»Er kommt zu sich«, sagte eine Stimme und holte meine trägen Gedanken ins Bewusstsein zurück.
Jeder Soldat lernte — zumindest auf Sky’s Edge —, dass einen nicht jeder, der auf einen schoss, auch zwangsläufig töten wollte. Jedenfalls nicht immer sofort. Dafür gab es verschiedene Gründe, und nicht alle hatten mit dem normalen Ablauf einer Geiselnahme zu tun. So konnte man die Erinnerungen gefangener Soldaten abfischen, ohne sie grausam zu foltern — man brauchte nur das richtige Gerät für einen Neuralscan, und das lieferten einem die Ultras, wenn man dafür bezahlte, und man brauchte etwas, das sich zu erfahren lohnte. Mit anderen Worten, Informationen — jenes Wissen über eine Operation, das jeder Soldat haben musste, wenn er zu irgendetwas nütze sein sollte.
Mir war das freilich nie passiert. Ich war oft genug beschossen und auch getroffen worden, aber nie hatte es jemand darauf angelegt, dass ich wenigstens die relativ kurze Zeitspanne überlebte, die man benötigt hätte, um meine Erinnerungen auszubeuten. Ich war nie in die Hände des Feindes gefallen und hatte deshalb auch nie das zweifelhafte Vergnügen gehabt, mich beim Aufwachen in anderen als sicheren Händen wiederzufinden.
Jetzt machte ich endlich die Erfahrung, wie man sich dabei fühlte.
»Mister Mirabel? Sind Sie wach?« Jemand wischte mir mit einem weichen, kalten Lappen über das Gesicht. Ich schlug die Augen auf und blinzelte. Nach längerer Bewusstlosigkeit empfand ich das Licht als schmerzhaft grell.
»Wo bin ich?«
»An einem sicheren Ort.«
Ich sah mich triefäugig um. Ich saß auf einem Stuhl am oberen Ende eines langgestreckten, abschüssigen Raums. Zu beiden Seiten führten gerippte Metallwände schräg nach unten, als führe ich auf einer Rolltreppe durch einen leicht schiefen Tunnel. In die Wände waren ovale Fenster eingelassen, aber dahinter sah ich eigentlich nur Dunkelheit und ein Gewirr von langen Lichterketten. Ich befand mich hoch über der Stadt, also mit ziemlicher Sicherheit irgendwo im Baldachin. Der Fußboden fiel in mehreren horizontalen Stufen zum unteren Ende des Raumes hin ab, das schätzungsweise fünfzehn Meter entfernt und zwei bis drei Meter tiefer lag. Diese Stufen schienen nachträglich eingezogen worden zu sein, so als wäre das Gefälle nicht von vornherein geplant gewesen.
Natürlich war ich nicht allein.
Der Mann mit dem eckigen Kinn und dem Monokel stand neben mir. Mit einer Hand strich er sich über den Unterkiefer, wie um sich dessen kantige Grobheit immer wieder in Erinnerung zu rufen. In der anderen hielt er den nassen Waschlappen, mit dem er mich so sanft ins Bewusstsein zurückgeholt hatte.
»Allen Respekt«, sagte der Mann. »Ich hatte den Betäubungsstrahl falsch eingestellt. So mancher hätte diese Dosis nicht überlebt, und ich hatte auch damit gerechnet, dass Sie noch ein paar Stunden weiterträumen würden.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Aber ich glaube, mit Ihnen ist so weit alles klar. Sie sind ein ziemlich harter Bursche. Ich möchte mich in aller Form entschuldigen — ich versichere Ihnen, es wird nicht wieder vorkommen.«
»Das wird auch gut sein«, sagte die Frau, die soeben in mein Blickfeld getreten war. Ich erkannte sie natürlich wieder — ebenso wie ihren Begleiter, der zu meiner Rechten in Sicht kam und sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckte. »Du wirst in letzter Zeit sträflich leichtsinnig, Waverly. Der Mann muss gedacht haben, du wolltest ihn töten.«
»Wollten Sie das denn nicht?«, fragte ich. Es klang lange nicht so verwaschen, wie ich gedacht hatte.
Waverly schüttelte ernst den Kopf. »Keineswegs. Ich habe mir sogar alle Mühe gegeben, Ihnen das Leben zu retten, Mister Mirabel.«
»Dafür haben Sie aber eine ziemlich sonderbare Methode.«
»Ich musste schnell handeln. Sie standen kurz davor, von einer Horde von Schweinen überfallen zu werden. Kennen Sie die Schweine, Mister Mirabel? Nein? Seien Sie froh. Es handelt sich um eine der weniger appetitlichen Einwanderergruppen, mit denen wir uns seit dem Zusammenbruch des Glitzerbandes herumschlagen müssen. Sie hatten einen Stolperdraht über die Fahrbahn gelegt, der mit einer Armbrust verbunden war. Normalerweise lauern sie den Passanten erst später am Abend auf, aber heute waren sie wohl besonders hungrig.«
»Womit haben Sie auf mich geschossen?«
»Wie gesagt, mit einem Betäubungsstrahl. Eigentlich eine recht humane Waffe. Der Laserstrahl ist nur der Vorreiter — er legt eine ionisierte Bahn durch die Luft, über die dann ein lähmender Stromstoß geschickt wird.«
»Der allerdings nicht schmerzlos ist.«
»Ich weiß, ich weiß.« Er hob abwehrend die Hände. »Ich bin selbst ein paar Mal getroffen worden. Ich hatte die Dosis leider für ein Schwein bemessen und nicht für einen Menschen. Aber vielleicht war das ganz gut so. Ich fürchte, Sie hätten hoch Widerstand geleistet, wenn ich Sie nicht so gründlich außer Gefecht gesetzt hätte.«
»Warum haben Sie mich überhaupt gerettet?«
Er sah mich ratlos an. »Ich fand, das gehört sich einfach so.«
Jetzt ergriff die Frau das Wort. »Ich hatte Sie zunächst falsch eingeschätzt, Mister Mirabel. Sie hatten mich nervös gemacht, und ich konnte Ihnen nicht völlig vertrauen.«
»Ich wollte doch nur einen Rat von Ihnen.«
»Ich weiß — die Schuld liegt ganz bei mir. Aber wir sind zurzeit alle schrecklich nervös. Als wir gegangen waren, tat es mir Leid, und ich bat Waverly, ein Auge auf Sie zu haben. Und das hat er getan.«
»Ein Auge, Sybilline«, sagte Waverly.
»Und wo bin ich hier?«, fragte ich.
»Zeig es ihm, Waverly. Er möchte sich jetzt sicher gern die Beine vertreten.«
Ich hatte halb und halb damit gerechnet, an den Stuhl gefesselt zu sein, aber ich konnte mich frei bewegen. Waverly reichte mir seinen Arm, und ich probierte aus, ob meine Beine mich tragen wollten. Der Muskel, den der Strahl getroffen hatte, fühlte sich immer noch an wie Pudding, aber ich konnte einigermaßen stehen. Ich ging an der Frau vorbei die horizontalen Stufen hinunter, bis ich den tiefsten Teil des Raums erreichte. Dort führte eine Doppeltür in die Nacht hinaus. Waverly half mir auf einen abschüssigen Balkon mit einem Metallgeländer hinaus. Warme Luft schlug mir entgegen.
Ich sah mich um. Der Balkon lief um das ganze Gebäude herum, in dem ich aufgewacht war, und zog sich an beiden Enden daran nach oben. Doch das Gebäude war kein richtiges Gebäude.
Es war die Gondel eines Luftschiffs, das an einer Seite nach unten hing. Über uns steckte die Gashülle, eine schwarze Masse, zwischen den Ästen des Baldachins fest wie ein Ballon. Als die Seuche zuschlug, war das Schiff wohl nicht mehr rechtzeitig weggekommen und von den Ästen eingeschlossen worden. Die Hülle war so dicht, dass sie selbst sieben Jahre nach der Seuche noch voll aufgeblasen war. Aber die Gebäudeäste drückten und schoben von allen Seiten, und ich fragte mich unwillkürlich, wie stark das Material tatsächlich war — und was wohl aus der Gondel würde, wenn es ein Loch bekäme.
»Das muss ja wirklich schnell gegangen sein«, sagte ich. Im Geiste sah ich förmlich vor mir, wie sich das Luftschiff aus dem Einflussbereich des sich verformenden Gebäudes zu bringen suchte.
»So schnell nun auch wieder nicht«, sagte Waverly, als hätte ich eine unglaublich dumme Bemerkung gemacht. »Das war ein Luftschiff für Rundflüge — die gab es früher zu Dutzenden. Als das Unglück passierte, ging das Interesse an Rundflügen sehr zurück. Das Luftschiff blieb hier vertäut, und das Gebäude wuchs darum herum, aber es dauerte doch einen ganzen Tag, bis die Äste es völlig umfangen hatten.«
»Und jetzt wohnen Sie hier?«
»Eigentlich nicht. Man ist hier nämlich nicht völlig sicher. Deshalb brauchen wir uns auch nicht allzu viele Sorgen zu machen, ob sich jemand allzu eingehend für uns interessiert.«
Hinter ihm wurde abermals die Tür geöffnet, und die Frau trat heraus. »Zugegeben, ein sehr ungewöhnlicher Ort, um Sie aufzuwecken.« Sie stellte sich neben Waverly an das Geländer und beugte sich unerschrocken über den Rand. Der Boden war leicht einen Kilometer entfernt. »Aber er hat seine Vorzüge, unter anderem ist er diskret. Also, Mister Mirabel. Ich nehme an, Sie hätten jetzt gegen eine gute Mahlzeit in angenehmer Gesellschaft nichts einzuwenden — habe ich Recht?«
Ich nickte, in der Hoffnung, diese Leute könnten mir, wenn ich bei ihnen bliebe, vielleicht behilflich sein, Zugang zum eigentlichen Baldachin zu bekommen. So weit war meine Einwilligung mit Vernunft zu rechtfertigen. Davon abgesehen war ich einfach erleichtert und dankbar, und außerdem war ich tatsächlich so müde und so hungrig, wie sich die Frau das wohl vorstellte.
»Ich möchte mich nicht aufdrängen.«
»Unsinn. Ich habe Ihnen im Mulch sehr Unrecht getan, und Waverly hat mit seinem tollpatschigen Betäubungsschuss alles nur noch schlimmer gemacht — nicht wahr, Waverly? Gut, reden wir nicht mehr davon. Aber Sie müssen uns erlauben, Sie zum Essen einzuladen und Ihnen eine Schlafgelegenheit zu besorgen.« Die Frau zog ein schwarzes Ding aus ihrer Tauche, klappte es auf und zog eine Antenne heraus, dann sprach sie hinein: »Liebling? Wir sind jetzt so weit. Wir treffen uns am oberen Ende der Gondel.«
Sie klappte das Telefon wieder zu und steckte es in die Tasche zurück.
Wir gingen außen um die Gondel herum und hielten uns am Geländer fest, um nicht abzurutschen. Am höchsten Punkt war es aufgeschnitten, und zwischen mir und dem Boden war nichts als Luft. Verwirrt, wie ich war, hätten Waverly und Sybilline — falls sie so hieß — mich ohne weiteres hinunterstoßen können, wenn sie gewollt hätten. Allerdings hätten sie dazu auch reichlich Gelegenheit gehabt, bevor ich aufwachte.
»Da kommt er«, sagte Waverly und deutete unter der Gashülle hindurch. Dort war eine Seilbahngondel erschienen. Für mich sah sie genauso aus wie die, in der ich Sybilline zum ersten Mal gesehen hatte, aber noch wollte ich mich nicht zum Fachmann aufspielen. Die Gondelarme griffen in Kabel, die um die Gashülle gewickelt waren, und deformierten das Luftschiff damit ganz kräftig, stießen aber immerhin kein Loch hinein. Die Kabine kam näher, die Tür ging auf, eine Rampe wurde ausgefahren und setzte auf dem Boden der Luftschiffgondel auf.
»Nach Ihnen, Tanner«, sagte Sybilline.
Ich überquerte die Brücke. Sie war nicht mehr als einen Meter lang, aber auf beiden Seiten offen, und es kostete mich eine Menge Überwindung, den Schritt zu wagen. Sybilline und Waverly folgten mir ohne Zögern. Wenn man im Baldachin lebte, musste man wohl sämtliche Höhenängste ablegen.
Der hintere Teil der Gondel bot vier Sitzplätze und war zum Fahrer hin durch eine Trennwand mit einem Fenster verschlossen. Bevor es zugemacht wurde, erkannte ich im Fahrer den Mann mit den ausgeprägten Backenknochen und den grauen Augen wieder, der zuvor mit Sybilline im Mulch gewesen war.
»Wohin fahren wir?«, fragte ich.
»Zum Essen! Was sonst?« Sybilline legte mir zutraulich die Hand auf den Arm. »Ins beste Restaurant der ganzen Stadt, Tanner. Jedenfalls in das Restaurant mit der besten Aussicht.«
Ein nächtlicher Flug über Chasm City. Wenn nur die Lichter die Anlage der Stadt nachzeichneten, konnte man sich fast einreden, die Seuche hätte gar nicht zugeschlagen. Die Dunkelheit verhüllte die Formen der Gebäude, nur wo erleuchtete Fenster wie Girlanden oder Sternenbäche am Himmel hingen oder für mich unverständliche, krakelige Neonreklamen in den kryptischen Ideogrammen des Canasischen erstrahlten, waren die oberen Äste zu erkennen. Hin und wieder passierten wir ein älteres Gebäude, dem die Seuche nichts hatte anhaben können, und das nun in steifer Ebenmäßigkeit zwischen den Missbildungen stand. Oft genug waren diese Gebäude freilich anderweitig beschädigt. Auch wenn sie selbst nicht mutiert waren, hatten ihnen Nachbarn ihre Auswüchse durch die Mauern gebohrt oder ihre Fundamente untergraben. Manchmal wurden sie von ihnen wie mit Würgeranken eingeschnürt. Außerdem waren mit der Seuche Brände, Explosionen und Krawalle einhergegangen und hatten kaum etwas ganz so gelassen, wie es vorher gewesen war.
»Sehen Sie das dort?«, fragte Sybilline und deutete auf eine Pyramide, die halbwegs intakt aussah. Es war ein sehr niedriges Gebäude, das fast im Mulch verschwand, aber von oben mit Suchscheinwerfern angestrahlt wurde. »Das ist das Denkmal für die Achtzig. Ich nehme an, Sie kennen die Geschichte?«
»Nur in groben Zügen.«
»Es ist sehr lange her. Ein Mann versuchte, Menschen zu scannen und in Computer zu überspielen, aber die Technik war noch nicht ausgereift. Die Versuchspersonen überlebten das Scannen nicht, was an sich schon schlimm genug gewesen wäre, doch bald funktionierten auch die Simulationen nicht mehr. Es waren achtzig Personen einschließlich des Wissenschaftlers selbst. Als alles vorüber war und die meisten Simulationen zusammengebrochen waren, ließen die Familien der Opfer dieses Monument errichten. Es hat allerdings auch schon bessere Tage gesehen.«
»Wie die ganze Stadt«, ergänzte Waverly.
Wir flogen weiter. Mein Magen machte die Erfahrung, dass Seilbahnfahrten gewöhnungsbedürftig waren. In Zonen mit vielen Kabeln glitt die Gondel fast so ruhig dahin wie ein Volantor. Doch sobald die Kabel seltener wurden — etwa in Teilen des Baldachins, die keine größeren Äste hatten — bewegte sie sich weniger wie eine Krähe als wie ein Gibbon: in weiten, nicht sehr magenfreundlichen Schwüngen, unterbrochen von ruckartigen Aufwärtsschüben. Eigentlich hätte mir das ganz natürlich vorkommen müssen, schließlich hatte die Evolution das menschliche Gehirn auf ein Leben in den Bäumen abgestimmt.
Aber das war eben schon ein paar Millionen Jahre vor meiner Zeit gewesen.
Endlich strebte die Gondel in schwindelerregenden Bögen in die Tiefe. Quirrenbach hatte mir erzählt, die Einheimischen bezeichneten die vielen miteinander verbundenen Kuppeln der Stadt als Moskitonetz. Hier am Rand des Abgrunds reichte das Netz bis zum Boden hinab. In dieser Kernregion war die vertikale Schichtung der Stadt nicht ganz so ausgeprägt. Baldachin und Mulch mischten sich, an manchen Stellen streifte der Mulch die Unterseite der Kuppel, anderswo schob sich der Baldachin bis unter die Erde, und die Reichen konnten unbehelligt durch festungsähnlich ausgebaute Einkaufsmärkte spazieren.
In einer solchen Enklave landete Sybillines Fahrer. Er fuhr das Fahrgestell der Gondel aus und steuerte sie auf ein Landedeck, wo schon viele andere Gondeln parkten. Der Rand der Kuppel, eine abschüssige Wand mit bräunlichen Flecken, neigte sich über uns wie eine brechende Welle. Wo sie noch halbwegs durchsichtig war, konnte man in den gewaltigen Rachen des Abgrunds schauen; jenseits davon war die Stadt nur ein ferner Wald aus funkelnden Lichtern.
»Ich habe angerufen und uns einen Tisch im Stängel reservieren lassen«, sagte der Mann mit den eisengrauen Augen und stieg aus der Fahrerkabine. »Angeblich soll Voronoff heute hier speisen, es herrscht also ziemlich viel Betrieb.«
»Sehr schön«, sagte Sybilline. »Voronoff verleiht dem Abend immer einen gewissen Glanz.« Sie öffnete wie nebenbei ein Fach in der Gondelwand, entnahm ihm eine schwarze Tasche und öffnete sie. Sie enthielt etliche Ampullen mit Traumfeuer und eine der reich verzierten Hochzeitswaffen, wie ich sie auch auf der Strelnikov gesehen hatte.
Sybilline zog ihren Kragen beiseite, setzte sich die Waffe an den Hals und injizierte sich mit zusammengebissenen Zähnen einen Kubikzentimeter der dunkelroten Flüssigkeit in die Blutbahn. Dann reichte sie die Waffe ihrem Partner, der setzte sich ebenfalls einen Schuss und gab das verschnörkelte Gerät an Sybilline zurück.
»Tanner?«, sagte sie. »Möchten Sie auch eine Ladung?«
»Ich verzichte«, sagte ich.
»Na schön.« Sie legte die Tasche in das Fach zurück, als wäre es das Alltäglichste der Welt.
Wir stiegen aus und gingen über das Landedeck zu einer abfallenden Rampe, die in eine hell erleuchtete Markthalle führte. Hier ging es lange nicht so schäbig zu wie in den Teilen der Stadt, die ich bisher gesehen hatte: die Halle war sauber, kühl und dicht bevölkert mit sichtlich wohlhabenden Menschen, Palankinen, Servomaten und biotechnisch veränderten Tieren. Aus den Wänden, die Szenen aus der Zeit vor der Seuche zeigten, drang Musik. Ein auffallend dünner Roboter kam, alles überragend, auf messerscharfen Beinen die Durchgangsstraße herunter. Er bestand ausschließlich aus scharfen, glänzenden Metallklingen und sah aus, als wäre er aus einer Kollektion von Zaubererschwertern gefertigt.
»Das ist einer von Sequards Automaten«, sagte der Mann mit den eisengrauen Augen. »Der Mann arbeitete früher im Glitzerband und war einer der Anführer der Gluonistenbewegung. Heute stellt er diese Gebilde her. Sie sind sehr gefährlich, also nehmt euch in Acht.«
Wir umgingen die Maschine in weitem Bogen, um nicht von den träge mitschwingenden Messerarmen getroffen zu werden. »Ich glaube, ich habe Ihren Namen nicht verstanden«, sagte ich zu dem Mann.
Er sah mich so erstaunt an, als hätte ich ihn nach seiner Schuhgröße gefragt.
»Fischetti.«
Bald mussten wir einem weiteren Automaten ausweichen. Er war dem ersten sehr ähnlich, nur hatten seine Gliedmaßen an mehreren Stellen unübersehbare rote Flecken. Danach führte die Straße über eine Reihe von Zierteichen mit fetten goldenen und silbernen Koi-Karpfen, die dicht unter der Oberfläche schwammen. Ich versuchte mich zu orientieren. Wir waren unweit des Abgrunds gelandet und die ganze Zeit darauf zu gegangen, aber er war viel weiter entfernt, als es zu Anfang ausgesehen hatte.
Endlich mündete die Straße in einen riesigen Kuppelsaal, in dem an die hundert Tische Platz fanden. Das Lokal war nahezu voll. Um einen der geschmackvoll gedeckten Tische standen sogar mehrere Palankine, wie die Insassen allerdings essen wollten, war mir ein Rätsel. Wir stiegen über mehrere Stufen zu einer Glasfläche im Zentrum des Saales hinab, dann geleitete man uns an einen freien Tisch am anderen Ende, gleich neben einem der großen Fenster in der mitternachtsblauen Kuppel. Von deren Scheitelpunkt hing ein überreich verzierter Kronleuchter herab.
»Wie gesagt, die beste Aussicht in Chasm City«, bemerkte Sybilline.
Jetzt sah ich auch, wo wir waren. Das Restaurant befand sich am Ende eines langen Stängels, der fünfzig oder sechzig Meter unterhalb der Oberkante aus einer Seitenwand des Abgrunds ragte. Er musste etwa einen Kilometer lang sein und wirkte so dünn und spröde wie ein Stiel aus mundgeblasenem Glas. Am unteren Ende wurde er von einer kunstvoll durchbrochenen Kristallstrebe gestützt, die den Rest des Gebildes noch zerbrechlicher erscheinen ließ.
Sybilline reichte mir eine Speisekarte. »Suchen Sie sich aus, was immer Sie wollen, Tanner — oder lassen Sie mich wählen, wenn Sie mit unserer Küche nicht vertraut sind. Ohne eine ordentliche Mahlzeit kommen Sie mir hier nicht weg.«
Als ich die Preise sah, fragte ich mich, ob meine Augen ohne mein Zutun jede Zahl um ein oder zwei Nullen erweiterten. »Das kann ich mir nicht leisten.«
»Das verlangt auch niemand. Das Essen ist als Wiedergutmachung gedacht.«
Ich stellte mir eine Speisenfolge zusammen und ließ sie von Sybilline bestätigen, dann lehnte ich mich zurück und wartete auf das Essen. Natürlich fühlte ich mich fehl am Platz — andererseits hatte ich Hunger, und wenn ich bei diesen Leuten blieb, würde ich sicher einiges mehr über das Leben im Baldachin erfahren. Zum Glück erwartete niemand, dass ich mich an der Unterhaltung beteiligte. Sybilline und Fischetti redeten über gemeinsame Bekannte, gelegentlich entdeckten sie auch jemanden irgendwo im Raum und machten sich diskret darauf aufmerksam. Hin und wieder warf auch Waverly eine Bemerkung ein, aber mich fragte man nur selten und dann nur aus Höflichkeit um meine Meinung.
Ich sah mich um und taxierte das Publikum. Lauter schöne Menschen, sogar die mit den künstlichen Veränderungen an Gesicht und Körper sahen aus wie charismatische Schauspieler in Tierkostümen. Manche hatten sich mit einer anderen Hautfarbe begnügt, andere hatten sich in ihrer ganzen Physiologie einem unverkennbar tierhaften Idealbild angenähert. Ein Mann mit kunstvoll gestreiften, sternförmig auseinander strebenden Stirnstacheln saß neben einer Frau mit künstlich vergrößerten Augen, die immer wieder von schillernden Lidern mit Schmetterlingsmuster verdeckt wurden. Ein sonst ganz normal aussehender Mann hatte eine gespaltene schwarze Zunge, die er bei jeder Gelegenheit aus dem Mund streckte, wie um die Luft zu prüfen. Eine schlanke, fast nackte Frau war über und über mit schwarzen und weißen Streifen bedeckt. Sie sah mich kurz an, und hätte ich nicht weggesehen, dann hätte sie meinen Blick wohl noch länger festgehalten.
Ich wandte mich stattdessen den dampfenden Tiefen des Abgrunds zu. Meine Höhenangst legte sich allmählich. Obwohl es Nacht war, lag die ganze Umgebung im gespenstischen Widerschein der Stadt. Wir waren einen Kilometer von einer Wand des Abgrunds entfernt, aber die Spalte war sicher fünfzehn bis zwanzig Kilometer breit, und die andere Seite schien kaum näher zu sein als vom Landedeck aus. Die Wände fielen fast überall steil ab, nur da und dort waren Felsstücke herausgebrochen und hatten natürliche Simse entstehen lassen. Manchmal hatte man dort Gebäude errichtet und sie über Fahrstuhlschächte oder geschlossene Gänge mit den höheren Ebenen verbunden. Der Boden des Abgrunds war nicht zu sehen; die Wände ragten aus einer unbewegten weißen Wolkenschicht, die alles darunter Liegende verbarg. In diesen Nebel führten Rohre hinein. Ich wusste, dass darunter die Atmosphäreaufbereitungsanlage lag, jene unsichtbare Maschinerie, die Chasm City mit Energie, Luft und Wasser versorgte und so robust war, dass sie auch nach der Seuche noch funktionierte.
Leuchtende Gebilde schwebten durch die Tiefen, kleine, grellbunte Dreiecke. »Gleitschirme«, erklärte Sybilline, die meinem Blick gefolgt war. »Ein alter Sport. Ich bin auch schon damit geflogen, aber dicht an den Wänden sind die Thermiken wahnsinnig stark. Und man braucht so viele Atemgeräte…« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn man über der Nebelschicht fliegt, gerät man in einen Geschwindigkeitsrausch, aber sobald man eintaucht, verliert man jede Orientierung. Wenn man Glück hat, wird man nach oben getragen und taucht wieder auf, bevor man gegen die Felsen kracht. Wenn nicht, verwechselt man Oben und Unten, und der Druck wird immer stärker, bis man bei lebendigem Leib gekocht wird. Oder man leistet einen interessanten Beitrag zur Farbgestaltung der Wände.«
»Radar funktioniert im Nebel wohl nicht?«
»Das schon — aber damit würde es doch keinen Spaß machen!«
Dann kam das Essen. Ich nahm mich in Acht, um mich nicht zu blamieren, aber es schmeckte gut. Sybilline sagte, die besten Lebensmittel würden nach wie vor im Orbit erzeugt und mit Raumkolossen herunter gebracht. Das erklärte die vielen Nullen bei fast allen Preisen.
»Seht mal«, sagte Waverly, als wir beim letzten Gang angekommen waren. »Ist das nicht Voronoff?«
Er zeigte diskret auf eine Gestalt, die eben am anderen Ende des Saales von ihrem Tisch aufgestanden war.
»O ja«, sagte Fischetti zufrieden lächelnd. »Ich wusste doch, dass er irgendwo sein musste.«
Ich sah mir den Mann an, um den es ging. Wahrscheinlich war er eine der unscheinbarsten Personen im ganzen Saal, klein und adrett, mit hübsch gelocktem schwarzem Haar und den sympathischen aber nichtssagenden Zügen eines Pantomimen.
»Wer ist das?«, fragte ich. »Ich habe den Namen schon einmal gehört, aber wo das war, weiß ich nicht mehr.«
»Voronoff ist eine prominente Persönlichkeit«, sagte Sybilline. Wieder fasste sie mich so vertraulich am Arm, als gäbe sie ein Geheimnis preis. »Für manche von uns ist er ein Held. Er ist einer der ältesten Postmortalen, ein Mensch, der alles erlebt und jedes Spiel gespielt hat.«
»Er ist also ein Spieler?«
»Mehr als das«, sagte Waverly. »Er stürzt sich in jedes Abenteuer, das man sich nur vorstellen kann. Er macht die Regeln; wir anderen folgen ihm nur.«
»Wie ich höre, hat er heute Abend etwas Besonderes vor«, sagte Fischetti.
Sybilline klatschte in die Hände. »Einen Nebelsprung?«
»Vielleicht ist uns das Glück hold. Warum käme er sonst zum Essen hierher? Die Aussicht muss ihn doch inzwischen zu Tode langweilen.«
Voronoff verließ seinen Tisch. Der Mann und die Frau, die bei ihm gesessen hatten, begleiteten ihn. Jetzt waren aller Augen auf die Gruppe gerichtet, man spürte, dass etwas in der Luft lag. Sogar die Palankine hatten sich umgedreht.
Die drei verließen den Raum, und ich sah ihnen nach, aber alle anderen verharrten in atemloser Spannung. Nach wenigen Minuten bekam ich die Erklärung: Voronoff und die anderen waren vor dem Restaurant auf einen Balkon getreten, der die Kuppel wie ein Ring umschloss. Nun trugen sie Schutzanzüge und Atemmasken, die ihre Gesichter fast völlig verbargen.
»Soll das ein Gleitschirmflug werden?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete Sybilline. »Gleitschirme sind für Voronoff längst passé. Ein Nebelsprung ist viel, viel gefährlicher.«
Jetzt legten die drei selbst leuchtende Brustgeschirre an. Ich verrenkte mir den Hals, um besser sehen zu können. Jedes Geschirr hing an einem aufgerollten Seil, das mit dem anderen Ende an der Kuppelwand festgemacht war. Inzwischen hatte sich die Hälfte der Gäste auf unserer Seite des Restaurants versammelt, um das Geschehen zu beobachten.
»Sehen Sie das Seil?«, fragte Sybilline. »Jeder Springer muss seine Länge und seine Elastizität selbst berechnen. Dann muss er den richtigen Moment für den Sprung bestimmen. Dazu muss er die Thermiken im Abgrund sehr genau kennen. Sehen Sie, wie aufmerksam die drei die Gleitschirme in der Tiefe beobachten?«
In diesem Augenblick sprang die Frau. Sie hielt den richtigen Zeitpunkt offenbar für gekommen.
Durch den Glasboden sah ich sie, einen winzigen Leuchtfleck, auf die Nebelschicht zustürzen. Das dünne Seil, das sie hinter sich her zog, war kaum zu erkennen.
»Und was soll das alles?«, fragte ich.
»Es ist angeblich ziemlich aufregend«, antwortete Fischetti. »Aber vor allem geht es darum, so weit zu stürzen, dass man in den Nebel eintaucht und überhaupt nicht mehr zu sehen ist. Man will allerdings auch nicht zu tief fallen. Und selbst wenn man die Länge der Leine richtig berechnet hat, können einen immer noch die Thermiken zum Verhängnis werden.«
»Sie hat sich verschätzt«, sagte Sybilline. »Das dumme Ding. Sie wird immer näher an diesen Vorsprung herangetragen.«
Der leuchtende Punkt wurde gegen die Wand des Abgrunds geschmettert. Einen Augenblick lang herrschte benommenes Schweigen im Restaurant, als hätte das Unglück allen die Sprache verschlagen. Ich erwartete einen Aufschrei des Entsetzens und des Mitleids. Stattdessen hörte ich nur kurzen, höflichen Applaus und ein paar gedämpfte Worte des Bedauerns.
»Das hätte ich ihr gleich sagen können«, sagte Sybilline.
»Wer war sie?«, fragte Fischetti.
»Ich weiß nicht, eine Olivia Sowieso.« Sybilline griff nach der Speisekarte, um sich ein Dessert auszusuchen.
»Gib Acht, sonst verpasst du den nächsten. Ich denke, es ist Voronoff… Ja!« Fischetti schlug mit der Faust auf den Tisch, als sein Held elegant vom Balkon sprang und auf den Nebel zuschwebte. »Siehst du, wie kaltblütig er war? Das hat wirklich Klasse.«
Voronoff fiel in der Haltung eines guten Schwimmers und zog seine Leine so pfeilgerade hinter sich her, als stürzte er durch ein Vakuum. Auch ich sah jetzt, wie sehr alles von der Wahl des richtigen Zeitpunkts abhing: er hatte genau den Moment abgepasst, in dem sich die Thermiken so verhielten, wie er es brauchte, und nicht gegen ihn arbeiteten, sondern für ihn. Man hatte geradezu den Eindruck, sie drückten ihn von den Wänden weg, um ihm zu helfen. In der Mitte des Saales stand ein Bildschirm, auf dem Voronoffs Flug von der Seite her übertragen wurde. Offenbar hatte man eine fliegende Kamera mit in den Abgrund geschickt. Einige Gäste verfolgten den Sprung mit Operngläsern, ausziehbaren Monokeln und mondänen Lorgnetten.
»Hat das Ganze irgendeinen Sinn?«, fragte ich.
»Man sucht das Risiko«, antwortete Sybilline. »Die Erregung bei einem neuen, gefährlichen Wagnis. Wenn uns die Seuche etwas geschenkt hat, dann ist es dies: die Chance, uns selbst auf die Probe zu stellen; dem Tod ins Antlitz zu schauen. Es nützt nicht viel, biologisch unsterblich zu sein, wenn man mit zweihundert Stundenkilometern gegen eine Felswand geschmettert wird.«
»Aber warum tun die Menschen so etwas? Wird das Leben nicht noch kostbarer, wenn man potenziell unsterblich ist?«
»Sicher, aber das heißt nicht, dass wir nicht hin und wieder an den Tod gemahnt werden müssten. Was hat man davon, einen alten Feind zu schlagen, wenn man nie in Erinnerungen daran schwelgen darf, wie es vorher war? Der Sieg wird sinnlos, wenn man nicht mehr weiß, was man besiegt hat.«
»Aber man könnte dabei ums Leben kommen.«
Sie sah von ihrer Speisekarte auf. »Ein Grund mehr, auf das Timing zu achten.«
Voronoff war fast am Ziel angelangt. Ich konnte ihn kaum noch erkennen.
»Jetzt nimmt die Spannung zu«, sagte Fischetti. »Er wird allmählich langsamer. Seht ihr, wie exakt er den Zeitpunkt berechnet hat?«
Die Leine war fast bis zum Ende abgerollt und bremste Voronoffs Sturz nun langsam ab. Doch er enttäuschte die Erwartungen seiner Zuschauer nicht. Er verschwand drei oder vier Sekunden lang im Nebel, dann zog sich das Seil zusammen und holte ihn wieder nach oben.
»Wie im Bilderbuch«, sagte Sybilline.
Wieder wurde geklatscht, aber diesmal anders als zuvor mit wilder Begeisterung. Die Leute feierten Voronoffs Sprung, indem sie mit dem Besteck auf den Tisch klopften. »Wisst ihr was?«, sagte Waverly. »Nachdem er die Nebelsprünge gemeistert hat, werden sie ihn langweilen, und er wird sich in noch wahnwitzigere Gefahren stürzen. Denkt an meine Worte.«
»Da ist der letzte«, sagte Sybilline. Der dritte Springer hatte sich vom Balkon gestürzt. »Sein Timing sieht nicht schlecht aus — besser jedenfalls als bei der Frau. Aber er hätte wenigstens so viel Anstand haben können zu warten, bis Voronoff wieder oben ist.«
»Wie kommt er eigentlich herauf?«, fragte ich.
»Er wird hochgezogen. In seinem Geschirr ist eine Motorwinde eingebaut.«
Der letzte Springer schwebte in die Tiefe. Für mein unerfahrenes Auge sah der Sprung mindestens ebenso gut aus wie der von Voronoff — die Thermiken schienen den Mann nicht zu den Wänden hin zu tragen, und er hielt sich mit der federnden Eleganz eines Ballett-Tänzers. Die Menge hatte sich beruhigt und wartete gespannt.
»Ein Amateur ist er jedenfalls nicht«, sagte Fischetti.
»Er ahmt nur Voronoff nach«, sagte Sybilline. »Ich habe genau gesehen, wie dieser Luftwirbel die Gleitschirme erfasst hat.«
»Das kannst du ihm nicht vorwerfen. Es gibt keinen Bonus für Originalität.«
Der Springer, ein leuchtend grüner Punkt, stürzte weiter dem Nebel entgegen. »Moment mal«, sagte Waverly und zeigte auf die Seilrolle auf dem Balkon. »Müsste ihm jetzt nicht allmählich die Leine ausgehen?«
»Voronoff war hier am Ende«, nickte Sybilline.
»Der Idiot hat sie zu lang bemessen«, sagte Fischetti. Er trank einen Schluck Wein und spähte mit neuem Interesse in die Tiefe. »Jetzt ist auch er am Ende, aber das ist viel zu spät.«
Er hatte Recht. Als der grüne Punkt die Nebelschicht erreichte, war er kaum langsamer geworden. Der Bildschirm zeigte ihn ein letztes Mal von der Seite, dann tauchte er in die weiße Watte ein. Nur die straff gespannte Leine war noch zu sehen. Die Zeit verging — die drei bis vier Sekunden, die Voronoff gebraucht hatte, um wieder aufzutauchen, dann zehn… und schließlich zwanzig. Nach dreißig Sekunden machte sich leise Unruhe unter den Zuschauern breit. Sie hatten diese Szene offensichtlich schon öfter erlebt und ahnten, was nun kam.
Fast eine Minute verging, bevor der Mann wieder zum Vorschein kam.
Man hatte mir bereits erklärt, was mit Gleitschirmfliegern passierte, die zu tief stürzten, aber so schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt. Der Springer war sehr weit in den Nebel eingetaucht. Sein dünner Anzug hatte dem Druck, den Temperaturen dort unten nicht standhalten können. Der Mann war innerhalb von wenigen Sekunden bei lebendigem Leibe gekocht worden. Die Kamera verharrte auf seinem Leichnam, zeigte das grausige Bild liebevoll in allen Einzelheiten. Angewidert wandte ich den Blick ab. Ich hatte als Soldat so einiges an Horrorszenen erlebt, aber ich hatte dabei nie an einem Tisch gesessen und ein opulentes Mahl verdaut.
Sybilline zuckte die Achseln. »Er hätte eben ein kürzeres Seil nehmen sollen.«
Hinterher gingen wir quer durch den Stängel zurück zum Landedeck, wo immer noch Sybillines Gondel wartete.
»Und wo sollen wir Sie nun hinbringen, Tanner?«, fragte Sybilline.
Ich musste zugeben, dass ich mich in dieser Gesellschaft nicht gerade wohl fühlte. Die Sache hatte schlecht angefangen, und obwohl ich für den Ausflug zum Stängel dankbar war, hatten die Leute mit solcher Kälte auf den Tod der Nebelspringer reagiert, dass ich mich fragte, ob ich nicht besser den Schweinen hätte Gesellschaft leisten sollen, die sie erwähnt hatten.
Andererseits konnte ich eine solche Chance nicht einfach ausschlagen. »Ist es richtig, dass Sie irgendwann in den Baldachin zurück wollen?«
Sie sah mich erfreut an. »Wenn Sie uns begleiten möchten, ist das absolut kein Problem. Ich bestehe sogar darauf.«
»Aber Sie brauchen sich nicht verpflichtet zu fühlen. Sie waren ohnehin schon sehr großzügig. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht…«
»Nicht im Geringsten. Steigen Sie ein.«
Die Tür der Gondel öffnete sich. Fischetti stieg in die Fahrerkabine, wir anderen gingen nach hinten. Wir hoben ab; ich gewöhnte mich allmählich an die Gondelbewegung, auch wenn ich sie noch immer nicht wirklich angenehm fand. Der Boden blieb rasch unter uns zurück; wir erreichten den Baldachin mit seinen Maschen, die Gondel suchte sich ihren Weg entlang der großen Kabelstränge, und die Fahrt wurde ruhiger.
Doch dann kamen mir endgültig Zweifel, ob ich mein Glück nicht doch besser bei den Schweinen hätte versuchen sollen.
»Nun, Tanner — wie hat es Ihnen gefallen?«, fragte Sybilline.
»Wie Sie sagten, es war eine tolle Aussicht.«
»Gut. Sie brauchen die Energie. Genauer gesagt, Sie werden sie brauchen.« Sie griff flink in ein Fach hinter der Plüschpolsterung der Gondelwand und zog eine hässliche kleine Pistole heraus. »Nun, Sie sehen ja wohl selbst: dies ist eine Waffe, und sie ist auf Sie gerichtet.«
»Der Kandidat bekommt zehn von zehn Punkten für scharfe Beobachtung.« Ich sah mir die Waffe an. Sie war aus Jade gemacht und mit kleinen roten Dämonen verziert. Die Mündung starrte mich an wie ein kleines, schwarzes Auge. Sybilline hielt sie mit ruhiger Hand.
»Ich will damit sagen«, fuhr Sybilline fort, »sie sollten nicht auf dumme Gedanken kommen.«
»Wenn Sie mich töten wollten, hätten Sie dazu schon ein Dutzend Mal Gelegenheit gehabt.«
»Richtig. Der Gedankengang hat nur einen logischen Fehler. Wir wollen Sie tatsächlich töten. Aber nicht einfach irgendwie.«
Eigentlich hätte ich sofort Angst haben sollen, als sie die Waffe zückte, aber mein Verstand musste die Situation erst verarbeiten und entschied erst nach einigen Sekunden, dass sie wohl tatsächlich so schlimm war, wie sie mir erschien.
»Was haben Sie mit mir vor?«
Sybilline nickte Waverly zu. »Kannst du es hier machen?«
»Die Instrumente habe ich, aber im Luftschiff wäre es mir lieber.« Waverly nickte ebenfalls. »Du kannst ihn doch bis dahin in Schach halten?«
Ich fragte noch einmal, was sie mit mir vorhätten, aber plötzlich interessierte sich niemand mehr dafür, was ich zu sagen hatte. Ich saß ganz schön in der Klemme, so viel war sicher. Waverlys Behauptung, er hätte geschossen, um mich vor den Schweinen zu schützen, hatte mich nie so völlig überzeugt, aber wer war ich, dass ich ihm widersprochen hätte? Ich sagte mir immer wieder vor, wenn sie mich töten wollten…
Schöner Satz. Aber Sybilline hatte Recht, mein Gedankengang enthielt einen logischen Fehler…
Bald hatten wir das eingeschlossene Luftschiff erreicht. Als wir darauf zuhielten, konnte ich das riesige, hoch über der Stadt thronende Gebilde ausgezeichnet sehen. Im näheren Umkreis gab es keine Baldachin-Lichter, die Äste, in denen es festsaß, schienen unbewohnt. Mir fiel wieder ein, dass man es als besonders diskret gerühmt hatte.
Wir landeten. Inzwischen hatte sich auch Waverly eine Waffe geholt, und als ich die Verbindungsrampe zur Luftschiff-Gondel betrat, richtete Fischetti eine dritte auf mich. Ich hätte nur noch eine einzige Möglichkeit gehabt: seitlich von der Brücke zu springen.
Aber so verzweifelt war ich nicht. Noch nicht.
Im Innern der Gondel führte man mich zu dem Stuhl zurück, auf dem ich erst vor wenigen Stunden aufgewacht war. Diesmal schnallte Waverly mich fest.
»Nun mach schon«, drängte Sybilline. Sie hatte die Hüfte seitlich ausgestellt und hielt die Pistole mit einer Hand wie eine zierliche Zigarettenspitze. »Es ist schließlich keine Gehirnoperation.«
Sie lachte. Waverly ging ein paar Minuten lang um meinen Stuhl herum und ließ immer wieder ein Knurren hören, das fast empört klang. Dann und wann betastete er mit sanften Fingern meine Kopfhaut. Endlich holte er, scheinbar befriedigt, von hinten irgendwelche medizinisch aussehenden Instrumente hervor.
»Was haben Sie mit mir vor?«, fragte ich, ein neuer Versuch, die drei zu einer Antwort zu bewegen. »Sollten sie daran denken, mich zu foltern, dann werden Sie damit nicht viel erreichen.«
»Sie meinen, ich will Sie foltern?« Waverly hatte jetzt eines der Instrumente in der Hand. Es sah aus wie eine feine Sonde aus Chrom mit blinkenden Statusanzeigen im Griff. »Zugegeben, das könnte Spaß machen. Ich bin ein großer Sadist. Aber vom Lustgewinn einmal abgesehen, hätte es keinen Zweck. Wir haben Ihre Erinnerungen abgefischt. Was Sie uns unter Schmerzen sagen würden, ist uns also alles schon bekannt.«
»Sie bluffen.«
»Nein. Mussten wir Sie nach Ihrem Namen fragen? Das mussten wir nicht. Wir wussten auch so, dass Sie Tanner Mirabel heißen.«
»Dann wissen Sie auch, dass ich die Wahrheit sage. Ich habe Ihnen nichts zu bieten.«
Er beugte sich über mich, sein Monokel nahm mit leisem Schwirren ein unvorstellbar breites Spektrum von Daten auf.
»Wir wissen eigentlich nicht genau, was wir wissen, Mister Mirabel. Falls Sie wirklich so heißen. Wir tasten da drinnen nämlich im Nebel herum: wirre Erinnerungsreste — ganze Vergangenheitsbereiche, auf die wir keinen Zugriff haben. Sie werden verstehen, dass uns das nicht unbedingt ermuntert, Ihnen zu vertrauen. Ich meine, das würden doch auch Sie für eine vernünftige Reaktion halten, nicht wahr?«
»Ich wurde erst vor kurzem reanimiert.«
»Ach ja — und normalerweise leisten die Eisbettler doch ganz vorzügliche Arbeit, nicht wahr? Aber in Ihrem Fall reichte selbst ihr Können nicht aus, um alles wiederherzustellen.«
»Arbeiten Sie für Reivich?«
»Das bezweifle ich. Nie von ihm gehört.« Er warf Sybilline einen fragenden Blick zu. Sie drehte den Kopf zur Seite, aber ich sah die Ratlosigkeit in ihren Zügen: das kurze Hochziehen der Augenbrauen, das deutlich machte, dieser Reivich sei auch ihr kein Begriff.
Es wirkte durchaus überzeugend.
»Schön«, sagte Waverly. »Ich denke, das lässt sich problemlos und sauber erledigen. Es vereinfacht die Sache, dass er keine anderen Implantate hat, die stören könnten.«
»Dann mach voran«, drängte Sybilline wieder. »Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.«
Er hielt mir das Instrument an die Schläfe, ich spürte den kalten Druck auf der Haut. Dann zog er einen Abzug durch. Ich hörte ein Klicken…