»Am Ende hast du mich vielleicht enttäuscht«, sagte ich lautlos zu Norquinco, der mich ohnehin nicht hören konnte, »aber ich muss zugeben, dass du deine Aufgabe vorbildlich erfüllt hast.«
Clown lächelte.
»Armesto, Omdurman? Ich hoffe, Sie sehen jetzt zu und begreifen, was ich gleich tun werde. Ich möchte, dass es klar ist. Kristallklar. Können Sie mich hören?«
Als Armestos Stimme nach der unvermeidlichen Zeitverzögerung aus dem Lautsprecher kam, war sie so schwach, als wäre der Mann auf halbem Wege zum nächsten Quasar. Das lag daran, dass die anderen Schiffe alle entbehrlichen Kommunikationssysteme — Hunderte von Tonnen redundanter Geräte — abgeworfen hatten.
»Sie haben alle Brücken hinter sich verbrannt, mein Sohn. Ihnen bleibt nichts mehr zu tun, Sky. Es sei denn, Sie überreden noch mehr von Ihren Lebensfähigen zu einer Fahrt über den Styx.«
Ich quittierte die klassische Metapher mit einem Lächeln. »Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, ich hätte einen Teil der Schläfer ermordet?«
»Nicht mehr, als ich glaube, dass Sie Balcazar auf dem Gewissen haben.« Armesto schwieg; nur statisches Rauschen, das Knistern und Krachen interstellarer Geräusche unterbrach die Stille. »Das können Sie verstehen, wie Sie wollen, Haussmann…«
Meine Brückenoffiziere machten peinlich berührte Gesichter, als Armesto den alten Mann erwähnte, aber dabei würden sie es bewenden lassen. Sicher hatten die meisten von ihnen ohnehin längst Verdacht geschöpft. Jetzt waren sie mir alle treu ergeben; ich hatte mir ihre Loyalität erkauft, indem ich auch Versagern höhere Posten in der Mannschaftshierarchie zuschanzte; genau das, wozu der gute Norquinco mich hatte erpressen wollen. Mit wenigen Ausnahmen waren es Schwächlinge, aber das kümmerte mich nicht. Norquinco hatte so viele Sicherungsfunktionen umgangen, dass ich die Santiago jetzt praktisch alleine steuern konnte.
Vielleicht wurde das schon bald erforderlich.
»Sie haben noch etwas vergessen«, sagte ich, um den Moment gründlich auszukosten.
Armesto war sich wohl so sicher, nichts übersehen zu haben, dass er allmählich hoffte, das Rennen gewinnen zu können.
Wie sehr er sich irrte.
»Das glaube ich nicht.«
»Er hat Recht«, ließ sich Omdurman von der Bagdad vernehmen. Auch seine Stimme klang sehr schwach. »Sie haben Ihre Möglichkeiten erschöpft, Haussmann. Einen weiteren Vorsprung holen Sie nicht heraus.«
»Eine bleibt mir noch«, sagte ich.
Ich tippte die entsprechenden Befehle in die Konsole meines Kommandosessels und spürte unterschwellig, wie sich die unsichtbaren Subsysteme des Schiffes meinen Willen fügten. Der Hauptschirm zeigte einen ähnlichen Blick entlang der Säule wie beim Absprengen der sechzehn Ringe mit den toten Schläfern.
Aber jetzt war alles anders.
Jetzt bewegten sich die Ringe an allen sechs Seiten entlang der ganzen Säule. Das Ganze hatte noch immer eine gewisse Harmonie — ich war zu sehr Perfektionist, um darauf zu verzichten —, aber es war keine geordnete Formation mehr. Diesmal löste sich jeder zweite Ring von den noch verbliebenen achtzig. Vierzig Ringe entfernten sich von der Säule der Santiago…
»Lieber Gott«, sagte Armesto, als er begriffen hatte, was da geschah. »Lieber Gott, Haussmann… Nein! Das können Sie nicht tun!«
»Zu spät«, sagte ich. »Ich bin schon mitten drin.«
»Das sind lebende Menschen!«
Ich lächelte. »Jetzt nicht mehr.«
Und dann wandte ich mich wieder der Aussicht zu, bevor der glorreiche Moment vorüber war. Es war wunderschön. Auch grausam — das gab ich gerne zu. Aber was wäre die Schönheit ohne ein Fünkchen Grausamkeit im Herzen?
Nun wusste ich, dass ich siegen würde.
Wir fuhren mit dem Zephyr zum Raumkoloss-Terminal. Der Zug wurde von der gleichen riesigen Drachenlokomotive gezogen, die Quirrenbach und mich vor wenigen Tagen in die Stadt gebracht hatte.
Mit meinen letzten Geldscheinen kaufte ich mir auf dem Schwarzmarkt eine falsche Identität, einen Namen und eine rudimentäre Kreditgeschichte, die einer Überprüfung gerade so weit standhielt, dass ich den Planeten verlassen und — wenn ich Glück hatte — auf Refugium einreisen konnte. Gekommen war ich als Tanner Mirabel, aber so wagte ich nicht mehr aufzutreten. Normalerweise hätte ich ganz selbstverständlich irgendeinen Namen aus der Luft gegriffen und wäre in die entsprechende Persönlichkeit geschlüpft, aber jetzt zögerte ich aus irgendeinem Grund bei der Wahl meiner neuen Identität.
Schließlich — der Schwarzhändler verlor schon fast die Geduld — sagte ich: »Nehmen Sie Schuyler Haussmann.«
Der Name bedeutete ihm so gut wie nichts, selbst der Familienname war ihm keinen Kommentar wert. Ich sagte ihn mir ein paar Mal vor, bis ich ihn so weit im Ohr hatte, dass ich reagieren konnte, sollte er über Lautsprecher ausgerufen oder durch einen voll besetzten Raum geflüstert werden. Anschließend buchten wir Plätze auf dem nächstmöglichen Raumkoloss von Yellowstone ins All.
»Ich komme natürlich mit«, sagte Quirrenbach. »Wenn Sie Reivich wirklich schützen wollen, kommen Sie nur über mich an ihn heran.«
»Und wenn ich das gar nicht wirklich will?«
»Sie meinen, wenn Sie immer noch vorhaben, ihn zu töten?«
Ich nickte zustimmend. »Das wäre ja immerhin möglich, nicht wahr?«
Quirrenbach zuckte die Achseln. »Dann tue ich einfach das, was ich von vornherein tun sollte. Ich knalle Sie bei der erstbesten Gelegenheit ab. Natürlich schätze ich die Situation so ein, dass es dazu nicht kommen wird — aber glauben Sie ja nicht, dass ich notfalls zurückscheuen würde.«
»Das würde ich mir nie erlauben.«
»Mich brauchst du natürlich auch«, sagte Zebra. »Ich habe ebenfalls Verbindungen zu Reivich, auch wenn ich ihm nie so nahe stand wie Quirrenbach.«
»Es könnte gefährlich werden, Zebra.«
»War das der Besuch bei Gideon etwa nicht?«
»Unbestritten. Und ich will auch nicht leugnen, dass ich für jede Unterstützung dankbar bin.«
»Dann müssen Sie auch mich mitnehmen«, sagte Chanterelle. »Immerhin bin ich von allen hier die Einzige, die wirklich weiß, wie man jemanden zur Strecke bringt.«
»Ihre waidmännischen Fähigkeiten in allen Ehren«, sagte ich. »Aber hier geht es nicht um eine Jagd. Wie ich Tanner kenne — und ich kenne ihn vielleicht nicht weniger gut als er sich selbst —, wird er sich an keinerlei Regeln halten.«
»Dann müssen wir eben unfair spielen, bevor er es tut.«
Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit konnte ich mehr oder weniger von Herzen lachen.
»Wir werden uns den Anforderungen sicher gewachsen zeigen.«
Quirrenbach, Zebra, Chanterelle und ich starteten eine Stunde später; der Raumkoloss flog einen weiten Bogen über Chasm City, dann stieg er auf zu den drohenden Wolken, die im Aufeinanderprall von Yellowstones ewigen Winden und den Luftströmungen, die der Abgrund ausrülpste, zu phantastischen Formen verweht wurden. Ich schaute nach unten. Die Stadt lag winzig klein wie ein Spielzeug unter mir, Mulch und Baldachin waren kaum auseinander zu halten, ein einziges Knäuel von verwirrender Komplexität.
»Alles klar?«, fragte Zebra, die an unseren Tisch zurückkam und Getränke mitbrachte.
Ich wandte mich vom Fenster ab. »Wieso?«
»Weil du fast so aussiehst, als würdest du die Stadt vermissen.«
Als die Reise fast zu Ende war, als der Erfolg meiner Pläne sich abzeichnete — als man anfing, mich in aller Öffentlichkeit als Helden zu preisen —, besuchte ich meine beiden Gefangenen.
In all den Jahren hatte niemand den Raum in den Tiefen der Santiago gefunden, auch wenn einige Leute — insbesondere Constanza — nahe daran gewesen waren, seine Existenz zu erraten. Aber der Raum stellte nur so geringe Anforderungen an die Energie- und Lebenserhaltungssysteme des Schiffes, dass es nicht einmal Constanza mit ihrer unbestrittenen Intelligenz und Hartnäckigkeit gelungen war, ihn aufzustöbern. Und das war gut so. Inzwischen war die Lage nicht mehr so kritisch, doch über viele Jahre wäre eine solche Entdeckung mein Untergang gewesen. Jetzt freilich saß ich fest im Sattel; ich hatte genügend Verbündete, um kleinere Skandale überstehen zu können, und die meisten meiner Gegner hatte ich erfolgreich kaltgestellt.
Theoretisch waren es natürlich drei Gefangene, aber Sleek passte eigentlich nicht so recht in diese Kategorie. Er war für mich lediglich ein nützliches Werkzeug, und ich betrachtete — ohne Rücksicht darauf, wie er das sah — seine Haft nicht unbedingt als Strafe. Wie immer schlug er in seinem Becken mit dem Schwanz, als ich eintrat, aber in letzter Zeit waren seine Bewegungen träge geworden, und sein kleines, schwarzes Auge nahm mich kaum zur Kenntnis. Ich fragte mich, wie weit er sich wohl an sein früheres Leben erinnerte, an jenes andere Becken, das ihm neben dem jetzigen, in dem er die letzten fünfzig Jahre verbracht hatte, wie ein Ozean vorkommen musste.
»Wir sind fast da, nicht wahr?«
Ich drehte mich um, überrascht, nach so langer Zeit wieder Constanzas heisere Stimme zu hören.
»So gut wie«, antwortete ich. »Soeben habe ich Journey’s End mit eigenen Augen gesehen — als voll ausgebildete Welt, meine ich, nicht nur als hellen Stern. Ein herrlicher Anblick, Constanza.«
»Wie lange schon?« Sie stemmte sich gegen ihre Fesseln, um mich ansehen zu können. Sie war auf eine Liege geschnallt, die in einem Winkel von fünfundvierzig Grad schräg gestellt war.
»Seit ich dich hierher gebracht habe? Ich weiß nicht — vier, vielleicht fünf Monate?« Ich zuckte die Achseln, als hätte ich mich kaum damit beschäftigt. »Eigentlich kommt es doch nicht darauf an.«
»Was hast du der übrigen Besatzung erzählt, Sky?«
Ich lächelte. »Ich brauchte gar nichts zu sagen. Ich hatte dafür gesorgt, dass es so aussah, als hättest du dich aus einer Luftschleuse gestürzt, um Selbstmord zu begehen. Auf diese Weise brauchte ich keine Leiche vorzuweisen. Ich überließ es den anderen, ihre Schlüsse selbst zu ziehen.«
»Eines Tages werden sie herausfinden, was geschehen ist.«
»Das bezweifle ich. Ich habe ihnen eine Welt geschenkt, Constanza. Sie wollen mich nicht kreuzigen, sie wollen mich heilig sprechen. Und das wird, denke ich, noch lange so bleiben.«
Sie war natürlich immer ein Problem gewesen. Nach dem Zwischenfall mit der Caleuche hatte ich sie in Verruf gebracht, indem ich mit einer Kette von falschen Indizien nachwies, dass sie an Captain Ramirez’ Verschwörung beteiligt war. Damit war sie bei der Sicherheitswache nicht mehr tragbar. Sie hatte noch Glück, dass man sie, besonders in den ersten Tagen nach der Absprengung der Kälteschlafmodule, als alles unter Schock stand, nicht hingerichtet oder in Haft genommen hatte. Aber Constanza hatte mir auch dann noch Grund zur Besorgnis gegeben, als sie längst zu niederen Arbeiten degradiert worden war. Die Besatzung war im Großen und Ganzen bereit, die Absprengung als verzweifelte, aber notwendige Maßnahme zu betrachten, eine Sicht der Dinge, die ich mit Propaganda und gezielten Lügen bezüglich der Absichten der anderen Schiffe gezielt förderte. Ich selbst hielt meine Tat nicht für ein Verbrechen. Constanza dachte anders und bemühte sich in ihren letzten Jahren in Freiheit darum, das Labyrinth von Falschinformationen zu entwirren, das ich in letzter Zeit um meine Person errichtet hatte. Immer wieder spürte sie dem Caleuche-Zwischenfall nach; beteuerte Ramirez’ Unschuld und stellte hartnäckig die abwegigsten Vermutungen darüber auf, wie der Alte Balcazar tatsächlich zu Tode gekommen sein könnte. Seine beiden medizinischen Betreuer seien zu Unrecht verurteilt worden. Manchmal äußerte sie sogar Zweifel, was das Ende von Titus Haussmann anging.
Bis ich mich endlich entschloss, sie zum Schweigen zu bringen. Ihren Selbstmord vorzutäuschen, erforderte nur ein Minimum an Vorbereitung. Nicht schwieriger war es, sie ungesehen in die Folterkammer zu bringen. Natürlich hielt ich sie dort meistens in Fesseln und unter Drogen, aber hin und wieder gönnte ich ihr ein Weilchen bei klarem Verstand.
Es tat gut, mit jemandem reden zu können.
»Warum hast du ihn so lange am Leben erhalten?«, fragte Constanza.
Ich sah sie an und war fast erschrocken, wie sehr sie gealtert war. Dabei sah ich uns noch beide, zwei Kinder, vor dem großen Delphin-Becken stehen und durch das Glas schauen.
»Den Chimären? Ich wusste eben, dass ich ihn noch einmal würde brauchen können.«
»Um ihn zu foltern?«
»Nein. Oh, natürlich sorgte ich dafür, dass er für seine Tat angemessen bestraft wurde, aber das war erst der Anfang. Sieh ihn dir doch genauer an, Constanza.« Ich veränderte den Winkel der Liege, bis sie den Infiltrator im Blickfeld hatte. Er stand jetzt so fest unter meinem Einfluss, dass ich ihn nicht mehr zu fesseln brauchte. Dennoch ließ ich ihn an die Wand gekettet — ich wollte ruhig schlafen.
»Er sieht so aus wie du«, staunte Constanza.
»Er hat zwanzig zusätzliche Gesichtsmuskeln«, erklärte ich mit väterlichem Stolz. »Damit kann er sein Gesicht in jede beliebige Konfiguration bringen und diese auch halten. Und er ist nicht allzu sehr gealtert, seit ich ihn hierher brachte. Ich denke, ich kann ihn immer noch für mich ausgeben.« Ich rieb mir das Gesicht, das ich mit einer Kosmetikschicht rauer machte, um meine unnatürliche Jugendlichkeit zu verbergen. »Und er wird alles — alles — tun, was ich von ihm verlange. Nicht wahr, Sky?«
»Ja«, antwortete der Chimäre.
»Was hast du mit ihm vor? Willst du ihn als Doppelgänger einsetzen?«
»Wenn es nötig werden sollte«, sagte ich. »Aber daran glaube ich nicht.«
»Er hat nur einen Arm. Schon deshalb kann man ihn nicht mit dir verwechseln.«
Ich kurbelte Constanzas Liege in die Stellung zurück, in der ich sie bei meiner Ankunft vorgefunden hatte. »Das Problem ist nicht unüberwindlich, glaub mir.« Ich verstummte und holte eine große Spritze mit langer Nadel aus dem Kasten mit medizinischen Instrumenten, den ich neben dem Gotteskasten aufbewahrte, jenem Gerät, mit dem ich das Bewusstsein des Infiltrators zerstört und wieder aufgebaut hatte.
Constanza sah die Spritze. »Die ist für mich, nicht wahr?«
»Nein«, sagte ich und trat an das Delphinbecken. »Die ist für Sleek. Den guten, alten Sleek, der mir all die Jahre über so treu gedient hat.«
»Du willst ihn töten?«
»Oh, das wird er inzwischen sicher als Gnadenakt betrachten.« Ich öffnete den Deckel seines Beckens und rümpfte die Nase. Das Brackwasser, in dem er lag, roch abscheulich. Sleek schlug wieder mit dem Schwanz, und ich legte ihm zur Beruhigung die Hand auf den Rücken. Seine Haut, einst glatt und glänzend wie polierter Stein, war jetzt so rau wie Beton.
Ich stieß ihm die Nadel durch die zolldicke Fettschicht. Wieder bewegte er sich, ein heftiger Schwanzschlag, dann wurde er ruhiger. Ich sah in sein Auge, aber es war ausdruckslos wie eh und je.
»Ich glaube, er ist tot.«
»Ich dachte, du wolltest mich töten«, sagte Constanza nervös und ohne ihre Erleichterung verbergen zu können.
Ich lächelte. »Mit einer solchen Spritze? Das soll wohl ein Witz sein? Nein; die hier ist für dich bestimmt.«
Ich holte eine zweite Spritze aus dem Kasten. Und die war kleiner.
Journey’s End, das Ziel der Reise, dachte ich und hielt mich an der Stange fest. In der Aussichtskanzel der Santiago herrschte Schwerelosigkeit. Ein treffender Name. Die Welt hing unter mir wie eine grüne Papierlaterne im Schein einer flackernden Kerze. 61 Cygni-A, der Schwan, war keine helle Sonne. Zwar bewegte sich die Welt auf einer engen Bahn um den Zwergstern, aber Tageslicht bedeutete hier etwas anderes als auf den Bildern von der Erde, die Clown mir gezeigt hatte. Der Stern leuchtete wie eine armselige Funzel. Er strahlte überwiegend im roten Bereich, obwohl er immer noch weiß aussah, wenn man ihn mit bloßem Auge betrachtete. Aber das war keine Überraschung. Wie viel Energie die Zielwelt auf ihrer Bahn erhielt, hatte man schon vor über einhundertfünfzig Jahren gewusst, noch bevor die Flottille von ihrem Heimatsystem gestartet war.
Tief im Frachtraum der Santiago, zu leicht, um als Ballast abgeworfen zu werden, lagerte ein Gebilde von durchsichtiger Schönheit. Mehrere Arbeitstrupps waren dabei, es einsatzbereit zu machen. Sie hatten es aus dem Raumschiff geholt und hängten es nun an einen Orbitalschlepper, um es aus dem Schwerkraftfeld des Planeten hinaus zum Lagrange-Punkt zwischen Journey’s End und dem Schwan zu ziehen. Dort sollte es, mit winzigen Ionenschüben auf seiner Bahn gehalten, Jahrhunderte lang schweben. Wenn alles nach Plan ging.
Ich wandte den Blick von der Planetenkugel ab und schaute hinaus in den interstellaren Raum. Die beiden anderen Schiffe, die Brasilia und die Bagdad, waren noch da draußen.
Nach neuesten Schätzungen würden sie in etwa drei Monaten eintreffen, aber ein gewisser Fehlerspielraum war unvermeidlich.
Egal.
Das erste Shuttle-Geschwader hatte bereits etliche Flüge zur Oberfläche und wieder zurück absolviert, außerdem hatte man viele mit Transpondern versehene Frachtpakete abgeworfen, die in ein paar Monaten geborgen werden sollten. Ein Shuttle war gerade auf dem Flug nach unten. Der delta-förmige Rumpf zeichnete sich schwarz vor der Landzunge am Äquator ab, die vom Geographie-Team als die Halbinsel bezeichnet wurde. Sicher würde man in den nächsten Wochen eine etwas bildhaftere Bezeichnung dafür finden. Fünf Flüge waren noch erforderlich, um alle verbliebenen Kolonisten auf der Oberfläche abzusetzen, fünf weitere, um die gesamte Besatzung und die schweren Geräte hinunter zu schaffen, die man nicht als Frachtpakete abwerfen konnte. Die Santiago würde im Orbit bleiben, ein nacktes Skelett, von dem man alles abmontiert hatte, was irgendwie zu verwenden war.
Die Schubdüsen des Shuttles zündeten kurz und brachten es auf Kurs zum Eintritt in die Atmosphäre. Ich sah ihm nach, bis es verschwunden war. Wenige Minuten später glaubte ich unweit des Horizonts ein Aufblitzen zu beobachten. Es hatte die Luftschicht berührt. Nicht mehr lange, dann war es am Boden. Nahe der Südspitze der Halbinsel war bereits ein erstes Landecamp entstanden. Wir dachten daran, es Nueva Santiago zu nennen — aber auch das hatte noch Zeit.
Und jetzt öffnete sich die Pupille des Schwans.
Natürlich konnte ich nicht so weit sehen, aber in diesem Moment wurde am Lagrange-Punkt das wenige Angström dünne Plastikgebilde entfaltet.
Die Position war fast perfekt.
Es war, als fiele der Strahl einer Taschenlampe auf die dunkle Welt und erzeugte einen ellipsenförmigen Lichtfleck. Der Strahl bewegte sich suchend — der Fleck verformte sich. Wenn er erst richtig eingestellt war, bekam die Halbinsel-Region doppelt so viel Sonnenlicht wie zuvor.
Ich wusste, dass es da unten Leben gab. Wie würde es sich wohl auf die Veränderung der Lichtverhältnisse einstellen? Es fiel mir schwer, die angemessene Begeisterung aufzubringen.
Mein Kom-Armband meldete sich. Ich sah auf das Display. Wer von der Besatzung mochte wohl die Dreistigkeit besitzen, mich in meinem Triumph zu stören? Aber das Armband teilte mir nur mit, dass in meiner Kabine eine Aufzeichnung auf mich wartete. Verärgert — aber zugleich auch neugierig — verließ ich die Aussichtskanzel und passierte eine Reihe von Schleusen und Transferkabinen, bis ich den rotierenden Hauptteil unseres großen Schiffes erreichte. Hier herrschte Schwerkraft, und ich schritt ruhig und ungehemmt aus und tilgte auch den leisesten Zweifel aus meinen Zügen. Hin und wieder kamen Besatzungsmitglieder und höhere Offiziere an mir vorüber und salutierten; manche wollten mir sogar die Hand schütteln. Allgemein herrschte großer Jubel. Wir hatten den interstellaren Raum durchquert und waren wohlbehalten auf einer neuen Welt gelandet. Und ich hatte uns vor unseren Rivalen ans Ziel gebracht.
Immer wieder blieb ich stehen, um mit dem einen oder anderen ein paar Worte zu wechseln — Verbündete zu gewinnen war von größer Wichtigkeit, denn vor uns lagen unruhige Zeiten —, aber in Gedanken war ich die ganze Zeit bei der Aufzeichnung. Ich konnte mir nicht vorstellen, was es damit auf sich hatte.
Doch ich sollte es bald erfahren.
»Ich gehe davon aus, dass du mich inzwischen getötet hast«, sagte Constanza. »Zumindest hast du mich irgendwie verschwinden lassen. Nein; sag nichts — dies ist keine interaktive Aufzeichnung, und ich werde deine kostbare Zeit nicht lange in Anspruch nehmen.« Ihr Gesicht war auf dem Bildschirm in meiner Kabine erschienen: es kam mir nur unwesentlich jünger vor als bei unserer letzten Begegnung. Sie fuhr fort: »Wie du dir wahrscheinlich denken kannst, wurde diese Botschaft schon vor längerer Zeit aufgezeichnet. Ich habe sie ins Datennetz der Santiago eingespeist und musste alle sechs Monate einmal eingreifen, um zu verhindern, dass sie an dich weitergeleitet wurde. Ich wusste, dass ich dir zunehmend ein Dorn im Auge war und dass du sehr wahrscheinlich früher oder später einen Weg finden würdest, um mich los zu werden.«
Ich musste unwillkürlich lächeln, als mir einfiel, dass sie mich gefragt hatte, wie lange ich sie schon gefangen hielt.
»Gut gemacht, Constanza.«
»Ich habe dafür gesorgt, dass einige höhere Offiziere und die dienstältesten Besatzungsmitglieder eine Kopie dieser Botschaft erhalten, Sky. Wobei ich natürlich nicht erwarte, dass man sie ernst nimmt. Du hast die Umstände meines Verschwindens sicher in deinem Sinne manipuliert. Aber das spielt keine Rolle; die Saat des Zweifels ist damit gelegt, und das genügt mir. Gewiss wirst du weiterhin Verbündete und Verehrer haben, Sky, aber du solltest dich nicht wundern, wenn nicht mehr alle bereit sind, dir in blindem Gehorsam zu folgen.«
»Ist das alles?«, fragte ich.
»Noch eins zum Schluss«, sagte sie, fast als hätte sie die Frage vorausgesehen. »Ich habe im Lauf der Jahre eine Menge Material gegen dich gesammelt, Sky. Vieles davon sind Indizien; vieles lässt sich unterschiedlich deuten, aber es ist mein Lebenswerk, und ich wollte nicht riskieren, dass es verloren ging. Deshalb nahm ich — vor der Aufzeichnung dieser Botschaft — alles, was ich hatte und versteckte es in einem kleinen Behälter an einem Ort, der schwer zu finden ist.« Sie legte eine Pause ein. »Sind wir bereits im Orbit um Journey’s End, Sky? In diesem Fall hat es wenig Sinn, nach dem Material zu suchen. Inzwischen befindet es sich mit ziemlicher Sicherheit bereits auf der Oberfläche.«
»Nein.«
Constanza lächelte. »Du kannst dich verstecken, Sky, aber ich werde dir folgen, du wirst mich nicht los. So sehr du dich auch bemühst, die Vergangenheit zu vergraben; so gut es dir auch gelingt, dich zum Helden zu stilisieren… das Päckchen wird immer da sein und darauf warten, dass man es findet.«
Später, sehr viel später, stolperte ich durch den Dschungel. Das Laufen fiel mir schwer, aber das hatte nur wenig mit meinem Alter zu tun. Die Schwierigkeit war, mit nur einem Arm das Gleichgewicht zu halten, mein Körper vergaß immer wieder, dass er nicht mehr symmetrisch war. Ich hatte den Arm in den ersten Anfangstagen der Besiedlung verloren. Ein schrecklicher Unfall, auch wenn der Schmerz jetzt nur noch eine schwache Erinnerung war. Mein Arm war verbrannt; zu einem dürren, schwarzen Stumpf verkohlt, als ich ihn vor die breite Öffnung eines Fusionsbrenners hielt.
Es war natürlich kein echter Unfall gewesen.
Ich hatte seit Jahren damit gerechnet, dass ich vielleicht zu diesem Mittel würde greifen müssen, aber ich hatte es so lange aufgeschoben, bis wir gelandet waren. Ich musste den Arm so verlieren, dass er auf medizinischem Wege nicht zu retten war. Das schloss eine saubere, schmerzlose Operation aus. Andererseits musste garantiert sein, dass ich das Unglück überlebte.
Ich hatte drei Monate lang im Lazarett gelegen, aber ich hatte es geschafft. Und dann hatte ich meine Pflichten wieder aufgenommen, während sich überall auf dem Planeten — auch bei meinen Feinden — herumsprach, was geschehen war. Allmählich prägte es sich der Allgemeinheit ein, dass ich nur einen Arm hatte. Jahre vergingen, meine Behinderung wurde so selbstverständlich, dass kaum noch jemand ein Wort darüber verlor. Und niemand kam auf die Idee, der Verlust des Armes könnte nur ein winziges Detail in einem großen Plan gewesen sein; eine Vorsichtsmaßnahme, deren Sinn sich erst Jahre, Jahrzehnte später erweisen mochte. Doch nun war es so weit, und ich war froh, so vorausschauend gewesen zu sein. Kurz vor meinem achtzigsten Geburtstag war ich zum Flüchtling geworden.
In den ersten Jahren der Kolonisierung war alles gut gegangen. Das Vermächtnis der toten Constanza hatte das Bild für eine Weile getrübt, aber schon bald hatte der Wunsch der Menschen nach einem Helden auch die letzten Zweifel verdrängt, die an meiner Eignung für diese Rolle bestanden haben mochten. Ich hatte einige Sympathisanten verloren, aber dafür die Sympathie der großen Masse gewonnen, ein Tausch, den ich für annehmbar hielt. Das Päckchen, das Constanza angeblich versteckt hatte, war nie zum Vorschein gekommen, und mit der Zeit wuchs in mir die Überzeugung, es habe nie existiert; sie habe es nur als Waffe benutzt, um mich seelisch zu zermürben.
Diese erste Zeit war berauschend. In den drei Monaten Vorsprung, die ich der Santiago verschafft hatte, war auf der Oberfläche ein Netz von kleinen Camps entstanden. Als die anderen Raumschiffe über uns abbremsten und in den Orbit gingen, hatten wir bereits drei gut befestigte Hauptsiedlungen errichtet. Nueva Valparaiso nahe dem Äquator (das eines Tages einen guten Standort für einen Weltraumfahrstuhl abgeben würde) war die jüngste. Andere würden folgen. Wir hatten einen guten Start gehabt, und ich hätte es damals für undenkbar gehalten, dass sich die Menschen — mit Ausnahme von einigen wenigen Getreuen — so heftig gegen mich wenden würden.
Und doch hatten sie es getan.
Vor mir sah ich im dichten Laub des Regenwaldes etwas leuchten. Ein Licht. Eindeutig künstlich, dachte ich — vielleicht die Verbündeten, die mich hier erwarten sollten. Ich konnte es nur hoffen. Viele Verbündete waren mir nicht geblieben. Die wenigen, die noch fest in der orthodoxen Machtstruktur etabliert waren, hatten mich vor dem Prozess aus dem Gewahrsam befreien, mich aber nicht an einen sicheren Ort bringen können. Sie würden für ihren Verrat wahrscheinlich erschossen werden, aber das konnte ich nicht ändern. Ihr Opfer war notwendig gewesen. Ich hatte nichts anderes erwartet.
Es war nicht einmal sofort zum Krieg gekommen.
Die Brasilia und die Bagdad waren im Orbit auf den ausgeschlachteten Rumpf der alten Santiago gestoßen. Dann geschah Monate lang nichts, die beiden Verbündeten beobachteten uns nur und wahrten eisiges Schweigen. Endlich hatten sie zwei Shuttles gestartet, die auf die nördlichen Breiten der Halbinsel zusteuerten. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, in meinem alten Schiff ein Körnchen Antimaterie aufgespart zu haben, um sein Triebwerk noch einmal kurz zu zünden und die Shuttles mit einer tödlichen Feuerlanze zu bestreichen. Aber ich hatte nie gelernt, den Antimaterie-Zustrom zu unterbrechen.
Die Shuttles waren gelandet und mehrfach wieder in den Orbit aufgestiegen, um die Schläfer nach unten zu bringen.
Danach folgten wieder lange Monate des Wartens.
Und schließlich hatten die Angriffe begonnen: kleine Kommandotrupps zogen von Norden herab und überfielen die erst im Entstehen begriffenen Siedlungen der Santiago. Was machte es aus, dass kaum dreitausend Menschen auf dem ganzen Planeten waren? Für einen kleinen Krieg reichte es… und er hatte ganz allmählich angefangen, sodass beide Seiten Zeit hatten, sich zu verschanzen, ihre Stellungen zu befestigen… sich zu vermehren.
Es war eigentlich gar kein richtiger Krieg.
Aber meine eigenen Leute waren immer noch bemüht, mich wegen meiner Kriegsverbrechen hinrichten zu lassen. Sie waren nicht etwa daran interessiert, mit dem Feind Frieden zu schließen — dafür war zu viel geschehen —, aber das hinderte sie nicht, mich für die ganze Situation verantwortlich zu machen. Sie wollten mich nur töten, um sich dann erneut ins Getümmel zu stürzen.
Diese undankbaren Dreckskerle. Sie hatten alles verdorben. Sogar den Namen des Planeten hatten sie ausgetauscht, hatten einen Witz daraus gemacht. Jetzt hieß die Welt nicht mehr Journey’s End — das Ende der Reise.
Sondern Sky’s Edge — Skys Vorsprung.
Weil ich ihnen einen Vorsprung verschafft hatte, sodass wir als Erste eintrafen.
Ich hasste den Namen, denn ich wusste, wie er gemeint war: als perverses Eingeständnis eines Verbrechens, das notwendig gewesen war; als Erinnerung daran, wie wir hierher gekommen waren.
Aber er hatte sich durchgesetzt.
Jetzt blieb ich stehen. Nicht nur, um Atem zu holen. Ich hatte mich im Dschungel nie so richtig heimisch gefühlt. Es gab Gerüchte von großen Tieren — kriechenden Tieren. Aber von den Menschen, denen ich vertraute, hatte keiner je ein solches Tier gesehen. Also nur Märchen — sonst nichts.
Nur Märchen.
Aber ich wusste immer noch nicht, wo ich war. Das Licht, das ich vorhin gesehen hatte, war verschwunden. Vielleicht wurde es von Bäumen verborgen… vielleicht hatte ich es mir auch nur eingebildet. Ich schaute mich um. Es war sehr dunkel, und alles sah gleich aus. Über mir verdunkelte sich der Himmel — 61 Cygni-B, nach dem Schwan gewöhnlich der hellste Stern am Himmel, war unter den Horizont gesunken — bald würde sich der Dschungel nahtlos mit der Schwärze des Himmels verbinden.
Vielleicht musste ich hier sterben.
Doch dann glaubte ich, weit vor mir eine Bewegung zu erkennen, eine verschwommene Gestalt. Zuerst dachte ich, der Lichtfleck wäre wieder aufgetaucht. Doch die Gestalt war viel näher — sie kam auf mich zu. Es war ein Mann, nun trat er aus dem Unterholz. Und er leuchtete wie von innen heraus.
Ich lächelte. Jetzt erkannte ich ihn. Wovor hatte ich mich eigentlich gefürchtet? Ich hätte doch wissen müssen, dass ich nie wirklich allein war; dass mein Führer immer da sein würde, um mir den Weg zu zeigen.
»Du hast doch nicht etwa geglaubt, ich würde dich vergessen?«, fragte Clown. »Nun komm schon. Es ist nicht mehr weit.«
Clown führte mich.
Ich hatte mir das Licht nicht eingebildet, jedenfalls nicht ausschließlich. Vor mir leuchtete tatsächlich ein heller Schein gespenstisch durch den Nebel. Meine Verbündeten…
Als ich sie erreichte, war Clown nicht mehr bei mir. Er war verschwunden wie ein Nachbild auf der Netzhaut. Ich hatte ihn zum letzten Mal gesehen — aber er hatte gut daran getan, mich hierher zu bringen. Er war der einzige Freund meines Lebens gewesen, der Einzige, dem ich wahrhaft vertraute, obwohl ich wusste, dass er nur eine Ausgeburt meiner Phantasie war, eine Projektion meines Unterbewusstseins, entstanden aus der Erinnerung an den imaginären Beschützer aus meinem Kinderzimmer auf der Santiago.
Doch was machte das schon?
»Captain Haussmann!«, riefen meine Freunde durch die Bäume. »Sie haben es geschafft! Wir dachten schon, die anderen hätten Sie nicht…«
»Oh, sie haben ihre Aufgabe gut erfüllt«, sagte ich. »Wahrscheinlich hat man sie inzwischen verhaftet — oder gar bereits erschossen.«
»Das ist ja das Merkwürdige. Wir hören ständig Berichte von Festnahmen — aber es heißt, man hätte auch Sie wieder eingefangen.«
»Das kann ja wohl nicht sein, oder?«
Aber ich dachte: O doch! — wenn nämlich der Mann, den man eingefangen hatte, nur so aussah wie ich; und wenn dieser Mann deshalb so aussah wie ich, weil unter der geschmeidigen Haut seines Gesichts zwanzig zusätzliche Muskeln saßen, die es ihm ermöglichten, so gut wie jeden Menschen zu imitieren. Er würde auch so sprechen und sich so benehmen wie ich, denn darauf war er Jahre lang konditioniert worden; ich hatte ihm beigebracht, mich für seinen Gott zu halten; sein einziger Lebensinhalt war, mir bedingungslos zu gehorchen. Und der fehlende Arm? Nun, das war ein todsicheres Kennzeichen, nicht wahr? Der Mann, den man verhaftet hatte, sah nicht nur aus wie Sky Haussmann, er hatte auch nur einen Arm.
Niemand konnte an meiner Festnahme zweifeln. Beim anschließenden Gerichtsverfahren würde der Gefangene vielleicht etwas wirre Reden führen — aber was konnte man von einem Achtzigjährigen schon erwarten? Wahrscheinlich wurde er allmählich senil. Das Beste wäre, ein Exempel zu statuieren; ein möglichst öffentliches Spektakel, das niemand so schnell vergessen würde, auch wenn es — oder vielmehr weil es — unmenschlich war. Eine Kreuzigung könnte allen Ansprüchen genügen.
»Hierher, bitte.«
Im Lichtkreis wartete ein Fahrzeug, ein Landrover mit Raupenketten. Ich wurde hinein verfrachtet, und dann rasten wir über die Dschungelpiste. Stundenlang ging es durch die Nacht, immer weiter und weiter weg von jeglicher Zivilisation.
Irgendwann erreichten wir eine große Lichtung.
»Hier ist es also?«, fragte ich.
Alle nickten. Der Plan war mir inzwischen natürlich bekannt. Die Stimmung war jetzt gegen mich. Es war keine Zeit für Helden — sie wurden neuerdings in Kriegsverbrecher umbenannt. Meine Verbündeten hatten mich bis jetzt beschützt, aber meine Verhaftung hatten sie nicht verhindern können. Ich musste froh sein, dass es ihnen gelungen war, mich aus dem provisorischen Gefängnis in Nueva Iquique zu befreien. Nachdem man nun mein Double gefangen hatte, musste ich wohl für eine Weile verschwinden.
Hier im Dschungel hatte man eine Möglichkeit geschaffen, mich für immer zu beschützen, wie sich das Schicksal meiner Verbündeten in den Hauptsiedlungen auch wenden mochte. Man hatte eine funktionsfähige Kälteschlafkoje vergraben, die mit den vorhandenen Energiereserven über viele Jahrzehnte in Betrieb bleiben konnte. Zwar hatte man Bedenken, mich einzufrieren, aber man hielt mich auch für einen Achtzigjährigen. In Wirklichkeit war das Risiko viel geringer, als alle dachten. Wenn ich bereit war, wieder aufzuwachen — nach meiner Schätzung frühestens in hundert Jahren —, stünden meinen Helfern sicher sehr viel bessere technische Möglichkeiten zur Verfügung. Die Reanimation dürfte kein Problem sein. Wahrscheinlich ließe sich sogar mein Arm mühelos regenerieren.
Ich brauchte nur zu schlafen, bis die Zeit reif war. Meine Verbündeten würden mich über die kommenden Jahrzehnte betreuen — so wie ich die Schläfer an Bord der Santiago betreut hatte.
Nur mit viel mehr Hingabe.
Sie hängten den Landrover an eine im Unterholz versteckte Vorrichtung — einen Metallhaken — und fuhren an. Im Boden der Lichtung klappte eine gut getarnte Falltür auf, darunter führten Stufen in einen hell erleuchteten, klinisch sauberen Raum.
Zwei von meinen Verbündeten geleiteten mich die Treppe hinunter. Dort wartete der Kälteschlaftank. Nachdem er seinen Schläfer aus dem Sol-System hierher gebracht hatte, war er gründlich überholt worden. Genau das Richtige für meine Zwecke.
»Wir schläfern Sie am besten so bald wie möglich ein«, sagte mein Assistent.
Ich gestattete ihm lächelnd, mir die Spritze in den Arm zu stoßen.
Der Schlaf kam schnell. Bevor die Wogen über mir zusammenschlugen, fiel mir noch ein, dass ich nach dem Aufwachen einen neuen Namen brauchte. Einen Namen, den niemand je mit Sky Haussmann in Verbindung bringen würde — der aber trotzdem ein festes Band zu meiner Vergangenheit knüpfte. Einen Namen, dessen Bedeutung nur ich kannte.
Ich dachte zurück an die Caleuche und an Norquincos Erzählungen über das Gespensterschiff. Und ich dachte an die armen psychisch gestörten Delphine an Bord der Santiago; besonders an Sleek; an seinen harten, ledrigen Körper, der so krampfhaft gezuckt hatte, als ich ihm das Gift einspritzte. Auch auf dem Gespensterschiff war ein Delphin gewesen, aber ich konnte mich im Moment nicht an seinen Namen erinnern, ich wusste nicht einmal mehr genau, ob Norquinco ihn erwähnt hatte. Aber wenn ich aufwachte, würde ich mich erkundigen.
Ich würde mich nach dem Namen erkundigen und ihn dann annehmen.