubst du wirklich, du würdest mich aus dieser Position treffen?«

»Es wäre nicht mein erster tödlicher Schuss aus diesem Winkel.« Aber, dachte ich, der erste, bei dem ich es darauf anlegte. Gittas Tod war schließlich keine Absicht gewesen. Und ich war auch nicht sicher, ob ich Zebra wirklich töten wollte.

Gittas Tod war keine Absicht gewesen

Ich hatte dem Gedanken ausweichen wollen, aber ich war wie in einem Labyrinth mit nur einem Ausgang immer wieder bei diesem einen Moment gelandet. Nun brachen sich die lange zurückgehaltenen Erinnerungen Bahn wie eine Horde Betrunkener, die eine Tür eintraten. Plötzlich war alles wieder da. Natürlich hatte ich gewusst, dass Gitta tot war, aber ich hatte es geflissentlich vermieden, genauer darüber nachzudenken, wie sie gestorben war. Sie war bei dem Angriff umgekommen — was gab es dazu noch zu sagen? Nichts.

Bis auf die fatale Tatsache, dass ich es war, der sie getötet hatte.


Und so sah meine Erinnerung aus.

Gitta erwachte als Erste. Sie hörte, wie die Angreifer im Schutz der grellen Blitze den Sicherheitskordon durchbrachen. Ihr angstvolles Wimmern weckte mich, und ich spürte, wie sich ihr nackter Körper an mich presste. Drei von den Eindringlingen konnte ich sehen: sie zeichneten sich grotesk verzerrt vor der Zeltwand ab wie die Figuren in einem Schattentheater. Jeder Blitz zeigte sie an einer anderen Stelle — manchmal einer, manchmal zwei, dann alle drei. Dann hörte ich Schreie, so kurz und prägnant wie Trompetenstöße — und erkannte an den Stimmen, dass sie von unseren Leuten kamen.

Ionisationsspuren rasten durch das Zelt, und der Sturm drängte mit solcher Kraft durch die Risse in den Wänden wie ein Geschöpf aus Regen und Wind. Ich hielt Gitta mit einer Hand den Mund zu und tastete mit der anderen unter meinem Kissen nach der Waffe, die ich vor dem Schlafengehen dort versteckt hatte. Zufrieden spürte ich, wie sich der kühle, anatomisch geformte Griff in meine Hand schmiegte.

Lautlos glitt ich vom Feldbett. Seit mir bewusst geworden war, dass wir angegriffen wurden, waren höchstens ein paar Sekunden vergangen.

»Tanner?«, rief ich. Meine Stimme ging fast unter im Heulen des Sturms. »Tanner, wo, zum Teufel, sind Sie?«

Gitta blieb, trotz der feuchten Hitze fröstelnd, allein unter der dünnen Decke zurück.

»Tanner?«

Allmählich schalteten meine Augen auf Nachtsicht um, und ich konnte in verschiedenen Grautönen das Innere des Zelts erkennen. Eine gute Modifikation; sie war den Preis wert, den mir die Ultras dafür abgeknöpft hatten. Dieterling hatte sich der gleichen Behandlung unterzogen und sie mir anschließend empfohlen. Durch Spleißen der Gene hatte man hinter meinen Netzhäuten eine organische Schicht aus reflektierendem Material erzeugt — das so genannte Tapetum. Es warf einerseits das Licht zurück und sorgte so für maximale Absorption in der Retina. Zum Zweiten fluoreszierte es und verschob damit die Frequenz des reflektierten Lichts hin zu dem Bereich, für den die Retina am empfindlichsten war. Die Ultras sagten, der einzige Nachteil des Spleißens — falls dabei von einem Nachteil überhaupt die Rede sein konnte — bestünde darin, dass meine Augen jeden anstrahlen würden, der mir mit einer hellen Lampe ins Gesicht leuchtete.

Sie bezeichneten das als ›Glanzauge‹.

Die Vorstellung gefiel mir. Denn bevor jemand mein Glanzauge sah, hätte ich denjenigen längst entdeckt.

Das Spleißen wirkte natürlich noch tiefer. So waren meine Netzhäute mit genveränderten Stäbchen vollgepackt, deren Photonenempfindlichkeit dank modifizierter Formen der normalen photosensitiven Chromoproteine nahezu optimal war; zu diesem Zweck hatte man einfach einige Gene am X-Chromosom ersetzt. Nun besaß ich ein Gen, das normalerweise nur an Frauen vererbt wurde und es mir erlaubte, Schattierungen der Farbe Rot zu unterscheiden, von denen ich bis dahin nichts geahnt hatte. Kleine Vertiefungen am Rand meiner Kornea enthielten obendrein Zellcluster, die genetisch von Schlangen abgeleitet waren und infrarot- und ultraviolettnahes Licht registrieren konnten. Sie hatten neuronale Verbindungen zu meinem Sehzentrum ausgebildet, sodass ich die Information nach Schlangenart verarbeiten und als Overlay über mein normales Sehfeld legen konnte. Die Fähigkeit ließ sich wie alle anderen Modifikationen durch genetisch manipulierte Retroviren aktivieren oder unterdrücken. Die Viren erzeugten kurze, kontrollierte Krebswucherungen, die die erforderlichen Zellstrukturen innerhalb von wenigen Tagen auf- oder auch abbauten. Aber ich musste erst lernen, mit all den neuen Funktionen richtig umzugehen, und das dauerte seine Zeit. Zuerst die verbesserte Nachtsicht und später die Farben jenseits des sichtbaren Spektrums.

Ich ging zu Tanner hinüber, der hinter einem Vorhang in der anderen Zelthälfte schlief. Unser Schachtisch war noch aufgebaut; die Figuren standen nach wie vor in der Stellung, mit der ich ihn — wie immer — mattgesetzt hatte.

Tanner kniete — nackt bis auf seine Khaki-Shorts — neben seinem Feldbett, als wollte er sich die Schuhe binden oder seinen Fuß auf Blasen untersuchen.

»Tanner?«

Er schaute auf. Eine schwarze Flüssigkeit lief ihm über die Hände. Aus seinem Mund kam ein Wimmern. Dann stellten sich meine Augen scharf, und ich sah, was geschehen war. Unterhalb seines Knöchels war nur noch ein kleiner Rest seines Fußes zu sehen, und der sah weniger aus wie menschliches Fleisch, sondern wie Holzkohle, die bei der leisesten Berührung zu schwarzen Krümeln zerfallen würde.

Jetzt stieg mir auch der Gestank nach verbranntem Menschenfleisch in die Nase.

Tanners Wimmern riss so jäh ab, als hätte eine Subroutine in seinem Bewusstsein die Reaktion als nicht unmittelbar überlebensnotwendig eingestuft und den Schmerz abgestellt. Und dann sagte er mit einer geradezu absurden Ruhe und Deutlichkeit:

»Ich bin verletzt, ziemlich schwer, Sie sehen es ja selbst. Ich glaube kaum, dass ich Ihnen noch viel nützen kann.« Und dann: »Was ist mit Ihren Augen los?«

Ein Mann trat durch einen Schlitz in der Zeltwand. Die Nachtsichtbrille hing ihm um den Hals, und der Strahl aus der an seinem Gewehr befestigten Taschenlampe wanderte über uns hin und blieb auf meinem Gesicht ruhen. Sein Chamäleo-Anzug veränderte stotternd seine Farbe, um sich dem Zeltinneren anzupassen.

Ich schoss ihn in den Unterleib.

»Mit meinen Augen ist gar nichts«, sagte ich, als das Nachbild des Mündungsblitzes in meinem Sichtfeld zu einem daumenförmigen rosa Fleck verblasst war. Ich stieg über die Leiche des Eindringlings hinweg, wobei ich mich sehr in Acht nahm, um nicht mit dem nackten Fuß in die auseinander fließenden Eingeweide zu treten, ging zum Gewehrständer hinüber, griff nach einer riesigen, aber im Moment entbehrlichen Bosonenstrahlwaffe — sie war zu schwer, um sie im Nahkampf einzusetzen — und warf sie auf Tanners Feldbett. »Mit meinen Augen ist alles in Ordnung. Nehmen Sie das Ding als Krücke und tun Sie etwas für Ihr Gehalt. Wenn wir hier wieder rauskommen, besorgen wir Ihnen einen neuen Fuß, es ist also kein unersetzlicher Verlust.«

Tanner schaute von seinem Fuß zum Gewehr und wieder zurück, als wäge er das eine gegen das andere ab.


Ich trat in Aktion.

Ich stützte mich mit meinem ganzen Gewicht auf den Schaft des Boser-Gewehrs und versuchte, den Schmerz in den Hintergrund zu drängen. Mein Fuß war verloren, aber Cahuella hatte Recht. Ich konnte ohne ihn leben — der Schuss hatte ihn professionell kauterisiert — und wenn ich den Angriff überlebte, ließe er sich in wenigen, wenn auch nicht sehr angenehmen Wochen ersetzen. Als Soldat im Krieg gegen die NK war ich schon schwerer verwundet worden. Aber mein Geist folgte dieser Argumentation nicht. Er sah nur, dass ein Teil von mir einfach nicht mehr da war, und wusste nicht so recht, wie er mit dieser Erkenntnis umgehen sollte.

Licht — hartes, blaues, künstliches Licht fiel in das Zelt. Zwei von den Feinden — ich hatte drei gezählt, bevor der inzwischen Getötete auf mich schoss — waren noch draußen. Unser Zelt war so groß, dass man uns für zahlreicher halten konnte, als wir tatsächlich waren. Durchaus denkbar, dass die beiden anderen vorsorglich losballerten, bevor sie eintraten, um anschließend endgültig zu erledigen, was sich noch bewegte.

Ich schleppte mich zu der Leiche hinüber. Von beiden Seiten drängten dunkle Wolken auf mich ein, ich sah wie durch eine schwarze Röhre. Ich bückte mich, bis ich den Toten erreichte, und nahm ihm die Taschenlampe und die Nachtsichtbrille ab. Cahuella hatte blind auf ihn geschossen, obwohl es fast vollkommen dunkel war. Der Schuss saß für meinen Geschmack etwas zu tief, aber er hatte seinen Zweck erfüllt. Ich erinnerte mich, wie er noch vor wenigen Stunden Schüsse in die Nacht gejagt hatte, als gäbe es dort etwas, das nur er allein sehen konnte.

»Sie und Dieterling haben sich irgendwie behandeln lassen«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen und hoffte, dass er mich verstand. »Die Ultras…«

»Für die Ultras ist das eine Bagatelle«, sagte er und wandte sich mir zu. Sein breiter Körper war wie eine Mauer. »Sie haben es alle. Auf ihren Schiffen herrscht tiefe Finsternis, damit sie besser in den Wundern des Universums schwelgen können, nachdem sie das Sonnenlicht hinter sich gelassen haben. Werden Sie überleben, Tanner?«

»Ja, falls überhaupt einer von uns hier lebend rauskommt.« Ich zog mir die Nachtsichtbrille über die Augen. Es wurde heller, der Raum erstrahlte in giftigem Grün. »Ich habe nicht viel Blut verloren, aber gegen den Schock bin ich machtlos. Sobald er einsetzt, werden Sie nicht mehr viel mit mir anfangen können.«

»Holen Sie sich eine Waffe, etwas für den Nahkampf. Mal sehen, was wir damit ausrichten.«

»Wo ist Dieterling?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er schon tot.«

Ich zog automatisch, fast ohne zu überlegen, eine Kompaktpistole aus dem Ständer und aktivierte die Energiezelle. Ein schrilles Winseln zeigte an, dass sich die Kondensatoren aufluden.

Auf der anderen Seite des Zeltes begann Gitta zu schreien.

Cahuella trat vor mir durch den Vorhang und blieb gleich dahinter wie angewurzelt stehen. Ich humpelte ihm, den Schaft des Boser-Gewehrs hinter mir herziehend, mühsam nach und hätte ihn fast umgerannt. Die Brille brauchte ich nicht mehr, denn das Zelt war bereits erleuchtet. Gitta musste das Kaltlicht angemacht haben. Sie stand, in eine graubraune Decke gewickelt, mitten im Raum.

Einer der Angreifer stand hinter ihr, zog mit einer Hand ihren Kopf an den Haaren nach hinten und hielt ihr mit der anderen ein Schlachtermesser mit Sägeschliff an die Kehle.

Sie hatte zu schreien aufgehört. Ein leises, abgerissenes Schluchzen, das sich anhörte, als wäre sie am Ersticken, war der einzige Laut, den sie sich gestattete.

Der Mann, der sie festhielt, hatte seinen Helm abgenommen. Es war nicht Reivich, nur ein Killer, der einigermaßen sein Handwerk verstand. Er hätte im Krieg auf meiner oder auf der gegnerischen Seite stehen können, vielleicht hatte er auch gegen alle beide gekämpft. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, das schwarze Haar hatte er am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden wie ein Samurai. Er grinste nicht offen — dafür war die Anspannung zu groß —, aber irgendwie sah man ihm an, dass er die Situation genoss.

»Ihr könnt stehen bleiben oder einen Schritt näher kommen«, sagte er. Er sprach ohne Akzent, und seine raue Stimme klang überraschend vernünftig. »Töten werde ich sie in jedem Fall. Die Frage ist lediglich, wann.«

»Ihr Freund ist schon tot«, sagte Cahuella. Eine überflüssige Bemerkung. »Wenn Sie Gitta töten, bringe ich auch Sie um. Nur werden Sie für jede Sekunde, die sie leiden muss, mit einer Stunde bezahlen. Was halten Sie von meiner Großzügigkeit?«

»Ich scheiß auf dich«, sagte der Killer und zog Gitta das Messer über die Kehle. Unter der Klinge entstand ein blutiger Streifen, aber sie war nicht zu tief eingedrungen. Er kann mit dem Ding umgehen, dachte ich. Wie oft mochte er wohl geübt haben, um mit solcher Präzision schneiden zu können?

Zu Gittas Ehre sei gesagt, dass sie kaum gezuckt hatte.

»Ich habe eine Nachricht für dich«, sagte der Killer und hob das Messer ein wenig an, damit man die scharlachrote Linie deutlich sehen konnte. »Eine Nachricht von Argent Reivich. Das überrascht dich doch nicht, oder? Du hast ihn schließlich erwartet, wenn ich mich nicht irre. Nur nicht ganz so früh.«

»Die Ultras haben uns belogen«, sagte Cahuella.

Jetzt lächelte der Mann Reivichs, aber nur kurz. Lediglich die glitzernden, zu schmalen Schlitzen zusammengekniffenen Augen verrieten seine Erregung. Ich begriff, dass wir es mit einem Psychopathen zu tun hatten, dem so gut wie alles zuzutrauen war.

Mit einer gütlichen Einigung war nicht zu rechnen.

»Sie sind sich untereinander nicht immer einig«, sagte der Mann. »Besonders zwischen verschiedenen Besatzungen gibt es Rivalitäten. Orcagna hat dich belogen. Aber das solltest du nicht persönlich nehmen.« Er fasste das Messer wieder fester. »Würdest du jetzt wohl so freundlich sein und das Gewehr aus der Hand legen, Cahuella?«

»Tun Sie, was er sagt«, flüsterte ich. Ich stand immer noch hinter ihm. »Auch wenn Sie noch so scharfe Augen haben, Gitta gibt ihm volle Deckung bis auf einen winzig kleinen Bereich, und ich glaube nicht, dass Sie sich im Moment auf ihre ruhige Hand verlassen sollten.«

»Hat man dir nicht beigebracht, dass Flüstern unhöflich ist?«, fragte der Killer.

»Los!«, zischte ich. »Noch kann ich sie retten.«

Cahuella ließ das Gewehr fallen.

»Gut!« Ich flüsterte immer noch. »Jetzt hören sie genau zu. Ich kann ihn von hier aus treffen, ohne Gitta zu verletzen. Aber Sie stehen mir im Weg.«

»Du sollst mit mir reden, Scheißkerl.« Der Mann drückte Gitta die Klinge so fest gegen die Kehle, dass eine Vertiefung entstand. Noch floss kein Blut, aber ein kleiner Ruck genügte, und die Halsschlagader wäre durchtrennt.

»Ich muss durch Sie hindurch schießen«, sagte ich zu Cahuella. »Es ist eine Strahlenwaffe, der Schusskanal verläuft also völlig gerade. Ich werde aus einem Winkel schießen, bei dem ich keine lebenswichtigen Organe verletze. Also halten Sie sich bereit.«

Der Mann drückte fester auf das Messer, es durchschnitt die Haut, Blut quoll hervor. Die Zeit schien stillzustehen, ich wartete darauf, dass er anfing, ihr das Messer durch die Kehle zu ziehen.

Cahuella setzte zum Sprechen an.

Ich feuerte.

Der bleistiftdünne Teilchenstrahl fraß sich durch seinen Körper. Er war etwa zwei Zentimeter links von der Wirbelsäule im oberen Lendenbereich, etwa in Höhe des zwanzigsten oder einundzwanzigsten Wirbels eingedrungen. Ich konnte nur hoffen, dass ich die Subklavia nicht getroffen hatte und dass die Energie zwischen dem linken Lungenflügel und dem Magen abfließen konnte. Aber es war kein mikrochirurgischer Eingriff. Cahuella konnte von Glück reden, wenn ihn der Schuss nicht tötete. Ich wusste allerdings auch, dass er das jederzeit in Kauf nähme, wenn dafür Gitta gerettet würde. Er würde mir sogar befehlen, ihn zu töten. Ich achtete ohnehin kaum auf ihn, denn Gittas Position ließ mir nur eine sehr geringe Auswahl an Schussrichtungen. Es ging einfach darum, sie zu retten, was mit ihrem Mann passierte, war egal.

Der Teilchenstrahl war keine Zehntelsekunde aktiv, aber die Ionenspur und das Nachbild auf meiner Netzhaut hielten sich sehr viel länger. Cahuella sank vor mir zusammen wie ein leerer Getreidesack.

Auch Gitta sank zu Boden. Sie hatte ein kleines Loch mitten in der Stirn. Ihre Augen standen offen, als wäre sie bei Bewusstsein. Aus der Halswunde sickerte weiter das Blut.

Ich hatte mein Ziel verfehlt.


Es ging kein Weg daran vorbei; die eine, bittere Erkenntnis war nicht zu entschärfen oder zu versüßen. Ich hatte sie retten wollen, aber die Absicht zählte nicht. Was zählte, war der rote Fleck über ihren Augen, wo ich sie getroffen hatte und nicht den Mann, der ihr das Messer an die Kehle hielt.

Ihm hatte der Strahl kein Haar gekrümmt.

Ich hatte versagt.

Ich war gescheitert. Genau in dem Moment, in dem es darauf ankam; dieses eine Mal in meinem Leben, als ich wirklich geglaubt hatte, ich könnte siegen — war ich gescheitert. Ich hatte mich selbst und Cahuella verraten, hatte sein bedingungsloses Vertrauen enttäuscht, diese schreckliche Last, die er mir auferlegt hatte, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Seine Verwundung war schwer, aber bei entsprechender Behandlung konnte er wahrscheinlich überleben.

Gitta dagegen war nicht zu retten. Ich fragte mich, wer von den beiden wohl der Glücklichere war.


»Was ist?«, fragte Zebra. »Tanner, was ist los? Bitte sieh mich nicht so an. Sonst glaube ich noch, du wärst wirklich dazu fähig.«

»Kannst du mir einen triftigen Grund nennen, es nicht zu tun?«

»Nur die Wahrheit.«

Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. »Tut mir Leid, aber die hast du mir eben gesagt, und sie reicht bei weitem nicht aus.«

»Es war nicht die ganze Wahrheit«, sagte sie ruhig. Es klang fast erleichtert. »Ich arbeite nicht mehr für ihn, Tanner. Er glaubt es zwar, aber ich habe ihn verraten.«

»Reivich?«

Sie senkte den Kopf, sodass ich ihre Augen nicht sehen konnte, und nickte. »Nachdem du mich bestohlen hattest, wusste ich, du warst der Mann, vor dem Reivich auf der Flucht war. Du warst der Killer.«

»Allzu schwer war das wohl nicht zu erraten?«

»Nein, aber es war wichtig, Gewissheit zu haben. Reivich wollte, dass der Mann ausfindig gemacht und aus dem Verkehr gezogen wurde. Um genau zu sein, er verlangte seinen Tod.«

Ich nickte. »Das leuchtet ein.«

»Sobald ich eindeutige Beweise hatte, dass du der Killer bist, sollte ich dich beseitigen. Auf diese Weise wäre die Sache für Reivich ein für alle Mal aus der Welt geschafft — er brauchte nicht zu befürchten, er hätte den Falschen erwischt, und der richtige Killer liefe weiterhin frei herum.«

»Du hättest mehr als einmal die Möglichkeit gehabt, mich zu töten.« Ich lockerte den Griff um die Waffe ein wenig. »Warum hast du es nicht getan?«

»Ich war nahe daran.« Zebra sprach jetzt schneller, sie hatte ihre Stimme gedämpft, obwohl weit und breit niemand in Hörweite war. »Ich hätte es tun können, als du in meiner Wohnung warst, aber da zögerte ich. Das wirst du mir wohl nicht verdenken. Ich ließ auch zu, dass du das Gewehr und die Gondel mitnahmst. Ich wusste ja, dass ich beides jederzeit aufspüren konnte.«

»Das hätte mir klar sein müssen. Damals schien mir alles so einfach zu sein.«

»Du kannst mir schon so viel Verstand zutrauen, dass ich so etwas nicht dem Zufall überlasse. Und falls das nicht klappte, hatte ich noch eine Möglichkeit, dich wiederzufinden. Das Implantat für das Große Spiel.« Sie hielt inne. »Doch dann bist du mit der Gondel abgestürzt und hast dir das Implantat entfernen lassen. Damit blieb nur noch das Gewehr, und das gab kein klares Signal mehr. Vielleicht wurde es bei dem Unfall beschädigt.«

»Dann habe ich dich vom Terminal aus angerufen, nachdem ich bei Dominika gewesen war.«

»Und du hast mir gesagt, wohin du gehen wolltest. Ich wandte mich an Pransky und stellte ihn als Beschatter an. Er ist gut, nicht wahr? An seinen Manieren könnte er zwar noch etwas arbeiten, aber solche Leute bezahlt man nicht für Charme und Diplomatie.« Zebra holte tief Luft und wischte sich das Regenwasser aus den Augenbrauen. Unter der Rußschicht wurde ein Streifen heller Haut sichtbar. »An dich reicht er allerdings nicht heran. Ich habe gesehen, wie du mit den Jägern umgesprungen bist — drei hast du angeschossen, die vierte, eine Frau, hast du entführt. Ich hatte dich die ganze Zeit über im Visier. Ich hätte dir aus einem Kilometer Entfernung das Gehirn aus dem Schädel pusten können, und du hättest nicht einmal ein Jucken gespürt. Aber ich brachte es nicht über mich. Ich konnte dich nicht so mir nichts, dir nichts abknallen. Lieber verriet ich Reivich.«

»Ich habe gespürt, dass jemand mich beobachtete. Aber ich hätte nie gedacht, dass du es warst.«

»Und wenn schon, hättest du erraten, dass ich nur einen Lidschlag davon entfernt war, dich zu töten?«

»Ein Heckenschützengewehr, das auf Lidschlag reagiert? Was kommt denn ein so nettes kleines Mädchen wie du zu einem so hässlichen Ding?«

»Was jetzt, Tanner?«

Ich zog die leere Hand aus der Tasche wie ein Taschenspieler, dem sein Trick soeben gründlich missglückt war.

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Aber hier draußen ist es ziemlich nass, und ich habe Durst.«

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