Sieben

Am nächsten Tag brachte mir Amelia meine Habseligkeiten in die Hütte und ließ mich dann allein, damit ich sie durchsehen konnte. Doch obwohl ich neugierig war, fiel es mir schwer, mich auf die Aufgabe zu konzentrieren. Ich war beunruhigt, weil ich wieder von Sky Haussmann geträumt hatte: von neuem war ich unfreiwillig zum Zeugen einer Episode seines Lebens geworden. Den ersten Traum, an den ich mich deutlich erinnerte, musste ich während meiner Reanimation gehabt haben; nun hatte mich Haussmann zum zweiten Mal heimgesucht. Obwohl dazwischen ein größeres Stück seines Lebens fehlte, folgten die Träume eindeutig chronologisch aufeinander. Wie ein Fortsetzungsroman.

Auch meine Handfläche hatte wieder geblutet, und über der Wunde lag ein frischer, harter Schorf. Das Laken wies hässliche Blutflecken auf.

Man brauchte seine Phantasie nicht allzu sehr anzustrengen, um den Zusammenhang zwischen den beiden Phänomenen zu erkennen. Ich erinnerte mich dunkel, dass Haussmann gekreuzigt worden war, dass das Mal in meiner Hand diese Todesart symbolisierte, und dass ich in einer Zeit, die noch nicht lange her und doch unendlich weit in der Vergangenheit zu liegen schien, einem anderen Mann mit einer ähnlichen Wunde begegnet war. Wenn ich mich nicht irrte, hatte auch dieser Mann von solchen Träumen gesprochen, und auch er hatte sich nicht gerade danach gedrängt.

Aber vielleicht fand sich ja bei den Sachen, die Amelia mir gebracht hatte, eine Erklärung für die Träume. Ich schlug mir Haussmann zunächst aus dem Sinn und konzentrierte mich auf das, was vor mir lag. Alles, was ich jetzt besaß — abgesehen von den Dingen, die möglicherweise im System des Schwans zurückgeblieben waren —, befand sich in einer unscheinbaren Reisetasche, die mich auf die Orvieto begleitet hatte.

Einiges an Sky’s Edge-Devisen, große Scheine in Südland-Währung: etwa eine halbe Million Austral. Amelia hatte mir erklärt, auf Sky’s Edge sei das — jedenfalls nach den ihr vorliegenden Informationen — ein ansehnliches Vermögen, hier im Yellowstone-System aber nur von geringem Wert. Warum hatte ich es dann mitgebracht? Die Antwort lag auf der Hand. Selbst wenn man die Inflation berücksichtigte, musste man mit dem Geld auch dreißig Jahre nach meiner Abreise auf Sky’s Edge noch irgendetwas bezahlen können, und sei es vielleicht auch nur ein Zimmer für eine Nacht. Dass ich es mitgenommen hatte, ließ den Schluss zu, dass ich vorgehabt hatte, eines Tages wieder nach Hause zurückzukehren.

Ich wollte also nicht emigrieren. Ich war aus beruflichen Gründen hier.

Ich hatte irgendetwas vor.

Des Weiteren fand ich Empirika in der Tasche: bleistiftgroße Datenstäbe randvoll mit aufgezeichneten Erinnerungen. Wahrscheinlich hatte ich sie nach meiner Reanimation zu Geld machen wollen. Wenn man kein Ultra war und mit ausgefallenen HighTech-Produkten handelte, waren Empirika so ziemlich die einzige Möglichkeit, als reicher Einzelreisender wenigstens einen Teil seines Vermögens über einen Flug durch den interstellaren Raum zu retten. Für Empirika gab es immer einen Markt, wie kultiviert oder primitiv der Käufer auch sein mochte — sofern nur die technischen Voraussetzungen dafür gegeben waren. Das wäre auf Yellowstone wohl kein Problem. Seit zweihundert Jahren nahm jeder größere technische oder soziale Fortschritt im von Menschen besiedelten Raum auf diesem Planeten seinen Anfang.

Die Empirika waren in klare Plastikfolie eingeschweißt. Ohne Abspielgerät konnte ich nicht sagen, was sie enthielten.

Was noch?

Mehrere Geldscheine, die mir völlig unbekannt vorkamen: sonderbare Struktur, fremde Gesichter, surreale, ungerade Nennwerte.

Ich hatte Amelia gefragt, wo sie herkamen.

»Von hier, Tanner. Von Chasm City.« Sie deutete auf den Mann, der auf beiden Seiten jeder Note zu sehen war. »Das ist Lorean Sylveste, glaube ich. Es könnte auch Marco Ferris sein. Jedenfalls uralte Geschichte.«

»Das Geld muss von Yellowstone nach Sky’s Edge und wieder zurück gereist sein — es ist mindestens dreißig Jahre alt. Ist es heute überhaupt noch etwas wert?«

»Ach, einen gewissen Wert hat es schon. Ich kenne mich in solchen Dingen natürlich nicht so genau aus, aber ich schätze, es würde für den Flug nach Chasm City reichen. Viel weiter allerdings nicht.«

»Und wie komme ich nach Chasm City?«

»Das ist nicht so schwierig, auch jetzt noch nicht. Nach New Vancouver im Orbit von Yellowstone verkehrt ein Shuttle. Dort müssten Sie sich dann ein Ticket für einen Raumkoloss kaufen, um auf die Oberfläche zu kommen. Was Sie an Geld haben, müsste dafür genügen, wenn Sie auf gewisse Annehmlichkeiten verzichten.«

»Wie zum Beispiel?«

»Nun, zuallererst hätten Sie keinen Anspruch darauf, wohlbehalten ans Ziel zu kommen.«

Ich lächelte. »Dann kann ich nur hoffen, dass mich das Glück nicht im Stich lässt.«

»Aber Sie haben doch nicht etwa jetzt schon vor, uns zu verlassen, Tanner?«

»Nein«, antwortete ich. »Noch nicht.«

Die Reisetasche enthielt noch zwei Dinge: einen dunklen flachen und einen zweiten dickeren Briefumschlag. Als ich letzteren auf dem Bett in der Hütte ausleerte, war Amelia schon gegangen. Der Inhalt — es war weniger als ich erwartet hatte — fiel heraus, doch es war keine Botschaft aus meiner Vergangenheit dabei, die mir die Augen geöffnet hätte. Meine Verwirrung stieg allenfalls noch mehr. Ein Dutzend auf mich ausgestellte Pässe und in Folie eingeschweißte Ausweise, alle zum Zeitpunkt meiner Einschiffung gültig, alle für irgendeinen Teil von Sky’s Edge und dem umliegenden Weltraum bestimmt. Einige waren nur bedrucktes Papier, andere waren mit integrierten Computerchips versehen.

Vermutlich wären die meisten Menschen mit einem oder zwei solcher Dokumente über die Runden gekommen, wenn sie sich damit abgefunden hätten, dass es Regionen gab, in die man legal nicht einreisen durfte —, aber ich hätte mich, dem Kleingedruckten zufolge, ziemlich ungehindert in Kriegsgebieten und von der Miliz kontrollierten Staaten sowie im planetennahen Weltraum bewegen können. Papiere wie diese besaß man, wenn man viel unterwegs war und möglichst wenig behelligt werden wollte. Dennoch fielen mir einige Ungereimtheiten auf: kleine Abweichungen bei den Personalangaben, unterschiedliche Geburtsorte und frühere Aufenthaltsorte. Einige Pässe wiesen mich als Soldaten der Süd-Miliz aus, andere stempelten mich zum taktischen Berater der Nord-Koalition. Eine dritte Gruppe erwähnte gar nichts von einer militärischen Laufbahn — hier wurde ich als persönlicher Sicherheitsberater oder als Agent für eine Import-Export-Firma geführt.

Dann kam die Erleuchtung. Aus dem Wust von Dokumenten formte sich ein klares Bild. Ich war ein Mensch gewesen, der wie ein Geist über die Grenzen huschen musste; ein Mann mit vielen Gesichtern und vielen — und wahrscheinlich meist fiktiven — Vergangenheiten. Ich ahnte, dass ich jemand war, der gefährlich lebte; jemand, der sich Feinde machte, wie andere Leute Bekanntschaften schlossen. Das hatte mich vermutlich nicht weiter gestört. Jemand wie ich konnte daran denken, einen perversen Mönch zu töten, ohne dass ihm der Schweiß ausbrach, und es dann doch sein lassen, weil der Mönch den kleinen zusätzlichen Energieaufwand einfach nicht wert war.

Doch ganz hinten in dem Umschlag steckten unter dem Falz, sodass sie nicht gleich herausgefallen waren, noch drei weitere Papiere. Als ich sie vorsichtig herauszog, spürte ich an der glatten Oberfläche, dass es Fotografien waren.

Auf dem ersten Bild war eine auffallend schöne schwarzhaarige Frau zu sehen, die mit einem nervösen Lächeln auf den Lippen am Rand einer Dschungellichtung stand. Es war eine Nachtaufnahme. Wenn ich das Bild schräg hielt und an ihr vorbeischaute, konnte ich gerade noch den Rücken eines Mannes erkennen, der ein Gewehr untersuchte. Er sah fast so aus wie ich — aber wer hatte dann das Foto gemacht, und warum trug ich es bei mir?

»Gitta«, sagte ich; der Name war mir sofort wieder eingefallen. »Du bist Gitta, nicht wahr?«

Die zweite Aufnahme zeigte einen Mann auf einer Piste voller Schlaglöcher mitten im Dschungel. Vielleicht war hier früher einmal eine Straße gewesen. Der Mann hatte eine große schwarze Waffe über der Schulter hängen und ging auf den Fotografen zu. Er trug ein Hemd und einen Patronengurt und hatte etwa meine Statur und mein Alter, doch das Gesicht war nicht das gleiche. Hinter ihm lag etwas quer über der Straße. Es sah aus wie ein umgestürzter Baum, endete aber in einem blutigen Stumpf, und die Fahrbahn war weithin mit einer dicken Schicht geronnenen Blutes bedeckt.

»Dieterling«, sagte ich. Der Name sprang mich einfach an. »Miguel Dieterling.«

Ich wusste sofort, dass er ein guter Freund von mir war, und dass er jetzt tot war.

Ich nahm mir das dritte Foto vor. Es war nicht so intim wie das erste, und es erzählte auch nicht von einem fragwürdigen Triumph, sondern zeigte einen Mann, der offenbar nicht merkte, dass er fotografiert wurde. Das Bild war zweidimensional, mit einem Teleobjektiv aufgenommen. Der Mann ging rasch durch ein Einkaufszentrum, die lange Belichtungszeit ließ die Neonreklamen der Geschäfte zu Strichen verschwimmen. Auch der Mann war nicht ganz scharf, aber es reichte, um ihn zu erkennen. Und um ihn zu erfassen, dachte ich.

Auch an seinen Namen erinnerte ich mich.

Ich nahm den schwereren der beiden Umschläge und kippte auch seinen Inhalt auf das Bett. Viele scharfkantige Präzisionsteile fielen heraus, die mich förmlich einluden, sie zusammenzusetzen. Ich spürte, wie sich das Ding, zum Einsatz bereit, in meine Hand schmiegte. Es wäre nicht gut zu sehen; perlmuttfarben wie trübes Glas. Oder wie Diamant.


»Das ist ein Blockadegriff«, erklärte ich Amelia. »Damit haben Sie mich bewegungsunfähig gemacht. Obwohl ich größer und stärker bin, kann ich im Moment nichts tun, ohne mir selbst heftige Schmerzen zu bereiten.«

Sie sah mich erwartungsvoll an. »Was jetzt?«

»Jetzt nehmen Sie mir die Waffe ab.« Ich nickte zu der kleinen Schaufel hin, die wir als Waffenattrappe verwendeten. Sie nahm sie mir mit der freien Hand vorsichtig aus den Fingern und warf sie von sich, als wäre sie vergiftet.

»Sie machen es mir zu leicht.«

»Nein«, sagte ich. »Der Druck auf diesen Nerv ist so schmerzhaft, dass ich genug zu tun hatte, die Waffe nicht gleich fallen zu lassen. Das ist einfache Biomechanik, Amelia. Mit Alexei werden Sie vermutlich noch leichter fertig als mit mir.«

Wir standen auf der Lichtung vor der Hütte. Es war später Nachmittag oder was man im Hospiz Idlewild dafür hielt, das weiße Sonnenfilament im Zentrum des Habitats schwächte sich ab zu einem matten Orange. Die Abendstimmung war etwas ungewöhnlich, denn das ›Gestirn‹ blieb stets über uns, und ich vermisste den schmeichelhaft schrägen Lichteinfall und die langen Schatten eines planetaren Sonnenuntergangs. Aber wir achteten ohnehin kaum darauf. Ich bemühte mich nun schon seit zwei Stunden, Amelia einige Grundbegriffe der waffenlosen Selbstverteidigung beizubringen. In der ersten Stunde hatte sie versucht, mich ›anzugreifen‹, beziehungsweise irgendeinen Teil meines Körpers mit der spitzen Gartenschaufel zu berühren. Das war ihr die ganze Zeit kein einziges Mal gelungen, auch dann nicht, als ich absichtlich meine Deckung öffnete, um ihr eine Chance zu geben. So oft ich auch mit den Zähnen knirschte und mir vornahm, sie diesmal gewinnen zu lassen — sie schaffte es einfach nicht. Immerhin machte sie die Erfahrung, dass man mit der richtigen Technik einem ungeschickten Angreifer fast immer überlegen war. Mit der Zeit kam sie auch näher an mich heran, und als wir in der zweiten Stunde die Rollen tauschten, ging es schon besser. Ich nahm mich zusammen und bewegte mich so langsam, dass Amelia in aller Ruhe für jede Situation den richtigen Blockadegriff lernen konnte. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin und eignete sich in einer Stunde an, wofür andere zwei Tage brauchten. Noch wirkten ihre Bewegungen unbeholfen — sie waren noch nicht ins Muskelgedächtnis übergegangen — und sie verriet ihre Absichten lange im Voraus, aber das waren Schwächen, die gegen einen Amateur wie Bruder Alexei kaum ins Gewicht fielen.

»Sie könnten mir sicher auch zeigen, was ich tun müsste, um ihn zu töten?«, fragte Amelia schließlich. Wir hatten uns ins Gras gelegt, um etwas zu verschnaufen — oder genauer gesagt, um zu warten, bis sie wieder zu Atem kam.

»Wollen Sie das denn?«

»Nein; natürlich nicht. Ich möchte ihn mir nur vom Leib halten.«

Ich schaute hinüber zur anderen Seite von Idlewild, wo winzig kleine Gestalten eifrig auf den Gartenterrassen schufteten, so lange es noch hell war. »Ich glaube nicht, dass er Sie noch einmal belästigt«, sagte ich. »Nicht nach dem, was in der Höhle passiert ist. Aber wenn er es tut, dann können sie ihm gehörig heimleuchten — und ich bin verdammt sicher, dass er danach aufgibt. Ich kenne diesen Typ, Amelia. Er wird sich einfach ein leichteres Ziel suchen.«

Sie dachte eine Weile nach. Wahrscheinlich bedauerte sie jede Frau, die die gleichen Erfahrungen machten musste wie sie. »Ich weiß, dass wir so etwas nicht sagen sollten, aber ich hasse diesen Mann. Können wir diese Griffe morgen noch einmal üben?«

»Natürlich. Ich bestehe sogar darauf. Sie sind immer noch zu schwach — obwohl Sie schon große Fortschritte gemacht haben.«

»Danke. Tanner — darf ich fragen, woher Sie das so gut können?«

Ich dachte an den Umschlag mit den Dokumenten. »Ich war Fachmann für Personenschutz.«

»Und?«

Ich lächelte wehmütig. Wie viel mochte sie vom Inhalt dieses Umschlags gesehen haben? »Und manches andere.«

»Mir hat man gesagt, Sie wären Soldat.«

»Ja; das war ich wohl auch einmal. Aber schließlich hatte auf Sky’s Edge so gut wie jeder in irgendeiner Form mit dem Krieg zu tun. Man konnte sich nicht so ohne Weiteres heraushalten. Wer nicht mit zur Lösung beitrug, galt als Teil des Problems. Wer sich nicht in den Dienst der einen Seite stellte, galt automatisch als Sympathisant der anderen.« Das war natürlich eine stark vereinfachte Darstellung, die nicht berücksichtigte, dass sich reiche Aristokraten die Neutralität von der Stange kaufen konnten wie neue Kleider — aber für den weniger betuchten Durchschnittsbürger auf der Halbinsel entsprach sie ziemlich genau der Wahrheit.

»Sie haben Ihr Gedächtnis weitgehend wiedergefunden.«

»Die Erinnerung kehrt allmählich zurück. Die Beschäftigung mit meinen persönlichen Sachen war mir eine große Hilfe.«

Sie nickte mir aufmunternd zu, und mir schlug das Gewissen, weil ich sie belog. Die Bilder hatten sehr viel mehr getan, als nur mein Gedächtnis aufzufrischen, doch ich wollte den Anschein einer partiellen Amnesie vorerst noch aufrecht erhalten. Amelia war hoffentlich nicht so gewitzt, dass sie mein Spiel durchschaute, trotzdem würde ich mich bei meinen künftigen Plänen hüten, den Eisbettelorden zu unterschätzen.

Ich war tatsächlich Soldat gewesen. Aber der Flut von Pässen und Ausweisen in dem Umschlag war zu entnehmen, dass sich meine Fähigkeiten keineswegs darin erschöpften. Der Soldatenberuf war nur der Kern, um den herum sich meine anderen Begabungen entwickelt hatten. Noch überblickte ich nicht meinen gesamten Werdegang in völliger Klarheit, aber ich wusste schon sehr viel mehr am Tag zuvor.

Ich war in eine Aristokratenfamilie hineingeboren worden, die sich am unteren Ende der Vermögensskala bewegte: wir waren nicht direkt arm, hatten aber zu kämpfen, um die Fassade von Wohlstand aufrecht zu erhalten. Wir hatten in Nueva Iquique gelebt, an der Südostküste der Halbinsel. Eine verschlafene Stadt, hinter einem schwer zugänglichen Gebirgszug vom Krieg abgeschirmt, die selbst in den Jahren der erbittertsten Kämpfe teilnahmslos dahinvegetierte. Oft fuhren Schiffe aus dem Norden die Küste herunter und liefen Nueva Iquique an, ohne einen Angriff befürchten zu müssen, obwohl wir theoretisch Feinde waren. Mischehen zwischen Angehörigen verschiedener Linien der Flottille waren keine Seltenheit. Ich lernte die Hybridsprache des Feindes fast ebenso fließend lesen wie unsere eigene, und es mutete mich seltsam an, dass unsere Anführer uns aufstachelten, diese Menschen zu hassen. Selbst in den Geschichtsbüchern stand doch, dass wir Verbündete gewesen waren, als die Schiffe den Merkur-Orbit verließen.

Doch seither war viel geschehen.

Als ich älter wurde, ging ich allmählich dazu über, alle Angehörigen der Nord-Koalition als Feinde zu betrachten, ohne deshalb ihre Gene oder ihren Glauben abzulehnen. Sie hatten, genau wie wir, ein gerütteltes Maß an Gräueltaten begangen. Doch wenn ich den Feind auch nicht verabscheute, so hielt ich es doch für meine moralische Pflicht, den Krieg so rasch wie möglich zu beenden, indem ich unserer Seite zum Sieg verhalf. Deshalb meldete ich mich im Alter von einundzwanzig Jahren zur Süd-Miliz. Ich war nicht zum Soldaten geboren, aber ich lernte schnell. Das war auch nötig; besonders, wenn man nur wenige Wochen, nachdem man erstmals ein Gewehr in Händen hielt, an die Front geschickt wurde. Ich entwickelte mich zu einem guten Schützen. Später wurde ich mit entsprechender Ausbildung ein wahrer Meister auf diesem Gebiet — und es war ein großer Glücksfall für mich, dass meine Einheit einen Scharfschützen brauchte.

Ich erinnerte mich an meinen ersten Abschuss — es war eigentlich eine Massenhinrichtung gewesen.

Wir hatten uns hoch oben in den Bergen im Dschungel versteckt und schauten hinab auf eine Lichtung, wo NK-Soldaten von einem Bodeneffekt-Transporter Vorräte abluden. Ich hob mit eisiger Ruhe mein Gewehr, spähte durch das Zielfernrohr und nahm einen Mann des Trupps nach dem anderen ins Visier. Das Gewehr war mit Unterschall-Mikromunition geladen; völlig lautlos und mit einer programmierten Explosionsverzögerung von fünfzehn Sekunden. Zeit genug, um jedem Mann auf der Lichtung eine mückengroße Kugel in den Hals zu jagen — und in Ruhe abzuwarten, bis er träge die Hand hob, um sich den vermeintlichen Insektenstich zu kratzen. Als der achte und letzte Mann bemerkte, dass etwas nicht stimmte, war es für Gegenmaßnahmen bereits zu spät.

Der ganze Trupp fiel wie auf ein Stichwort zu Boden. Es war unheimlich. Als wir etwas später herunterstiegen und die Vorräte für unsere eigene Einheit requirierten, waren die Leichen durch die Explosionen im Körperinnern grotesk aufgebläht.

Es war meine erste Begegnung mit dem Tod. Ich erlebte sie wie einen Traum.

Später fragte ich mich manchmal, was wohl geschehen wäre, wenn die Verzögerung auf weniger als fünfzehn Sekunden eingestellt gewesen wäre, sodass der erste Mann fiel, bevor ich damit fertig war, auch alle anderen zu erschießen. Hätte ich die Gelassenheit des wahren Heckenschützen — den eiskalten Willen — aufgebracht, trotzdem weiter zu machen? Oder hätte mich der Schock über mein Tun so brutal überwältigt, dass ich das Gewehr entsetzt hätte fallen lassen? Doch dann sagte ich mir, es hätte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Und nach dieser ersten Serie von Exekutionen aus dem Hinterhalt hatte ich damit nie wieder Probleme.

Oder fast nie.

Für einen Heckenschützen gehörte es zum Beruf, den Feind fast immer nur als unpersönliches Strichmännchen zu sehen; zu weit entfernt, als dass er durch seine Gesichtszüge oder eine Schmerzensgrimmasse, wenn ihn das Geschoss traf, zum Menschen hätte werden können. Ich brauchte so gut wie nie einen zweiten Schuss. Eine Weile glaubte ich, eine Nische gefunden zu haben, die mir seelischen Schutz bot vor dem Grauen des Krieges. In meiner Einheit schätzte man mich sehr, hütete mich wie einen Talisman. Ohne jemals eine Heldentat zu vollbringen, wurde ich einfach deshalb zum Helden, weil ich technisch sauber schießen konnte. Ich war glücklich, falls man inmitten des Kampfgeschehens überhaupt glücklich sein konnte. Aber ich wusste ja, dass es möglich war: ich hatte Männer und Frauen kennen gelernt, für die der Krieg wie ein launischer, ein sadistischer Liebhaber war; ein Liebhaber, der ihnen immer wieder wehtat, und zu dem sie doch — verletzt und hungrig — immer wieder zurückgekrochen kamen. Die größte Lüge aller Zeiten war die Behauptung, der Krieg sei ein Unglück für uns alle, und wenn wir wirklich die Wahl hätten, würden wir uns für immer davon befreien. Vielleicht wäre der Mensch in diesem Fall ein edleres Wesen geworden — aber wenn der Krieg nicht einen ganz eigenen düsteren Reiz hatte, warum waren wir dann immer nur so zögerlich bereit, ihn gegen den Frieden einzutauschen? Das war nicht nur mit einer simplen Tatsache wie der Gewöhnung an die Alltäglichkeit des Krieges zu erklären. Ich hatte Männer und Frauen gekannt, die damit prahlten, nach jedem Abschuss sexuell erregt zu sein; die süchtig waren nach der erotisierenden Wirkung ihrer Tat.

Das Glück, das ich empfand, war von schlichterer Art: es entsprang der Erkenntnis, dass ich genau die passende Rolle für mich gefunden hatte. Ich konnte moralisch rechtfertigen, was ich tat, und blieb doch davor bewahrt, mich, wie die meisten Frontsoldaten, in akute Lebensgefahr zu begeben. Und so würde es bleiben, dachte ich. Irgendwann würde man mir einen Orden verleihen, und wenn ich nicht bis Kriegsende Heckenschütze bliebe, dann nur, weil die Armee meine Fähigkeiten zu sehr schätzte, um mich den Gefahren der Front auszusetzen. Vermutlich hätte ich mich für eines der geheimen Killerkommandos bewerben können — sicherlich eine riskantere Tätigkeit —, aber nach meiner Einschätzung würde ich am ehesten als Ausbilder in einem Rekrutenlager landen, um schließlich mit der selbstgefälligen Gewissheit, das Ende des Krieges — in welcher Form auch immer — beschleunigt zu haben, in Frühpension zu gehen.

Natürlich kam alles ganz anders.

Eines Nachts geriet unsere Einheit in einen Hinterhalt. Wir wurden von Guerillas eines Kommandotrupps der NK überfallen, und binnen weniger Minuten lernte ich, was unter dem euphemistischen Begriff Nahkampf tatsächlich zu verstehen war. Keine Teilchenstrahlwaffen mit Zielfernrohr; keine Nanomunition mit Explosionsverzögerung. Einem Soldaten vor tausend Jahren wäre das alles viel vertrauter gewesen: ein Haufen schreiender, tobender Menschen, so dicht zusammengedrängt, dass scharfe Metallwaffen, Dolche oder Bajonette, das einzig wirksame Mittel waren, sich gegenseitig umzubringen. Man konnte sich auch gegenseitig die Hände um die Kehle legen oder mit den Fingern die Augen ausquetschen. Wer hier überleben wollte, musste alle höheren Hirnfunktionen ausschalten und geistig wieder zum Tier werden.

Und das wurde ich. Und dabei erkannte ich eine tiefere Wahrheit über den Krieg. Er bestrafte alle, die mit ihm kokettierten, indem er sie zu dem machte, was er selbst war. Wer der Bestie einmal die Tür geöffnet hatte, konnte sie nicht mehr schließen.

Wenn es die Situation verlangte, erwies ich mich auch weiterhin als guter Schütze, aber ich war kein reiner Heckenschütze mehr. Ich behauptete, ich hätte den ›Biss‹ verloren; ich sei für die besonders kritischen Abschüsse nicht mehr geeignet. Die Lüge war plausibel: Heckenschützen waren heillos abergläubisch, und viele entwickelten eine psychosomatische Blockade und waren dann nicht mehr zu gebrauchen. Ich durchlief verschiedene Einheiten und ließ mich zu Einsätzen abkommandieren, die mich immer näher an die Front führten. Im Umgang mit Waffen erreichte ich eine Stufe, die weit über bloße Treffsicherheit hinaus ging; ich entwickelte die leichte Hand eines hoch begabten Musikers, der jedes Instrument zum Klingen bringen konnte. Oft meldete ich mich freiwillig zu Kommandounternehmen, bei denen ich mich wochenlang hinter den feindlichen Linien aufhalten und von genau bemessenen Feldrationen ernähren musste. (Die Biosphäre von Sky’s Edge war oberflächlich betrachtet erdähnlich — aber auf der Ebene der Zellchemie vollkommen inkompatibel; es gab kaum einheimische Pflanzen, die wir gefahrlos essen konnten, entweder war der Nährwert gleich Null, oder sie lösten tödliche anaphylaktische Reaktionen aus.) In diesen langen Phasen der Einsamkeit ließ ich das Tier in mir wieder zum Vorschein kommen, ich wurde zum primitiven Wilden, einem Wesen von nahezu unerschöpflicher Geduld und Leidensfähigkeit.

Als Einzelkämpfer erhielt ich meine Befehle nicht mehr auf dem üblichen Dienstweg, sondern aus geheimnisvollen Quellen der Miliz-Hierarchie, wohin sie nicht zurückzuverfolgen waren. Die Aufträge wurden immer seltsamer, ihre Ziele immer unbegreiflicher. Waren es anfangs noch naheliegende Objekte- NK-Offiziere der mittleren Ränge —, so schienen die Opfer bald nur noch willkürlich ausgewählt, doch ich stellte nie infrage, dass hinter allem eine gewisse Logik stand; eine heimtückische und präzise geplante Strategie. Selbst wenn ich, wie es mehr als einmal vorkam, Personen ins Visier nehmen musste, die die gleiche Uniform trugen wie ich, ging ich davon aus, dass es sich um Spione oder potenzielle Verräter oder — die Erklärung, die am schwersten zu verdauen war — einfach um loyale Männer handelte, die sterben mussten, weil sie auf irgendeine Weise das unergründliche Walten des Großen Planes behinderten.

Bald kümmerte es mich nicht einmal mehr, ob meine Handlungen irgendeinem höheren Zweck dienten. Ich nahm auch keine Befehle mehr entgegen, sondern suchte mir meine Aufträge selbst — ich trennte mich von der militärischen Hierarchie und arbeitete für jeden, der mich bezahlte. Ich war kein Soldat mehr, ich wurde zum Söldner.

Und so lernte ich Cahuella kennen.

»Ich bin Schwester Duscha«, sagte die ältere der beiden Eisbettlernonnen, eine hagere Frau mit strenger Miene. »Sie haben vielleicht schon von mir gehört; ich bin die Neurologin hier am Hospiz. Und ich muss Ihnen leider mitteilen, Tanner Mirabel, dass wir bei Ihnen eine schwere Bewusstseinsstörung festgestellt haben.«

Duscha und Amelia standen in der Tür der Hütte. Ich hatte Amelia erst eine halbe Stunde zuvor mitgeteilt, dass ich vorhätte, Idlewild noch am gleichen Tag zu verlassen. Jetzt sah sie mich betreten an. »Es tut mir Leid, Tanner, aber ich musste es ihr sagen.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Schwester«, sagte Duscha und drängte sich energisch an ihrer Untergebenen vorbei. »Ob es ihm gefällt oder nicht, es war vollkommen richtig, mich über seine Pläne zu informieren. Nun denn, Tanner Mirabel. Wo sollen wir beginnen?«

»Wo immer Sie wollen; ich reise trotzdem ab.«

Hinter Duscha kam mit leisem Klicken einer der eiförmigen Roboter in die Hütte getrottet. Ich saß auf dem Bett und wollte aufstehen, aber Duscha legte mir mit festem Druck die Hand auf den Oberschenkel. »Nein; Schluss mit dem Unsinn. Sie gehen vorerst nirgendwo hin.«

Ich sah Amelia an. »Sagten Sie nicht, ich könnte gehen, wann immer ich will?«

»Oh, daran kann Sie natürlich niemand hindern, Tanner…« Amelias Beteuerung konnte mich nicht so recht überzeugen.

»Aber wenn er erst die Tatsachen kennt, wird er nicht mehr gehen wollen«, sagte Duscha und setzte sich neben mich aufs Bett. »Darf ich es Ihnen erklären? Als Sie aufgewärmt wurden, nahmen wir eine gründliche medizinische Untersuchung vor, Tanner — und konzentrierten uns dabei besonders auf Ihr Gehirn. Wir vermuteten eine Amnesie, aber wir mussten uns vergewissern, dass keine fundamentalen Schäden vorlagen und dass Sie keine Implantate hatten, die womöglich entfernt werden mussten.«

»Ich habe keine Implantate.«

»Nein. Aber Sie haben Schäden — wenn man so will.«

Sie schnippte mit den Fingern, und der Roboter trat näher. Auf dem Bett lag nichts mehr, obwohl ich bis vor einer Minute noch dabei gewesen war, die aufziehbare Pistole zusammenzubauen. Ich hatte so lange herumprobiert, bis ich das Ding halb fertig hatte, und als ich Amelia und Duscha über die Lichtung kommen sah, hatte ich es mit den restlichen Teilen unter das Kissen geschoben. Da lauerte es nun, und es war kaum noch möglich, es nicht für eine Waffe zu halten. Als die beiden meine Sachen untersuchten, mochten sie sich über die seltsam geformten Diamant-Teile den Kopf zerbrochen haben, aber sie hatten ihre Bedeutung vermutlich nicht erkannt. Jetzt hätten sie nur noch geringe Zweifel gehabt.

»Was für Schäden, Schwester Duscha?«, fragte ich.

»Das kann ich Ihnen zeigen.«

Ein Bildschirm schob sich aus dem Eierkopf des Roboters. Er zeigte einen langsam rotierenden violetten Schädel, der vollgepackt war mit geisterhaften Gebilden, die aussahen wie wolkig-trübe Tintenschlieren. Der Schädel war mir natürlich nicht bekannt, aber es verstand sich von selbst, dass es der meine sein musste.

Duscha fuhr mit den Fingern über die rotierende Masse. »Das Problem sind diese hellen Flecken, Tanner. Ich hatte Ihnen vor dem Aufwachen Bromodeoxyuridin gespritzt. Das ist chemisch analog zu Thymidin, einer der Nukleinsäuren in der DNA. Das Mittel ersetzt das Thymidin in neuen Gehirnzellen und wirkt so als Indikator für die Neurogenese — die Bildung neuer Gehirnzellen. Die hellen Flecken zeigen an, wo sich Konzentrationen des Indikators befinden — indem sie Zentren mit frischem Zellwachstum hervorheben.«

»Ich dachte, das Gehirn bildet keine neuen Zellen.«

»Diesen Mythos haben wir schon vor fünfhundert Jahren zu Grabe getragen, Tanner — aber Sie haben trotzdem nicht ganz Unrecht; bei höheren Säugetieren kommt es tatsächlich ziemlich selten vor. Doch was Sie auf diesem Scan sehen, ist eine stark erhöhte Aktivität: scharf umgrenzte und sehr spezifische Regionen, in denen vor kurzem die Neurogenese eingeleitet wurde — und noch anhält. Funktionsfähige Neuronen haben sich zu komplexen Strukturen organisiert und eine Verbindung zu den bereits vorhandenen Neuronen hergestellt. Bewusst gesteuert. Sie werden bemerkt haben, dass sich die hellen Flecken in der Nähe Ihrer Wahrnehmungszentren befinden. Ein sehr charakteristisches Krankheitsbild, fürchte ich, Tanner — auch ohne die Bestätigung durch Ihre Hand.«

»Meine Hand?«

»Sie haben eine Wunde in der Handfläche. Das ist ein Symptom für eine Infektion mit einem Indoktrinationsvirus aus der Haussmann-Familie.« Sie hielt inne. »Wir haben das Virus auch in Ihrem Blut gefunden, als wir gezielt danach suchten. Es schleust sich in die DNA ein und erzeugt die neuen Neuralstrukturen.«

Leugnen war wohl zwecklos. »Ich bin überrascht, dass Sie es überhaupt erkannt haben.«

»Es ist uns im Lauf der Jahre oft genug begegnet«, sagte Duscha. »Ein kleiner Bruchteil jeder Partie von Matsch… jeder Schläfergruppe von Sky’s Edge ist damit infiziert. Zuerst standen wir natürlich vor einem Rätsel. Wir hatten zwar von den Haussmann-Sekten gehört — ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass wir die Art und Weise, wie sie sich die Ikonographie unseres eigenen Glaubenssystems angeeignet haben, ganz und gar nicht billigen —, aber wir hatten lange nicht erkannt, dass es sich um einen viralen Infektionsmechanismus handelte, und dass die Menschen, die wir zu sehen bekamen, keine Haussmann-Kultisten waren, sondern deren Opfer.«

»Eine verfluchte Plage«, bedauerte mich Amelia. »Aber wir können Ihnen helfen, Tanner. Ich nehme an, Sie träumen immer wieder von Sky Haussmann.«

Ich nickte stumm.

»Nun, wir können das Virus ausschwemmen«, sagte Duscha. »Es ist ein schwacher Stamm, und mit der Zeit wird es auch von selbst verschwinden, aber wenn Sie wollen, können wir den Prozess beschleunigen.«

»Wenn ich will? Ich wundere mich, dass Sie es noch nicht getan haben.«

»Du meine Güte, das würde uns niemals einfallen. Immerhin könnte man Sie ja auch mit Ihrem Einverständnis infiziert haben. In diesem Fall hätten wir kein Recht, das Virus zu entfernen.« Duscha tätschelte den Roboter, der fuhr den Bildschirm wieder ein und tapste wie eine stählerne Krabbe leise klickend auf die Tür zu. »Aber wenn Sie es los werden wollen, könnten wir mit der Therapie sofort beginnen.«

»Wie lange wird das dauern?«

»Fünf bis sechs Tage. Wir möchten die Fortschritte natürlich überwachen — manchmal sind einige Korrekturen erforderlich.«

»Wenn das so ist, dann muss es sich wohl von alleine totlaufen.«

Duscha schnalzte mit der Zunge. »Auf Ihre eigene Verantwortung«, sagte sie, erhob sich von meinem Bett und rauschte hinaus. Der Roboter folgte ihr wie ein Hündchen.

»Tanner, ich…«, begann Amelia.

»Ich will nichts mehr davon hören, verstanden?«

»Ich musste es ihr sagen.«

»Ich weiß, und das nehme Ihnen auch nicht übel. Sie sollen nur nicht versuchen, mir die Abreise auszureden, ist das klar?«

Sie sagte nichts, aber ich hatte meinen Standpunkt wohl hinreichend deutlich gemacht.

Anschließend trainierte ich noch eine halbe Stunde lang mit ihr. Es wurde kaum gesprochen, dadurch hatte ich viel Zeit, über Duschas Eröffnung nachzudenken. Inzwischen war auch die Erinnerung an Rothand Vasquez wiedergekommen. Er hatte mir versichert, nicht mehr ansteckend zu sein, aber er war der wahrscheinlichste Überträger. Dennoch konnte ich nicht ausschließen, dass ich das Virus auf der Weltraumbrücke aufgeschnappt hatte, wo sich die Haussmann-Kultisten in Scharen herumtrieben.

Duscha hatte auch gesagt, es handle sich um einen schwachen Stamm. Vielleicht hatte sie Recht. Bisher hatte ich außer dem Stigma nur zwei nächtliche Träume vorzuweisen. Sky Haussmann erschien mir nicht am helllichten Tag, und ich hatte keine Wachträume. Er war auch nicht zur fixen Idee von mir geworden, und nichts wies darauf hin, dass mir das noch bevorstand; ich spürte weder den Drang, mich mit irgendwelchem Krimskrams zu umgeben, der mich an sein Leben und seine Zeit erinnerte, noch fiel ich in religiöse Ekstase, wenn ich nur an ihn dachte. Er war einfach das, was er immer gewesen war: eine historische Figur, ein Mensch, der schwere Verbrechen begangen hatte und schwer dafür bestraft worden war, den wir aber nicht so leicht vergessen konnten, weil wir ihm außerdem eine Welt verdankten. Es hatte in unserer Geschichte schon früher Gestalten von zweifelhaftem Ruf gegeben, und auch deren Taten wurden in trüben Grautönen geschildert. Ich war nicht in Gefahr, zum Haussmann-Verehrer zu werden, nur weil sein Leben vor mir ablief, wenn ich schlief. Dafür war ich zu stark.

»Ich weiß nicht, warum Sie es so eilig haben, uns zu verlassen«, sagte Amelia, als wir eine Pause machten, und strich sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. »Sie haben fünfzehn Jahre gebraucht, um hierher zu kommen — was spielen da ein paar Wochen mehr oder weniger für eine Rolle?«

»Ich bin eben kein sehr geduldiger Mensch, Amelia.« Sie sah mich so skeptisch an, dass ich mich zu einer Rechtfertigung genötigt fühlte. »Sehen Sie, diese fünfzehn Jahre haben für mich nie stattgefunden — mir kommt es vor, als hätte ich erst gestern darauf gewartet, mich einschiffen zu können.«

»Trotzdem macht es verflixt wenig aus, ob sie Ihr Ziel eine oder zwei Wochen später erreichen.«

O doch, dachte ich, es macht etwas aus. Es macht sogar einen ganz entscheidenden Unterschied — aber ich durfte Amelia ja nicht die ganze Wahrheit erzählen, sondern musste mich gleichgültig stellen, so gut ich konnte.

»Ehrlich gesagt… ich habe einen triftigen Grund, so bald wie möglich aufzubrechen. In Ihren Unterlagen steht sicher nichts davon, aber mir ist eingefallen, dass ich zusammen mit einem anderen Mann unterwegs war, der vor mir reanimiert worden sein muss.«

»Das ist schon möglich, wenn dieser andere früher als Sie auf das Schiff gebracht wurde.«

»Das dachte ich mir. Vielleicht ist er auch gar nicht erst ins Hospiz gekommen, weil es bei ihm keine Komplikationen gab. Sein Name ist Reivich.«

Sie schien überrascht, aber nicht so sehr, dass ich misstrauisch geworden wäre. »Ich erinnere mich an einen Mann mit diesem Namen. Doch, er war hier. Argent Reivich, nicht wahr?«

Ich lächelte. »Ja; das ist er.«

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